Das Eismeer



Kapitel Acht

Der Seemann auf Wache öffnete die äußere Tür. Dort näherten sich, mühsam durch den geisterhaften, weißen Schnee stapfend, die Offiziere der Wanderer der Hütte. Dort, verteilt unter dem gnadenlos schwarzen Himmel, war die Mannschaft, mit den Hunden und den Schlitten, wartend auf das Wort, das sie aufbrechen ließ auf ihre gefahrvolle und unsichere Reise.

Captain Helding von der Wanderer betrat die Hütte, begleitet von seinen Offizieren, in guter Laune bei der Aussicht auf eine Veränderung. Hinter ihnen, allein langsam herumtrödelnd, war ein finsterer, mürrischer Mann mit dichten Augenbrauen. Weder sprach er, noch bot er irgend jemandem seine Hand dar: er war die einzige anwesende Person, die völlig gleichgültig zu sein schien ob dem Schicksal, das ihm bevorstand. Dies war der Mann, dem seine Kameraden den Spitznamen ‚Bär der Expedition’ gegeben hatten. Mit anderen Worten – Richard Wardour.

Crayford schritt vor, um Captain Helding Willkommen zu heißen. Frank, der sich des freundlichen Tadels erinnerte, den er soeben erhalten hatte, überging die anderen Offiziere von der Wanderer und gab sich besondere Mühe, höflich zu Mr. Crayfords Freund zu sein.

„ Guten Morgen, Mr. Wardour“, sagte er. „Wir könnten einander gratulieren zu der Chance, diesen schrecklichen Ort zu verlassen.“

Sie mögen ihn für schrecklich halten“, erwiderte Wardour scharf; „ich mag ihn.“

„ Mögen? Lieber Himmel! Warum?“

„ Weil es hier keine Frauen gibt.“

Frank wandte sich zu seinen Offizierskameraden um, ohne irgendwelche weitere Annäherungsversuche in Richtung Richard Wardours zu machen. Der Bär der Expedition war unzugänglicher denn je.

In der Zwischenzeit war die Hütte überschwemmt worden von den gesunden Offizieren und Matrosen der beiden Schiffe. Captain Helding, der in ihrer Mitte stand, mit Crayford an seiner Seite, machte sich daran, den Vorschlag der beabsichtigten Expedition der Versammlung, die ihn umgab, zu erklären.

Er begann mit folgenden Worten:

„ Offizierskameraden und Matrosen der Wanderer und der Seemöwe, es ist meine Pflicht, Ihnen ganz kurz die Gründe zu erklären, die bei Captain Ebsworth und mir den Ausschlag gegeben haben, ein Erkundungskommando loszuschicken auf die Suche nach Hilfe. Ohne an all die Härten zu erinnern, die wir die letzten beiden Jahre erlitten haben – die Zerstörung zuerst von einem unserer Schiffe, dann vom anderen; der Tod von einigen unserer tapfersten und besten Kameraden; die vergeblichen Kämpfe, die wir gegen Eis und Schnee ausgefochten haben, und die grenzenlose Einöde dieser ungastlichen Regionen – ohne näher auf diese Dinge einzugehen, ist es meine Pflicht, Sie daran zu erinnern, daß dieser, der letzte Ort, an welchem wir Zuflucht suchten, weit abseits der Route von irgendeiner vorhergehenden Expedition ist, und daß infolgedessen unsere Chance, von irgendwelchen Rettungskommandos entdeckt zu werden, die möglicherweise ausgeschickt wurden, um uns zu suchen, gelinde gesagt eine Chance der unsichersten Art ist. Sie alle, Gentlemen, stimmen soweit mit mir überein?“

Die Offiziere (mit Ausnahme von Wardour, der in düsterer Stille abseits stand) stimmten soweit überein.

Der Captain fuhr fort.

„ Es ist folglich dringend notwendig, daß wir einen weiteren, und wahrscheinlich letzten, Versuch unternehmen, uns selbst zu befreien. Der Winter ist nicht mehr fern; Wild wird immer knapper, unser Vorrat an Proviant geht zur Neige, und die Kranken – besonders, es tut mir leid, es zu sagen, die Kranken in der Hütte der Wanderer – nehmen Tag für Tag zahlenmäßig zu. Wir müssen auf unsere eigenen Leben bedacht sein, und auf die Leben derer, die auf uns angewiesen sind; und wir haben keine Zeit zu verlieren.“

Die Offiziere wiederholten die Worte eifrig.

„ Richtig! richtig! Keine Zeit zu verlieren!“

Captain Helding resümierte:

„ Der beabsichtigte Plan ist, daß eine Abteilung der gesunden Offiziere und Matrosen unter uns noch heute eine Reise antritt und einen weiteren Versuch startet, die nächsten bewohnten Niederlassungen zu erreichen, von denen aus Hilfe und Verpflegung geschickt werden könnte zu denen, die hier zurückbleiben. Die neue Richtung, die eingeschlagen werden soll, und die verschiedenen Vorsichtsmaßnahmen, die getroffen werden sollen, dies alles ist bereits ausgearbeitet. Die einzige uns nun vorliegende Frage ist, wer bleiben soll, und wer die Reise unternehmen soll?“

Die Offiziere beantworteten die Frage einstimmig – „Freiwillige.“

Die Matrosen sprachen ihren Offizieren nach. „Aye, aye, Freiwillige.“

Wardour hielt sein düsteres Schweigen noch immer aufrecht. Crayford bemerkte, daß er abseits stand von den Übrigen, und wandte sich an ihn.

„ Sagen Sie nichts?“, fragte er.

„ Nichts“, antwortete Wardour. „Gehen oder bleiben, es ist mir alles eins.“

„ Ich hoffe, Sie meinen das nicht wirklich?“, sagte Crayford.

„ Doch.“

„ Es tut mir leid, das zu hören, Wardour.“

Captain Helding beantwortete den generellen Vorschlag zugunsten der Freiwilligen mit einer Frage, die augenblicklich den steigenden Enthusiasmus der Versammlung hemmte.

„ Nun“, sagte er, „nehmen wir an, wir sagen Freiwillige. Wer meldet sich freiwillig, um in den Hütten zu bleiben?“

Eine Totenstille trat ein. Die Offiziere und Matrosen schauten einander verwirrt an. Der Captain fuhr fort:

„ Sie sehen, wir können es nicht durch Freiwillige regeln. Sie alle möchten gehen. Natürlich möchte jeder Mann unter uns, der seine Gliedmaßen benutzen kann, gehen. Doch was soll aus denen werden, die ihre Gliedmaßen nicht gebrauchen können? Einige von uns müssen hierbleiben und die Kranken versorgen.“

Jeder gab zu, daß dies wahr war.

„ So kehren wir wieder zurück“, sagte der Captain, „zu der alten Frage – wer von den körperlich Gesunden soll gehen? und wer soll bleiben? Captain Ebsworth sagt, und auch ich sage, laßt den Zufall es entscheiden. Hier sind Würfel. Die Zahlen gehen bis Zwölf – zwei Sechsen. Alle, die unter sechs werfen, bleiben; alle, die über Sechs werfen, gehen. Offiziere der Wanderer und der Seemöwe , sind Sie einverstanden mit der Methode, dem Problem entgegenzutreten?“

Alle Offiziere stimmten zu, mit der einen Ausnahme von Wardour, der noch immer sein Schweigen beibehielt.

„ Matrosen der Wanderer und der Seemöwe , Ihre Offiziere haben zugestimmt, darum zu losen. Stimmen Sie ebenfalls zu?“

Die Männer bejahten ohne eine Gegenstimme. Crayford reichte Captain Helding den Becher und die Würfel.

„ Sie werfen zuerst, Sir. Unter Sechs, bleiben. Über Sechs, gehen.“

Captain Helding würfelte, die Oberseite des Fasses diente als Tisch. Er warf sieben.

„ Gehen“, sagte Crayford. „Ich gratuliere Ihnen, Sir. Nun für mein eigenes Geschick.“ Er ließ seinerseits die Würfel rollen. „Drei! Bleiben! Ah, gut! gut! Wenn ich meine Pflicht tun und für andere nützlich sein kann, was macht es dann aus, ob ich gehe oder bleibe? Wardour, Sie sind der nächste, in Abwesenheit Ihres ersten Lieutenants.“

Wardour bereitete sich vor, zu werfen, ohne die Würfel zu schütteln.

„ Schütteln Sie den Becher, Mann“, rief Crayford. „Geben Sie sich eine Chance auf das Glück!“

Wardour bestand darauf, die Würfel gleichgültig fallen zu lassen, gerade so, wie sie im Becher lagen.

„ Nicht ich“, murmelte er vor sich hin. „Ich bin fertig mit dem Glück.“ Mit diesen Worten warf er den leeren Becher hinunter und setzte sich auf die nächste Kiste, ohne nachzusehen, wie die Würfel gefallen waren.

Crayford prüfte sie. „Sechs!“ rief er aus. „Ha! Sie haben eine zweite Chance, Ihnen selbst zum Trotz. Sie sind weder darunter noch darüber – Sie würfeln noch mal.“

„ Bah!“ grollte der Bär. „Es ist die Mühe des Aufstehens nicht wert. Soll jemand anderes für mich würfeln.“ Er schaute plötzlich auf Frank. „Sie! Sie haben das, was die Frauen ein glückliches Gesicht nennen.“

Frank wandte sich an Crayford. „Soll ich?“

„ Ja, wenn er es wünscht“, sagte Crayford.

Frank ließ die Würfel rollen. „Zwei! Er bleibt! Wardour, es tut mir leid, daß ich gegen Sie gewürfelt habe.“

„ Gehen oder bleiben“, wiederholte Wardour, „es ist mir alles einerlei. Sie werden mehr Glück haben, mein Junge, wenn Sie für sich selbst würfeln.“

Frank würfelte für sich selbst.

„ Acht! Hurra! Ich gehe!“

„ Was habe ich Ihnen gesagt?“ sagte Wardour. „Das Glück war Ihres. Sie sind auf meinem Pech gediehen.“

Er erhob sich, während er sprach, um die Hütte zu verlassen. Crayford hielt ihn auf.

„ Hast du irgend etwas besonderes zu tun, Richard?“

„ Was hat irgend jemand hier zu tun?“

„ Dann warte kurz. Ich möchte mit dir sprechen, wenn diese Sache vorüber ist.“

„ Wirst du mir noch irgendwelche weiteren Ratschläge geben?“

„ Schau mich nicht auf eine solch griesgrämige Weise an, Richard. Ich will dir eine Frage stellen über etwas, das dich selbst betrifft.“

Ohne ein weiteres Wort gab Wardour nach. Er kehrte zurück zu seiner Kiste und schickte sich spöttischerweise zu einem Schlummer an. Die Auslosung unter den Offizieren und der Mannschaft ging zügig weiter. Nach einer weiteren halben Stunde hatte der Zufall die Frage von ‚gehen’ oder ‚bleiben’ für alle auf die selbe Weise entschieden. Die Mannschaft verließ die Hütte. Die Offiziere betraten das innere Zimmer für eine letzte Besprechung mit dem bettlägerigen Captain der Seemöwe . Wardour und Crayford wurden zusammen zurückgelassen, allein.


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