Die Frau in Weiß

Die Aussage Walter Hartrights in Clement's Inn zu London.

XII.

Die offene Lage des Kirchhofes hatte mich genöthigt, die Wahl meines Beobachtungspostens mit Umsicht zu treffen.

Der Haupteingang zur Kirche war auf der Seite des Begräbnißplatzes und die Thür durch eine mit einer Mauer umgebene Vorhalle verborgen. Nach kurzem Zögern, das aus einem natürlichen Widerwillen, mich zu verstecken, entsprang, wie unvermeidlich dies Verstecken auch bei dem Zwecke, den ich im Auge hatte, sein mochte, beschloß ich, in diese Vorhalle zu treten. In jeder der Seitenmauern war ein rundes Fenster. Durch das eine derselben konnte ich Mrs. Fairlie’s Grab sehen. Das andere ging nach dem Steinbruch hin, wo die Hütte des Todtengräbers stand. Vor mir, dem Eingange der Vorhalle gegenüber, lag ein Stück kahlen Begräbnißbodens, ein Ende von der niedrigen Steinmauer und ein Streifen des einsamen braunen Hügels, über den die Sonnenuntergangswolken schwer vor dem starken Winde dahinstrichen. Kein lebendes Wesen war zu hören oder zu sehen – kein Vogel flog vorüber; kein Hund bellte in des Todtengräbers Hütte. Die Pausen in dem dumpfen Tosen der Brandung füllte das trübe Rauschen der kleinen Bäume neben dem Grabe und das kalte, schwache Murmeln des Baches, wie er in seinem steinernen Bette dahinkroch. Ein düsterer Ort und eine düstere Stunde. Mein Geist wurde trauriger, als ich in meinem Verstecke in der Vorhalle der Kirche die langen Minuten des Abends zählte.

Es war noch nicht im Halbdunkel – das Licht der untergehenden Sonne zögerte noch am Himmel, und wenig über eine halbe Stunde war verflossen, nachdem ich meinen Posten eingenommen hatte, als ich Schritte und eine Stimme hörte. Die Schritte kamen von der entgegengesetzten Seite der Kirche, und die Stimme war eine weibliche.

»Sorge Du Dich nicht um den Brief, mein liebes Kind,« sagte die Stimme. »Ich habe ihn sicher in die Hände des Burschen gegeben und der Bursche nahm ihn, ohne ein Wort zu sagen. Er ging seiner Wege und ich der meinigen und es folgte mir keine lebende Seele – dafür stehe ich ein.«

Diese Worte trieben meine Aufmerksamkeit auf einen Grad der Erwartung, der beinahe schmerzhaft war. Es trat eine Pause im Gespräche ein, aber die Schritte kamen immer näher. Einen Augenblick später gingen zwei Personen, beide Frauen, innerhalb meines Gesichtskreises an dem Fenster der Vorhalls vorbei. Sie gingen gerade auf das Grab zu und wandten mir daher den Rücken zu.

Eine der beiden Frauen trug einen Hut und Shawl, die andere einen langen Reisemantel von dunkelblauer Farbe, dessen Kappe sie über den Kopf gezogen hatte. Einige Zoll ihres Kleides waren unter dem Mantel sichtbar. Mein Herz schlug heftig, als ich die Farbe unterschied – es war weiß.

Als sie etwa auf halbem Wege Zwischen der Kirche und dem Grabe angelangt waren, standen sie still und die Frau im Mantel drehte den Kopf zu ihrer Begleiterin hin. Aber ihr Profil, das ein Hut mir jetzt zu sehen erlaubt hätte, war durch die schwere, vorstehende Kante ihrer Kappe verborgen.

»Behalte mir ja den warmen Mantel um,« sagte dieselbe Stimme, welche ich schon vorher gehört hatte – die Stimme der Frau mit dem Shawl. »Mrs. Todd hat Recht, wenn sie sagt, daß Du gestern zu auffallend aussahst, so ganz in Weiß. Ich will ein bißchen umher spazieren, solange Du hier bist, denn Kirchhöfe sind durchaus nicht mein Geschmack, wie sehr sie auch dir gefallen mögen. Mache nur das, was Du zu thun hast, fertig, bis ich zurückkomme, und lasse uns auf jeden Fall vor Einbruch der Nacht wieder zu Hause sein.«

Mit diesen Worten wandte sie sich um und ging mit dem Gesichte mir zugewendet denselben Weg zurück. Es war das Gesicht einer ältlichen Frau, bräunlich, scharf und gesund, in dessen Ausdrucke Nichts Unehrliches oder Verdächtiges lag. Dicht bei der Kirche stand sie still, um sich fester in ihren Shawl zu hüllen.

»Sonderbar,« sagte sie, »immer sonderbar in ihren Launen und Ideen, solange ich mich ihrer erinnern kann. Aber harmlos – so harmlos, arme Seele, wie ein kleines Kind.«

Sie seufzte, schaute ängstlich über den Begräbnißplatz hin, schüttelte den Kopf, als ob der düstere Anblick ihr keineswegs behage, und verschwand, indem sie um die Ecke der Kirche bog.

Ich war einen Augenblick unschlüssig, ob ich ihr folgen und mit ihr sprechen solle oder nicht. Mein heftiges Verlangen, mich ihrer Begleiterin gegenüber zu sehen, bestimmte mich zu letzterem. Ich konnte mich eines Zusammentreffens mit der Frau im Shawl versichern, indem ich in der Nähe des Kirchhofes ihre Rückkehr erwartete – obgleich es mehr als zweifelhaft schien, ob sie mir die Aufklärung werde geben können, nach der ich forschte. Die Person, welche den Brief abgegeben hatte, war von unbedeutender Wichtigkeit; die aber, welche ihn geschrieben, war der Mittelpunkt des Interesses und die Quelle der Aufklärung; und diese Person stand meiner Ueberzeugung nach jetzt vor mir auf dem Kirchhofe.

Während diese Gedanken mir durch den Kopf gingen, sah ich die Frau im Mantel dicht an das Grab herantreten und es eine Weile still betrachten. Sie blickte dann rund um sich, und ein weißes Leinwandtuch unter ihrem Mantel hervorziehend, wandte sie sich dem Bache zu. Der kleine Strom rann unter einer Oeffnung in der Mauer in den Kirchhof hinein, und nachdem er innerhalb desselben einen Bogen beschrieben, floß er unter einer ebensolchen wieder hinaus. Sie tauchte das Tuch in das Wasser und kehrte zum Grabe zurück. Ich sah sie das weiße Kreuz küssen, dann vor der Anschrift niederknien und sich anschicken, das Monument mit dem weißen Tuche zu reinigen.

Nachdem ich bei mir überlegt, wie ich mich ihr am besten zeigen könne, ohne sie zu erschrecken, beschloß ich, an der Stelle vor mir über die Mauer zu steigen, dann außen an derselben entlang zu gehen und über den Tritt nahe bei dem Grabe in den Kirchhof zu treten, damit sie mich kommen sehen möge. Sie war indeß so sehr in ihre Beschäftigung vertieft, daß sie mich nicht eher kommen hörte, als bis ich über den Tritt gestiegen war. Dann blickte sie auf, sprang mit einem schwachen Ausrufe auf ihre Füße und stand mir mit sprach- und regungslosem Schrecken gegenüber.

»Erschrecken Sie nicht,« sagte ich, »Sie erinnern sich meiner doch gewiß?«

Ich stand still, während ich sprach – dann trat ich langsam ein paar Schritte näher – stand wieder still – und ging so nach und nach zu ihr heran, bis ich dicht neben ihr stand. Hätte ich noch irgendwie Zweifel gehegt, so mußte derselbe jetzt weichen. Da, mir gegenüber an Mrs. Fairlie’s Grabe sah ich dasselbe Gesicht, das ich in jener Nacht auf der Landstraße zum ersten Male erblickt hatte.

»Sie erinnern sich meiner?« sagte ich. »Wir begegneten einander sehr spät, und ich half Ihnen, den Weg nach London zu finden. Sie haben doch das nicht vergessen?«

Ihre Züge erheiterten sich, und sie that einen tiefen Athemzug der Erleichterung. Ich sah das neue Leben des Erkennens sich langsam unter der todtenähnlichen Ruhe regen, welche die Furcht auf ihr Gesicht gerufen hatte.

»Versuchen Sie noch nicht, mit mir zu sprechen,« fuhr ich fort, »lassen Sie sich Zeit, um sich zu erholen – lassen Sie sich Zeit, um sich zu überzeugen, daß ich Ihr Freund bin.«

»Sie sind sehr gütig gegen mich,« flüsterte sie, »ebenso gütig jetzt, wie damals.«

Sie schwieg, und auch ich vermochte Nichts zu sagen. Ich ließ nicht nur ihr Zeit, sich zu fassen, sondern wünschte auch für mich Zeit zu gewinnen. – Noch einmal waren jene Frau und ich einander in dem bleichen, milden Abendlichte begegnet; zwischen uns ein Grab, um uns her die Todten und rings auf allen Seiten die einsamen, finsteren Hügel. Die Stunde, der Ort, die Umstände, unter denen wir jetzt in der Abendstille jenes öden Thales einander gegenüberstanden; das lebenslange Interesse, das jetzt von dem Worte abhängen mochte, das zuerst gesprochen würde; der Gedanke, daß, soviel mir bewußt, Laura Fairlie’s ganze Zukunft, Wohl oder Wehe entschieden werden sollte, und zwar dadurch, daß ich das Vertrauen des unglücklichen Wesens, das jetzt zitternd am Grabe ihrer Mutter stand, entweder gewönne oder verlöre – Alles dies drohte die Festigkeit und Fassung zu erschüttern, von der jeder Zoll der Fortschritte abhing, die mir noch zu machen übrig blieben. Als ich dies fühlte, suchte ich mich zu sammeln; ich that mein Möglichstes, um von meinem kurzen Nachdenken den besten Nutzen zu ziehen.

»Sind Sie jetzt beruhigt?« fragte ich sie, sobald ich glaubte, daß es Zeit sei, wieder zu sprechen. »Können Sie mit mir sprechen, ohne sich zu fürchten oder zu vergessen, daß ich Ihr Freund bin?«

»Wie kamen Sie hierher?« fragte sie, ohne zu beachten, was ich gesagt hatte.

»Erinnern Sie sich nicht, daß ich Ihnen, als wir uns das letzte Mal sahen, erzählte, ich würde nach Cumberland reisen? Ich bin also seit der Zeit in Cumberland gewesen; ich habe die ganze Zeit in Limmeridge House zugebracht.«

»In Limmeridge House!« Ihr blasses Gesicht erhellte sich, als sie die Worte wiederholte; ihre unsteten Augen hefteten sich voll Interesse auf mich. »Ach, da müssen Sie sehr glücklich gewesen sein!« sagte sie, indem sie mich begierig ansah und ohne daß noch eine Spur ihres ehemaligen Mißtrauens in ihrem Gesichte zu sehen war.

Ich benutzte ihr neu erwecktes Vertrauen zu mir, um ihr Gesicht mit einer Aufmerksamkeit und Neugier zu prüfen, welche zu verrathen ich vorsichtshalber mich bisher enthalten hatte. Ich sah sie an, während jenes andere liebliche Gesicht, das mich an dieses auf so bedeutungsvolle Weise jenen Abend im Mondschein auf der Terrasse erinnert hatte, meine Gedanken füllte. Ich hatte Anna Catherick’s Aehnlichkeit mit Miß Fairlie gesehen und jetzt sah ich Miß Fairlie’s Aehnlichkeit mit Anna Catherick – sah sie umso deutlicher, weil die Unähnlichkeiten zwischen Beiden sowohl als ihre Aehnlichkeiten vor mir waren. In dem allgemeinen Umrisse des Gesichtes und im Verhältniß der Züge; in der Farbe des Haares und der nervösen kleinen Unsicherheit der Lippen; in der Größe und Form der Gestalt und in der Haltung des Kopfes und Körpers erschien mir die Aehnlichkeit auffallender denn je vorher. Doch da endete dieselbe, und die Unähnlichkeit in Einzelheiten begann. Die zarte Schönheit von Miß Fairlie’s Hautfarbe, die durchsichtige Klarheit ihrer Augen, die weiche Reinheit ihrer Haut, die blühende Farbe auf ihren Lippen, Alles dies fehlte auf dem abgemagerten müden Gesichte, das jetzt dem meinigen zugewendet war. Obgleich ich mich dafür haßte, so drängte sich mir doch unwillkürlich, indem ich die Frau vor mir anblickte, der Gedanke auf, daß Nichts als ein einziger trauriger Wechsel der Zukunft fehlte, um die Aehnlichkeit vollkommen zu machen, die ich jetzt in ihren Einzelheiten unvollkommen fand. Falls jemals Kummer und Leiden ihren entweihenden Stempel auf Miß Fairlie’s Jugend und Schönheit drückten, dann, und nur dann erst, würden sie und Anna Catherick die Zwillingsschwestern zufälliger Aehnlichkeit, das leibhafte Abbild von einander sein.

Mir schauderte es bei dem Gedanken. Es war etwas Furchtbares in dem blinden, unüberlegten Mißtrauen gegen die Zukunft, welches das bloße Auftauchen desselben in meinem Geiste anzudeuten schien. Es war mir eine willkommene Unterbrechung, als das Gefühl von Anna Catherick’s Hand auf meiner Schulter mich zu mir selbst zurückrief. Die Berührung war ebenso heimlich und plötzlich wie jene, welche mich vom Kopfe bis zu den Füßen hatte erstarren lassen in der Nacht, wo wir zuerst einander begegneten.

»Sie sehen mich an und Sie denken an etwas,« sagte sie mit ihrer seltsamen, athemlosen Schnelligkeit der Sprache, »was ist es?«

»Nichts Besonderes,« entgegnete ich, »ich dachte nur daran, wie Sie hierher gekommen seien.«

»Ich kam mit einer Freundin, die sehr gut gegen mich ist. Ich bin erst seit zwei Tagen hier.«

»Und Sie fanden gestern den Weg hierher?«

»Woher wissen Sie das?«

»Ich errieth es blos.«

Sie wandte sich von mir und kniete wieder vor der Inschrift nieder.

»Wohin sollte ich gehen, wenn nicht hierher?« sagte sie. »Sie, die mir mehr als eine Mutter war, ist die einzige Freundin, welche ich in Limmeridge aufzusuchen habe. O, es thut meinem Herzen weh, einen Flecken auf ihrem Grabsteine zu sehen! er sollte weiß wie Schnee gehalten werden um ihretwillen. Ich gab gestern der Versuchung nach, ihn zu reinigen, und mußte heute wiederkommen, um es zu vollenden. Liegt darin irgend etwas Unrechtes? Ich hoffe nicht. Es kann doch Nichts Unrechtes in dem sein, was ich aus Liebe zu Mrs. Fairlie thue?«

Die alte dankbare Erinnerung an die Güte ihrer Wohlthäterin war offenbar die vorherrschende Idee in dem Gemüthe dieses armen Geschöpfes – diesem engen Gemüthe, das – wie es mir nur zu deutlich war – seit jenem ersten Eindrucke aus ihrer glücklichen Jugendzeit, keinen anderen bleibenden Eindruck mehr in sich aufgenommen hatte. Ich sah, daß, um ihr Vertrauen zu gewinnen, es das beste sein würde, sie zu ermuntern, mit der bescheidenen Arbeit fortzufahren, um deretwillen sie auf den Begräbnißplatz gekommen war. Sie nahm dieselbe augenblicklich wieder auf, sowie ich ihr sagte, daß sie dies thun möge, und berührte den harten Marmor so leicht und zart, als ob er ein fühlendes Wesen wäre, wobei sie die Worte der Inschrift vor sich herflüsterte und wiederholte, wie wenn die geschwundenen Tage ihrer Kindheit ihr zurückgekehrt seien und sie zu Mrs. Fairlie’s Füßen, wie ehemals, ihre Aufgabe lerne.

»Würde es Sie sehr wundern,« sagte ich, so vorsichtig wie möglich den Weg zu den Fragen anbahnend, die ich ihr vorlegen mußte, »wenn ich Ihnen gestände, es sei ebensosehr zu meiner Freude als zu meiner Verwunderung, daß ich Sie hier wiedersehe? Ich fühlte mich Ihretwegen sehr beunruhigt, nachdem Sie mich verlassen hatten.«

Sie blickte schnell und argwöhnisch auf.

»Beunruhigt,« wiederholte sie, »weshalb?«

»Es trug sich etwas Sonderbares zu, nachdem wir jenen Abend voneinander geschieden waren. Es fuhren zwei Männer in einer Chaise an mir vorbei; sie sahen mich nicht, aber sie hielten dicht neben mir stille und sprachen mit dem Constabler auf der entgegengesetzten Seite der Straße.«

Sie hielt augenblicklich in ihrer Beschäftigung inne. Die Hand, in der sie das nasse Tuch hielt, mit dem sie die Anschrift gereinigt hatte, sank an ihrer Seite nieder. Mit der anderen Hand faßte sie das Kreuz am oberen Ende des Grabes. Ihr Gesicht wandte sich langsam zu mir hin und zeigte wieder den bestürzten Ausdruck starren Schreckens. Ich fuhr auf alle Gefahr hin fort, denn es war jetzt zu spät, es zurückzunehmen.

»Die beiden Männer sprachen mit dem Constabler,« sagte ich, »und frugen ihn, ob er Sie gesehen habe. Er hatte Sie nicht gesehen, und dann sprach der Eine von ihnen wieder und sagte, Sie seien aus seiner Anstalt entflohen.«

Sie sprang auf, wie wenn meine letzten Worte die Verfolger auf ihre Spur gejagt hätten.

»Warten Sie! und hören Sie das Ende,« rief ich. »warten Sie! und Sie sollen erfahren, wie ich als Ihr Freund handelte. Ein Wort von mir hätte jenen Leuten verrathen, wohin Sie gegangen waren, aber ich sprach dieses Wort nicht. Ich unterstützte Ihre Flucht – ich machte sie gewiß und sicher. Bedenken Sie das, versuchen Sie, das zu bedenken. Suchen Sie das, was ich Ihnen sage, zu verstehen.«

Meine Art und Weise schien mehr Eindruck auf sie zu machen als meine Worte. Sie bemühte sich, die neue Idee zu erfassen. Sie nahm das nasse Tuch aus einer Hand in die andere, gerade wie sie es in jener Nacht, wo ich sie zum erstenmale sah, mit der kleinen Tasche gemacht hatte. Die Bedeutung meiner Worte schien sich langsam durch die Verwirrung und Aufregung ihres Gemüthes einen Weg zu bahnen. Ihre Züge erhellten sich langsam, und ihre Augen gewannen in ihrem Ausdrucke das an Neugier, was sie an Furcht verloren.

»Sie denken doch nicht, daß ich wieder nach der Anstalt zurückgebracht werden sollte, wie?« sagte sie.

»Ganz gewiß nicht. Ich freue mich, daß Sie daraus entflohen sind und – daß ich ihnen dazu behilflich gewesen.«

»Ja ja; Sie halfen mir in der That; Sie halfen mir da, wo mir’s schwer wurde,« fuhr sie etwas zerstreut fort. »Das Entfliehen war leicht oder es wäre mir nicht gelungen. Sie beargwöhnten mich nie, wie mich die Anderen beargwöhnten. Ich war so ruhig, so gehorsam und so leicht erschrocken. Das Schwere dabei war, London zu finden, und darin halfen Sie mir. Habe ich Ihnen damals gedankt? Ich danke Ihnen jetzt recht, recht sehr.«

»War die Anstalt sehr weit von der Stelle, wo Sie mich fanden? Nun! Beweisen Sie mir, daß Sie einen Freund in mir sehen, und sagen Sie mir, wo die Anstalt war.«

Sie nannte den Ort – eine Privatirrenanstalt, wie ich aus ihrer Angabe entnahm, eine Privatirrenanstalt nicht weit von der Stelle, wo ich sie zuerst gesehen hatte – und dann wiederholte sie mit offenbarer Unruhe über den etwaigen Gebrauch, den ich von ihrer Antwort machen werde, ihre frühere Frage: »Sie denken doch nicht, daß ich nach der Anstalt zurückgebracht werden sollte, wie?«

»Ich wiederhole es Ihnen: ich freue mich, daß Sie entkamen und daß es Ihnen wohl ging, nachdem Sie mich verlassen hatten,« entgegnete ich. »Sie sagten, daß Sie eine Freundin in London hätten, zu der Sie gehen würden. Fanden Sie diese Freundin?«

»Ja. Es war sehr spät. Aber es war ein Mädchen im Hause, die noch spät mit Handarbeit beschäftigt war, und sie half mir, Mrs. Clements zu wecken. Mrs. Clements ist meine Freundin. Eine liebe, gütige Frau, aber nicht wie Mrs. Fairlie. Ach nein, Niemand gleicht Mrs. Fairlie?«

»Ist Mrs. Clements eine alte Freundin von Ihnen? Haben Sie sie lange gekannt?«

»Ja; sie war früher unsere Nachbarin zu Hause in Hampshire; sie hatte mich lieb und sah nach mir, als ich ein kleines Mädchen war. Vor langen Jahren, als sie von da fortzog, schrieb sie in mein Gebetbuch ein, wo sie in London wohnen werde, und sagte: ›Wenn dir’s jemals schlecht geht, Anna, dann komme zu mir. Ich habe keinen Mann, der mir’s untersagen könnte, noch Kinder, für die ich zu sorgen hätte, und ich will für Dich sorgen‹. Waren das nicht gütige Worte? Ich habe sie wohl behalten, weil sie so gütig waren. Außer ihnen habe ich freilich nur wenig, sehr, sehr wenig behalten!«

»Hatten Sie keinen Vater, keine Mutter, die für Sie sorgen konnten?«

»Mein Vater? Hab’ ihn nie gesehen; ich habe meine Mutter nie von ihm sprechen hören. Vater? Ach Gott! er wird wohl todt sein.«

»Und Ihre Mutter?«

»Wir passen nicht gut zusammen; wir verursachen einander nur Sorge und Furcht.«

Verursachen einander nur Sorge und Furcht! Bei diesen Worten kam mir zum erstenmale der Verdacht, daß es vielleicht ihre Mutter war, welche sie unter Aufsicht gestellt hatte.

»Fragen Sie mich nicht nach meiner Mutter,« fuhr sie fort, »ich spreche lieber von Mrs. Clements. Mrs. Clements denkt wie Sie, sie findet nicht, daß ich nach der Anstalt zurückgebracht werden sollte, und sie freut sich ebenso wie Sie, daß es mir gelang, daraus zu entfliehen. Sie weinte über mein Unglück und sagte, es müsse vor allen Leuten geheim gehalten werden.«

Ihr »Unglück«. In welchem Sinne gebrauchte sie dieses Wort? In einem Sinne, der ihren Beweggrund, aus dem sie den anonymen Brief schrieb, hätte erklären können? In dem Sinne, welcher auf den zu häufigen, zu gewöhnlichen Beweggrund hindeutete, aus welchem manche Frau der Heirat des Mannes, der ihren Untergang verschuldet, anonymerweise Hindernisse in den Weg gelegt hat? Ich beschloß, den Versuch zu machen, diesen Zweifel zu lösen, ehe wir von etwas Anderem sprächen.

»Was für ein Unglück?« frug ich.

»Das Unglück meiner Einsperrung,« entgegnete sie, allem Anscheine nach erstaunt über meine Frage; »welch anderes Unglück könnte es sonst noch für mich geben?«

Ich beschloß, so zart und schonend wie möglich fortzufahren. Es war von der größten Wichtigkeit, daß jeder Schritt, den ich jetzt in meiner Nachforschung vorwärts that, mit Sicherheit ausgeführt wurde.

»Es gibt noch ein anderes Unglück,« sagte ich, »das einem Weibe widerfahren und ihm lebenslänglichen Kummer und lebenslängliche Schande bereiten kann.«

»Welches ist das?« frug sie begierig.

»Das Unglück, zu unschuldsvoll an die eigene Tugend und an die Redlichkeit und Treue des Mannes zu glauben, den man liebt,« erwiderte ich.

Sie sah mit dem ungekünstelten Ausdrucke des Nichtbegriffenhabens eines Kindes zu mir auf. In ihrem Gesichte zeigte sich nicht die kleinste Spur von Verwirrung oder Erröthen oder auch nur des geheimsten Bewußtseins der Schande – dieses Gesicht, das jede andere Bewegung so deutlich verrieth. Kein gesprochenes Wort hätte mich so wie ihr Blick und Benehmen überzeugen können, daß der Beweggrund, den ich ihrem Schreiben und Absenden des anonymen Briefes an Miß Fairlie unterlegte, unzweifelhaft der verkehrte sei. Dieser Zweifel war wenigstens jetzt beseitigt; aber dieser Umstand selbst brachte uns neue Ungewißheit. Der Brief bezeichnete, wie ich nach entschiedenen Indicien wußte, Sir Percival Glyde, obgleich er ihn nicht nannte. Sie mußte einen starken Beweggrund haben, welcher aus einer tiefen Verletzung entsprang, und ihn heimlich und in solchen Ausdrücken, wie sie gebraucht hatte, bei Miß Fairlie anzuklagen und dieser Beweggrund lag offenbar nicht in dem Verluste ihrer Unschuld und ihres Friedens, welches Unrecht er ihr auch zugefügt haben mochte, es war nicht dieser Art. Worin konnte es nur bestehen?

»Ich verstehe Sie nicht,« sagte sie, nachdem sie offenbar lange, aber vergebens versucht hatte, die Bedeutung meiner letzten Worte zu fassen.

»Es thut Nichts,« entgegnete ich. »Lassen Sie uns mit dem fortfahren, wovon wir sprachen. Sagen Sie mir, wie lange Sie bei Mrs. Clements in London blieben und wie es zuging, daß Sie hierher kamen?«

»Wie lange?« wiederholte sie. »Ich blieb bei Mrs. Clements, bis wir beide vor zwei Tagen hierher kamen.«

»Dann wohnen Sie hier im Dorfe?« sagte ich. »Es ist eigen, daß ich noch nicht von Ihnen gehört habe, obgleich Sie erst zwei Tage hier sind.«

»Nein, nein; nicht im Dorfe. Drei Meilen (engl.) von hier auf einem Gehöfte. Kennen Sie das Gehöfte? Es wird Todd’s Ecke genannt.«

Ich erinnerte mich des Gutes vollkommen; wir waren auf unseren Spazierfahrten oft daran vorbeigekommen. Es war eins der ältesten Gehöfte der Gegend und lag landeinwärts an einer einsamen, geschützten Stelle am Fuße zweier Hügel.

»Die Leute zu Todd’s Ecke sind Verwandte von Mrs. Clements,« fuhr sie fort, »und hatten sie oft gebeten, sie zu besuchen. Sie sagte, sie wolle zu ihnen reisen und mich mitnehmen, damit ich Ruhe und frische Landluft genießen könne, war das nicht sehr freundlich von ihr? Ich wäre überall hingegangen, um nur in Ruhe und Sicherheit und Verborgenheit zu sein. Aber als ich hörte, daß Todd’s Ecke nahe bei Limmeridge sei – o! da war ich so glücklich, daß ich gern den ganzen Weg barfuß zurückgelegt hätte, um das Dorf und die Schule und Limmeridge wiederzusehen. Die Leute zu Todd’s Ecke sind sehr freundlich. Ich hoffe, ich werde eine lange Zeit bei ihnen bleiben können. Nur Eins gefällt mir nicht an ihnen und gefällt mir nicht an Mrs. Clements –«

»Was ist das?«

»Sie quälen mich, weil ich mich immer ganz weiß kleide – sie sagen, es sieht so auffallend aus. Was wissen sie davon? Mrs. Fairlie verstand das am besten. Mrs. Fairlie hatte mich niemals diesen garstigen blauen Mantel tragen lassen. Ach! sie hatte Weiß so gern, als sie noch lebte, und hier ist ein weißer Stein an ihrem Grabe und aus Liebe zu ihr mache ich ihn noch weißer. Sie selbst trug sehr oft Weiß und kleidete ihre kleine Tochter immer in Weiß. Ist Miß Fairlie wohl und glücklich? Trägt sie noch Weiß, wie damals, als sie ein kleines Mädchen war?«

Ihre Stimme wurde leiser, als sie diese Fragen über Miß Fairlie that, und sie wandte ihren Kopf mehr und mehr von mir ab. Es war mir, als entdeckte ich in der Veränderung ihres Wesens ein unruhiges Bewußtsein der Gefahr, welcher sie sich ausgesetzt, indem sie den anonymen Brief absandte und ich beschloß sogleich, meine Antwort zu einzurichten, daß sie es mir in ihrer Ueberraschung bekannte.

»Miß Fairlie war heute Morgen nicht sehr wohl oder verstimmt,« sagte ich.

Sie murmelte ein paar Worte vor sich hin; doch waren sie so verwirrt und so leise gesprochen, daß ich den Sinn nicht einmal errathen konnte.

»Frugen Sie mich, warum Miß Fairlie heute Morgen weder wohl noch glücklich war?« fuhr ich fort.

»Nein,« sagte sie schnell und aufgeregt – »o nein, ich frug das nicht.«

»Ich will es Ihnen sagen, ohne daß Sie mich fragen,« fuhr ich fort, »Miß Fairlie hat Ihren Brief erhalten –.«

Sie hatte seit einiger Zeit auf ihren Knieen gelegen, indem sie sorgfältig die letzten Flecke von der Inschrift abwischte, während wir zusammen sprachen. Die ersten Worte meiner letzten Rede ließen sie mit ihrer Beschäftigung innehalten und langsam, ohne sich von ihren Knieen zu erheben, ihr Gesicht mir zuwenden; die letzten aber ließen sie förmlich erstarren. Das Tuch entfiel ihren Händen, ihre Lippen öffneten sich und die wenige Farbe, die in ihrem Gesichte noch übrig war, schwand gänzlich aus ihm.

»Woher wissen Sie das?« sagte sie mit schwacher Stimme; »wer hat Ihnen denselben gezeigt?« Das Blut stieg in ihre Wangen – schnell und gewaltig, indem es sie wie ein Blitz durchfuhr, daß ihre eigenen Worte sie verrathen hatten. Sie schlug in Verzweiflung die Hände zusammen. »Ich habe ihn nicht geschrieben,« hauchte sie mühsam und erschrocken; »ich weiß Nichts davon!«

»Doch,« sagte ich, »Sie haben ihn geschrieben und wissen wohl davon. Es war unrecht von Ihnen, einen solchen Brief zu schreiben und Miß Fairlie zu erschrecken. Falls Sie irgend etwas zu sagen hatten, das recht und nothwendig für sie war zu wissen, so hätten Sie selbst nach Limmeridge House gehen und es der jungen Dame mit Ihren eigenen Lippen sagen sollen.«

Sie beugte sich über den flachen Grabstein hin, bis ich ihr Gesicht nicht mehr sehen konnte und entgegnete Nichts.

»Miß Fairlie wird ebenso gütig und freundlich gegen Sie sein, wie ihre Mutter es war, falls Sie es gut meinen,« fuhr ich fort. »Miß Fairlie wird Ihr Geheimniß bewahren und Sie nicht zu Schanden kommen lassen. Wollen Sie sie morgen auf dem Gehöfte sehen? oder wollen Sie im Garten zu Limmeridge House mit ihr zusammenkommen?«

»O, wenn ich doch sterben und bei Ihnen ruhen könnte!« murmelten ihre Lippen dicht über dem Grabsteine in Tönen leidenschaftlicher Zärtlichkeit zu der Todten da unten. »Sie wissen, wie sehr ich Ihr Kind liebe, um Ihretwillen! O Mrs. Fairlie! Mrs. Fairlie! sagen Sie mir, wie ich sie retten kann. Seien Sie noch einmal mein Liebling und meine Mutter und sagen Sie mir, was ich thun soll!«

Ich hörte, wie ihre Lippen den Stein küßten, und sah sie leidenschaftlich ihre Hände darauf legen. Der Ton und der Anblick bewegten mich tief. Ich beugte mich herab zu ihr, faßte ihre armen, hilflosen Hände sanft mit den meinigen und versuchte, sie zu beruhigen.

Es war nutzlos. Sie entzog mir schnell ihre Hände und drückte ihr Gesicht noch immer auf den Stein. Da ich jedoch die dringende Nothwendigkeit sah, sie auf jeden Fall und wie ich nur konnte, zu besänftigen, so benutzte ich den einzigen Wunsch, welchen sie in Bezug auf mich und meine Meinung von ihr fühlte – den Wunsch nämlich, daß ich sie für geeignet anerkenne, Herrin über ihre eigenen Handlungen zu bleiben, sie für zurechnungsfähig halte.

»Kommen Sie,« sagte ich sanft. »Suchen Sie sich zu fassen, sonst werden Sie mich nöthigen, meine Meinung über Sie zu ändern. Lassen Sie mich nicht denken, daß diejenige Person, welche Sie unter Aufsicht in die Anstalt schickte, eine Entschuldigung dafür –«

Die nächsten Worte erstarrten auf meinen Lippen. Sowie ich die Anspielung auf die Person wagte, welche sie in die Irrenanstalt gebracht hatte, sprang sie von ihrer knieenden Lage empor. Es brachte eine ganz außerordentliche und auffallende Veränderung in ihr hervor. Ihr Gesicht, das sonst durch seinen gefühlvollen, sanften, unsicheren Ausdruck so rührend anzuschauen war, wurde plötzlich finster durch einen Ausdruck fast wahnsinnigen Hasses und unbeschreiblicher Furcht, welcher jedem ihrer Züge eine wilde, unnatürliche Kraft verlieh. Ihre Augen leuchteten in dem matten Abendlichte, wie die eines wilden Thieres. Sie riß das Tuch, das ihren Händen entfallen war, mit einer Heftigkeit vom Boden auf, als ob es ein lebendes Wesen sei, das sie tödten müsse, und drückte es dann mit so krampfhafter Gewalt in beiden Händen, daß die wenigen Tropfen von Feuchtigkeit, welche es noch enthielt, auf den Stein fielen.

»Sprechen Sie von etwas Anderem,« sagte sie, durch ihre Zähne hindurch flüsternd, »es bringt mich außer Fassung, wenn Sie davon sprechen.«

Jede Spur der sanften Gefühle, welche noch vor einer Minute ihr Herz erfüllt hatten, schien jetzt aus demselben verwischt Zu sein. Es war klar, daß der Eindruck, den Mrs. Fairlie’s Güte in ihrem Gemüthe zurückgelassen, nicht, wie ich vermuthet hatte, der einzige starke Eindruck in ihrem Gedächtnisse war. Neben der dankbaren Erinnerung an ihre Schulzeit in Limmeridge lebte noch die rachsüchtige Erinnerung an das Unrecht, das man ihr durch ihre Einsperrung in der Irrenanstalt zugefügt hatte. Wer hatte ihr dieses Unrecht angethan? Konnte wirklich ihre Mutter dies gethan haben?

Es war hart, die Nachforschung bis zu diesem letzten Punkte aufgeben zu müssen; aber ich zwang mich, davon abzulassen. So wie ich sie jetzt vor mir sah, wäre es grausam von mir gewesen, wenn ich an irgend etwas Anderes hätte denken können, als an die durch die Menschlichkeit gebotene Nothwendigkeit, sie zu beruhigen.

»Ich will von Nichts sprechen, das Sie betrübt,« sagte ich begütigend.

»Sie verlangen etwas von mir,« sagte sie scharf und argwöhnisch. »Sehen Sie mich nicht so an. Sprechen Sie, sagen Sie mir, was Sie von mir verlangen.«

»Ich verlange Nichts, als daß Sie sich beruhigen und, wenn Sie ganz gefaßt sind, an das denken, was ich Ihnen gesagt habe.«

»Gesagt?« Sie hielt inne, drehte das Tuch in den Händen hin und her und flüsterte vor sich hin: »Was hat er gesagt?« Sie wandte sich zu mir und schüttelte ungeduldig den Kopf. »Warum helfen Sie mir nicht?« sagte sie mit zorniger Hast.

»Ja, ja,« sagte ich, »ich will Ihnen helfen; und Sie werden sich bald daran erinnern. Ich bat Sie, Miß Fairlie morgen zu sehen und ihr die Wahrheit über den Brief zu sagen.«

»Ach ja, Miß Fairlie – Fairlie – Fairlie –,« sagte sie. Das bloße Aussprechen des geliebten wohlbekannten Namens schien sie zu beruhigen. Ihr Gesicht erhellte sich und wurde wieder das alte.

»Sie brauchen sich durchaus nicht vor Miß Fairlie zu fürchten«, fuhr ich fort, »oder daß Sie irgendwie durch den Brief zu Schaden kommen könnten. Sie weiß bereits so viel, daß es Ihnen nicht schwer werden wird, ihr Alles zu sagen. Es kann keine Nothwendigkeit für Verheimlichung vorhanden sein, wo wenig mehr zu verheimlichen übrig bleibt. Sie erwähnen keinen Namen in dem Briefe, aber Miß Fairlie weiß, daß Sie Sir Percival Glyde –«

Sowie ich den Namen aussprach, sprang sie auf und stieß einen Schrei aus, der weit über den Kirchhof dahin hallte und mein Herz vor Entsetzen erzittern ließ. Der finstere, entstellte Ausdruck, der erst soeben aus ihrem Gesichte gewichen, kehrte doppelt und dreifach verstärkt auf dasselbe zurück. Der Schrei bei dem Namen, sowie der wiederholte Blick des Hasses und der Furcht, welcher ihm augenblicklich folgte, sagte Alles. Es blieb mir auch nicht ein letzter Zweifel. Ihre Mutter war unschuldig an ihrer Einkerkerung in der Irrenanstalt. Ein Mann hatte sie dort eingesperrt, und dieser Mann war Sir Percival Glyde.

Der Schrei war noch zu anderen Ohren außer den meinigen gedrungen. In der einen Richtung hörte ich die Thür des Todtengräbers öffnen; in der anderen die Stimme ihrer Begleiterin, der Frau im Shawl, der Frau, von welcher sie als Mrs. Clements gesprochen hatte.

»Ich komme, ich komme,« rief die Stimme von der anderen Seite des kleinen Gebüsches her.

Einen Augenblick später eilte Mrs. Clements herbei. »Wer sind Sie?« rief sie, mit Entschlossenheit mich ansehend, indem sie den Fuß auf den Tritt setzte. »Wie können Sie sich unterstehen, ein armes Frauenzimmer so zu erschrecken?«

Sie stand bereits neben Anna und hatte diese mit einem Arme umschlungen, ehe ich ihr noch antworten konnte. »Was gibt’s, mein Kind?« sagte sie; »was hat er dir gethan?«

»Nichts,« entgegnete das arme Geschöpf, »Nichts; ich bin nur erschreckt worden.«

Mrs. Clements wandte sich mit einer furchtlosen Entrüstung zu mir, welche mir Achtung für sie einflößte.

»Ich würde mich sehr schämen,« sagte ich, »wenn ich diesen entrüsteten Blick verdiente. Aber ich verdiene ihn mit nichten. Ich habe sie unglücklicherweise erschreckt, ohne es zu beabsichtigen. Es ist nicht das erste Mal, daß sie mich gesehen hat. Fragen Sie sie selbst, und sie wird Ihnen sagen, daß ich nicht im Stande bin, ihr oder sonst einem Frauenzimmer ein Leides zu thun.«

Ich sprach sehr deutlich, damit Anna Catherick mich hören und verstehen möge, und ich sah, daß die Worte und deren Bedeutung zu ihr gedrungen waren.

»Ja, ja,« sagte sie; »er war auch einmal gut gegen mich; er half mir –« das Uebrige flüsterte sie ihrer Freundin ins Ohr.

»Höchst seltsam!« sagte Mrs. Clements mit bestürztem Gesicht. »Doch das ändert die Sache sehr. Es thut mir leid, daß ich so rauh zu Ihnen sprach, Sir; aber Sie müssen einräumen, daß der Schein gegen Sie war. Die Schuld liegt übrigens mehr an mir als an Ihnen, indem ich ihrer Laune nachgab und sie an einem solchen Orte allein ließ. Komm’, liebes Kind, komm’ jetzt nach Hause.«

Es schien mir, als ob die gute Frau etwas ängstlich aussähe bei dem Gedanken an ihren Rückweg, und ich erbot mich daher, sie zu begleiten, bis sie das Haus sehen könnten. Aber Mrs. Clements dankte mir höflich und schlug meine Begleitung aus. Sie sagte, sie würden sicher einigen von den Arbeitern auf dem Gehöfte begegnen, sobald sie auf die Haide hinaus kämen.

»Versuchen Sie, mir zu vergeben –,« sagte ich, als Anna Catherick den Arm ihrer Freundin nahm, um fortzugehen. So unschuldig ich auch an der Absicht gewesen, sie zu erschrecken oder zu ängstigen, so machte mein Herz mir doch Vorwürfe, als ich auf ihr bleiches, erschrockenes Gesicht blickte.

»Ich will es versuchen,« sagte sie. »Aber Sie wissen zu viel. Ich fürchte, Sie werden mich jetzt immer erschrecken.«

Mrs. Clements sah mich an und schüttelte mitleidsvoll den Kopf.

»Gute Nacht, Sir,« sagte sie; »Sie konnten Nichts dafür, ich weiß es wohl; aber ich wollte, Sie hätten lieber mich erschreckt als sie.«

Sie gingen ein paar Schritte fort. Ich dachte, sie hätten mich verlassen; aber plötzlich stand Anna still und machte sich vom Arme ihrer Freundin los.

»Warte einen Augenblick,« sagte sie, »ich muß erst ihr Lebewohl sagen.«

Sie kehrte zum Grabe zurück, legte beide Hände zärtlich auf das Kreuz und küßte es.

»Jetzt ist mir besser,« seufzte sie, mich ruhig anblickend. »Ich vergebe Ihnen.«

Dann kehrte sie zu ihrer Freundin zurück und dann verließen Beide den Kirchhof. Ich sah sie neben der Kirche stille stehen und mit der Frau des Todtengräbers sprechen, die aus ihrer Hütte gekommen war und uns aus der Ferne beobachtet hatte. Dann setzten sie ihren Weg auf dem Pfade, der nach der Haide führte, fort. Ich blickte Anna Catherick nach, bis jede Spur von ihr im Zwielichte dahinschwand – sah ihr so ängstlich und kummervoll nach, als ob dies das letzte Mal sein sollte, wo ich die Frau in Weiß in dieser öden Welt erblickte.


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