Das Geheimnis der Abtei
Aus den Erinnerungen einer Erzieherin
II
Was für ein schrecklicher Tag der heutige gewesen ist! Kaum kann ich meine Gedanken genügend sammeln, um eine klare Schilderung davon zu geben, obgleich ich fühle, wie wichtig es ist, alles, was sich ereignet hat, schnell niederzuschreiben, um jede Entstellung oder Unvollständigkeit zu vermeiden. Der Schlaf flieht mich, deshalb will ich versuchen sämtliche Ereignisse genau so zu schildern, wie sie sich zugetragen haben.
Mac Ivor erschien beim Frühstück zwar bleich und erschöpft, allein vollkommen ruhig und gesammelt. Er antwortete auf unsere Fragen nach seinem Befinden, dass er sich wieder ganz wohl fühle, aber sprach sehr wenig und genoss fast gar nichts. Das Wetter hatte sich leider seit dem Morgen verändert, und der Himmel war zu drohend geworden, um einen weiten Ausflug unternehmen zu können. Wir beschlossen jedoch, einen schon seit mehreren Tagen besprochenen kürzeren Spaziergang nach der Meeresküste zu machen, um dort eine eigentümliche Felsengruppe in Augenschein zu nehmen.
Mr. Davis schrieb den Brief und sandte ihn ab. Dann brachen wir sämtlich auf, obgleich die Wolken noch sehr drohend waren. Mac Ivors Stimmung heiterte sich während des Spazierganges auf. Er fand großen Gefallen an den sonderbaren Höhlen des felsigen Ufers und ihren von der See erzeugten Bewohnern, deren Natur und Eigentümlichkeit er meinen Zöglingen auf so fesselnde Weise beschrieb, dass sie ihm entzückt zuhörten. Endlich wurde der Rückweg angetreten, und schon waren wir bis in die Nähe der Abtei gelangt, als der Regen mit entsetzlicher Heftigkeit zu fallen begann. Kein anderer Zufluchtsort bot sich nun in der Nähe, als ein kleines, von einer alten Frau bewohntes Haus, gegen die der verstorbene Sir Thomas gewisse Verpflichtungen gehabt zu haben schien.
Bei Lebzeiten hatte er ihr die Hütte nebst Garten unentgeltlich überlassen und in seinem Testamente hatte er ihr ein Legat aufgesetzt. Zweimal war ich mit meinen Zöglingen dort gewesen, um ihr Zahlungen in Gemäßheit dieser letztwilligen Bestimmung zu leisten, und hatte jedes Mal eine Tochter bei ihr angetroffen, welche die Frau eines Handwerkers in einer nahe gelegenen Stadt war, ein hübsches Weib von ungefähr vierzig Jahren, dessen Blicke und Benehmen jedoch sehr frei und dreist waren. Die Alte schien sich für eine bevorrechtete Person zu halten, aber mir erschien sie umso unangenehmer. Ihr Gesicht war hart, finster, mürrisch und hatte durchaus nichts Ehrwürdiges. Als ich sie zum erstere Male sah, blickte sie mir frech in das Gesicht und sagte nur: »Ah, Sie sind wohl die neue Gouvernante?«
In diesem Augenblicke blieb uns jedoch keine Wahl, wir mussten bei ihr Zuflucht suchen und wurden mit leidlicher Artigkeit empfangen. Sie befand sich allein, da das Mädchen, welches die häuslichen Dienste bei ihr verrichtete, sich gerade auf einem Geschäftswege im Dorfe befand.
Die Herren in unserer Gesellschaft wollten eine Unterhaltung mit ihr anknüpfen, aber bekamen nur sehr kurze und grobe Antworten. Inzwischen floss der Regen in Strömen herab, so dass ein kleiner Bach, welcher am Wege entlang floss und den zur Hütte gehörenden Garten von dem Gebiete der Abtei trennte, furchtbar anschwoll und dadurch unseren Rückweg unmöglich machte. Mr. Davis sagte, dass er, sobald der Regen nachlassen werde, nach Hause eilen und einen Wagen schicken wolle. Die jungen Mädchen sprachen mit der alten Frau, deren mürrische Antworten sie belustigten, und währenddessen betrachtete ich mit Mac Ivor die an den Wänden hängenden Bilder. Sie waren alt, wertlos, und manche unter ihnen sehr sonderbar, so dass die Herren verschiedene Fragen in Betreff derselben an die Frau, Mrs. Wilson, richteten. Diese Aufmerksamkeit für den Schmuck ihres Zimmers schien ihr zu gefallen, und allmälig begann sie etwas freundlicher zu werden. Unter den Bildern befand sich ein kleines Gemälde in Wasserfarben, welches so hübsch ausgeführt war, dass es augenblicklich unsere Aufmerksamkeit erregte. Es stellte die Figur eines zarten, bleichen jungen Mädchens, von ungefähr zwölf Jahren, mit lichtem Haar und kindlichen Zügen vor, und machte auf uns den eigentümlichen Eindruck, den man häufig beim Anblicke von Portraiten unbekannter Persönlichkeiten empfindet, nämlich den, dass es kein Phantasiebild, sondern das getreue Abbild irgendeines lebenden Wesens sei.
»Wer auch die kleine Dame gemalt haben mag,« sagte Mac Ivor, »es muss ein Künstler gewesen sein.«
»Ja,« bemerkte die alte Frau« »ein junger Mensch aus unserem Dorfe hat es gemalt. Später ist er nach London gegangen und soll sich dort schon einen großen Ruf erworben haben,«
Sie nannte seinen Namen, von dem Mr. Davis schon gehört zu haben glaubte.
»Auf jeden Fall ist es ein gutes Portrait,« sagte er, »und wahrscheinlich eine Tochter von Ihnen, Mrs. Wilson?«
»Nein,« entgegnete die Frau trocken, »eine Enkelin.«
»Wie,« riefen meine beiden Zöglinge zu gleicher Zeit, »haben Sie denn eine Enkelin? Davon wissen wir ja nichts!«
»Kann wohl sein,« erwiderte die alte Frau.
Die jungen Mädchen bestürmten nunmehr die alte Frau mit Fragen darüber, wo ihre Enkelin sei, wie sie heiße, ob sie bei ihrer Mutter in der nächsten Stadt wohne, und dergleichen mehr.
»Nein,« versetzte die Frau, »sie hat nie bei ihrer Mutter gewohnt, — der Mann derselben wollte sie nicht dulden.«
»Wie, nicht seine eigene Tochter?«
»Er war nicht ihr Vater,« — gleichviel, wer es war!«
»Aber bei wem ist sie denn jetzt?«
»Sie wohnte früher bei mir,« erwiderte Mrs. Wilson. »Ich musste sie behalten, denn sonst hätte Brown, mein Schwiegersohn, meine Tochter nicht geheiratet.«
»Ist sie tot?« fragte Janet mit ernster Miene.
»Niemand weiß es!« war die kurze, schroffe Antwort der Alten.
Ich war von diesem Gespräche unwillkürlich angezogen worden und blickte die alte Frau bei den letzten Worten erstaunt an.
»Ja, sehen Sie mich nur an,« fuhr sie fort. »Niemand weiß es! Manche sagen, sie sei mit den Zigeunern davon gegangen, die sie ihrer hübschen Stimme wegen mitgenommen hätten, und ein Mann behauptete, er habe sie in einer Jahrmarktsbude tanzen sehen, aber die meisten halten sie für tot. Ich weiß es nicht und kümmere mich auch nicht darum. Ich habe sie früher nicht gemocht und möchte sie auch jetzt nicht wieder haben.«
Einige Augenblicke hielt sie inne und fügte dann wie als Antwort auf eine Frage, die jedoch niemand von und getan hatte, hinzu:
»Wissen Sie, wir waren keine guten Freunde. Sie muss davon gelaufen sein, denn um gestohlen zu werden, war sie schon zu alt.«
»Wie alt war sie denn?«
»Wenige Tage vor dem Tode des alten Herrn, Sir Thomas, war sie zwölf Jahre alt geworden. Seitdem sind jetzt über acht Jahre verflossen; also würde sie nunmehr zwanzig sein. Dort auf dem Bette steht das Buch, —- jenes rote, welches er ihr am letzten Geburtstage schenkte.«
Davis nahm es herab und las auf der ersten Seite:
»Von Sir Thomas seiner lieben kleinen Grace an ihrem zwölften Geburtstage.«
»Seiner lieben kleinen Grace?« wiederholte ich etwas erstaunt.
»Ja, er hatte sie sehr gern, und nicht ohne Ursache,« versetzte die Alte, mich mit widerlichem Grinsen anblickend, und fuhr dann, als hätte sie sich plötzlich entschlossen, alles zu erzählen, fort: »Fast täglich ließ er sie zu sich nach der Abtei kommen. Sie war ein schlaues Ding und musste ihm vorlesen und vorsingen und endlich wurde sogar ein Bett für sie in einem Kabinett neben seinem Schlafzimmer aufgestellt, so dass sie häufig selbst die Nacht in seiner Nähe zubrachte. Nie wusste ich, ob sie bald wieder nach Hause kommen werde, oder nicht, und kümmerte mich auch nicht darum; denn am liebsten war es mir, wenn ich sie nicht sah. Das ist auch der Grund, weshalb es so lange dauerte, bis sie vermisst wurde.«
»Wieso — vermisst?«
»Ja, fast drei Tage vergingen, ehe wir uns überzeugt halten, dass sie weder hier noch in der Abtei zu finden war.«
Unsere Aufmerksamkeit schien die alte Frau zu freuen, denn sie wurde lebendiger und fuhr fort:
»Sehen Sie, ich hatte einen Streit mit ihr beim Frühstücke, und als es vorüber war, nahm sie ihr Tuch und sagte: »»Großmutter, ich gehe nach der Abtei.«
»Geh nur, ich mag Dich hier so nicht haben,« erwiderte ich. »»Ja, ich weiß, Du magst mich nicht, deshalb will ich zu Sir Thomas gehen,« versetzte sie.
»Gehe nur, Du brauchst auch nicht wiederzukommen,« wiederholte ich. »Oh, er freut sich immer, mich zu sehen,« entgegnete sie höhnisch und den Kopf in die Höhe werfend. Noch jetzt sehe ich das weiße, kleine Gesicht dort vor mir an der Tür stehen! Aber es war das letzte Mal, seitdem habe ich sie nicht wiedergesehen.«
»Nicht wiedergesehen?«
»Nein. Sie kam am Abende nicht heim, doch das wunderte und kümmerte mich nicht, weil es oft geschah. Am folgenden Morgen sah ich einen von den Reitknechten in der Abtei — einen Burschen, den ich wohl kannte — den Weg herab und in mein Haus und in dieses Zimmer kommen, wo er ganz außer sich rief: »Denken Sie nur, Sir Thomas ist tot in seinem Bett gefunden worden!«
Ein solcher Fall war schon lange nicht unerwartet gewesen und endlich eingetreten. Mehr konnte mir der Bursche nicht sagen. Er war abgeschickt worden, um einen Arzt zu holen, und war auf dem Rückwege zu mir gekommen. Ich sprach an jenem Abende noch andere Dienstboten, welche mir erzählten, dass der Arzt erklärt habe, der Baron müsse schon drei bis vier Stunden tot gewesen sein, als der Bediente ihn am Morgen in seinem Zimmer leblos gefunden habe, und noch viele andere Dinge von Mylady und der Trauer, die nun stattfinden werde. So wurde es Abend, ehe ich an das Kind dachte, das noch immer nicht heimgekommen war. Ich konnte mir das Ausbleiben nicht anders erklären, als dass sie in der Abtei zurückgehalten werde, um bei irgendeinem Geschäfte Hilfe zu leisten. Am folgenden Morgen kam die Haushälterin in einem Wagen zu mir. Sie wollte nach der Stadt fahren, um den Stoff zu den Trauerkleidern für die Dienstboten einzukaufen, und fragte mich nach einer Arbeiterin daselbst, welche meiner Tochter bekannt war. Von ihr hörte ich alles noch einmal, und als sie endlich gehen wollte, blieb sie plötzlich stehen und fragte: »Wo ist Grace? Vielleicht führe sie gern mit mir nach der Stadt, um ihre Mutter zu besuchen.« Ich erwiderte ihr, dass das Mädchen bereits vor zwei Tagen nach der Abtei gegangen und noch nicht zurückgekommen sei. Sie blickte mich erstaunt an und sagte: »Das wundert mich, denn seit vorgestern, wo ich ihr auf der Hintertreppe begegnete, habe ich sie in der Abtei nicht gesehen.« Grace pflegte nämlich immer durch eine kleine Seitentür, zu der sie den Schlüssel hatte, und auf einer schmalen Treppe zu dem Zimmer des Baronets hinauf zu gehen, so dass ihr Kommen und Gehen von niemand bemerkt wurde. Die Haushälterin meinte, sie werde von den Dienstboten zurückgehalten worden sein, um bei der Näherei zu helfen. »Aber diesen Abend,« fügte sie hinzu, »werde ich sie heimschicken.« »Ich brauche sie nicht,« war meine Antwort. Allein am folgenden Morgen kam die Frau wieder, sah ganz bestürzt aus und fragte sogleich: »Ist Grace hier?« und als ich verneinte, erzählte sie mir, dass die ganze Abtei durchsucht worden, aber keine Spur von ihr zu finden gewesen sei. Seit jener Zeit ist sie verschwunden. Im Zimmer des Baronet, wenn sie überhaupt dort gewesen, hat sie niemand gesehen. Manche sind der Meinung, sie sei nur bis zum Abende vor seinem Tode in der Abtei geblieben und habe sich dann zu einer alten Zigeunerin geschlichen, mit der sie viel zu verkehren pflegte. Gewiss ist, dass die Zigeuner am folgenden Tage die Gegend verließen und —«
»Aber wenn sie mit den Zigeunern fortgezogen wäre,« unterbrach ich die Alte, »so würden Sie doch gewiss im Laufe so vieler Jahre einmal von ihr gehört haben.«
»Ja,« erwiderte die Frau »es ist ein Mann hier, welcher behauptet, sie vor zwei Jahren weit entfernt von hier in einer Jahrmarktsbude tanzen gesehen zu haben. Ich aber glaube, dass sie tot ist. Sie Thomas hatte sie so lieb, dass er sie wahrscheinlich mitgenommen hat, — das meinen viele. Gewiss wenigstens ist, dass sie seit jenem Tage von niemand wieder mit Bestimmtheit gesehen worden ist.«
Sie hielt inne, und ich wollte etwa antworten, als mein Auge plötzlich auf Mac Ivor fiel, infolgedessen ich unwillkürlich auf Davis blickte, um ihn durch einen Wink auf seinen Freund aufmerksam zu machen. Mac Ivor stand regungslos und wie vom Schlage getroffen da. Sein Gesicht war totenbleich und hatte einen höchst peinlichen Ausdruck, während das dünne Haar wie vom Winde aufrecht erhoben stand. Es folgte eine Pause, in der wir sämtlich vor Staunen sprach- und bewegungslos blieben. Dann trat er einige Schritte vor, starrte uns an, ohne einen zu erkennen, wie es schien, und sagte mit grauenvollem Flüstern mehrere Male: »Eine Zeugin! Eine Zeugin!« worauf er, die Arme wild in die Luft werfend und dieselben Worte wiederholend, mit unbedecktem Kopfe aus dem Zimmer und in den strömenden Regen hinaus stürzte. Wir sahen ihn über den Bach springen, den Weg nach der Abtei verfolgen und in wenigen Sekunden verschwinden.
Ich schaute Mr. Davis an. In furchtbarer Aufregung kam er zu mir und sagte:
»Ich muss ihm nacheilen. Der Himmel weiß, was er im Sinne hat. Ich werde Ihnen einen Wagen schicken.«
Dann nahm er seinen Hut und ging schnell fort, während ich mit nicht zu beschreibendem Staunen und Schrecken zurückblieb. Die jungen Mädchen kamen zu mir und fragten mich, was der Auftritt bedeute, und die alte Frau sagte verwundert: »Weshalb laufen denn die beiden Herren so eilig davon?« Ich konnte keine dieser Fragen beantworten und zu keinem anderen Schlusse gelangen, als dass der kranke Geisteszustand des jungen Mannes plötzlich in völligen Wahnsinn übergegangen sei.
Mit Unruhe dachte ich daran, was er bei seiner Ankunft in der Abtei sagen oder tun könne; denn ich hielt es für unmöglich, dass Mr. Davis, ein viel älterer Mann, ihn, der überdies einen Vorsprung hatte, werde einholen können. Abgeschmackt erschien es mir, seinen plötzlichen Anfall mit der Geschichte des alten Weibes in Verbindung zu bringen, aber dennoch musste ich unwillkürlich das Portrait wieder ansehen. Es war nur das eines mageren, bleichen Kindes; nichts ließ sich daraus erklären, und verzweiflungsvoll setzte ich mich nieder.
Während dessen regnete es mit ununterbrochener Heftigkeit fort, und der bereits geschwollene Bach wuchs mit jedem Augenblicke. Angstvoll zog ich meinen Stuhl an das Fenster und wartete mit peinlicher Ungeduld auf das Erscheinen des versprochenen Wagens.
Inzwischen kam das Hausmädchen nach Hause und begann die Vorbereitungen zum Tee zu treffen. Meine Zöglinge unterhielten sich damit, ihr beim Rösten des Brotes zu helfen. Dann ließen sie sich das Mahl wohl schmecken, und ich genoss auch eine Tasse Tee, immer noch unruhig wartend. Mehrere Stunden verstrichen, aber niemand schien sich meiner zu erinnern, und schon brach die Dämmerung an, als endlich der Wagen nahte. Verwundert sah ich, dass es eine schwere, alte Kutsche war, die seit Jahren unbenutzt in einem Schuppen gestanden hatte, und eilte deshalb an die Haustür, um den Bedienten zu befragen, warum nicht die gewöhnlich benutzte Chaise genommen worden sei. Der Mann sprang vom Bock herab und gab mir ein Schreiben mit dem Bemerken, dass Mr. Davis mich bitten lasse, es sogleich zu lesen. Er sah dabei ängstlich und verstört aus, wie es mir schien, und ohne ein Wort zu erwidern, nahm ich deshalb den Brief und trat an das Licht im Zimmer. Er enthielt folgende Zeilen:
»Liebe Miss Vernon! — Richten Sie keine Fragen an
»die Dienstboten und schicken Sie die Kinder so bald
»als möglich zu Bett. Wenn Sie ganz allein sind,
»öffnen Sie das Fach ihres Schreibpultes, in das ich
»ein Paket gelegt habe. Lesen Sie es diesen Abend
»und bleiben Sie in Ihrem eigenen Zimmer. Morgen
»früh werde ich zeitig zu Ihnen kommen.«
Während ich diese Zeilen las, hatten die jungen Mädchen sich zur Abreise bereit gemacht. Über das sonderbare Fuhrwerk verwundert, stiegen sie schwatzend und mich voll Fragen bestürmend ein, auf die sie jedoch nur kurze Antworten von mir erhielten, da ich zu aufgeregt und unruhig war. Unser Weg war die von der Abtei nach der Stadt führende Straße, und kaum hatten wir die Hütte zehn Minuten hinter uns, als Ellen zu ihrer Schwester sagte: »Sieh nur die Lichter dort, Janet, es muss uns ein Wagen entgegen kommen!« Janet blickte hinaus und erwiderte: »Es ist unsere Chaise, und wenn ich mich nicht täusche, so sitzt Mary, Lady Deightons Kammermädchen, auf dem Bock.« In demselben Augenblicke fuhr der Wagen an uns vorüber, und ich sah ihn deutlich. Durfte ich meinen Augen trauen? Das helle Licht der Wagenlampen zeigte mir Sinclairs totbleiches Gesicht, in eine Ecke gedrückt, um nicht, wie es schien, von mir gesehen zu werden; und neben ihm saß ein in Shawle gehülltes Frauenzimmer, mit einem Spitzentuche über dem Gesichte. Ich kannte das Tuch und die Shawle und konnte mich deshalb in der Person nicht irren; ich wusste gewiss, dass es Lady Deighton war, so unglaublich es auch erscheinen mochte. Dennoch war der Wagen kaum vorbei, als ich mir einzureden suchte, dass es Täuschung gewesen sei. Welche unerhörten Umstände mussten es sein, die ihren so lange gefassten Entschluss, die Abtei nie zu verlassen, umstoßen konnten? Meine Überzeugung, dass Mac Ivor wahnsinnig sei, erweckte sehr schreckliche Vermutungen; er konnte sich entleibt oder anderen ein Leid zugefügt und Lady Deighton, welche vielleicht Augenzeuge dabei gewesen, dadurch veranlasst haben, den Ort zu verlassen. Das erklärte auch das Schreiben des Mr. Davis; er wollte mich so schonend als möglich vorbereiten. Der kommende Morgen musste mir Aufklärung bringen, denn jedenfalls kehrte dann die Chaise zurück und führte mich mit meinen Zöglingen nach dem von ihrem Vater erwählten Zufluchtsorte. Eine andere Lösung des Rätsels konnte ich nicht finden, aber auch selbst diese erklärte nicht das Paket in meinem Schreibpulte. Ich sah jedoch ein, dass ich nichts Besseres tun konnte, als den Anordnungen des guten Mr. Davis unbedingt Folge zu leisten.
An einer Seitenpforte der Abtei stiegen wir aus, und ich brachte die jungen Mädchen ohne Hilfe eines Dienstboten sogleich zu Bett, indem ich ihnen sagte, dass mutmaßlich Lady Deighton plötzlich erkrankt sei, was wir am nächsten Morgen hören würden.
Nachdem ich sie verlassen und die Lichter in meinem Zimmer angesteckt hatte, verweilte ich noch eine Zeit lang zögernd, ehe ich den Mut fand, das Schreibpult zu öffnen. Endlich geschah es mit zitternder Hand, und ein großes Paket, von Mr. Davis an mich adressiert, lag vor mir. Es enthielt mehrere mit enger Schrift gefüllte Bogen Papier, deren Züge mir unbekannt waren, und zwei Briefe von Mr. Davis. Der eine mit No. 1 bezeichnet, war mit den Worten überschrieben: »Lesen Sie diesen zuerst,« und der andere, No. 2, trug die Bemerkung; »Lesen Sie dieses Schreiben nicht eher, als bis Sie das Manuskript beendigt haben.« Das erste Briefchen enthielt nur die Worte: »Lesen Sie heute Abend das Manuskript und dann mein Schreiben No. 2, ich werde dafür sorgen, dass Sie nicht gestört werden.«
Nach genommener Abschrift der an mich eingeschlossenen Papiere will ich jetzt die in ihnen enthaltene Erzählung mit ihren eigenen Worten folgen lassen.
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