Herr Lismore und die Witwe



XI.

Als er sich wieder etwas gefasst hatte, schob er sie von sich zurück.

»Hat die Täuschung jetzt ein Ende?« fragte er ernst. »Soll ich Ihnen in Ihrer neuen Rolle vertrauen?«

»Sie sollen nicht strenger gegen mich sein, als ich es verdiene«, antwortete sie freundlich. »Hörten Sie von Fräulein Max, der Schauspielerin?«

Er fing an, sie zu verstehen.

»Vergeben Sie mir, wenn ich hart zu Ihnen sprach«, sagte er. »Sie haben mich auf eine harte Probe gestellt.«

Sie brach in Tränen aus. »Liebe«, murmelte sie, »ist meine einzige Entschuldigung.«

Dieses Wort gewann ihr seine Verzeihung. Er nahm ihre Hand und ließ sie an seiner Seite sich niedersetzen.

»Ja«, sagte er, »ich habe von Fräulein Max und von ihrer wunderbaren Gewalt der Darstellung gehört; ich habe stets bedauert, sie niemals auf der Bühne gesehen zu haben.«

»Hörtest du etwas mehr von ihr, Ernst?«

»Ja, ich hörte, dass sie ein Muster von Sittsamkeit sei und dass sie ihren Beruf auf der Höhe ihres Erfolges aufgab, um einen alten Mann zu heiraten.«

»Willst du mit mir auf mein Zimmer kommen?« fragte sie. »Ich habe dort etwas, das ich dir zeigen möchte.«

Es war die Abschrift des Testamentes ihres ersten Gatten.

»Lies die Zeilen oben auf der Seite, Ernst! Lass meinen verstorbenen Gatten für mich sprechen.«

Er las:

»Meine Gründe, Fräulein Max zu heiraten, müssen an dieser Stelle dargetan werden, um ihr, und ich wage hinzuzufügen, mir selbst Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Ich empfand das aufrichtigste Mitgefühl für ihre Lage. Sie stand ohne Vater, Mutter oder Freunde da; eins von den armen verlassenen Kindern, denen die Barmherzigkeit des Findelhauses ein Heim gewährt. Ihr späteres Leben auf der Bühne war das Leben einer tugendhaften Frau: von Verworfenen verfolgt und beschimpft von gemeinen Geschöpfen, die um sie waren, und denen sie ein Gegenstand des Neides wurde. Ich bot ihr ein Heim an und den Schutz eines Vaters – auf die einzig mögliche Weise, die die Welt als unser würdig anerkennen wollte. Meine Erfahrung über sie seit unserer Verheiratung war die unwandelbarer Güte, Liebenswürdigkeit und gesunden Sinnes.

Sie hat die Probe, die ihre Stellung ihr auferlegte, so glänzend bestanden, dass ich wünsche, sie erhalte noch in diesem Leben ihre Belohnung dafür. Ich ersuche sie, einen zweiten Gemahl zu wählen, was nicht eine bloße Form sein würde. Ich bin überzeugt, dass sie gut und verständig wählen wird, dass sie das Glück eines Mannes ausmachen wird, der ihrer würdig ist, dass sie als Gattin und Mutter ein unübertreffliches Muster in der gesellschaftlichen Stellung sein wird, die sie einnimmt.

Zum Beweis der innigen Aufrichtigkeit, mit der ich ihren Tugenden meine Anerkennung zolle, füge ich diesem meinem letzten Willen folgende Klausel bei.«

Diese aber kannte Lismore bereits.

»Willst du jetzt glauben, dass ich niemals liebte, ehe ich dein Gesicht zum ersten Mal sah?« fragte sie ihn. »Ich hatte keine Erfahrung, mich vor der Verblendung – Wahnsinn mögen einige Leute es nennen – zu hüten, die ein Weib ergreift, wenn ihr ganzes Herz einem Manne hingegeben ist. Verachte mich nicht, mein Teurer! Sei dessen eingedenk, dass ich dich von Schande und Verderben zu retten hatte. Außerdem verlockten mich meine alten Bühnerinnerungen. Ich bin in einem Schauspiel aufgetreten, in dem die Heldin tat, was ich getan habe. Es endigte nicht mit mir, wie es mit ihr im Stücke endete.

Sie konnte sich auf der Bühne an dem Erfolg ihrer Verkleidung erfreuen; ich habe seit unserer Verheiratung manche traurige Stunde des Zweifels und der Scham gehabt.

Als ich es unternahm, dir in meiner wahren Gestalt in der Gemäldeausstellung entgegen zu treten – o, welche Erleichterung, welche Freude fühlte ich, als ich sah, wie du mich bewundertest – war es nicht deshalb, weil ich nicht länger meine Verkleidung hätte tragen können. Ich war ja imstande, mir Stunden der Ruhe von der Aufregung zu verschaffen, nicht allein in der Nacht, sondern auch bei Tage, wenn ich mich, in mein Musikzimmer zurückgezogen, eingeschlossen hatte und meine Kammerfrau vor Entdeckung mich schützte. Nein, mein Herz! Ich eilte zur Enthüllung, weil ich nicht länger den verhassten Triumph meiner eigenen Täuschung ertragen konnte. Ach betrachte dir jenen Zeugen desselben, der mich anklagt. Ich kann ihn nicht einmal mehr sehen!«

Sie verließ ihn plötzlich. Die Schublade, die sie geöffnet hatte, um die Abschrift des Testamentes herauszunehmen, enthielt auch das falsche graue Haar, das sie abgelegt hatte. Sie betrachtete es nur einen Augenblick, dann raffte sie es auf und wandte sich nach dem Kamin.

Lismore nahm es ihr weg, ehe sie ihn erreichen konnte.

»Gib mir es!« sagte er.

»Warum?«

Er zog sie sanft an seine Brust: »Ich darf meine alte Frau nicht vergessen.«

ENDE


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