Namenlos



IV.

Polizeisergant Bulmer (von der Gerichtspolizei) an
Mr. Pendril.

Scotland-Yard,
den 29. September 1846.

Mein Herr!

Ihr Schreiben zeigt mir an, daß die bei unserer Nachforschung nach der vermißten jungen Dame interessierten Parteien sehr verlänglich sind auf Nachricht von derselben. Ich ging heute auf Ihre Amtstube, um mit Ihnen über die Sache zu sprechen. Da ich Sie nicht angetroffen habe und auch morgen nicht wiederkommen und Vorfragen kann, so schreibe ich diese Meldung, um keinen weiteren Aufschub zu verursachen und Ihnen zu sagen, wie weit wir damit gekommen sind.

Ich bedaure sagen zu müssen, daß seit meinem früheren Bericht keine Fortschritte gemacht wurden. Die Spur der jungen Dame, welche wir vor nahezu acht Tagen auffanden, bleibt eben immer noch die letzte Spur von ihr. Dieser Fall scheint ein ungeheuer einfacher zu sein, aus der Ferne besehen. Bei Lichte besehen, nimmt sich die Sache weit heiklicher aus und wird, um die Wahrheit zu sagen, ein ganz verzwickter Casus.

Folgendes ist der Stand der Sache, wie er sich jetzt für uns macht.

Wir haben die junge Dame bis zu der Theatervermittlungsstelle in der Bowstreet verfolgt. Wir wissen, daß in einer frühen Morgenstunde des Dreiundzwanzigsten der Inhaber jener Stelle, als er sich anzog, herunter gerufen ward, um mit einer jungen Dame in einem Cab vor der Thür zu sprechen. Wir wissen ferner, daß, als sie Mr. Huxtables Karte vorzeigte, er ihr Mr. Huxtables Wohnung darauf schrieb und noch hörte, wie sie den Kutscher anwies, nach der Eisenbahn zu fahren. Wir glauben, sie ging ab mit dem Neun-Uhr-Zuge. Wir folgten ihr mit dem Zwölf-Uhr-Zuge. Wir haben festgestellt, daß sie halb drei Uhr In Mr. Huxtables Wohnung vorgefragt, daß sie ihn aber nicht zu Hause gefunden hat und daß man ihn vor Abend nicht zurückerwartete; daß sie dann hinterließ, sie wolle um acht Uhr wiederkommen, und daß sie nicht wieder gekommen ist. Mr. Huxtables Angabe ist, —— er und die junge Dame haben sich mit keinem Auge gesehen. Die erste Betrachtung, welche nun folgt, ist Die: —— Sollen wir Mr. Huxtable glauben? Ich habe mich sorgfältig nach seinem Charakter erkundigt. Ich weiß so viel oder noch mehr von ihm, als er von sich selber weiß. Meine Meinung ist nun, daß wir allerdings ihm Glauben schenken sollen. Nach bestem Wissen und Gewissen halte ich ihn für einen durchaus rechtlichen Mann.

Hier nun ist der Haken in der Sache. Die junge Dame macht sich fort mit einer ganz bestimmten Absicht. Anstatt zur Vollendung dieser Absicht zu schreiten, bleibt sie kurz vorher unverrichteter Dinge stehen. Warum blieb sie stehen? und wo blieb sie? Dies sind zum Unglück gerade die Fragen, welche wir bis jetzt noch nicht beantworten können.

Meine eigene Meinung von der Sache ist nun kürzlich folgende. Ich denke nicht, daß ihr ein ernstes Unglück zugestoßen. Ernste Unglücksfälle entdecken sich in neun Fällen unter zehn gewöhnlich selber. Meine Ansicht ist, daß sie in die Hände von einigen Personen gefallen ist, welche ein Interesse daran haben, sie verborgen zu halten, und gerieben genug sind, um Dies durchzuführen. Ob sie freilich in deren Bereich ist mit oder ohne Zwang, ist mehr als ich mich jetzt zu entscheiden im Stande fühle. Ich mag nicht falsche Hoffnungen noch falsche Besorgnisse erregen, ich wünsche bei der Meinung, die ich schon abgegeben habe, kurzweg stehen zu bleiben.

In Absicht der Zukunft möchte ich Ihnen mittheilen, daß ich einen meiner Leute in täglichem Verkehr mit den Behörden gelassen habe. Ich habe auch Anstalt getroffen, daß die Zettel, welche auf ihr Wiederauffinden eine Belohnung aussetzen, weiter verbreitet werden. Schließlich habe ich nöthige Anordnungen getroffen, um die Anschlagzettel aller Theater draußen im Lande zu sehen zu bekommen und um die Schauspielergesellschaften wohl im Auge zu behalten. Einige Jahre früher hätte Das einen starken Aufwand von Zeit und Geld nöthig gemacht. Zum Glück für unsern Zweck sind die Theater auf dem Lande schlimm daran.

Außer den großen Städten ist kaum eins davon eröffnet, und wir können mit geringen Kosten und wenig Schwierigkeit ein Auge darauf haben.

Dies sind die Schritte, welche ich zur Zeit zu thun für nöthig fand. Wenn Sie anderer Meinung sind, so haben Sie mir nur Ihre Weisungen mitzutheilen, und ich werde nicht ermangeln, denselben pünctlich nachzukommen. Ich gebe durchaus nicht die Hoffnung auf, daß wir die junge Dame auffinden und sie wohl und munter wieder zu ihren Freunden zurückbringen. Sagen Sie ihnen Das gefälligst, und lassen Sie mich zeichnen

Ihr achtungsvoll Ergebener,
Abraham Bulmer.


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