Die Blinde



Siebentes Kapitel - Er zeigt sich den Verhältnissen gewachsen.

Bei diesem überraschendem so plötzlich in wenigen Worten enthüllten Bekenntniß verlor selbst der entschlossene Nugent alle Selbstbeherrschung; er stieß einen Schrei aus, den Lucilla hörte. Sie wandte sich in dem Glauben, daß Oscar den Schrei ausgestoßen habe, sofort nach uns um.

»Ah, da bist Du!« rief sie aus. »Oscar, Oscar, was hast Du nur heute?«

Oscar war unfähig zu antworten. Er konnte nur seinem Bruder einen flehenden Blick zuwerfen, als Lucilla sich uns näherte. Der stumme Vorwurf, mit welchem Nugents Blick sein Bekenntniß beantworten, hatte den letzten Rest seiner Widerstandskraft gebrochen, er weinte still wie ein Weib an Nugent’s Brust.

Einer mußte das allgemeine Schweigen brechen; ich entschloß mich dazu.

»Es ist nichts, liebes Kind«, sagte ich, indem ich zu Lucilla trat. »Wir gingen eben am Hause vorüber und Oscar kam herausgelaufen, um uns hinein zu holen.«

Meine Begütigungen machten sie nur noch unruhiger.

»Uns?« wiederholte sie. »Wer ist denn bei Ihnen?«

»Nugent.«

Auf der Stelle zeigte sich die Wirkung des unglücklichen Mißverständnisses, zu welchem Oscar sie verleitet hatte. Sie wurde todtenbleich bei dem für sie entsetzlichen Gedanken, daß sich der Mann mit dem blauen Gesicht in ihrer unmittelbaren Nähe befinde.

»Bringen Sie mich so nahe an ihn heran, daß ich mit ihm reden kann, aber ohne ihn berühren zu müssen«, flüsterte sie mir zu. »Ich habe gehört, wie er aussieht. O, wenn sie ihn sähen, wie ich ihn in dem mich umgebenden Dunkel sehe! Aber ich muß um Oscar’s willen mit seinem Bruder reden.«

Sie ergriff meinen Arm und zog mich dicht an sich heran. Was hätte ich sagen, was hätte ich thun sollen? Ich wußte mir weder in dem Einen, noch in dem Anderen zu rathen.

Ich richtete meine Blicke von Lucilla auf die beiden Brüder. Da stand der schwache Oscar, überwältigt von der demüthigenden Lage, in welche er sich selbst dem Weibe gegenüber, das er heirathen sollte, und dem Bruder gegenüber, den er liebte, gebracht hatte. Und neben ihm stand der starke Nugent, seiner selbst vollkommen Herr, seinen Bruder mit dem Arm umschlingend, mit erhobenem Haupt und mit erhobener Hand, die mir ein Zeichen gab, zu schweigen. Er hatte Recht. Ich brauchte nur Lucilla’s Gesicht anzusehen, um mich zu überzeugen, daß die delikate und verhängnißvolle Enthüllung der Wahrheit nicht auf der Stelle und im Augenblick geschehen könne.

»Sie sind heute ungewöhnlich nervös, Lucilla«, sagte ich, »lassen Sie uns nach Hause gehen.«

»Nein«, antwortete sie, »ich muß mich daran gewöhnen, mit ihm zu reden. Ich will gleich heute damit den Anfang machen. Bringen Sie mich zu ihm, aber lassen Sie ihn mich nicht berühren.«

Nugent machte sich, als er uns auf sich zukommen sah, aus der Umarmung Oscar’s los, dessen Unfähigkeit, uns aus unserer Verlegenheit zu helfen, zu offenbar war, als daß man sich einen Augenblick darüber hätte täuschen können. Er deutete auf die niedrige Gartenmauer und bedeutete seinen Bruder, sich, ehe Lucilla wieder mit ihm reden könne, dahin zu begeben. Wie recht er daran that, sollte sich bald genug zeigen. Kaum hatte Oscar uns verlassen, als Lucilla nach ihm fragte. Nugent antwortete, Oscar sei wieder in’s Haus gegangen, um seinen Hut zu holen.

Der Klang von Nugent’s Stimme half ihr, die Entfernung, in der sie sich von ihm befand, ohne meinen Beistand zu berechnen. Noch immer meinen Arm fest haltend stand sie still und redete ihn an.

»Nugent«, sagte sie. »ich habe Oscar veranlaßt, mir mitzutheilem was er mir längst hätte mittheilen sollen. »Er hat«, fuhr sie fort, indem sie bei jedem Satz nach Selbstbeherrschung rang und schwer athmete, »eine thörichte Antipathie bei mir entdeckt; ich weiß nicht, wie er sie herausgefunden hat; ich hatte versucht sie vor ihm zu verbergen. Ich brauche Ihnen nicht zu sagen, wogegen diese Antipathie gerichtet ist.«

Nach diesen Worten machte sie eine längere Pause, zog mich fester an sich und kämpfte einen immer schwereren Kampf gegen die unwiderstehliche Antipathie, die wie ein Fluch aus ihr lastete. In Nugent’s Wesen aber äußerte sich, während er ihr zuhörte, der Zwang, dem er in ihrer Gegenwart immer unterlag, in noch frappanterer Weise als zuvor.

Die Augen auf den Boden heftend, schien es ihm zu widerstreben, sie auch nur anzusehen.

»Ich glaube ich verstehe«, fuhr sie fort, »warum Oscar mir nicht gern sagen wollte« — hier hielt sie wieder inne, offenbar weil sie nicht wußte, wie sie sich ausdrücken sollte, ohne Gefahr zu laufen, ihn zu verletzen — »mir nicht gern sagen wollte«, nahm sie wieder auf, »was Sie an sich haben, was Sie von anderen Leuten unterscheidet. Er fürchtete, meine alberne Schwäche möchte mich ein Vorurtheil gegen Sie fassen lassen. Ich komme aber, um Ihnen zu sagen, daß ich diese Schwäche nicht über mich Herr werden lassen will. Ich habe mich ihrer nie mehr geschämt als jetzt. Auch ich bin ja unglücklich und sollte Sympathie für Sie fühlen, anstatt —«.

Ihre Stimme war bei den letzten Worten immer schwächer geworden. Sie lehnte sich mit schwerem Kopfe an mich. Ich sah auf den ersten Blick, daß sie, wenn ich sie noch einen Augenblick fortfahren ließe, ohnmächtig werden würde.

»Sagen Sie Ihrem Bruder, daß wir nach dem Pfarrhause zurück gegangen sind—, sagte ich zu Nugent. Jetzt zum ersten Male blickte er zu Lucilla auf.

»Sie haben Recht—, antwortete er. »Bringen Sie sie nach Hause.«

Er wiederholte das Zeichen, mit dem er mich schon einmal bedeutet hatte, zu schweigen und ging zu Oscar nach der Gartenmauer an der Vorderseite des Hauses.

»Ist er fort?« fragte sie.

»Ja.«

Dicke Schweißtropfen standen ihr auf der Stirn. Ich fuhr ihr mit meinem Schnupftuch über das Gesicht und ließ ihr Gesicht vom Winde bestreichen.

»Geht es Ihnen jetzt besser?«

»Ja.«

»Können Sie nach Hause gehen?«

»Sehr gut.«

Ich legte ihren Arm in den meinigen. Nachdem wir einige Schritte gethan hatten, stand sie plötzlich still, wie es schien, in einer nervösen Angst vor einem ihren Weg hemmenden Gegenstande. Sie schwang ihren kleinen Spazierstock langsam vor- und rückwärts in der Luft, wie Jemand, der einen dichten Wald passirt und die niedrigen Zweige und Aeste, die ihn am Vorschreiten hindern, bei Seite schiebt.

»Was machen Sie da?« fragte ich.

»Ich reinige die Luft«, antwortete sie, »die Luft ist voll von ihm. Ich bin in einem Wald voll schwebender Gestalten mit blauen Gesichtern. Geben Sie mir Ihren Arm, daß wir rasch hindurchkommen!«

»Lucilla!«

»Seien Sie mir nicht böse. Ich komme schon wieder zu mir; Kein Mensch weiß besser als ich, welche Thorheit, welche Verrücktheit es ist. Ich habe einen festen Willen und ich bin entschlossen, es koste was es wolle, mich dieses Mal von meiner Schwäche frei zu machen. Ich kann und will Oscar’s Bruder nicht merken lassen, daß er ein Gegenstand des Entsetzens für mich ist.«

Sie stand abermals still und gab mir einen Versöhnungskuß. »Schelten Sie meine Blindheit, liebe Freundin, aber schelten Sie mich nicht. Wenn ich nur sehen könnte —! O, wie kann ich mich Ihnen verständlich machen, die Sie nicht im Dunkel der Nacht ihr Leben verbringen müssen.« Schweigend und nachdenklich ging sie einige Schritte weiter und sagte dann wieder: »Wollen Sie nicht über mich lachen, wenn ich Ihnen etwas sage?«

»Brauche· ich Sie das zu versichern?«

»Stellen Sie sich vor, Sie lägen Nachts im Bette.«

»Nun?«

»Ich habe mir von Leuten erzählen lassen, daß sie bisweilen mitten in der Nacht, ohne daß irgend ein Geräusch sie gestört hätte, aufgewacht sind und daß sie ohne irgend einen Grund sich eingebildet haben, es sei Jemand in ihrem dunklen Zimmer. Ist Ihnen je etwas Aehnliches begegnet?«

»Gewiß, liebes Kind; es begegnet vielen Menschen, sich einmal so etwas einzubilden, wenn ihre Nerven ein wenig aufgeregt sind.«

»Nun gut. Das bilde ich mir in meiner nervösen Aufregung ein. Und was haben Sie gethan, als Ihnen das begegnete?«

»Ich zündete ein Licht an, überzeugte mich, daß meine Vorstellung falsch sei.«

»Nun denken Sie sich, Sie wären in einer endlosen Nacht, ohne sie erhellen zu können, allein mit Ihrer Phantasie im Dunkeln. Das ist meine Lage. In einer so hilflosen Lage aber würden Sie sich nicht leicht von der Verkehrtheit Ihrer Vorstellung überzeugen können, nicht wahr? Sie würden vielleicht sehr mit Unrecht, aber doch entsetzlich unter dieser Vorstellung leiden. »Vielleicht«, schloß sie, indem sie ihren kleinen Spazierstock mit einem traurigen Lächeln in die Höhe hielt, »vielleicht wären Sie dann eine ebenso große Thörin wie die kleine Lucilla und würden die Luft um sich her mit einem solchen Spazierstock zu reinigen suchen.«

Der Zauber ihrer Stimme und ihres Wesens erhöhte noch den Eindruck der rührenden Einfachheit; der tiefen Wahrheit dieser Worte. Sie ließ mich besser erkennen, wie ich es zuvor erkannt hatte, was es heiße, zugleich des Segens einer lebhaften Einbildungskraft theilhaftig und mit dem Fluch der Blindheit beladen zu sein. Einen Augenblick lang war ich in tiefe Bewunderung und Liebe für sie versunken, vergaß ich die schreckliche Lage, in der wir uns alle befanden. Unbewußt erinnerte sie mich wieder daran, als sie meinen Arm ergriff, mit mir weiter ging und zu mir sagte:

»Vielleicht war es Unrecht von mir, Oscar die Wahrheit abzunöthigen. Vielleicht hätte ich mich mit seinem Bruder ausgesöhnt, wenn ich nie erfahren hätte, wie derselbe aussieht. Und doch habe ich von Anfang an gefühlt, daß er etwas Sonderbares an sich habe, ohne daß man mir gesagt und ohne daß ich gewußt hätte, was es sei. Diese Antipathie muß also ihren Grund in meiner Disposition gehabt haben.«

Diese Worte schienen mir beruhigend für den Gemüthszustand, der Lucilla zu ihrem beklagenswerthen Irrthum verleitet hatte. Ich that ihr vorsichtig einige Fragen, um die Richtigkeit meiner Ansicht zu erproben.

.

»Sie sprachen eben davon, daß Sie Oscar die Wahrheit abgenöthigt hätten,« sagte ich »Was hatte Sie argwöhnen lassen, daß; er Ihnen die Wahrheit verberge?«

»Er war so eigenthümlich verlegen und verwirrt«, antwortete sie; »jeder andere an meiner Stelle würde auch Verdacht geschöpft haben, daß Oscar mir die Wahrheit vorenthalte.«

Die Antwort war bündig.

»Und wie haben Sie die Wahrheit herausgefunden?« fragte ich weiter.

»Ich errieth sie durch etwas erwiderte sie, »was er in Bezug auf seinen Bruder sagte. Erinnern Sie sich, daß ich eine grillenhafte Abneigung gegen Nugent Dubourg faßte, noch ehe er nach Dimchurch kam?«

»Allerdings.«

»Und erinnern Sie sich ferner, daß ich in meinem Vorurtheil gegen ihn noch bestärkt wurde, als ich ihm am ersten Tage mit der Hand über das Gesicht fuhr, um dasselbe mit Oscar’s Gesicht zu vergleichen?«

»Ich erinnere mich dessen sehr gut.«

»Nun, während Oscar hin- und her redete und sich widersprach, sagte er etwas, etwas ganz Nebensächliches, was mich auf den Gedanken brachte, daß die Person mit dem blauschwarzen Gesicht sein Bruder sein müsse. Das war die von mir bisher vergeblich gesuchte Erklärung meiner beharrlichen Abneigung gegen Nugent! Sein schreckliches dunkles Gesicht muß bei seiner ersten Berührung auf mich eine ähnliche Wirkung geübt haben wie die, welche Ihr schrecklich dunkelviolettes Kleid auf mich geübt hatte.«

Ich begriff nur zu deutlich. Oscar verdankte es lediglich der Mißdeutung, die seine Worte von Seiten Lucilla’s erfahren hatten, daß sein Geheimniß gewahrt blieb. Und Lucilla’s Mißdeutung offenbarte sich jetzt als das natürliche Ergebniß ihres ängstlichen Verlangens, sich ihr Vorurtheil gegen Nugent Dubourg zu erklären. Obgleich das Unheil einmal angestiftet war, machte ich doch zur Beruhigung meines eigenen Gewissens noch einen Versuch, Lucilla’s Glauben an die Richtigkeit ihres falschen Schlusses zu erschüttern.

»Nur eines verstehe ich noch nicht recht«, sagte ich; »ich begreife Oscar’s Verlegenheit Ihnen gegenüber nicht. Nach Ihrer Auffassung hatte er ja nichts zu fürchten und konnte nicht vermuthen, daß Sie das, was er Ihnen sagte, so aufnehmen würden. Wozu brauchte er verlegen zu sein?«

Ein sarkastisches Lächeln umspielte ihre Lippen.

»Wo haben Sie Ihr Gedächtniß, liebe Freundin?« rief sie. »Sie vergessen, daß Oscar als er mit mir von seinem Bruder sprach, sich in einem argen Dilemma befand. Auf der einen Seite mahnte ihn meine Abneigung gegen dunkle Farben und dunkle Menschen zu schweigen. Auf der anderen Seite trieb ihn mein ihm bekannter Widerwille, dagegen daß man sich meine Blindheit zu Nutze mache, um Dinge vor mir geheim zu halten, dazu, mir die Wahrheit zu sagen. Ist das, wenn man die Schüchternheit des armen Jungen hinzunimmt, nicht Grund genug, seine Verlegenheit zu erklären? Ueberdies«, fügte sie ernsthafter hinzu, »hatte er’s vielleicht an meinem Benehmen gemerkt, daß er mir Verdruß und Kummer bereitet hatte.«

»Wie das?« fragte ich.

»Erinnern Sie sich nicht, daß er einmal im Garten zugestand, er habe sich das Gesicht blau angemalt, um Blaubart vorzustellen und die Kinder damit zu amüsiren? Das war nicht delikat, nicht zartfühlend von ihm; es sah ihm gar nicht ähnlich, eine solche Unempfindlichkeit gegen die schreckliche Entstellung seines Bruders zur Schau zu tragen. Er hätte daran denken und nicht darüber Scherz treiben sollen. Nun, wir wollen nicht weiter davon reden. Wir wollen hineingehen und etwas musiciren, vielleicht daß wir dann die Sache vergessen.«

Selbst Oscar’s plumpe Entschuldigung bei jenem Auftritt im Garten hatte, anstatt sie in ihrem Argwohn zu bestärken, nur dazu gedient, das bei ihr festgewurzeltel Vorurtheil noch fester zu begründen. In jenem kritischen Augenblick war es für mich unmöglich, mehr zu sagen, ehe ich mich mit den Zwillingsbrüdern berathen hatte, was zunächst zu geschehen habe. Der Gedanke an die Zukunft beunruhigte mich lebhaft. Wie, fragte ich mich, würde sie es aufnehmen, was würden die Folgen für Oscar sein, wenn sie erfährt, was sie doch erfahren mußte, wie schrecklich sie betrogen sei. Ich gestehe offen, daß ich vor der Beantwortung dieser Frage zurückschreckte.

Als wir an den Punkt gelangten, wo das Thal eine Biegung macht, sah ich mich noch einmal nach Browndown um. Die Zwillingsbrüder standen noch an derselben Stelle, an der wir sie verlassen hatten. Obgleich ihre Gesichter nicht mehr zu erkennen waren, konnte ich doch ihre Gestalten noch deutlich unterscheiden. Oscar saß lauernd auf der Gartenmauer; Nugent stand aufrecht neben ihm, die eine Hand auf seine Schulter gelegt. Selbst in dieser Entfernung sprachen sich die Charaktere beider Männer in ihrer Haltung aus.

Als wir in die Wendung des Thales einbogen, welche uns ihren Anblick abschnitt, fühlte ich, so leicht ist es, ein Weib zu trösten, daß die gebietende Stellung Nugent‘s einen ermuthigenden Eindruck auf mein Gemüth gemacht hatte. »Er wird schon einen Ausweg finden’, sagte er mir, »Nugent wird uns hindurch helfen!«


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