Der Mondstein



Zehntes Capitel.

Wie die mehrstündige Ungewißheit, zu welcher ich mich jetzt verurtheilt sah, auf andere Menschen in meiner Lage gewirkt haben würde, vermag ich nicht zu sagen. Die Wirkung dieser Prüfung auf mein Temperament war folgende: Ich fühlte mich physisch unfähig an irgend einer Stelle auszuharren, und moralisch unfähig mit irgend einem menschlichen Wesen zu reden, bis ich Alles gehört haben würde, was Ezra Jennings mir zu sagen hatte.

In dieser Gemüthsfassung gab ich nicht nur meinen beabsichtigten Besuch bei meiner Tante Ablewhite auf, sondern suchte sogar einer Begegnung mit Gabriel Betteredge aus dem Wege zu gehen.

Ich kehrte nach meinem Hotel in Frizinghall zurück und verließ dasselbe wieder unter Zurücklassung eines Billets an Betteredge, in welchem ich ihm sagte, ich sei unerwarteter Weise aus einige Stunden abgerufen worden, er könne mich aber gegen drei Uhr Nachmittags mit Sicherheit zurück erwarten. Ich bat ihn, inzwischen zu seiner gewohnten Stunde im Hotel zu speisen und sich so gut er könne die Zeit zu vertreiben. Er hatte, wie ich wußte. eine Menge Freunde in Frizinghall und konnte um die Ausfüllung seiner Zeit bis zu meiner Rückkehr nicht verlegen sein.

Dann ging ich wieder zur Stadt hinaus und durchstreifte das einsame Haideland, welches Frizinghall umgiebt, bis meine Uhr mich belehrte, daß endlich die Zeit meiner verabredeten Rückkehr nach Herrn Candy’s Hause gekommen sei.

Ich fand Ezra Jennings bereit und meiner wartend. Er saß allein in einem dürftig möblirten kleinen Zimmer, welches durch eine Glasthür mit dem Laboratorium in Verbindung stand. Widerliche Abbildungen von den Verwüstungen widerlicher Krankheiten bedeckten die häßlich braun bemalten Wände; ein mit verräucherten medicinischen Werken gefüllter Bücherschrank, auf dem statt der gebräuchlichen Büste ein Todtenkopf stand; ein großer hölzerner, von Tintenflecken starrender Tisch; hölzerne Stühle, wie man sie sonst nur in Küchen und Bauerhütten findet; ein fadenscheiniges Stück groben Teppichs, das nur die Mitte des Fußbodens bedeckte, und ein roh in die Wand eingelassener Handguß mit Becken und Ablauf, der die widerlichsten Vorstellungen an seinen Gebrauch bei chirurgischen Operationen erweckte, machten das ganze Mobiliar des Zimmers aus. Die Bienen summten um ein Paar vor dem Fenster stehende Blumentöpfe herum; die Vögel sangen im Garten und von Zeit zu Zeit vernahm man das schwache Geklimper aus einem abgenutzten Clavier in einem Nachbarhause. An jedem andern Orte würden diese alltäglichen Klänge vielleicht gut zu der alltäglichen Außenwelt gestimmt haben. Hier erklangen sie wie Eindringlinge in eine Stille, die zu unterbrechen nur menschliche Leiden das Recht zu haben schienen. Mein Blick fiel auf den Mahagoni-Kasten mit chirurgischen Instrumenten und die große Rolle Charpie, die ihren eignen Platz auf den Bücherbrettern hatten, und ich schauderte innerlich bei dem Gedanken an die Laute, die in Ezra Jennings’ Zimmer die gewohnten und alltäglichen waren.

»Ich entschuldige mich nicht wegen des Orts, an dem ich Sie empfange, Herr Blake,« sagte er; »es ist das einzige Zimmer des Hauses, in welchem wir zu dieser Tageszeit sicher sein können, ungestört zu bleiben. Hier habe ich meine Aufzeichnungen für Sie bereit und hier sind zwei Bücher, in welchen wir vielleicht nachzuschlagen Veranlassung haben werden, bevor wir mit unserm Geschäft zu Ende sind. Rücken Sie Ihren Stuhl an den Tisch und wir werden mit einander arbeiten können.«

Ich setzte mich an den Tisch und Ezra Jennings überreichte mir seine Aufzeichnungen. Sie bestanden aus zwei großen Foliobogen. Der eine derselben war nur an einzelnen Stellen, der andere aber mit rother und schwarzer Tinte von oben bis unten dicht beschrieben. In meinem durch die gespannteste Neugierde aufgeregten Zustand legte ich das zweite Blatt verzweifelt wieder aus der Hand.

»Haben Sie Erbarmen mit mir!« sagte ich. »Sagen Sie mir, was ich zu erwarten habe, bevor ich es es versuche, dies zu lesen.«

»Gern, Herr Blake! Aber darf ich noch ein Paar Fragen an Sie richten?«

»Fragen Sie, was Sie wollen!«

Er sah mich mit einem trüben Lächeln auf den Lippen und dem Ausdruck einer freundlichen Theilnahme in seinen sanften braunen Augen an.

»Sie haben mir bereits gesagt,« fing er an, »daß Sie, Ihres Wissens, noch nie in Ihrem Leben Opium gekostet haben.«

»Meines Wissens?« wiederholte ich.

»Sie werden sogleich verstehen, warum ich mich dieses Vorbehalts bediene. Lassen Sie uns weiter gehen. Sie wissen nicht, daß Sie jemals Opium genommen haben. Im vorigen Jahr um diese Zeit litten Sie an nervöser Aufregung und hatten sehr schlechte Nächte. Die Nacht nach dem Geburtstage bildete aber eine Ausnahme von der Regel —— Sie schliefen gut. Verhält sich das so?«

»Vollkommen!«

»Sind Sie sich irgend einer Ursache Ihrer nervösen Leiden und Ihrer Schlaflosigkeit bewußt?«

»Ich bin mir keiner solchen Ursache bewußt. Ich erinnere mich nur, daß der alte Betteredge eine Ursache gefunden zu haben glaubte, doch die verdient wohl kaum eine Erwähnung.«

»Um Vergebung. Alles verdient Erwähnung in einem Fall wie dieser. Worin glaubte Betteredge die Ursache Ihrer Schlaflosigkeit gefunden zu haben?«

»Darin, daß ich das Rauchen ausgegeben hatte.«

»Waren Sie gewohnt gewesen, regelmäßig zu rauchen?«

»Ja.«

»Gaben Sie die Gewohnheit plötzlich auf?«

»So hatte Betteredge vollkommen Recht, Herr Blake. Wer zu rauchen gewöhnt ist, muß eine ungewöhnlich starke Constitution haben, wenn er es plötzlich aufgeben kann, ohne davon zeitweilig unangenehme Folgen für sein Nervensystem zu verspüren. Ihre schlaflosen Nächte sind also für mich erklärt. Meine nächste Frage betrifft Herrn Candy. Erinnern Sie sich, an dem Geburtstag oder später mit ihm eine Art von Disput über seinen Beruf gehabt zu haben?«

Die Frage erweckte in mir auf der Stelle eine meiner schlummernden Erinnerungen an das Geburtstagsfest. Man wird die Schilderung meiner kindischen Zänkerei mit Herrn Candy bei jenem Diner viel ausführlicher, als sie es verdient, im zehnten Capitel von Betteredge’s Erzählung finden. Die Einzelheiten des Disputs wie sie dort berichtet sind, waren mir gänzlich entfallen, —— so wenig hatte ich später wieder daran gedacht. Alles, dessen ich mich jetzt erinnern, und Alles, was ich Ezra Jennings mittheilen konnte, war, daß ich die ärztliche Kunst bei Tische so hartnäckig und so heftig angegriffen habe, daß selbst Herr Candy für den Augenblick darüber seinen Gleichmuth verloren habe. Ich erinnerte mich auch, daß Lady Verinder sich in’s Mittel gelegt hatte, um dem Streit ein Ende zu machen, und daß der Doktor und ich »uns wieder gut wurden«, wie die Kinder sagen, und so gute Freunde waren, wie je zuvor, als wir uns zum Abschied die Hände gaben.

»Noch Eines« sagte Ezra Jennings, »wäre für mich sehr wichtig zu wissen. Hatten Sie irgend einen Grund, im vorigen Jahr um diese Zeit wegen des Diamanten besonders besorgt zu sein?«

»Ich hatte dazu die aller stärksten Gründe; ich wußte, daß der Diamant der Gegenstand einer Verschwörung sei, und ich war gewarnt, Maßregeln zum Schutz von Fräulein Verinder, als der Besitzerin des Edelsteins, zu treffen.«

»War die Sicherheit des Diamanten der Gegenstand der Unterhaltung zwischen Ihnen und Jemand Anderem, unmittelbar bevor Sie sich am Abend des Geburtstages zur Ruhe begaben?«

»Das war der Gegenstand einer Unterhaltung zwischen Lady Verinder und ihrer Tochter ——«

»Die in Ihrer Gegenwart stattfand?«

»Ja«

Ezra Jennings nahm seine Aufzeichnungen vom Tische auf und überreichte sie mir.

»Herr Blake,« sagte er, »wenn Sie diese Auszeichnungen jetzt in dem Lichte lesen, welches meine Fragen und Ihre Antworten aus dieselben geworfen haben, so werden Sie zwei merkwürdige Entdeckungen in Betreff Ihrer selbst machen. Sie werden finden: —— Erstens, daß Sie, als Sie Fräulein Verinders Wohnziminer betraten und den Diamanten fortnahmen, sich in einem durch Opium hervorgerufenen Zustand der Extase befanden; zweitens, daß Ihnen das Opium ohne Ihr Wissen von Herrn Candy als eine praktische Widerlegung der Ansichten, welche Sie bei dem Geburtstagsdiner gegen ihn geäußert hatten, verabreicht worden war.«

Ich saß, die Papiere noch in der Hand, ganz versteinert da.

»Versuchen Sie es, dem armen Herrn Candy zu vergeben,« sagte der Assistent »Er hat schreckliches Unheil angerichtet, das muß ich zugeben, aber er hat es ohne böse Absicht gethan. Wenn Sie die Auszeichnungen ansehen wollen, werden Sie finden, daß er, wenn ihn seine Krankheit nicht daran verhindert hätte, am Morgen nach der Gsellschaft wieder zu Lady Verinder gekommen sein und sich zudem Streich bekannt haben würde, den er Ihnen gespielt hatte. Fräulein Verinder würde davon gehört und ihn näher befragt haben, und die Wahrheit, welche ein Jahr lang verborgen geblieben ist, würde in einem Tage entdeckt worden sein.«

Ich fing an, meine Fassung wieder zu gewinnen.

»Herr Candy ist für meine Rache unerreichbar,« sagte ich zornig, »aber der Streich, den er mir gespielt hat, bleibt darum doch ein Act der Verrätherei. Ich kann ihm vergeben, aber ich werde es nie vergessen.«

»Jeder Arzt begeht solche Acte der Verrätherei in seiner Praxis, Herr Blake. Das aus Unwissenheit hervorgehende Mißtrauen gegen Opium beschränkt sich in England keineswegs auf die unteren und ungebildeten Klassen. Jeder vielbeschäftigte Arzt sieht sich dann und wann genöthigt, seine Patienten zu betrügen, wie Herr Candy Sie betrogen hat. Ich will den thörichten Einfall, Ihnen unter den damaligen Umständen einen solchen Streich zu spielen, gewiß nicht vertheidigen. Ich möchte Sie nur zu einer genaueren und milderen Beurtheilung der Motive veranlassen.«

»Wie geschah es?« fragte ich, »wer gab mir das Opium ein, ohne daß ich etwas davon wußte?«

»Das vermag ich Ihnen nicht zu sagen. Während der ganzen Krankheit des Herrn Candy ist ihm kein Wort in Betreff dieses Umstandes entfahren. Vielleicht kann Ihnen Ihr eigenes Gedächtniß auf die Spur der fraglichen Person helfen.«

»Nein«

»In dem Fall ist es unnütz, weiter nachzuforschen. Irgendwie wurde Ihnen das Opium im Geheimen beigebracht. Lassen Sie uns für’s Erste uns dabei beruhigen und zu Dingen von größerer unmittelbarer Wichtigkeit übergehen. Lesen Sie meine Aufzeichnungen, wenn Sie können. Machen Sie sich mit dem Geschehenen vertraut; ich habe Ihnen in Betreff des zu Geschehenden einen sehr kühnen und verwegenen Vorschlag zu machen.«

Diese letzten Worte brachten mich wieder völlig zur Besinnung.

Ich sah die Aufzeichnungen eine nach der andern, wie sie mir Ezra Jennings in die Hand gegeben hatte, durch. Das Blatt, welches die abgebrochenen Sätze und Worte enthielt, lag oben auf. Dieselben lauteten wie folgt:

—— Herr Franklin Blake —— und angenehmer —— Eins darauf —— Medicin —— bekennt —— Schlaflosigkeit —— sage ihm —— Unordnung —— Medicin —— Er sagt —— Dunkeln tappen dasselbe —— ganzen Mittagsgesellschaft —— Ich sagte —— tappen nach Schlaf —— nichts als, Medicin —— Er sagt —— einen Blinden führt —— weiß ich, was damit gemeint ist —— witzig —— gegen seinen eigenen Willen —— ruhige Nacht —— braucht wirklich Schlaf —— Lady Verinder’s Medicinkasten —— ohne sein Wissen —— fünfundzwanzig Tropfen Opium —— morgen früh —— Nun, Herr Blake —— heute —— Medicin —— Ohne das —— keinen —— Herr Candy —— ohne Medicin —— vortreffliche —— Wahrheit sagen —— etwas anderes —— vortrefflichen —— Dosis Opium —— lieber Herr —— Bett —— Was —— jetzt —— ärztlichen Kunst.

Das war der ganze Inhalt des ersten Bogens. Ich gab denselben Ezra Jennings zurück.

»Das ist es, was Sie an seinem Krankenlager gehört?« sagte ich.

»Buchstäblich sind genau« antwortete er, »nur daß ich die Wiederholungen, wie ste sich in meinen stenographischen Auszeichnungen finden, nicht mit übertragen habe. Gewisse Worte und Sätze wiederholte er wohl zehn, zwanzig, fünfzig Mal, je nachdem er auf die Ideen, die ihm dabei vorschwebten, größeres oder geringeres Gewicht legte. So aufgefaßt, waren mir die Wiederholungen bei der Zusammensetzung der Bruchstücke von Nutzen. Denken Sie nicht,« fügte er hinzu, indem er auf das zweite Blatt Papier hinwies, »daß ich mir einbilde, die Ausdrücke wieder gegeben zu haben, deren Herr Candy sich selbst bedient haben würde, wenn er im Stande gewesen wäre, zusammenhängend zu reden. Ich behaupte nur, daß es mir gelungen ist, das Hinderniß der unzusammenhängenden Ausdrucksweise zu überwinden und zu dem zusammenhängenden Sinn der derselben zu Grunde lag, vorzudringen. Urtheilen Sie selbst.«

Ich nahm das zweite Blatt Papier in die Hand, von dem ich jetzt wußte, daß es den Schlüssel zu dem ersten enthalte.

Abermals waren hier die irren Reden des Herrn Candy mit schwarzer Tinte wortgetreu wiedergegeben, während die Zwischenräume zwischen den abgebrochenen Sätzen von Ezra Jennings mit rother Tinte ausgefüllt waren. Ich gebe das Resultat hier in einer Gestalt wieder, da ja die ursprünglichen Ausdrücke und die zu ihrer Erklärung hinzugefügten Worte in diesen Blättern nahe genug bei einander stehen um leicht verglichen und verificirt werden zu können.

» —— Herr Franklin Blake ist ein gescheidter und angenehmer Mann, aber er muß Eins darauf haben, wenn er von Medicin spricht. Er bekennt, daß er an Schlaflosigkeit gelitten hat. Ich sage ihm, daß seine Nerven in Unordnung sind und daß er Medicin nehmen müßte. Er sagt mir, daß Medicin nehmen und im Dunkeln tappen dasselbe sei, und das vor der ganzen Mittagsgesellschaft. Ich sagte ihm, Sie tappen nach Schlaf und nichts als Medicin kann Ihnen dazu verhelfen, denselben zu finden. Er sagt mir, ich habe sagen gehört, daß ein Blinder einen Blinden führt und jetzt weiß ich, was damit gemeint ist. Das ist ganz witzig, aber ich kann ihm doch gegen seinen eigenen Willen eine ruhige Nacht verschaffen; er braucht wirklich Schlaf und Lady Verinder’s Medicinkasten steht zu meiner Verfügung. Ihm ohne sein Wissen heute Abend fünfundzwanzig Tropfen Opium eingeben und ihn dann morgen früh besuchen. »Nun, Herr Blake, haben Sie nicht heute Lust, etwas Medicin zu nehmen? Ohne das finden Sie doch keinen Schlaf.« —— »Da irren Sie sich, Herr Candy, ich habe ohne Medicin eine vortreffliche Nacht gehabt« —— Dann ihm die Wahrheit sagen. —— »Sie haben noch etwas anderes außer einer vortrefflichen Nacht gehabt; Sie haben eine Dosis Opium zu sich genommen, lieber Herr, ehe Sie zu Bett gegangen sind. Was sagen Sie jetzt zu der ärztlichen Kunst?«

Meine erste Empfindung, als ich Ezra Jennings die durchgelesenen Blätter wieder überreichte, war natürlich Bewunderung des Scharfsinns, welcher dieses glatte und seine Gewebe aus einem so verwickelten Knäuel von Fäden hergestellt hatte. Bescheiden unterbrach er den anerkennenden Ausdruck meiner Ueberraschung mit der Frage, ob mir die Schlüsse die er aus seinen Aufzeichnungen gezogen habe, gerechtfertigt erschienen.

»Glauben Sie mit mir,« fragte er, »daß Sie Alles, was Sie in der Geburtstags-Nacht in Fräulein Verinders Hause vernahmen, unter dem Einflusse des Opiums thaten?«

»Ich weiß zu wenig von den Wirkungen des Opiums, um darüber ein eigenes Urtheil abgeben zu können,« antwortete ich. »Ich kann mich nur Ihrer Ansicht anschließen und mich überzeugt fühlen, daß Sie Recht haben.«

»Nun wohl. Jetzt aber fragt es sich: Wie sollen wir andern Leuten unsere Ueberzeugung beibringen?«

Ich deutete auf die beiden Bogen Papier, die vor uns auf dem Tische lagen. Ezra Jennings schüttelte den Kopf.

»Diese Aufzeichnungen, wie sie da sind, würden uns gar nichts nützen, Herr Blake, und zwar aus drei unwiderleglichen Gründen. Erstens sind diese Aufzeichnungen unter Umständen gemacht worden, wie die wenigsten Menschen sie erlebt haben. Das würde der erste Einwand gegen sie sein! Zweitens sind die Aufzeichnungen der Ausfluß einer physiologischen und psychologischen Theorie. Das wäre der zweite Einwand. Drittens habe ich diese Aufzeichnungen gemacht —— der etwaigen Behauptung, daß sie rein erfunden seien, würden wir nichts als meine Versicherung entgegen zu setzen haben. Erinnern Sie sich an das, was ich Ihnen auf der Haide erzählt habe und fragen Sie sich selbst, welchen Werth man auf meine Versicherung legen würde. Nein, dem Urtheil der Menge gegenüber haben meine Aufzeichnungen nur einen Werth. Sie zeigen den Weg. auf welchem der Beweis Ihrer Unschuld erbracht werden kann. Wir müssen unsere Ueberzeugung durch einen Beweis erhärten und Sie sind der Mann,

diesen Beweis zu liefern.«

»Wie das?«

In seinem Eifer lehnte er sich, um mir näher zu sein, weit über den Tisch, der zwischen uns stand.

»Sind Sie bereit ein kühnes Experiment zu versuchen?«

»Ich bin bereit Alles zu thun, was dazu dienen kann mich von dem auf mir lastenden Verdacht zu reinigen.«

»Würden Sie Ihre Person auf einige Zeit einiger Unbequemlichkeit unterziehen?«

»Jeder, gleichviel welcher.«

»Wollen Sie sich ganz meiner Leitung anvertrauen? Das Experiment wird Sie vielleicht in den Augen der Thoren lächerlich machen; das Unternehmen wird Ihnen vielleicht Vorstellungen von Freunden zuziehen, deren Ansichten Sie sich zu respectiren verpflichtet fühlen ——«

»Sagen Sie mir was ich zu thun habe,« brach ich ungeduldig aus, »und ich will es thun, entstehe daraus was da wolle.«

»Was Sie thun sollen, Herr Blake, ist Folgendes: Sie sollen in Gegenwart von Zeugen, deren Aussage unanfechtbar sein wird, den Diamanten zum zweiten Mal in bewußtlosem Zustande stehlen.«

Ich sprang auf, ich versuchte zu reden, aber die Zunge versagte mir, ich konnte ihn nur ansehen.

»Ich glaube, die Sache ist ausführbar,« fuhr er fort, »und sie soll ausgeführt werden, wenn Sie mir nur dabei helfen wollen. Suchen Sie sich zu fassen, setzen Sie sich und hören Sie, was ich Ihnen zu sagen habe. Sie haben die Gewohnheit des Rauchens wieder aufgenommen, wie ich mich selbst überzeugt habe. Seit wann rauchen Sie wieder?«

»Seit ungefähr einem Jahre.«

»Rauchen Sie jetzt mehr oder weniger als früher?«

»Mehr.«

»Sind Sie bereit die Gewohnheit wieder aufzugeben, wohlgemerkt, ganz plötzlich, wie Sie es schon einmal gethan haben?«

Ich fing an zu ahnen, worauf er hinauswollte und antwortete: »Ich bin bereit, es auf der Stelle aufzugeben.«

»Wenn Sie,« sagte Ezra Jennings, »wieder dieselben Folgen wie im vorigen Juni verspüren, wenn Sie wieder an schlaflosen Nächten leiden, wie Sie es damals thaten, so werden wir unsern ersten Schritt gethan, wir werden etwas dem Zustand Ihrer Nerven an dem Geburtstags-Abend Aehnliches bei Ihnen hervorgerufen haben.

Wenn wir demnächst die häuslichen Verhältnisse, in welchen Sie sich damals befanden, völlig oder annähernd wieder herstellen und Ihren Geist wieder mit den verschiedenen Fragen in Betreff des Diamanten erfüllen können, so werden wir Sie der Situation, in welcher Sie das Opium im vorigen Jahre nahmen, physisch und moralisch wieder so nahe wie möglich gebracht haben. In diesem Falle dürfen wir uns der Hoffnung hingeben, daß eine gleiche Dosis Opium zu einem mehr oder weniger entsprechenden Resultat führen wird. Da haben Sie meinen Vorschlag in wenigen eiligen Worten. Jetzt sollen Sie hören, wie ich mich für denselben verantworten kann.«

Er schlug eines der neben ihm liegenden Bücher an einer durch einen schmalen Papierstreifen bezeichneten Stelle auf.

»Fürchten Sie nichts« fuhr er fort, »daß ich Sie mit einer physiologischen Vorlesung ermüden werde, aber ich halte mich in Ihrem wie in meinem eigenen Interesse verpflichtet, Ihnen zu zeigen, daß es nicht meine Autorität allein ist, auf welche hin Sie sich dem fraglichen Experiment unterziehen sollen. Unbestrittene Grundsätze und anerkannte Autoritäten rechtfertigen meine Ansicht. Leihen Sie mir fünf Minuten ein aufmerksames Ohr und ich will es unternehmen Ihnen zu beweisen, daß ich meinen so abenteuerlich klingenden Vorschlag wissenschaftlich begründen kann. Hier sehen Sie erstens das physiologische Princip, auf das hin ich agire, von keinem Geringeren als von Dr. Carpenter aufgestellt. Lesen Sie selbst.«

Er überreichte mir den Papierstreifen, durch welchen die Stelle in dem Buche bezeichnet gewesen war. Derselbe enthielt einige geschriebene Zeilen folgenden Inhalts:

»Es scheint hinlänglicher Grund zu der Annahme vorhanden, daß jeder Eindruck auf das Empfindungsvermögen, der jemals in das Bewußtsein eines Individuums aufgenommen ist, so zu sagen in das Gehirn einregistrirt wird und in einem künftigen Zeitpunkt reproducirt werden kann, wenn auch in der ganzen seit der Aufnahme des Eindrucks verflossenen Zeit kein Bewußtsein desselben vorhanden gewesen ist.«

»Ist Ihnen das klar?« fragte Ezra Jennings.

»Vollkommen.«

Er schob das offene Buch über den Tisch zu mir hinüber und deutete auf eine mit Bleistift unterstrichene Stelle.

»Jetzt,« sagte er, »lesen Sie diesen Bericht über einen Fall, der, wie ich glaube, eine Analogie mit Ihrer eigenen Situation und mit dem Experiment bietet, zu dessen Anstellung ich Sie auffordere. Bemerken Sie, Herr Blake, ehe Sie anfangen, daß ich Sie jetzt an einen der größten englischen Physiologen verweise. Das Buch, das Sie in der Hand halten, ist Dr. Elliotson’s Physiologie des Menschen, und der Fall, welchen der Verfasser citirt, wird durch die Autorität des bekannten Dr. Combe verbürgt.«

Die betreffende Stelle lautete wie folgt:

»Dr.» Abel, sagt Herr Combe, erzählte mir von einem irischen Arbeitsmanne in einem Magazin, der, wenn er nüchtern war, vergaß, was er betrunken gethan hatte, sobald er aber wieder betrunken war sich seiner in seinem früheren Zustande der Trunkenheit vorgenommenen Handlungen wieder erinnerte. Einmal hatte er in der Trunkenheit ein Packet von einigem Werthe verloren und konnte, wieder ernüchtert, Nichts über den Verbleib sagen. Das nächste Mal aber, wo er wieder betrunken war, erinnerte er sich, daß er das Packet in einem bestimmten Hause gelassen habe. Da sich auf demselben keine Adresse befand, so war es dort ruhig liegen geblieben und wurde ihm, als er darnach fragte, wieder eingehändigt.«

»Ist Ihnen das auch klar?« fragte Ezra Jennings,

»So klar wie möglich.«

Er legte den Papierstreifen wieder an seinen Platz und schloß das Buch.

»Haben Sie sich überzeugt, daß ich nicht ohne den Rückhalt guter Autoritäten gesprochen habe?« fragte er. »Ich kann Ihnen auch noch eine Fülle von anderen Autoritäten für meine Behauptungen vorführen.«

»Ich bin durch Ihre Ausführungen und Belege schon vollkommen überzeugt« erwiderte ich.

»Nun, so können wir auf Ihr persönliches Interesse an dieser Angelegenheit zurückkommen Es ist meine Pflicht, Ihnen zu sagen, daß sich sowohl gegen als für das Experiment etwas sagen läßt. Wenn wir in Ihrem Fall die Umstände, wie sie im vorigen Jahre vorhanden waren, ganz genau wieder herstellen könnten, so würden wir, das steht physiologisch fest, zu genau demselben Resultat gelangen.

Aber das ist, wie sich nicht leugnen läßt, völlig unmöglich. Wir können nur hoffen, jenen Umständen nahe zu kommen und wenn es uns nicht gelingt, Sie in einen dem früheren hinreichend ähnlichen Zustand zu versetzen, so wird unser Wagniß fehlschlagen Wenn es uns aber gelingt, —— und ich für meine Person hege diese Hoffnung, —— so werden Sie doch mindestens das, was Sie in der Geburtstagsnacht vorgenommen haben, genau genug wiederholen, um jeden vernünftigen Menschen zu überzeugen, daß Sie an dem Diebstahl des Diamanten moralisch unschuldig sind. Ich glaube, Herr Blake, ich habe Ihnen jetzt innerhalb der Grenzen, die ich mir selbst gezogen habe, beide Seiten der Fragen so offen wie möglich dargelegt. Wenn Ihnen noch irgend etwas unklar geblieben ist, so sagen Sie es mir, und ich will Sie, so weit es mir möglich ist, darüber aufklären.«

»Alles was Sie mir erklärt haben,« sagte ich, »verstehe ich vollkommen. Aber ich muß bekennen, daß mich ein Punkt, den Sie mir noch nicht klar gemacht haben, beunruhigt.«

»Und der wäre?«

»Ich begreife die Wirkung des Opiums auf mich nicht. Ich begreife nicht, warum ich die Treppe hinunter durch lange Corridore gegangen bin, die Schubladen eines Schränkchens geöffnet und geschlossen habe und wieder nach meinem Zimmer zurückgegangen bin. Das sind Alles thätige Vornahmen; bis jetzt habe ich geglaubt, daß die Wirkung des Opiums nur darin besteht, erst zu betäuben und dann einzuschläfern.«

»Der gewöhnliche Irrthum in Betreff des Opiums, Herr Blake! Ich selbst, wie ich hier vor Ihnen stehe und nach meinen Kräften in Ihrem Interesse thätig bin, wirke unter dem Einfluß einer mehr als zehn Mal größeren Dosis Opium als die war, welche Herr Candy Ihnen verabreichte. Aber Sie sollen sich selbst in einer Frage, in der ich mich auf meine eigene Erfahrung berufen kann, nicht auf meine Autorität verlassen. Ich habe den Einwand, den Sie mir eben gemacht haben, vorausgesehen, und ich habe mich abermals mit einem unanfechtbaren Zeugniß versehen, das sowohl in Ihren Augen, als in denen Ihrer Freunde für sich selbst reden wird.«

Er überreichte mir das zweite von den beiden Büchern, die er vor sich auf dem Tisch liegen hatte.

»Hier,« sagte er, »sind die weltberühmten Bekenntnisse eines englischen Opiumessers. Nehmen Sie das Buch mit sich nach Hause und lesen Sie es. An der Stelle, die ich für Sie angestrichen habe, werden Sie finden, daß, wenn de Quincey sich einem ausschweifenden Genuß des Opiums ergeben hatte, er entweder in die Oper auf die Gallerie ging, um sich an der Musik zu erfreuen, oder am Sonnabend Abend die Londoner Märkte durchschlenderte und sich an all den kleinen Einkäufen der Armen für ihre Sonntagsmahlzeit ergötzte. So viel über die Fähigkeit des Menschem sich unter dem Einfluß des Opiums thätig zu beschäftigen und von der Stelle zu bewegen.«

»Ueber diesen Punkt,« sagte ich, »bin ich jetzt allerdings aufgeklärt, aber in Betreff der Wirkung des Opiums auch mich selbst genügt mir die Antwort noch nicht.«

»Auch darauf will ich Ihnen in wenigen Worten zu antworten versuchen,« sagte Ezra Jennings. »In der Mehrzahl der Fälle begreift die Wirkung des Opiums zwei Einflüsse in sich, zuerst einen stimulirenden und dann einen besänftigenden. Unter dem stimulirenden Einfluß werden die neuesten und lebhaftesten von Ihrem Geist aufgenommenen Eindrücke, nämlich die Eindrücke in Betreff des Diamanten, bei der krankhaften Reizbarkeit Ihrer Nerven in Ihrem Gehirn wahrscheinlich eine derartige Intensität erlangt haben, daß sie Ihr Urtheil und Ihren Willen beherrschtem ganz wie schon ein gewöhnlicher Traum unser Urtheil und unsern Willen beherrscht. Unter diesem Einfluß werden sich nach und nach die Besorgnisse in Betreff der Sicherheit des Diamanten, welche Sie vielleicht im Laufe des Tages beschäftigt hatten, aus Zweifeln zu voller Gewißheit gesteigert haben. Und diese Gewißheit wird Sie zu einem thätigen Handeln zur Sicherung des Diamanten angestachelt und Sie dazu bestimmt haben, mit diesem Zweck im Auge Ihre Schritte nach dem fraglichen Zimmer zu lenken und Ihre Hand nach dem Schubladen auszustrecken, bis Sie die Schublade gefunden hatten, welche den Edelstein enthielt. Das Alles werden Sie in Ihrem geistigen Opiumrausch gethan haben. Später, als die beruhigende Wirkung über die stimulirende die Oberhand zu gewinnen anfing, werden »Sie allmälig von einer betäubenden Trägheit ergriffen worden, noch später werden Sie in einen tiefen Schlaf verfallen sein und mußten dann am nächsten Morgen, nachdem der Schlaf die ganze Wirkung des Opiums absorbiert hatte, sich dessen, was Sie während der Nacht gethan, so vollkommen unbewußt erwachen, als ob Sie die ganze Nacht hindurch ruhig in Ihrem Bette geschlafen hätten. Habe ich mich Ihnen bis jetzt einigermaßen deutlich gemacht?«

»So deutlich« sagte ich, »daß ich nur wünschte, Sie gingen noch einen Schritt weiter. Sie haben mir klar gezeigt, wie ich dazu kam, das Zimmer zu betreten und den Diamanten fortzunehmen. Aber Fräulein Verinder hat gesehen, wie ich das Zimmer mit dem Diamanten in der Hand wieder verließ. Haben Sie eine Vermuthung über das, was ich nach dem Verlassen des Zimmers that?«

»Auf diesen Punkt wollte ich eben kommen,« erwiderte er, »ich halte es für möglich, das Experiment, welches ich als ein Mittel zum Beweise Ihrer Unschuld proponire, auch zur Wiederauffindung des verlorenen Diamanten zu benutzen. Als Sie Fräulein Verinder’s Wohnzimmer mit dem Juwel in der Hand verließen, kehrten Sie, aller Wahrscheinlichkeit nach, auf Ihr eigenes Zimmer zurück ——«

»Ja, und was weiter?«

»Es ist möglich, Herr Blake, —— ich wage nicht mehr zu sagen ——, daß Ihr Gedanke, den Diamanten sicher aufzubewahren, Sie in natürlicher Folge auf den weiteren Gedanken brachte, den Diamanten zu verstecken, und daß Ihr Schlafzimmer der Ort des Verstecks war. Hier könnte sich also bei Ihnen der Fall des irischen Arbeitsmannes wiederholen. Vielleicht werden Sie sich unter dem Einfluß der zweiten Dosis Opium des Platzes erinnern, an welchem Sie unter dem Einfluß der ersten Dosis den Diamanten versteckten.«

Jetzt war die Reihe an mir, Ezra Jennings aufzuklären Ich unterbrach ihn mit den Worten:

»Das Ergebniß, welches Sie als eine Eventualität in’s Auge fassen, ist unmöglich. Der Diamant befindet sich in diesem Augenblick in London.«

Er sprang auf und sah mich sehr überrascht an.

»In London?« wiederholte er, »wie kam er aus Lady Verinder’s Hause nach London?«

»Das weiß kein Mensch.«

»Sie haben ihn in Ihrer eigenen Hand aus Fräulein Verinder’s Zimmer getragen. Wie kam er aus Ihrem Gewahrsam?«

»Darüber habe ich durchaus keine Vermuthung.«

»Sahen Sie den Edelstein noch, als Sie am Morgen erwachten?«

»Nein«

»Ist Fräulein Verinder wieder in den Besitz desselben gelangt?«

»Nein«

»Herr Blake! Hier scheint noch etwas der Aufklärung zu bedürfen. Darf ich fragen, woher Sie wissen, daß der Diamant diesen Augenblick in London ist?«

Genau dieselbe Frage hatte ich bei meinem ersten Besuch nach meiner Rückkehr nach England an Herrn Bruff gerichtet. Ich beantwortete also Ezra Jennings Frage mit dem, was mir der Advocat selbst mitgetheilt hatte und was den Lesern dieser Blätter bereits bekannt ist.

Er zeigte deutlich, daß ihn meine Antwort nicht befriedigte.

»Mit aller Achtung vor Ihnen und Ihrem Rechtsbeistand,« sagte er, »Halte ich meine eben ausgesprochene Ansicht aufrecht. Dieselbe beruht, wie ich sehr wohl weiß, auf einer reinen Annahme; aber erlauben Sie mir, Sie daran zu erinnern, daß auch Ihre Ansicht auf einer reinen Annahme beruht.«

Seine Auffassung der Sache war mir vollkommen neu. Ich erwartete mit ängstlicher Spannung, wie er dieselbe rechtfertigen würde.

»Ich habe angenommen,« fuhr Ezra Jennings fort, »daß das Opium, nachdem es für Sie der Antrieb gewesen, sich zum Zweck der sicheren Aufbewahrung in den Besitz des Diamanten zusetzen, auch der Antrieb für Sie gewesen sein könne, den Stein irgendwo in Ihrem Zimmer zu verstecken. Sie nehmen an, daß die indischen Verschwörer sich nicht irren können. Die Indier suchten den Diamanten in Herrn Luker’s Hause, —— also, folgern Sie, muß der Diamant in Herrn Luker’s Besitz sein! Haben Sie irgend einen Beweis dafür, daß der Mondstein überall nach London gebracht worden ist? Sie haben nicht einmal eine Vermuthung darüber, wie oder durch wen derselbe aus Lady Verinder’s Hause kam! Haben Sie irgend einen Beweis dafür, daß der Edelstein an Herrn Luker verpfändet wurde? Er erklärt, nie von dem Mondstein gehört zu haben, und der Empfangschein seines Bankiers bescheinigt nichts als die Deposition eines kostbaren Werthgegenstandes. Die Indier nehmen an, daß Herr Luker lügt —— und Sie nehmen wieder an, daß die Indier Recht haben. Alles was ich zur Vertheidigung meiner Annahme sage, ist: Sie ist möglich. Was können Sie logisch oder juristisch mehr von der Ihrigen sagen?«

Diese Behauptung war stark, aber unleugbar wahr.

»Ich gestehe, daß Sie mich stutzig machen,« erwiderte ich. »Haben Sie etwas dagegen, daß ich Herrn Bruff Ihre Ansicht mittheile?«

»Im Gegentheil, es ist mir lieb, wenn Sie Herrn Bruff schreiben. Vielleicht hilft uns seine Erfahrung dazu, die Angelegenheit in einem neuen Lichte zu betrachten. Jetzt lassen Sie uns auf unser Experiment mit dem Opium zurückkommen. Wir sind übereingekommen, daß Sie sich des Rauchens von diesem Augenblicke an wieder enthalten?«

»Von diesem Augenblick an.«

»Das ist unser erster Schritt. Der nächste muß darin bestehen, die häuslichen Verhältnisse in denen Sie sich im vorigen Jahre befanden, so genau wie möglich wieder herzustellen.«

Wie war das möglich? Lady Verinder war todt. Rachel und ich waren, so lange der Verdacht des Diebstahls auf mir lastete, unwiderruflich geschieden. Godfrey Ablewhite war aus dem Continent. Es war ganz unmöglich, die Personen, welche das Haus, als ich zum letzten Mal darin geschlafen hatte, bewohnten, wieder darin zu versammeln. Aber dieser Einwand schien Ezra Jennings nicht in Verlegenheit zu setzen. Er lege, sagte er, sehr geringen Werth darauf, dieselben Personen wieder zu versammeln, da es doch ein vergebliches Bemühen sein würde, sie in dieselbe Lage zu versetzen, in der sie sich im vorigen Jahre mir gegenüber befunden hatten. Andererseits hielt er es für wichtig für den Erfolg des Experiments, daß ich dieselben Gegenstände um mich her sehe, welche mich bei meiner letzten Anwesenheit im Hause umgeben hatten.

»Vor Allem,« sagte er, »müssen Sie in demselben Zimmer schlafen, in welchem Sie in der Geburtstagsnacht schliefen und muß es ebenso möblirt sein, wie damals. Auch die Treppen, die Corridors und Fräulein Verinder’s Wohnzimmer müssen ganz so wieder hergestellt werden, wie Sie sie zuletzt gesehen haben. Es ist durchaus unerläßlich, Herr Blake, jedes aus diesen Localitäten etwa entfernte Möbel wieder an seinen früheren Platz zu stellen. Das Rauchopfer, welches Sie zu bringen bereit sind, würde unnütz sein, wenn wir nicht Fräulein Verinder’s Erlaubniß zu der gedachten Wiederherstellung der Räumlichkeiten erwirken können.«

»Wer soll sie um diese Erlaubniß bitten?« fragte ich. »Können Sie das nicht thun?«

»Ganz unmöglich. Nach dem was in Veranlassung des Verlustes des Diamanten zwischen uns vorgefallen ist, kann ich sie unter den gegenwärtigen Umständen weder sehen, noch ihr schreiben.« Ezra Jennings schwieg einen Augenblick nachdenklich.

»Darf ich ich mir eine delicate Frage erlauben? sagte er.

Ich forderte ihn durch ein Zeichen auf, fortzufahren.

»Irre ich mich nicht, Herr Blake, wenn ich aus einer und der anderen Ihnen entfahrenen Aeußerung schließen zu dürfen glaube, daß Sie vordem ein nicht gewöhnliches Interesse an Fräulein Verinder genommen haben?«

»Vollkommen richtig«

»Wurde dieses Interesse erwidert?«

»Allerdings!«

»Halten Sie es für wahrscheinlich, daß Fräulein Verinder sich für den Versuch, Ihre Unschuld zu erweisen, lebhaft interessiren werde?«

»Davon bin ich überzeugt.«

»In diesem Falle will ich, wenn Sie es mir erlauben wollen, an Fräulein Verinder schreiben.«

»Und ihr den Vorschlag mittheilen, den Sie mir gemacht haben?«

»Ihr Alles mittheilen, was heute zwischen uns vorgegangen ist.«

Ich brauche wohl kaum zu sagen, daß ich sein Anerbieten bereitwilligst annahm.

»Ich habe noch Zeit, mit der heutigen Post zu schreiben,« sagte er, nach der Uhr sehend. »Vergessen Sie nicht, Ihre Cigarren zu verschließen, wenn Sie in Ihr Hotel zurückkehren! Ich werde Sie morgen Vormittag besuchen, um von Ihnen zu hören, wie Sie die Nacht verbracht haben.«

Ich schickte mich an, fortzugehen, und versuchte es, ihm Dank für seine Güte, den ich wirklich empfand, auszudrücken.

Er drückte mir sanft die Hand.

»Erinnern Sie sich dessen, was ich Ihnen auf der Haide gesagt habe,« antwortete er. »Wenn ich Ihnen diesen kleinen Dienst leisten kann, Herr Blake, so wird das für mich wie ein letzter Sonnenstrahl am Abend eines langen trüben Tages sein.«

Ich ging. Es war der 15. Juni. Die Ereignisse der nächsten zehn Tage —— die alle mehr oder weniger direct mit dem Experiment zusammenhingen, dessen passiver Gegenstand ich war —— sind alle in dem von Herrn Candy’s Assistenten regelmäßig geführten Tagebuche genau verzeichnet In diesen Aufzeichnungen ist nichts verheimlicht und nichts vergessen. Hören wir von Ezra Jennings, wie das Wagniß mit dem Opium versucht ward und wie es verlief.


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