Ein tiefes Geheimnis
Drittes Kapitel
Ein Komplott gegen das Geheimnis
Am Abend des Tages nach Doktor Orridges Unterredung mit Mistreß Norbury setzte der unter dem Namne „die Druide“ bekannte Eilpersonenwagen, welcher durch Cornwall bis Truro ging, bei der Ankunft am Ziele seiner Bestimmung an der Tür des Einschreibebureaus drei Passagiere ab. Zwei dieser Passagiere waren ein alter Herr und seine Tochter, der dritte war Mistreß Jazeph.
Der Vater und die Tochter nahmen ihr Gepäck zusammen und gingen in das Hotel hinein. Die übrigen Passagiere zerstreuten sich mit so wenig Aufenthalt als möglich nach verschiedenen Richtungen hin, nur Mistreß Jazeph stand unentschlossen auf dem Pflaster und schien nicht zu wissen, was sie zunächst beginnen sollte.
Als der Kutscher sich gutmütigerweise bemühte, ihr zu irgendeinem Entschluß kommen zu helfen, indem er sie fragte, ob er etwas für sie tun könne, stutzte sie und sah ihn argwöhnisch an. Dann dankte sie, indem sie sich zu sammeln schien, ihm für seine Freundlichkeit und fragte mit verlegenen Worten und einem Zögern in ihrem Wesen, was dem Kutscher sehr sonderbar vorkam, ob man ihr erlaube, ihren Koffer kurze Zeit in dem Einschreibebureau stehen zu lassen, bis sie wiederkäme, um ihn zu holen.
Nachdem sie Erlaubnis erhalten, ihren Koffer so lange stehen zu lassen als ihr beliebte, ging sie über die Hauptstraße der Stadt, betrat das Trottoir der entgegengesetzten Seite und ging dasselbe entlang bis an die erste Ecke. Als sie hier in eine Nebengasse einbog, warf sie einen Blick rückwärts, überzeugte sich, daß niemand ihr folgte oder sie belauerte, eilte einige Schritte weiter und machte wieder an einem kleinen Laden Halt, der dem Verkaufe von Büchergestellen, Schränkchen, Arbeitskästchen und Schreibepulten gewidmet war.
Nachdem sie erst die über der Tür stehende Aufschrift – Buschmann, Kunsttischler zc. – gelesen, blickte sie zu dem Ladenfenster hinein.
Ein Mann von mittleren Jahren mit heiterem, frendlichem Gesicht saß hinter dem Ladentisch, polierte einen Kleiderhalter von Rosenholz und nickte dabei munter in regelmäßigen Zwischenräumen, als wenn er eine Melodie summte und mit dem Kopfe den Takt dazu schlüge.
Da Mistreß Jazeph keine Kunden in dem Laden sah, so öffnete sie die Tür und ging hinein. Sobald sie darin war, bemerkte sie, daß der heitere Mann hinter dem Ladentisch nicht zu einer von ihm selbst gesummten, sondern von einer Spieluhr ausgeführten Musik den Takt angab. Die hellen perlenden Töne kamen aus einem Zimmer hinter dem Laden und die Melodie, welche die Uhr spielte, war die reizende Arie aus Mozarts Don Juan: „Schlage, schlage, lieber Junge.“
„Ist Mr. Buschmann zu Hause ?“ fragte Mistreß Jazeph.
„Ja, Madame“, sagte der heitere Mann, indem er lächelnd nach der in das Zimmer führenden Tür zeigte. „Die Musik antwortet an seiner Statt. Wenn Mr. Buschmanns Uhr spielt, so ist er auch selbst nicht weit. Wünschen Sie ihn zu sprechen, Madame ?“
„Wenn niemand bei ihm ist.“
„O nein, er ist allein. Soll ich ihm Ihren Namen melden ?“
Mistreß Jazeph öffnete den Mund, um zu antworten, zögerte aber und sagte nichts. Der Ladengehilfe wiederholte mit weit mehr Scharfblick und Zartgefühl, als man ihm seiner äußern Erscheinung nach zugetraut hätte, die Frage nicht, sondern öffnete sofort die Tür, welche in Mr. Buschmanns Zimmer führte.
Das Ladenzimmer war sehr klein und von altväterischem Aussehen, mit hellgrünen Tapeten, einem großen, getrockneten Fisch in einem Glasgehäuse über dem Kamin, zwei Meerschaumpfeifen, die nebeneinander an der Wand gegenüber hingen, und einem netten runden Tisch, der so genau als möglich auf der Mitte des Fußbodens stand. Auf dem Tische sah man Teegeschirr, Brot, Butter, eine Büchse Marmelade und eine Spieluhr in einem sonderbaren, altmodischen Gehäuse und neben dem Tische saß ein kleiner rotbäckiger, weißköpfiger, alter Mann von schlichtem Aussehen, der, als die Tür sich öffnete, mit der Miene außerordentlicher Verlegenheit in die Höhe fuhr und die Feder der Spieluhr berührte, damit sie aufhörte, sobald die Arie zu Ende wäre.
„Es ist eine Dame da, die Sie zu sprechen wünscht, Sir“, sagte der heitere Gehilfe. „Dies ist Mr. Buschmann, Madame“, setzte er in leiserem Tone hinzu, als er sah, daß Mistreß Jazeph stehen blieb, nachdem sie in das Zimmer eingetreten war.
„Wollen Sie gefälligst Platz nehmen, Madame ?“ sagte Mr. Buschmann, als der Gehilfe die Tür geschlossen hatte und hinter seinen Ladentisch zurückgekehrt war. „Entschuldigen Sie die Musik, sie wird sogleich aufhören.“
Er sprach diese Worte mit fremdländischem Akzent, aber vollkommener Geläufigkeit.
Mistreß Jazeph sah ihn aufmerksam an, während er sie anredete und trat einige Schritte näher, ehe sie etwas sagte.
„Hab ich mich denn so sehr verändert ?“ fragte sie sanft. „Ist die Veränderung, die mit mir vorgegangen ist, eine so sehr traurige, Onkel Joseph ?“
„Gott im Himmel ! Es ist ihre Stimme – es ist Sara Leeson !“ rief der alte Mann, indem er so flink, als ob er wieder ein Knabe wäre, auf sie zueilte, sie bei beiden Händen ergriff und mit einer sonderbaren hastigen Zärtlichkeit auf die Wange küßte.
Obschon seine Nichte durchaus nicht die durchschnittliche Größe einer Frauengestalt überragte, so war Onkel Joseph doch so klein, daß er sich auf die Zehen heben mußte, um die eben angedeutete Begrüßungszeremonie zu bewerkstelligen.
„Mein Gott, also bist du endlich da !“ rief er dann, indem er Sara auf einen Stuhl niederdrückte. „Nach so langen Jahren kommt Sara Leeson, um ihren Onkel Joseph wiederzusehen !“
Allerdings noch Sara, aber nicht Sara Leeson“, entgegnete Mistreß Jazeph, indem sie ihre magern, zitternden Hände fest zusammendrückte und, während sie sprach, ihre Blicke auf den Boden heftete.
„Ah, du bist wohl verheiratet !“ rief Mr. Buschmann in heiterm Tone. „Natürlich bist du verheiratet. Erzähle mir von deinem Mann, Sara.“
„Er ist tot; er hat den Tod gefunden – Tod und Verzeihung.“
Diese letztern drei Worte murmelte sie flüsternd vor sich hin.
„Ach, da tust du mir leid ! Ich fragte dich wohl zu hastig, nicht wahr, mein Kind ?“ sagte der alte Mann. „Na, laß das gut sein. Nein, nein, ich wollte nicht danach fragen – wir wollen von etwas anderm sprechen. Willst du vielleicht einen Bissen Brot und Marmelade genießen, Sara ? Es ist köstliche Brombeermarmelade, die einem auf der Zunge zergeht. Und eine Tasse Tee, nicht wahr ? Jawohl, eine Tasse Tee. Und wir wollen nicht von deinen Unannehmlichkeiten und Anfechtungen sprechen – wenigstens jetzt nicht. Du siehst sehr bleich aus, Sara – viel älter als du aussehen solltest – nein, das wollte ich auch nicht sagen – ich will dich durchaus nicht kränken. Ich erkannte dich an deiner Stimme, mein Kind – an deiner Stimme, die, wie dein armer Onkel Max immer sagte, dein Glück hätte machen können, wenn du singen gelernt hättest. Seine Spieluhr geht immer noch. Sieh nur nicht so niedergeschlagen aus ! – Horche ein wenig auf die Musik. Kennst du noch diese Spieluhr ? Es ist die meines Bruders Max, wie du weißt. Aber wie traurig du aussiehst ! Hast du denn die Spieluhr vergessen, welche der göttliche Mozart meinem Bruder mit eigener Hand gab, als Max die Musikschule in Wien besuchte ? Horch; ich habe sie wieder in Gang gesetzt. Es ist eine Arie aus einer Oper von Mozart. O wie schön ! wie schön ! Dein Onkel Max sagte, alle Musik sei in dieser einen Arie inbegriffen. Ich verstehe nichts von Musik, aber ich habe Herz und Ohren und diese sagen mir, daß Max recht hatte.“
Diese Worte mit einer Menge Gebärden und erstaunlicher Zungenfertigkeit sprechend, schenkte Mr. Buschmann seiner Nichte eine Tasse Tee ein, rührte sorgfältig um, klopfte Sara auf die Schulter und bat sie, ihm den Gefallen zu tun, die ganze Tasse sogleich auszutrinken. Als er ihr näher trat, um diese Bitte nochmals zu wiederholen, entdeckte er, daß ihr die Tränen in den Augen standen und daß sie versuchte, unbemerkt ihr Tuch aus der Tasche zu ziehen.
„Achte nicht auf mich“, sagte sie, als sie sah, wie das Gesicht des alten Mannes traurig ward. „Und halte mich nicht für leichtsinnig oder undankbar, Onkel Joseph. Ich kenne die Spieluhr noch recht wohl – ich besinne mich noch auf alles, woran du Interesse fandest, als ich jünger und glücklicher war als ich jetzt bin. Als ich dich das letzte Mal sah, war ich in Not, und heute wo ich wieder zu dir komme, bin ich abermals in Not. Es scheint nachlässig von mir zu sein, daß ich seit so vielen Jahren nicht an dich geschrieben habe, mein Leben ist aber ein sehr trauriges gewesen und ich hatte nicht das Recht, die Last meines Kummers andern Schultern aufzubürden als den meinigen.
Onkel Joseph schüttelte bei diesen letzten Worten den Kopf und berührte die Feder der Spieluhr.
„Mozart muß ein wenig warten“, sagte er ernst, „bis ich dir etwas erzählt habe. Sara, höre, was ich sage, trinke deinen Tee und erkläre mir offen, ob ich die Wahrheit spreche oder nicht. Was sagte ich, Joseph Buschmann, zu dir, als du vor vierzehn, fünfzehn, ach es sind sechzehn Jahre! In deiner Bedrängnis zu mir in diese Stadt und in dieses selbe Haus kamst ? Ich sagte damals, was ich auch jetzt wieder sage: Saras Kummer ist mein Kummer und Saras Freude ist meine Freude und wenn jemand Gründe von mir zu wissen wünscht, so kann ich ihm deren drei nennen.“
Er schwieg, um seiner Nichte den Tee zum zweiten Male umzurühren und ihre Aufmerksamkeit darauf zu lenken, indem er mit dem Löffel auf den Rand der Tasse schlug.
„Drei Gründe“, hob er dann wieder an. „Erstens bist du meiner Schwester Kind – von ihrem Fleisch und Blut und folglich auch von dem meinigen. Zweitens haben wir, meine Schwester, mein Bruder und endlich ich selbst, deinem guten englischen Vater alles zu danken. Es ist dies ein kleines Wort, aber es bedeutet viel und kann immer und immer wieder erwähnt werden – alles. Die Freunde deines Vaters riefen: „Pfui ! Agathe Buschmann ist arm, Agathe Buschmann ist eine Ausländerin !“ Aber dein Vater liebte das arme deutsche Mädchen und heiratete sie trotz dieses Pfui ! Pfui ! Die Freunde deines Vaters riefen abermals „Pfui ! Agathe Buschmann hat einen Bruder, der Musikant ist, uns allerhand von Mozart vorschwatzt und nicht das Salz in die Suppe verdient.“ Dein Vater sagte: „Gut ! Sein Geschwätz gefällt mir; ich höre ihn gern spielen; ich werde ihm Schüler verschaffen und so lange ich noch ein Körnchen Salz in meiner Küche habe, soll er auch welches zu seiner Suppe haben.“ Die Freunde deines Vaters riefen zum dritten Mal „Pfui ! Agathe Buschmann hat noch einen Bruder, einen kleinen Dummkopf, der bei dem Geschwätz des andern bloß zuhorchen und Amen sagen kann. Schick ihn fort ums Himmels willen, schließ alle Türen zu und schicke wenigstens diesen Dummkopf fort !“ – Aber dein Vater sagte wieder: „Nein, dieser Dummkopf hat den Witz in den Händen; er kann schneiden und schnitzen und polieren; man helfe ihm etwas anfangen und dann wird er sich schon selbst helfen.“ Nun sind sie alle tot bis auf mich ! Dein Vater, deine Mutter, Onkel Max – alle sind sie tot. Nur der Dummkopf ist noch da, um in der Erinnerung zu leben und dankbar zu sein – um saras Leid als sein Leid und Saras Freude als seine Freude zu betrachten.“
Er hielt wieder inne, um einen Staubflecken von der Spieluhr hinwegzublasen. Seine Nichte wollte sprechen, aber er hielt die Hand empor und drohte ihr scherzhaft mit dem Zeigefinger.
„Nein“, sagte er, „jetzt ist das Sprechen an mir und an dir ist das Teetrinken. Habe ich nicht noch meinen dritten Grund zu nennen ? Ach, du wendest deinen Blick von mir ab. Du kennst meinen dritten Grund, ehe ich noch ein Wort sage. Als ich meinerseits heiratete und mein Weib starb und mich mit dem kleinen Joseph allein ließ und als der Knabe krank ward, wer kam da so still, so sauber, so hübsch mit den hellen, jungen Augen und den so zarten, leichten Händen ? Wer saß Tag und Nacht bei meinem kleinen Joseph ? Wer nahm ihn auf den Arm, wenn sein Kopf müde war auf dem Bett zu liegen ? Wer hielt ihm diese Uhr geduldig ans Ohr – ja, diese Uhr, welche Mozarts Hand berührt hat – wer hält sie ihm immer dichter und dichter ans Ohr, während das Gehör des kleinen Joseph stumpf wird und er nach der freundlichen Musik stöhnt, die er von seiner früheren Kindheit an gekannt, der freundlichen Musik, die er jetzt kaum noch hören kann ? Wer kniete neben Onkel Joseph, als ihm das Herz zu brechen drohte, nieder und sagte: „O, still, still ! Der Knabe ist dahin gegangen, wo eine schönere Musik ertönt, wo keine Krankheit ihn mehr peinigt und kein Gram ihn mehr anrührt.“ Wer war dies ? Ach, Sara, du kannst diese Tage nicht vergessen. Wenn deine Not bitter und deine Last schwer ist, dann ist es grausam von dir an Onkel Joseph gehandelt, wenn du ihm fern bleibst; aber Freundlichkeit und Güte, wenn du zu ihm kommst.“
Die Erinnerungen, welche der alte Mann wachgerufen, drangen in Saras Herz. Sie konnte ihm nicht antworten, sie konnte ihm bloß die Hand reichen.
Onkel Joseph verneigte sich mit komischer, liebreicher Galanterie und küßte die dargebotene Hand, dann kehrte er wieder auf seinen Platz neben der Spieluhr zurück.
„Komm !“ sagte er, indem er heiter mit dem Finger darauf pochte, „wir wollen eine Weile nichts mehr sagen. Mozarts Uhr, Max’ Uhr, des kleinen Josephs Uhr, du sollst uns wieder etwas vorspielen.“
Nachdem er die zarte Mechanik in Gang gesetzt, nahm er neben dem Tische Platz und verhielt sich schweigend, bis die Arie zweimal durchgespielt war. Dann, als er bemerkte, daß seine Nichte ruhiger geworden zu sein schien, redete er sie wieder an.
„Du bist in Not, Sara“, sagte er ruhig. „Du sagst mir dies und ich sehe dir am Gesicht an, daß es wahr ist. Grämst du dich wegen deines Mannes ?“
„Ich gräme mich, daß ich ihn jemals kennengelernt“, antwortete sie, „ich gräme mich, daß ich ihn jemals geheiratet. Nun aber, wo er tot ist, kann ich mich nicht mehr über ihn grämen – ich kann ihm bloß verzeihen.“
„Verzeihen ? Wie sonderbar du aussiehst, Sara, während du dies sagst – erzähle mir –“
„Onkel Joseph, ich habe dir gesagt, daß mein Mann tot ist und daß ich ihm verziehen habe.“
„Du hast ihm verziehen ? Dann war er also hart und grausam gegen dich ? Ich sehe es schon – ich sehe es schon – das ist das Ende, Sara – aber der Anfang ? – War der Anfang der, daß du ihn liebtest ?“
Ihre bleichen Wangen erröteten und sie wendete das Gesicht hinweg.
„Es ist hart und demütigend, es gestehen zu müssen“, murmelte sie, ohne ihre Augen emporzuheben, „aber du zwingst mich, die Wahrheit zu sagen. Ich hatte keine Liebe zu meinem Gatten – ich hatte keine Liebe für irgend einen Mann.“
„Und dennoch heiratetest du ihn ! Doch halt, es kommt mir nicht zu, dich zu tadeln – es kommt mir nicht zu, das Schlechte herauszufinden, sondern das Gute. Ja, ja – ich werde bei mir sagen: sie heiratete ihn, als sie arm und hilflos war; sie heiratete ihn, als sie lieber hätte zu Onkel Joseph gehen sollen. Das werde ich zu mir sagen und ich werde dich bemitleiden, aber dich nichts weiter fragen.“
Sara streckte halb wieder ihre Hand dem alten Manne entgegen, dann schob sie plötzlich ihren Stuhl zurück und veränderte die Stellung, in der sie saß.
„Es ist wahr, daß ich arm war“, sagte sie, indem sie sich verlegen umschaute und nur mit Mühe sprach. „Du bist aber so gut und freundlich und ich kann nicht die Entschuldigung geltend machen, die deine Nachricht mir in den Mund legt. Ich heiratete nicht, weil ich arm war, sondern –“
Sie schwieg, faltete die Hände und schob ihren Stuhl noch weiter von dem Tische zurück.
„So ! so !“ sagte der alte Mann, ihre Verwirrung bemerkend. „Wir wollen nicht weiter davon sprechen.“
„Ich hatte nicht die Entschuldigung der Liebe; ich hatte nicht die Entschuldigung der Armut“, sagte sie mit einem plötzlichen Ausdruck von Bitterkeit und Verzweiflung; „Onkel Joseph, ich heiratete ihn, weil ich zu schwach war, hartnäckig Nein zu sagen. Der Fluch der Schwäche und Furcht hat mich auf meinem ganzen Lebenswege begleitet ! Ich sagte einmal Nein zu ihm; ich sagte zweimal Nein zu ihm. O, Onkel, wenn ich es auch nur zum dritten Mal hätte sagen können ! Aber er folgte mir, er schüchterte mich ein, er raubte mir den ganzen geringen Willen, den ich hatte. Er ließ mich reden und gehen wie er wollte. Nein, nein, nein, komm nicht zu mir, Onkel; sage nichts. Er ist hinüber; er ist tot – ich bin erlöst von ihm – ich habe ihm verziehen. Ach, wenn ich nur gehen und mich irgendwo verbergen könnte ! Aller Augen scheinen mich zu durchschauen, aller Worte scheinen mir zu drohen. Mein Herz ist schwer gewesen seit meiner Jugend und während all dieser langen, langen Jahre hat es keine Ruhe gekannt. Still ! Der Mann im Laden – ich vergaß ganz den Mann im Laden; er wird uns hören; laß uns leise sprechen ! Warum sprach ich so laut ? Ach, ich mache nichts recht. Ich mache es nicht recht, wenn ich spreche; ich mache es nicht recht, wenn ich nichts sage; wohin ich auch gehe und was ich auch tue, so bin ich nicht wie andere Leute. Es ist als wäre ich seit meiner Kindheit an Geist immer dieselbe geblieben. Horch, der Mann im Laden bewegt sich. Hat er mich gehört ? O, Onkel Joseph, glaubst du, daß er mich gehört habe ?“
Mit fast ebenso erschrockener Miene wie seine Nichte zeigte, versicherte Onkel Joseph ihr gleichwohl, daß die Tür fest, daß der Platz des Mannes im Laden in einiger Entfernung davon und daß es, wenn er auch Stimmen im Zimmer hörte, ihm doch unmöglich sei, auch die Worte, welche gesprochen würden, zu unterscheiden.
„Weißt du das gewiß ?“ flüsterte sie hastig. „Ja, ja, du weiß es gewiß, sonst würdest du nicht so sagen, nicht wahr ? Wir können nun weiter sprechen. Nicht von meinem Ehestand – dieser ist begraben und vorbei. Wenn ich sage, daß ich einige Jahre des Kummers und Leidens hatte, welche ich verdiente – wenn ich sage, daß ich andere Jahre der Ruhe hatte, wo ich in Diensten stand, und Herren und Herrinnen hatte, die oft gütig gegen mich waren, während meine Dienstgenossen dies nicht waren – wenn ich so viel über mein Leben sage, so habe ich damit genug gesagt. Die Bedrängnis, in der ich jetzt bin, die mich zu dir führt, geht weiter zurück als auf die Jahre, von welchen wir soeben sprachen. Sie geht zurück, Onkel Joseph, bis auf den fernen Tag, wo wir uns das letzte Mal sahen.“
„Sie geht durch diese ganzen sechzehn Jahre zurück“, rief der alte Mann ungläubig. „Sie geht zurück, Sara, bis auf diese lange Vergangenheit.“
„Ja, bis auf diese Zeit. Onkel, du entsinnst dich noch, wo ich damals lebte und was mir begegnet war, als –“
„Als du heimlich hierherkamst ? Als du mich batest, dich zu verbergen ? Es war dieselbe Woche, in welcher deine Herrin starb, deine Herrin, welche dort im Westen in dem alten Schlosse wohnte. Du warst damals in Angst – bleich und erschrocken, wie ich dich jetzt sehe.“
„Wie alle Welt mich sieht ! Die Leute stieren mich fortwährend an; sie glauben immer, ich sei nervenkrank und bemitleiden mich deswegen.“
Indem sie diese Worte in plötzlich gereiztem Tone sagte, hob sie die neben ihr stehende Teetasse an ihre Lippen empor, leerte sie auf einen Zug und schob sie dann über den Tisch, um sie wieder vollschenken zu lassen.
„Ich bin ganz durstig und erhitzt“, flüsterte sie. „Gib mir noch mehr Tee, Onkel Joseph – noch mehr Tee.“
„Er ist kalt“, sagte der alte Mann. „Warte, bis ich heißes Wasser habe bringen lassen.“
„Nein !“ rief sie, indem sie ihn zurückhielt, als er im Begriff stand aufzustehen. „Gib ihn mir kalt; ich trinke ihn gern kalt. Laß niemand herein – ich kann nicht sprechen, wenn jemand hereinkommt.“
Sie zog ihren Stuhl dicht an den ihres Onkels und fuhr fort:
„Du hast noch nicht vergessen, in welcher Angst ich damals war – weißt du auch noch, weshalb ich mich so ängstete ?“
„Du fürchtetest verfolgt zu werden – das war es, Sara. Ich werde alt, mein Gedächtnis aber bleibt jung. Du fürchtetest dich vor deinem Herrn – du fürchtetest, er werde Diener nachsenden. Du warst heimlich fortgegangen, du hattest niemand ein Wort gesagt. Du sprachst wenig – ach, sehr, sehr wenig – selbst mit Onkel Joseph, selbst mit mir.“
„Ich sagte dir“, hob Sara wieder an, indem sie ihre Stimme zu einem so matten Geflüster herabsenkte, daß der alte Mann sie nur eben hören konnte, „ich sagte dir, daß meine Herrin mir auf ihrem Sterbebett ein Geheimnis zurückgelassen, ein Geheimnis in einem Briefe, den ich meinem Herrn geben sollte. Ich erzählte dir, daß ich den Brief versteckt, weil ich es nicht über mich gewinnen konnte, ihn abzugeben, und weil ich lieber tausendmal sterben, als mich über das ausfragen lassen wollte, was ich davon wüßte. Soviel erzählte ich dir, das weiß ich. Sagte ich dir nichts weiter ? Sagte ich nicht, daß meine Herrin mich einen Schwur auf die Bibel tun ließ ? – Onkel, hast du Lichte hier im Zimmer ? Hast du Lichte, die wir anzünden können, ohne jemand zu stören, ohne jemand hereinzurufen ?“
„Es sind Lichte und Zündhölzchen in meinem Schranke“, antwortete Onkel Joseph. „Aber sieh doch an das Fenster, Sara. Es ist ja erst Dämmerung – es ist noch nicht finster.“
„Draußen allerdings nicht, wohl aber hier.“
„Wo denn ?“
„In jener Ecke. Laß und Lichter anzünden. Ich liebe nicht die Dunkelheit, wenn sie sich so in Winkeln sammelt und die Wände entlang kriecht.“
Onkel Joseph sah sich forschend im Zimmer ringsum und lächelte bei sich selbst, während er zwei Kerzen aus dem Schranke nahm und anzündete.
„Du bist wie die Kinder“, sagte er scherzend, während er die Fenstergardine zuzog. „Du fürchtest dich vor der Dunkelheit.“
Sara schien ihn nicht zu hören. Ihre Augen waren auf den Winkel des Zimmers geheftet, auf welchen sie einen Augenblick vorher gezeigt. Als Onkel Joseph seinen Platz neben ihr einnahm, sah sie nicht nach ihm herum, sondern legte ihre Hand auf seinen Arm und sagte plötzlich zu ihm:
„Onkel ! Glaubst du, daß die Toten aus dem Jenseits wiederkommen, die Lebenden überall hin verfolgen und sehen können, was sie machen ?“
Der alte Mann stutzte.
„Sara“, sagte er, „warum sprichst du so ? Warum tust du eine solche Frage an mich ?“
„Gibt es einsame Stunden“, fuhr sie fort, immer noch die Augen auf den Winkel geheftet haltend und immer noch nicht auf Onkel Joseph hörend, „wo du zuweilen erschrickst, ohne zu wissen warum – wo der Schrecken dich durchrieselt vom Kopf bis zum Fuße ? Sage mir, Onkel, hast du jemals gefühlt wie ein kalter Schauer die Wurzeln deines Haares packt und dir langsam den Rücken hinabkriecht ? Ich habe das gefühlt, selbst im Sommer. Ich bin im Freien gewesen, allein auf einer breiten Heide, in der Hitze und im Glanze des Mittags und es ist mir gewesen, als berührten mich eisige Finger – feuchte, kalte, leis kriechende Finger. Im neuen Testament heißt es, daß die Toten einmal aus ihren Gräbern hervorgingen und in die heilige Stadt kamen. Die Toten ! Haben sie seit jener Zeit geruht, stets geruht, für immer geruht ?“
Onkel Josephs schlichtes Gemüt bebte entsetzt vor den schwarzen, verwegenen Gedanken zurück, welche die Fragen seiner Nichte erweckten. Ohne ein Wort zu sagen, versuchte er den Arm, den sie noch hielt, hinwegzuziehen, die einzige Folge dieser Bemühung aber war, daß Sara ihn nur um so fester hielt, sich in ihrem Stuhl vorwärts neigte und noch unverwandter in den Winkel des Zimmers schaute.
„Meine Herrin lag im Sterben“, sagte sie, „meine Herrin stand bereits mit einem Fuße im Grabe, als sie mich auf die Bibel schwören ließ. Sie ließ mich beschwören, daß ich den Brief niemals vernichten wollte, und ich vernichtete ihn auch nicht. Sie ließ mich ferner beschwören, ihn nicht mit fortzunehmen, den Brief meinem Herrn zu geben, aber der Tod kam schneller als sie glaubte – der Tod hinderte sie, mein Gewissen auch durch diesen dritten Eid zu binden. Wohl aber drohte sie mir, Onkel, mit Todesschweiß auf ihrer Stirn und Totenblässe auf ihren Wangen – sie drohte mir, mich aus der andern Welt heimzusuchen, wenn ich ihre Absicht vereitelte – und ich habe dieselbe vereitelt.“
Sie schwieg, nahm plötzlich ihre Hand von dem Arme des alten Mannes hinweg und machte eine seltsame Gebärde nach dem Teile des Zimmers, auf welchen ihre Augen geheftet waren.
„Ruhe, ruhe, ruhe“, flüsterte sie ganz leise. „Lebt mein Herr jetzt noch ? Ruhe, bis die Ertrunkenen auferstehen. Sage ihm das Geheimnis, wenn das Meer seine Toten herausgibt.“
„Sara, Sara ! Du bist verändert, du bist krank, du erschreckst mich !“ rief Onkel Joseph aufspringend.
Sie drehte sich langsam um und sah ihn mit Augen an, die alles Ausdrucks bar waren, mit Augen, die ihn gedankenlos anzustieren schienen wie etwas weit Entferntes.
„Gott im Himmel ! Was sieht sie denn ?“ rief Onkel Joseph und sah sich um, während dieser Ausruf ihr entschlüpfte. „Sara, was gibt es ? Bist du erschöpft ? Bist du unwohl ? Träumst du mit offenen Augen ?“
Er faßte sie bei beiden Armen und schüttelte sie. In dem Augenblick, wo sie die Berührung seiner Hände fühlte, fuhr sie heftig zusammen und zitterte an allen Gliedern. Ihr natürlicher Ausdruck kehrte mit der Schnelligkeit eines Blitzes in ihre Augen zurück. Ohne ein Wort zu sagen, nahm sie schnell wieder ihren Sitz ein und begann den kalten Tee so rasch in ihrer Tasse zu rühren, daß die Flüssigkeit in ihre Untertasse überströmte.
„Na, jetzt scheint sie sich wieder zu erholen“, sagte Onkel Joseph sie beobachtend.
„Wieder zu erholen ?“ wiederholte sie mechanisch.
„Na ! na !“ sagte der alte Mann, indem er sich bemühte, sie zu beschwichtigen. „Du bist krank. Wir haben aber gute Ärzte hier. Warte bis morgen – Du sollst den allerbesten haben.“
„Ich brauche keinen Arzt. Sprich nicht von Ärzten. Ich kann sie nicht ausstehen; sie sehen mich mit so neugierigen Augen an; sie spionieren an mir herum, als ob sie etwas entdecken wollten. Warum sind wir in unserm Gespräch stehen geblieben ? Ich hatte soviel zu erzählen und wir scheinen uns gerade unterbrochen zu haben, während wir doch hätten fortfahren sollen. Ich bin in Angst und Furcht, Onkel Joseph, in Angst und Furcht wieder wegen des Geheimnisses !“
„O, davon nichts mehr !“ sagte der alte Mann in bittendem Tone. „Wenigstens heute Abend nichts mehr.“
„Warum nicht ?“
„Weil du wieder krank werden wirst, wenn du darüber sprichst. Du wirst wieder in jenen Winkel hineinschauen und mit offenen Augen träumen – du bist zu krank – ja, ja, Sara – du bist zu krank.“
„Ich bin nicht krank ! O, warum sagen mir fortwährend alle Leute, daß ich krank sei ? Laß mich davon sprechen, Onkel. Ich bin gekommen, um davon zu sprechen; ich habe nicht eher wieder Ruhe, als bis ich es dir gesagt habe.“
Sie sprach mit wechselnder Farbe und verlegener Miene, als ob sie jetzt zum ersten Mal sich bewußt würde, daß sie sich Worte und Taten hatte entschlüpfen lassen, welche sie klüger getan hätte zu verschweigen.
„Achte weiter nicht darauf“, sagte sie mit ihrer sanften Stimme und ihrem schüchternen bittenden Wesen. „Achte nicht weiter darauf, wenn ich spreche oder aussehe, wie ich nicht sprechen oder aussehen sollte. Ich rede zuweilen irre, ohne es zu wissen, und ich glaube, ich habe auch jetzt irre geredet. Es hat aber nichts zu bedeuten, Onkel Joseph – durchaus nichts.“
Indem sie sich auf diese Weise bemühte, den alten Mann wieder zu beruhigen, änderte sie abermals die Stellung ihres Stuhls so, daß sie wieder nach dem Teile des Zimmers zu saß, welchem ihr Gesichtvohin zugewendet gewesen.
„Gut, gut, ich freue mich, dies zu hören“, sagte Onkel Joseph; „aber sprich nicht mehr von der Vergangenheit, sonst möchtest du wieder anfangen irre zu reden. Laß uns lieber hören, was es jetzt gibt. Ja, tue mir den Willen. Laß die Vergangenheit mir und nimm du die Gegenwart. Ich kann die sechzehn Jahre ebenso gut die Musterung passieren lassen wie du. Du bezweifelst es ? Dann höre mich dir erzählen, was geschah, als wir uns das letzte Mal sahen – höre mich es dir in drei Worten beweisen. Du verließest deinen Dienst in dem alten Schlosse – du kamst hierher – du hieltest dich bei mir verborgen, während dein Herr und sein Diener dich auszuspionieren suchten – du setztest, sobald die Luft wieder rein war, deinen Weg weiter fort, um dir, so fern von Cornwall als möglich dein Brot zu verdienen. Ich bat dich inständig, bei mir zu bleiben, aber du fürchtetest dich vor deinem Herrn und gingst fort. Da, dies ist die ganze Geschichte deiner Bedrängnisse als du das letzte Mal hierher zu mir kamst. Nun sage mir, was die Ursache deiner jetzigen Bedrängnis ist.“
„Die frühere Ursache meiner Bedrängnis, Onkel Joseph, und die gegenwärtige ist ein und dieselbe – das Geheimnis.“
„Wie ? Willst du darauf zurückkommen ?“
„Ich muß darauf zurückkommen.“
„Und warum ?“
„Weil das Geheimnis in einem Briefe geschrieben steht.“
„Ja – und was ist damit ?“
„Und der Brief in Gefahr schwebt entdeckt zu werden. Ja, Onkel, so ist es. Sechzehn Jahre hat er versteckt gelegen – und jetzt, nach dieser ganzen langen Zeit, ist die furchtbare Möglichkeit, daß er ans Licht gebracht werde, über mich gekommen wie ein Gericht. Gerade die Person in der ganzen Welt, welche diesen Brief niemals vor Augen bekommen sollte, ist die, welche höchstwahrscheinlich ihn finden wird.“
„So so ! Weißt du das auch gewiß, Sara ? Und woher weißt du es ?“
„Ich weiß es aus ihrem eigenen Munde. Der Zufall führte uns zusammen –“
„Uns ? uns ? Wen meinst du unter uns ?“
„Ich meine – Onkel, du weißt doch noch, daß Kapitän Treverton mein Dienstherr war, als ich in Porthgenna Tower lebte ?“
„Ich hatte seinen Namen vergessen – doch gleichviel – erzähle weiter.“
„Als ich meinen Dienst verließ, war Miß Treverton ein kleines Mädchen von fünf Jahren, jetzt ist sie ene verheiratete Frau – so schön, so gut, mit einem so sanften, jugendlichen, fröhlichen Gesicht – und sie hat ein Kind, welches ebenso lieblich ist wie sie selbst. O, Onkel, wenn du sie sehen könntest ! Ich gäbe viel darum, wenn du sie sehen könntest !“
Onkel Joseph küßte seine Hand und zuckte die Achseln. Die erste Gebärde drückte die Huldigung aus, welche er der Schönheit der Dame darbrachte, und die zweite die Ergebung in das Mißgeschick, sie nicht sehen zu können.
„Wohlan“, sagte er philosophisch, „laß diese ausgezeichnete Frau beiseite und uns weiter fortfahren.“
„Ihr Name ist jetzt Frankland“, sagte Sara. „Es ist ein hübscherer Name als Treverton, ein viel hübscherer Name, glaube ich. Ihr Gatte liebt sie sehr – ich bin dessen gewiß. Wie könnte er auch ein Herz haben und sie nicht lieben ?“
„So so !“ rief Onkel Joseph mit ganz verdutzter Miene. „Wenn er sie liebt, so ist das gut – recht gut. Aber in was für ein Labyrinth geraten wir da ? Warum diese ganze Erzählung von einem Mann und seiner Frau ? Auf mein Ehrenwort, Sara, deine Erklärung erklärt nichts – sie macht mich bloß konfus.“
„Ich muß von ihr und ihrem Gatten sprechen, Onkel. Porthgenna Tower ist jett das Eigentum dieses Mannes und sie stehen beide im Begriff, dort ihren Wohnsitz zu nehmen.“
„Ah, endlich kommen wir wieder auf die alte gerade Straße zurück.“
„Sie wollen ihren Wohnsitz in demselben Hause nehmen, welches das Geheimnis in sich schließt – sie wollen gerade den Teil des Hauses, wo der Brief versteckt liegt, wieder in bewohnbaren Stand setzen lassen. Sie will in die alten Zimmer gehen – ich hörte sie dies sagen; sie will in denselben herumsuchen, um ihre Neugier zu befriedigen – Arbeiter werden diese Zimmer ausräumen und sie wird in ihren müßigen Stunden dabei stehen und zusehen.“
„Aber sie mutmaßt nichts von dem Geheimnis ?“
„Gott verhüte, daß dies der Fall sei !“
„Und sind viele Zimmer in dem Hause ? Und ist der Brief, in welchem das Geheimnis geschrieben steht, in einem der vielen versteckt ? Warum sollte sie gerade dieses eine treffen ?“
„Weil ich stets etwas sage, was ich nicht sagen sollte; weil ich immer in Angst gerate und zur Unzeit die Besonnenheit verliere. Der Brief liegt in einem Zimmer versteckt, welches das Myrthenzimmer heißt, und ich war so töricht, so schwach, so unbesonnen, sie vor dem Betreten dieses Zimmers zu warnen.“
„Ach Sara, Sara ! das war freilich ein Mißgriff.”
„Ich weiß selbst nicht, was sich meiner auf einmal bemächtigt hatte – ich war mit einem Male wie von Sinnen, als ich sie so unschuldig davon sprechen hörte, daß sie zu ihrem Vergnügen die alten Zimmer durchsuchen wollte, und als ich bedachte, was sie darin finden könnte. Dazu kam, daß es gegen Einbruch der Nacht war; die entsetzliche Finsternis sammelte sich in den Winkeln und kroch die Mauern entlang und ich wagte nicht die Lichter anzuzünden, weil ich fürchtete, sie würde sehen, wie aufgeregt und angstvoll ich war. Und als ich die Lichter endlich anzündete, ward die Sache noch schlimmer. O, ich weiß gar nicht, wie ich es tat ! Ich weiß nicht, warum ich es tat. Ich hätte mir die Zunge ausreißen können, daß ich diese Worte gesagt, und dennoch sagte ich sie. Andere Menschen überlegen sich alles reiflich, andere Menschen tun was unter den obwaltenden Umständen das beste ist, andere Menschen haben auch eine schwere Last auf ihrem Herzen gehabt und sind derselben doch nicht erlegen wie ich. Hilf mir, Onkel, um der alten Zeiten willen, wo wir glücklich waren – hilf mir durch ein Wort guten Rates.“
„Ich werde dir auch helfen – ich lebe, um dir zu helfen, Sara. Na, na – sieh nur nicht so trostlos aus und weine nur nicht. Ich will dir gern einen guten Rat geben, aber sage mir nur worin – in welcher Beziehung.“
„Habe ich dir das nicht schon gesagt ?“
„Nein, du hast mir noch kein Wort gesagt.“
„Nun, dann will ich es dir jetzt sagen –“
Sie schwieg, schaute mißtrauisch nach der Tür, welche in den Laden führte, horchte ein wenig und hob dann wieder an:
„Ich bin noch nicht am Ende meiner Reise, Onkel Joseph – ich bin hier auf dem Wege nach Porthgenna Tower – auf dem Wege nach dem Myrthenzimmer – Schritt für Schritt auf dem Wege nach dem Platze, wo der Brief versteckt liegt. Ich wage nicht, ihn zu vernichten; ich wage nicht, ihn gänzlich zu entfernen, aber welche Gefahr ich auch laufen möge, so muß ich ihn wenigstens aus dem Myrthenzimmer hinwegbringen.“
Onkel Joseph sagte nichts, sondern schüttelte mutlos den Kopf.
„Ich muß“, wiederholte sie. „Ehe Mistreß Frankland nach Porthgenna kommt, muß ich diesen Brief aus dem Myrthenzimmer entfernen. Es gibt eine Menge andere Orte in dem alten Hause, wo ich ihn wieder verstecken kann – Orte, an die sie niemals denken – Orte, die sie niemals beachten würde. Laß mich ihn nur aus dem einen Zimmer herausbekommen, in welchem sie ganz gewiß suchen werden, und ich weiß, wo ich ihn dann vor ihr und vor jedermann auf immer verberge.“
Onkel Joseph dachte nach, schüttelte wieder den Kopf und sagte dann:
„Noch ein Wort, Sara – weiß Mistreß Frankland, welches das Myrthenzimmer ist ?“
„Ich tat alles Mögliche, um jede Spur dieses Namens zu vernichten, als ich den Brief versteckte. Ich hoffe und glaube, daß sie es nicht weiß. Aber sie kann es ermitteln – bedenke die Worte, die ich wahnsinnig genug war auszusprechen ! Dadurch wird sie sich veranlaßt sehen, das Myrthenzimmer zu ermitteln; ganz gewiß wird dies die Folge sein.“
„Und wenn sie es findet ? Und wenn sie den Brief sieht ?“
„Das wäre Unglück und Herzeleid für unschuldige Menschen und für mich der Tod. Rücke deinen Stuhl nicht von mir hinweg, Onkel – es ist kein schimpflicher Tod, von welchem ich spreche. Das Schlimmste, was ich getan, habe ich mir selbst getan; der schlimmste Tod, den ich zu fürchten habe, ist der, welcher einen gebeugten Geist erlöst und ein gebrochenes Herz heilt.“
„Genug – genug so“, sagte der alte Mann. „Ich verlange kein Geheimnis zu wissen, Sara, welches du mir einmal nicht mitteilen kannst. Mir ist alles dunkel – sehr dunkel, sehr verworren. Ich sehe davon hinweg – ich sehe bloß auf dich – nicht mit Zweifel, mein Kind, sondern mit Mitleid und auch mit Kummer – mit Kummer, daß du jemals diesem Schloß Porthgenna zu nahe gekommen bist, mit Kummer, daß du jetzt wieder dorthin willst.“
„Ich habe keine andere Wahl, Onkel, als hinzugehen. Und wenn jeder Schritt auf dem Wege nach Porthgenna meinem Tode näher führte, so muß ich diese Straße dennoch wandeln. Mit dem was ich weiß, kann ich nicht ruhen, kann ich nicht schlafen – ich kann nicht einmal frei atmen, bis ich diesen Brief aus dem Myrthenzimmer entfernt habe. Wie ich dies aber machen soll, Onkel Joseph, wie ich dies machen soll ohne Verdacht zu erregen, ohne von jemand entdeckt zu werden – das ist es, wofür ich mein Leben hingeben würde, wenn ich es wüßte. Du bist ein Mann – du bist älter und klüger als ich; kein lebendes Wesen hat jemals vergebens Hülfe bei dir gesucht – hilf auch nun mir – du, mein einziger Freund in der ganzen Welt, hilf auch mir durch ein Wort des Rates.“
Onkel Joseph erhob sich von seinem Stuhle, verschränkte entschlossen die Arme und schaute seiner Nichte gerade und unverwandt ins Gesicht.
„Du willst also dorthin gehen ?“ fragte er. „Du willst hingehen, möge es kosten was es wolle ? Erkläre dich ein für allemal, ob dies deine feste Absicht ist – ja oder nein.“
„Ja ! Ein für allemal sage ich Ja.“
„Gut, und du willst wohl auch bald hingehen ?“
„Ich muß morgen hingehen. Ich wage nicht, einen einzigen Tag zu versäumen – sogar die Stunden können kostbar sein.“
„Du versicherst mir, Kind, daß das Verbergen des Geheimnisses Nutzen bringt und daß das Auffinden desselben schaden würde ?“
„Und wenn es das letzte Wort wäre, welches ich in dieser Welt zu sprechen hätte, so würde ich sagen: Ja !“
„Du versicherst mir auch, daß du weiter nichts willst als den Brief aus dem Myrthenzimmer nehmen und irgendwo anders hintun ?“
„Weiter nichts.“
„Und hast du auch das Recht, diese Veränderung vorzunehmen ? Hat niemand ein größeres Recht als du, diese Sache zu berühren ?“
„Nein, niemand, seitdem mein Dienstherr tot ist.“
„Gut. Nun weiß ich, was ich zu tun habe. Setze dich hierher, Sara, und wundre dich, wenn du willst, aber sage nichts.“
Mit diesen Worten ging Onkel Joseph leichtfüßig nach der in den Laden führenden Tür, öffnete sie und rief dem Manne zu, der hinter dem Ladentisch saß.
„Samuel, lieber Freund“, sagte er, „morgen werde ich mit meiner Nichte, dieser Dame hier, eine kleine Reise über Land machen. Besorgt mittlerweile den Laden und nehmt Bestellungen an und seid mit einem Worte so achtsam und sorgfältig wie Ihr immer seid, bis ich wiederkomme. Sollte jemand nach mir fragen, so sagt nur, ich würde in einigen Tagen wieder da sein. Das ist alles. Für heute abend schließt nun den Laden, Samuel, und geht nach Hause. Ich wünsche Euch guten Appetit, etwas gutes zu essen und eine gute Nacht.“
Ehe Samuel seinem Herrn danken konnte, war die Tür wieder geschlossen. Ehe Sara ein Wort sagen konnte, legte ihr Onkel Joseph die Hand auf den Mund und trocknete mit seinem Tuch die Tränen, die jetzt unaufhaltsam ihren Augen entströmten.
„Nun wird nicht mehr geschwatzt und nicht mehr geweint“, sagte der alte Mann. „Ich bin ein Deutscher und rühme mich hartnäckiger zu sein, als sechs Engländer alle in einen zusammengeschmolzen. Heute Nacht schläfst du hier, morgen werden wir wieder über die ganze Sache sprechen. Du wünschest, daß ich dir mit gutem Rate beistehe. Ich will dir mit mir selbst beistehen, was noch viel besser ist als guter Rat. Nun sage ich nichts weiter, sondern lange meine Pfeife von der Wand und denke, während ich schmauche, weiter nach. Heute abend schmauche ich und überlege ich – morgen spreche und handle ich. Und du, du gehst hinauf zu Bett. Du nimmst Onkel Max’ Spieluhr in die Hand und läßt Mozart dir dein Wiegenlied singen, ehe du einschläfst. Ja ja, mein Kind, Mozart bringt allemal Trost – bessern Trost als das Weinen. Warum weinst du überhaupt zu viel ? Welchen Grund hast du zu weinen oder zu danken ? Ist es denn ein so großes Wunder, daß ich das Kind meiner Schwester nicht allein ein Wagstück im Finstern unternehmen lassen will ? Ich sagte, Sara, dein Kummer wäre mein Kummer und deine Freude meine Freude und wenn es einmal nicht anders ist – wenn es einmal geschehen muß – so sage ich auch: Saras Gefahr morgen ist auch Onkel Josephs Gefahr morgen.“
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