Fräulein oder Frau?

Kapitel 6

Eine seltsame Hochzeit



Es war Anfang November, der Nordwind strich mir recht scharfem Hauch durch die Straßen der Hauptstadt und wirbelte den feinen, körnigen Schnee in luftigem Tanze dahin. Über Flüsse und Seen schlug das Eis seine schimmernden Brücken: die Städter hatten ihre dicken Pelze hervorgesucht, um sich gegen die Unbill der Witterung zu schützen. Nach dem langen zweifelhaften Wetter, wie es der Übergang von einer Jahreszeit zur anderen mit sich bringt, war in der letzten Nacht zum ersten Mal ein entschiedener, ja grimmiger Frost eingetreten und hatte den Winter in seiner ganzen Härte gebracht. Dichte Wolken bedeckten den Himmel und obschon es bereits gegen zehn Uhr vormittags war, so lag es in den Straßen Londons doch noch wie trübe, farblose Dämmerung; es schien nicht Tag werden zu wollen.

Wir schlagen den Weg nach einem armen, aber sehr volkreichen Kirchspiel Londons ein; es gehört nicht zu denen, die besonderer Merkwürdigkeiten wegen von Fremden besucht werden, es ist im Gegenteil selbst Manchem, der in der Riesenstadt geboren worden, eine unbekannte Gegend. Hart am Ufer der Themse liegt dort eine Kirche.

Wir treten ohne Zögern hinein.

Ein aus fünf Personen bestehender Trauzug nähert sich gerade dem Altar. Der Bräutigam sieht bleich aus und die Braut scheint etwas ängstlich zu sein. Die Freundin der Braut, eine entschlossen aussehende kleine Dame, flüstert ihr Ermunterungen zu. Die beiden respektablen Personen, offenbar Mann und Frau, welche den Zug beschließen, mögen über ihre Stellung bei der Zeremonie sich nicht ganz klar sein; sie sehen gleichfalls etwas verlegen aus.

Dem Küster fiel auch, während er das Paar mit seinen Zeugen um den Altar aufstellte, an denselben etwas auf. In der Regel gehörten die hier geschlossenen Ehen den unteren Klassen der Gesellschaft an. War dies hier ein davongelaufenes Paar? Schon das dem Küster verabreichte Trinkgeld war ungewöhnlich reich.

Jetzt erschien der Geistliche, der jüngere Pfarrer des Kirchspiels, von der Sakristei her in vollem Ornat. Zugleich nahm der Clerk seinen Platz ein. Die Blicke des Geistlichen hefteten sich plötzlich mit dem Ausdruck eines neugierigen Interesses auf Braut und Bräutigam und auf die Freundin der Braut. Ihm fiel die Abwesenheit älterer Verwandten auf; er bemerkte namentlich an den beiden Damen Zeichen einer höheren gesellschaftlichen Stellung und Bildung, die ihm sonst bei den Paaren und Freundinnen der Bräute, die in dieser Kirche an den Altar traten, nie vorkamen. Er warf dem Clerk, der die Fremden gleichfalls mit Interesse beobachtete, einen raschen, fragenden Blick zu. „Jenkinson“, fragte der Blick des Geistlichen, „ist das hier in Ordnung?“ In dem Blick des Clerks lag die Antwort: „Herr Pfarrer, eine Heirat mittelst Aufgebot, bei der alle nötigen Formalitäten beobachtet sind...“ Der Geistliche öffnete sein Buch. Die Formalitäten waren beobachtet; seine Pflicht war ihm deutlich vorgezeichnet. Sei aufmerksam, Launce! Mut, Natalie! Die Trauungszeremonie beginnt.

Launce warf einen letzten verstohlenen Blick in die Kirche. Wie, wenn Sir Joseph Graybrooke plötzlich aus einem der Kirchenstühle auftauchte und der Zeremonie Einhalt tat?... Oder wenn vielleicht Richard Turlington oben auf der Orgel lauerte und nur wartete, bis die betreffenden Worte ihn aufforderten, gegen die Heirat Einspruch zu erheben oder aber von Stund an zu schweigen? - Nein. Der Geistliche konnte die Zeremonie vornehmen, ohne durch einen Vorfall gestört zu werden. Nataliens reizendes Gesicht wurde bleicher und bleicher; ihr Herz schlug rascher und rascher, je näher der Augenblick der Verlesung der Worte rückte, die sie fürs Leben vereinigen sollten. Selbst Lady Winwood konnte sich einer ungewöhnlichen Aufregung nicht erwehren. Die Zeremonie erweckte bei ihr nicht die angenehmsten Erinnerungen an ihre eigene Heirat: „Woran habe ich gedacht, als ich hier stand? An mein schönes Brautkleid, und an meine bevorstehende Präsentation bei Hofe!“ -

Die Zeremonie war bei den Worten angelangt, bei welchen das Brautpaar sich Treue zu geloben hat. Launce steckte den Ring an Nataliens Finger und sprach dem Geistlichen die entscheidenden Worte nach – das Band war geschlossen, sie waren verheiratet, in aller kirchlichen Form verheiratet. Es war geschehen – mochte daraus entstehen, was da wollte.

Die Zeremonie war zu Ende. Das junge Ehepaar begab sich nebst seinen Zeugen in die Sakristei, um ihre Namen einzutragen. Diese Eintragung war so gut, wie die Trauung, eine ernsthafte Sache. Hier war kein Abweichen von der Wahrheit möglich. Als die Reihe an Lady Winwood kam, mußte sie ihren Namen niederschreiben. Sie tat es, aber dieses Mal ohne ihre gewohnte Leichtigkeit und Entschlossenheit. Ihr Taschentuch entsank ihrer Hand. Der Clerk hob es ihr auf und bemerkte die in eine Ecke desselben gestickte Krone...

Die Gebühren wurden bezahlt. Das junge Paar und die Zeugen verließen die Sakristei.

Andere Paare pflegen, wenn die Zeremonie vorüber ist, glücklich und gesprächig zu sein. Unser Paar war schweigsamer und verlegener als je. Noch auffallender war, daß, während andere Paare mit Verwandten und Freunden aufzubrechen pflegen, um den Tag in geselliger Vereinigung festlich zu begehen, unser Paar und seine Freunde sich an der Kirchentür voneinander trennten. Der respektable Mann und seine Frau gingen zu Fuß ihres Weges. Die kleine Dame mit der Krone in ihrem Taschentuche setzte die junge Frau in einen Fiaker, stieg zu ihr ein und hieß den Kutscher die Wagentür schließen, während der junge Ehemann noch auf den Stufen der Kirchentreppe stand. Er sah finster aus, wie es wohl nicht anders sein konnte. Er steckte seinen Kopf durch das Wagenfenster, ergriff die Hand seiner Frau und flüsterte ihr etwas zu, augenscheinlich entschlossen, noch nicht zu weichen. Die kleine Dame aber machte ihre Autorität geltend; sie trennte die verbundenen Hände, schob den Kopf des jungen Ehemanns zum Wagenfenster hinaus und rief dem Kutscher in gebietendem Tone zu, wegzufahren. Der Fiaker setzte sich in Bewegung und rollte in dem Morgennebel weiter; der verlassene Ehemann ging traurig seines Weges durch die Straße. Der Clerk, der das alles mit angesehen hatte, kehrte in die Sakristei zurück und berichtete dem Geistlichen das Vorgefallene.

Der Hauptpfarrer der Kirche, der im Vorübergehen, mit seiner Frau am Arme, eben eines Geschäftes wegen in die Sakristei getreten war, unterhielt sich mit dem jüngeren Pfarrer über die sonderbare Heirat. Es mußte ihm sehr daran gelegen sein, sich zu vergewissern, daß kein Makel auf die Kirche falle, er erkundigte sich daher genau und fand die ihm gegebene Auskunft befriedigend. Die Frau des Hauptpfarrers war aber nicht so leicht abzufinden. Sie hatte sich die eingetragenen Namen angesehen und gefunden, daß einer derselben ihr wohlbekannt sei. Sobald ihr Gatte mit dem Clerk fertig war, fing sie an, ihn ihrerseits zu befragen. Als sie von der Krone auf dem Taschentuche hörte, deutete sie auf die Unterschrift Louisa Winwood und sagte zu ihrem Mann:

„Ich weiß, wer das ist. Es ist Lord Winwoods zweite Frau. Ich bin mit Lord Winwoods Töchtern erster Ehe zusammen in die Schule gegangen, und treffe sie bisweilen in dem Damenkomitée der geistlichen Konzerte; ich werde schon eine Gelegenheit finden, dort mit ihnen zu reden. Einen Augenblick, Herr Jenkinson, ich möchte mir die Namen notieren, ehe Sie das Buch fortlegen: Launcelot Linzie, Natalie Graybrooke. Sehr hübsche Namen, ganz romantisch. Ich schwärme für romantische Geschichten. Leben Sie wohl.“

Mit einem freundlichen Lächeln für den jungen Pfarrer und einem Kopfnicken für den Clerk verließ sie die Sakristei.

Natalie, die in Lady Winwoods Gesellschaft schweigend nach Muswell Hill zurückkehrte und Launce, der das Gesetz über Entführungen verwünschte, während er durch die Straßen streifte, hatten beide keine Ahnung davon, daß der Boden unter ihren Füßen bereits untergraben sei. In Folge der von der Pfarrerin erlangten Kunde konnte Richard Turlington jeden Augenblick von der Heirat hören. Die Entdeckung derselben hing lediglich von einem zufälligen Zusammentreffen der Töchter Lord Winwoods und der Frau des Pfarrers ab. Es war ein gefährliches Spiel, das da gespielt wurde – aber es mußte zu Ende geführt werden!


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