Armadale



Erstes Kapitel.

Es war im Jahre 1832. Die Saison zu Wildbad sollte ihren Anfang nehmen.

Die Schatten der Nacht begannen sich auf die stille kleine deutsche Stadt herabzusenken, und die Ankunft der Schnellpost ward mit jeder Minute erwartet. Vor der Hausthür des ersten Gasthofs waren die drei bedeutendsten Persönlichkeiten von Wildbad versammelt, die, von ihren Gemahlinnen begleitet, der Ankunft der ersten Badegäste des Jahres harrten: der Bürgermeister, als Repräsentant der Einwohner, der Arzt, als Repräsentant der Brunnen, der Gastwirth, als Repräsentant seines eigenen Etablissements. Außerhalb dieses kleinen Kreises von Auserwählten, die in gemüthlichen Gruppen auf dem sauberen hübschen kleinen Platze vor dem Gasthofe umher standen, befanden sich Einwohner des Städtchens, unter die sich hier und dort einige Landleute in ihrer eigenthümlichen Nationaltracht mischten; die Männer in kurzen schwarzen Zacken, eng anschließenden schwarzen Kniehosen und dreieckigen Castorhüten, die Frauen mit ihrem langen blonden Haar, das ihnen in einer einzigen Flechte auf dem Rücken herabhing, und in kurzen wollenen Kleidern, deren Taille sich bescheiden in der Region des Schulterblatts abzeichnete —— alle der Schnellpost harrend. An den äußersten Grenzen dieser Versammlung tummelten sich ohne Unterlaß fliegende Detachements von dicken weißköpfigen Kindern, während in einem abgelegenen Winkel, geheimnisvoll von den übrigen Einwohnern getrennt, die Stadtmusikanten bereit standen, um die Ankunft der ersten Gäste mit einem Ständchen zu begrüßen. Die hohen waldigen Hügel, die rechts und links über dem Städtchen Wache hielten, waren noch in dem hellen Lichte des Maiabends sichtbar, und die kühle Brise, die dem Sonnenuntergang vorangeht, strich, mit dem balsamischen Dufte der Fichten des Schwarzwaldes geschwängert, scharf daher.

»Herr Wirth«, sagte die Gattin des Bürgermeisters, den Gastwirth bei seinem Titel anredend, »erwarten Sie an diesem ersten Tage der Saison Gäste vom Ausland?«

»Frau Bürgermeisterin«, antwortete der Gastwirth, das Compliment erwidernd, »ich erwarte zwei ausländische Gäste. Sie haben geschrieben —— der eine durch die Hand seines Dieners, der andere anscheinend mit eigener Hand —— um sich Zimmer zu bestellen, und ihren Namen nach zu urtheilen sind sie beide aus England. Wenn Sie von mir verlangen, daß ich die Namen ausspreche, so zögert meine Zunge; wenn Sie sich aber damit begnügen wollen, daß ich Ihnen dieselben vorbuchstabiere, so lauten sie folgendermaßen: erstens ein hochgeborener Fremder, dessen Titel Mister, und der sich mit acht Buchstaben unterzeichnet, nämlich A——r——m——a——d——a——l——e, und, sehr krank, in seinem eigenen Wagen reist; zweitens ein hochgeborener Fremder, dessen Titel ebenfalls Mister und der sich mit vier Buchstaben unterzeichnet —— N——e——a——l —— und, gleichfalls krank, mit der Schnellpost kommt, Se. Excellenz mit acht Buchstaben schreibt mir durch seinen Diener französisch; Se. Excellenz mit vier Buchstaben schreibt mir deutsch. Die Zimmer beider Excellenzen sind in Bereitschaft Weiter weiß ich nichts.«

»Der Herr Doctor hat vielleicht von einem dieser hohen Gäste oder gar von beiden gehört?« sagte die Frau Bürgermeisterin.

»Nur von dem einen, Frau Bürgermeisterin; doch, streng genommen, nicht von dem Herrn selber. Ich habe über Se. Excellenz mit den acht Buchstaben einen ärztlichen Bericht empfangen, und er scheint ein schlimmes Leiden zu haben. Gott helfe ihm!«

»Die Schnellpost!« schrie ein Kind am äußersten Ende der Menge.

Die Musikanten ergriffen ihre Instrumente und in der Gemeinde herrschte tiefe Stille. Aus den fernen Windungen der Waldstraße kam zuerst matt und dann immer heller durch die Abendstille der Schellenklang von Pferden heran. Welcher Wagen war es, der sich nahte, die Privatequipage mit Mr. Armadale oder die Schnellpost mit Mr. Neal?

»Spielt, Freunde!« rief der Bürgermeister den Musikanten zu. »Ob sie in öffentlicher oder Privatequipage kommen, gleichviel, es sind die ersten kranken Gäste der Saison. Spielt, spielt, damit sie uns heiter sehen.«

Die Musikanten spielten einen lustigen Tanz und die Kinder auf dem Platze tanzten vergnügt nach der Musik. In demselben Augenblick traten die älteren Wartenden vor dem Gasthofe auf die Seite, und dann fiel der erste traurige Schatten auf die hübsche fröhliche Scene. Durch die offene Menschenallee kam nämlich eine kleine Procession von kräftigen Landmädchen daher, von denen jedes einen leeren Rollstuhl zog und, während es mit einem Strickzeug beschäftigt war, der armen vom Schlage Gelähmten harrte, die damals zu Hunderten, wie jetzt zu Tausenden, nach Bad Wildbad kamen, um Hilfe und Heilung zu suchen.

Während die Musikanten spielten, die Kinder tanzten, die umstehenden Schwätzer emsiger plauderten und die kräftigen jungen Wärterinnen der erwarteten Krüppel mit unerforschlicher Miene strickten, gab sich in der Gattin des Bürgermeisters die unersättliche Neugier des Weibes in Bezug auf andere Weiber zu erkennen. Sie zog die Gastwirthin auf die Seite und flüsterte ihr eine Frage ins Ohr.

»Noch ein Wort, Madame«, sagte die Gattin des Bürgermeisters »über die beiden Fremden aus England. Sind ihre Briefe ausführlich? Sind sie von Damen begleitet?«

»Der Fremde, der mit der Schnellpost kommt, nicht«, erwiderte die Frau Wirthin, »wohl aber der, welcher in seiner eigenen Equipage reist. Er bringt ein Kind, er bringt eine Kinderwärterin und«, fügte die Frau Wirthin hinzu, indem sie geschickt das Interessanteste bis zuletzt aufbewahrte, »er bringt eine Gattin mit.«

Das Gesicht der Frau Bürgermeisterin erhellte sich; das der Frau Doctorin, die an der Besprechung theilnahm, erhellte sich ebenfalls und die Frau Wirthin nickte bedeutungsvoll mit dem Kopfe. In allen dreien erwachte in demselben Augenblick derselbe Gedanke: »Wir werden die neuen Moden zu sehen bekommen!«

Eine Minute später entstand eine plötzliche Bewegung in der Menge, und ein Chor von Stimmen verkünden, daß die Reisenden sich nahten.

Das herannahende Fuhrwerk war jetzt in Sicht gekommen und aller Zweifel hatte ein Ende. Es war die Schnellpost, die die lange Straße herabkam, welche in den Platz ausmündete, die Schnellpost in einem blendenden neuen Kleide von gelbem Lack, welche die ersten Gäste der Saison vor dem Gasthofe absetzte. Von den zehn Reisenden, die der Kutschentheil des Eilwagens enthielt, und welche alle aus verschiedenen Theilen von Deutschland kamen, wurden drei hilflos aus demselben heraus und in die Rollstühle gehoben, um in denselben mach ihren Wohnungen in der Stadt gefahren zu werden. Das Coupé enthielt nur zwei Reisende, Mr. Neal und seinen ihn auf der Reise begleitenden Diener. Auf beiden Seiten von einem Arme unterstützt, gelang es dem Fremden, dessen Krankheit sich anscheinend auf eine Lahmheit des einen Fußes beschränkte, ohne große Mühe vermittelst des Trittes aus dem Wagen zu steigen. Als er, sich auf seinen Stock stützend, auf dem Pflaster stand und einen nicht allzu freundlichen Blick auf die Musikanten warf, die ihm den Walzer aus dem Freischütz vorspielten, ward die Begeisterung des freundschaftlichen kleinen Kreises, der ihn zu bewillkommnen versammelt war, durch sein äußeres Erscheinen um ein Merkliches gedämpft. Er war ein großer, hagerer, ernster Mann von mittleren Jahren, mit einem kalten grauen Auge und einer langen Oberlippe, langen struppigen Augenbrauen und hervorstehenden Backenknochen, ein Mann, der aussah wie das, was er war, nämlich vom Kopf bis zur Zehe ein Schotte.

»Wo ist der Eigenthümer dieses Gasthofs?« fragte er in deutscher Sprache, mit geläufiger Ausdrucksweise und eisig kaltem Wesen. »Holen Sie den Arzt«, sagte er, nachdem der Wirth sich ihm vorgestellt; »ich wünsche ihn augenblicklich zu sehen.«

»Ich bin bereits hier, Sir«, sagte der Doctor, aus dem Kreise der Freunde hervortretend, »und meine Dienste stehen Ihnen zur Verfügung.«

»Danke«, sagte Mr. Neal, indem er den Arzt ansah, wie andere Menschen einen Hund anzusehen pflegen, der auf ihr Pfeifen gekommen ist. »Ich wünsche Sie morgen um zehn Uhr über meine eigene Krankheit zu Rathe zu ziehen, jetzt aber will ich mich nur eines Auftrags entledigen, der mir an Sie übermacht worden. Wir fuhren auf dem Wege hierher an einem Reisewagen vorbei, in dem sich ein Herr befand —— ein Engländer, wie ich glaube —— welcher ernstlich krank zu sein schien. Eine Dame, die ihn begleitete, bat mich, Sie unmittelbar nach meiner Ankunft aufzusuchen und um Ihren ärztlichen Beistand für den Kranken zu bitten, wenn dieser aus dem Wagen geschafft würde. Ihr Kurier hat einen Unfall gehabt und deshalb unterwegs zurückbleiben müssen, und sie sind genöthigt, sehr langsam zu reisen. Falls Sie in einer Stunde hier sind, so wird dies früh genug sein, um sie zu empfangen. Dies ist mein Auftrag. Wer ist dieser Herr, der mich zu sprechen wünscht, wie es scheint? Der Bürgermeister? Falls Sie meinen Paß zu sehen wünschen, Sir, so wird mein Diener Ihnen denselben zeigen. Nicht? Sie wünschen mich in Ihrer Stadt willkommen zu heißen und mir Ihre Dienste anzutragen? Ich fühle mich außerordentlich geschmeichelt. Wenn Sie hinreichende Autorität besitzen, um ihren Musikanten zu gebieten, ihre Musik einzustellen, so würden Sie mir eine Freundlichkeit erzeigen, indem sie dieselbe zu diesem Zwecke anwendeten. Meine Nerven sind reizbar und ich kann die Musik nicht leiden. Wo ist der Gastwirth? Ich wünsche mein Zimmer zu sehen. Nein, ich bedarf Ihres Arms nicht, ich kann mit Hilfe meines Stocks die Treppe hinaufgehen. Herr Bürgermeister und Herr Doctor, wir brauchen einander nicht länger aufzuhalten. Ich wünsche Ihnen gute Nacht.«

Der Bürgermeister und der Doctor sahen dem Schotten nach, wie dieser die Treppe hinauf hinkte, und schüttelten mit stummer Mißbilligung den Kopf. Die Damen gingen wie gewöhnlich einen Schritt weiter und drückten ihre Ansichten offen und mit den deutlichsten Worten aus. Es handelte sich hier, insoweit die Sache sie betraf, um einen Mann, der sich unterstanden, sie völlig zu übersehen. Die Frau Bürgermeisterin konnte eine solche Beleidigung nur der angeborenen Roheit eines Wilden zuschreiben. Die Frau Doctorin äußerte sich aber noch kräftiger über ihn und betrachtete sein Betragen als die ihm innewohnende Brutalität eines durch sein Grunzen bekannten Vierfüßlers.

Die Stunde, welche bis zur Ankunft des Reisewagens vergehen mußte, verstrich, und die schleichenden Schatten der Nacht sanken sanft aus die Hügel herab. Die Sterne erschienen einer nach dem andern und in den Fenstern des Gasthofs begannen Lichter zu funkeln. Als die Dunkelheit hereinbrach, verließen die letzten Müßiggänger den Platz; die Stille des Waldes senkte sich gleichsam auf das Thal herab und eine seltsame Oede herrschte plötzlich in dem einsamen kleinen Städtchen.

Der Arzt, welcher sorgenvoll auf und ab wanderte, war das einzige lebende Wesen, das noch auf dem Platze zurückblieb. Der Doctor zählte fünf, zehn, zwanzig Minuten auf seiner Uhr, ehe die ersten Klänge durch die Nachtstille drangen, die ihm das Herannahen des Wagens verkündeten. Derselbe erschien langsam auf dem Platze, die Pferde gingen im Schritt und brachten ihn, einem Leichenwagen ähnlich, bis vor die Thür des Gasthofs.

»Ist der Arzt hier?« fragte eine Frauenstimme aus der Dunkelheit im Innern des Wagens in französischer Sprache.

»Ich bin hier, Madame«, antwortete der Doctor, indem er dem Wirthe das Licht aus der Hand nahm und den Wagenschlag öffnete.

Das erste Gesicht, das die Kerze beleuchtete, war das der Dame, die so eben gesprochen hatte, einer jungen Dame von dunkler Schönheit, in deren besorgt blickenden schwarzen Augen schwere Thränen glänzten; das zweite das einer alten Negerin, die der Dame gegenüber auf dem Rücksitz saß; das dritte das eines kleinen schlafenden Kindes auf dem Schooße der Negerin. Die Dame gab der Wärterin durch eine schnelle Gebärde der Ungeduld zu verstehen, sie solle zuerst mit dem Kinde aussteigen. »Bitte, führen Sie sie fort«, sagte sie zu der Wirthin, »bitte, führen Sie sie auf ihr Zimmer.« Sobald man ihrem Wunsche Folge geleistet, stieg sie selbst aus. In diesem Augenblick fiel das Licht zum ersten Male hell in das Innere des«Wagens und zeigte den vierten Reisenden.

Er lag hilflos auf einer Matratze, die durch Holzstäbe gehalten wurde; sein Haar hing lang und unordentlich unter einem schwarzen Käppchen hervor; seine weit geöffneten Augen rollten unaufhörlich mit angstvollem Ausdruck hin und her; der übrige Theil seines Gesichts verrieth so wenig von dem Charakter und den Gedanken in ihm, als wenn er todt gewesen wäre. Wenn man ihn jetzt ansah, war es unmöglich zu errathen, was er einst gewesen sein konnte. Die bleierne Leere seines Gesichts begegnete jedem prüfenden Blicke, der sein Alter, seine gesellschaftliche Stellung, seine Gemüthsanlagen und sein ehemaliges Aussehen zu erforschen suchte, mit undurchdringlichem Schweigen. Nichts als der Schlag, der ihn zu einem lebendig Todten gemacht, verrieth jetzt irgendetwas über ihn. Des Doctors Auge befragte die unteren Glieder und der lebendige Tod erwiderte: Ich bin hier. Des Doctors Auge schweifte aufmerksam an den Händen und Armen bis zu den Muskeln um seinen Mund hinauf, und der lebendige Tod erwiderte auf seine Frage: Ich komme.

Im Angesicht eines so fürchterlichen Unglücks gab es nichts zu sagen. Stille Theilnahme war alles, was er dem Weibe zu bieten vermochte, welches weinend an der Wagenthür stand.

Als man den Kranken auf seinem Lager durch den Hausflur des Gasthofs trug, fielen seine unruhigen Blicke auf das Gesicht seiner Gattin. Dort ruhten dieselben einen Augenblick und in diesem Augenblicke sprach er:

»Das Kind?« Er sagte dies in englischer Sprache, langsam, mühsam und schwerfällig.

»Das Kind ist oben in Sicherheit«, erwiderte die Frau mit matter Stimme.

»Mein Schreibpult?«

»Ich habe es in der Hand. Sieh! ich will es Niemand anvertrauen, sondern es selbst für Dich in Gewahrsam nehmen.«

Nach dieser Antwort schloß er zum ersten Male die Augen und sagte nichts weiter. Man trug ihn vorsichtig und geschickt die Treppe hinauf, während seine Gattin auf der einen Seite ging und der Arzt in unheilverkündendem Schweigen auf der andern. Der Wirth und die Diener, welche ihnen folgten, sahen die Thür seines Zimmers sich öffnen und hinter ihm sich schließen, hörten die Dame, sobald sie sich mit dem Arzte und dem Kranken allein sah, in krampfhaftes Weinen ausbrechen, und sahen den Arzt nach einer halben Stunde mit einem etwas bleicheren Gesicht als gewöhnlich wieder herauskommen. Man drang eifrig mit Fragen in ihn, erhielt aber auf alle Erkundigungen nur die Antwort: »Wartet, bis ich ihn morgen gesehen habe, fragt mich heute nicht weiter.« Alle waren mit dem Wesen des Doctors vertraut, und es ahnte ihnen Schlimmes, als er sie mit dieser Antwort verließ.

In dieser Weise langten die beiden ersten englischen Gäste in der Saison des Jahres 1832 in Wildbad an.



Kapiteltrenner

Zweites Kapitel.

Um zehn Uhr des folgenden Morgens sah Mr. Neal, des ärztlichen Besuchs harrend, den er selbst für diese Stunde angesetzt hatte, auf seine Uhr und entdeckte zu seinem Erstaunen, daß er vergebens wartete. Es war fast elf Uhr, als sich endlich die Thür öffnete und der Arzt ins Zimmer trat.

»Ich hatte zehn Uhr für Ihren Besuch angesetzt«, sagte Mr. Neal. »In meinem Lande ist ein Arzt ein pünktlicher Mann.«

»In meinem Lande«, erwiderte der Doctor ohne die geringste üble Laune, »ist ein Arzt genau dasselbe, was andere Leute sind, das heißt, dem Zufall unterworfen. Bitte, lassen Sie mir Ihre Verzeihung zu Theil werden, Sir, daß ich Sie so lange warten ließ; ich bin durch einen sehr traurigen Fall aufgehalten worden, durch Mr. Armadale, an dessen Reisewagen Sie gestern auf Ihrem Wege hierher vorbeikamen.«

Mr. Neal schaute seinen ärztlichen Rathgeber mit verdrießlicher Ueberraschung an. In dem Auge des Doctors verrieth sich eine geheime Sorge und es lag eine geheime Unruhe in seinem Wesen, die er sich nicht zu erklären vermochte. Einen Augenblick standen die beiden Männer einander schweigend in stark markiertem nationalen Contraste gegenüber, das Gesicht des Schotten lang, hager und regelmäßig, das des Deutschen voll und blühend, sanft und gemüthlich. Das eine Gesicht sah aus, als ob es nie jung gewesen, das andere, als ob es nie alt werden könne.

»Darf ich Sie daran zu erinnern wagen«, sagte Mr. Neal, »daß es sich gegenwärtig um meine Krankheit handelt und nicht um die des Mr. Armadale?«

»O gewiß«, sagte der Doctor, in Gedanken noch immer mit dem Krankheitsfall beschäftigt, von dessen Prüfung er so eben gekommen war. »Sie scheinen an einer Lahmheit zu leiden. Lassen Sie mich Ihren Fuß untersuchen.«

Mr. Neal’s Krankheit war, so ernstlich sie ihm selbst erscheinen mochte, vom ärztlichen Gesichtspunkte aus betrachtet von keiner besonderen Bedeutung. Er litt an heftigem Rheumatismus im Fußknöchel. Die nothwendigen Fragen wurden gethan und beantwortet und die erforderlichen Bäder verschrieben. In zehn Minuten war die Consultation zu Ende, und der Patient wartete in bedeutungsvollem Schweigen darauf, daß der ärztliche Rathgeber sich verabschieden werde.

»Ich kann es mir nicht verhehlen«, sagte der Doctor, indem er aufstand und ein wenig zögerte, »daß ich Ihnen aufdringlich erscheinen muß. Doch sehe ich mich gezwungen, Sie um Nachsicht zu ersuchen, wenn ich noch einmal auf Mr. Armadale zurückkomme.«

»Darf ich fragen, was Sie dazu zwingt?«

»Die Pflicht, die ich als Christ einem Sterbenden schulde«, erwiderte der Doctor.

Mr. Neal zuckte leicht zusammen. Wenn man sich auf sein religiöses Pflichtgefühl berief, berührte man den zartesten Theil seines Gemüths »Sie haben Ihre Ansprüche auf meine Aufmerksamkeit begründet«, sagte er ernst. »Meine Zeit gehört Ihnen.«

»Ich will Ihre Güte nicht mißbrauchen«, erwiderte der Arzt, sich wieder setzend, »und werde mich so kurz fassen, als ich es vermag. Mr. Armadale’s Angelegenheit verhält sich in Kürze folgendermaßen. Er hat den größeren Theil seines Lebens, eines wilden und lasterhaften Lebens, wie er selbst bekennt, in Westindien zugebracht. Bald nach seiner Vermählung, vor etwa drei Jahren, begannen die ersten Symptome eines paralytischen Leidens sich bei ihm zu zeigen und seine ärztlichen Rathgeber verordneten ihm das Klima Europas. Seitdem er Westindien verlassen, hat er hauptsächlich in Italien gelebt, ohne daß sich jedoch seine Gesundheit verbesserte Von Italien ging er, ehe er den letzten Schlaganfall erlitt, nach der Schweiz, und von der Schweiz hat man ihn hierher gesandt. Soviel ist mir aus dem Berichte seines Arztes bekannt; das Uebrige kann ich Ihnen nach meiner persönlichen Beobachtung mittheilen. Mr. Armadale ist zu spät nach Wildbad gesandt worden, er ist dem Wesen nach bereits todt. Die Lähmung zieht mit großer Schnelligkeit nach oben, und der untere Theil des Rückgrats ist schon abgestorben. Er vermag seine Hände noch ein wenig zu bewegen, aber er kann mit den Fingern nichts mehr festhalten. Er kann zwar noch artikuliert sprechen, dürfte aber vielleicht schon morgen oder übermorgen sprachlos erwachen. Falls ich ihm noch eine Woche zu leben gebe, so ist dies das Aeußerste, was ihm, offen gesagt, zugemessen ist. Auf seinen eigenen Wunsch habe ich ihm so schonend und zartfühlend wie möglich das, was ich Ihnen hier sage, mitgetheilt. Das Resultat dieser Mittheilung war ein sehr betrübendes. Ich verzweifle daran, Ihnen eine Schilderung von der Heftigkeit seiner Gemüthsbewegung zu geben. Ich nahm mir die Freiheit, ihn zu fragen, ob seine Angelegenheiten in Unordnung seien. Durchaus nicht. Sein Testament befindet sich in den Händen seines Testamentsvollstreckers in London,« und er läßt Weib und Kind wohlversorgt zurück. Mit meiner nächsten Frage traf ich es besser: »Haben Sie etwas auf dem Herzen, das Sie zu thun wünschen, ehe Sie sterben?« Er athmete einmal hoch aus, als ob er sich erleichtert fühle, und drückte dadurch deutlicher wie mit Worten aus: »Ja.« — »Kann ich Ihnen behilflich sein?« —— »Ja. Ich habe etwas zu schreiben, das ich schreiben muß. Können Sie bewirken, daß ich eine Feder halten kann?« Er hätte mich ebenso gut fragen können, ob ich Wunder zu thun im Stande sei. Ich konnte nur mit Nein antworten. »Können Sie, falls ich Ihnen die Worte dictire, dieselben niederschreiben?« Ich konnte abermals nur mit Nein antworten. Ich verstehe wohl ein wenig Englisch, kann es aber weder sprechen noch schreiben. Mr. Armadale versteht Französisch, wenn man es, wie ich dies thue, langsam zu ihm spricht, doch kann er sich nicht in dieser Sprache ausdrücken, und von der deutschen Sprache versteht er gar nichts. In dieser schwierigen Lage sagte ich, was Jeder an meiner Stelle gesagt haben würde: Warum fragen Sie mich? Mrs. Armadale ist im nächsten Zimmer und steht Ihnen gewiß zu Diensten.« Ehe ich aufstehen konnte, um sie zu holen, hielt er mich zurück, nicht etwa durch Worte, sondern durch einen solchen Blick des Entsetzens, daß ich mich gewaltsam an meinen Platz fest gebannt fühlte. »Ihre Gattin«, sagte ich, »ist doch sicherlich die passendste Person, um das für Sie zu thun, was Sie gethan zu sehen wünschen?« — »Die letzte Person unter der Sonne? entgegnete er. »Wie!« sagte ich, »Sie verlangen von mir, einem Fremden, der nicht einmal ein Landsmann von Ihnen ist, sich Worte von Ihnen dictiren zu lassen, die Sie vor Ihrer Gattin geheim halten?« Malen Sie sich mein Erstaunen, als er mir, ohne einen Augenblick zu zögern, erwiderte: »Ja!« Ich saß stumm vor Erstaunen da. »Falls Sie nicht Englisch zu schreiben im Stande sind«, »sagte er, »so suchen Sie Jemand, der es kann.« Ich versuchte ihm Vorstellungen zu machen. Er brach in ein fürchterliches Jammergestöhn aus, ein stummes Flehen, gleich dem eines Hundes. »Still, still!« sagte ich. »Ich will Jemand suchen.« —— »Heute noch«, erwiderte er, »ehe ich sprachlos bin, wie meine Hand kraftlos ist« —— »Heute. Innerhalb einer Stunde.« Er schloß die Augen und beruhigte sich augenblicklich. »Lassen Sie mich, während ich Ihre Rückkehr abwarte, meinen kleinen Knaben sehen«, sagte er. Er hatte keine Zärtlichkeit verrathen, als er von seiner Gattin gesprochen, doch als er sein Kind forderte, sah ich, daß seine Augen sich mit Thränen füllten. Mein Beruf hat mich nicht so hartherzig gemacht, wie Sie wohl glauben mögen, Sir, und als ich hinausging, um das Kind zu holen, war mir das Herz so schwer in der Brust, als ob ich gar kein Arzt gewesen wäre. Ich fürchte, Sie finden dies etwas schwach von mir?«

Der Doctor sah Mr. Neal fragend an. Er hätte ebenso gut einen Felsen im Schwarzwald ansehen mögen. Mr. Neal war nicht der Mann, sich durch irgend einen Arzt der Christenheit aus den Regionen der einfachen Thatsachen ziehen zu lassen.

»Fahren Sie fort«, sagte er. »Ich nehme an, daß Sie noch nicht alles gesagt, was Sie mir mitzutheilen haben.«

»Sie verstehen doch jetzt den Zweck, der mich hierher geführt hat?« entgegnete der Andere.

»Ihr Zweck ist mir klar genug. Sie fordern mich auf, mich blindlings mit einer Sache zu befassen, die bis jetzt im höchsten Grade verdächtig ist. Ich schlage es aus, Ihnen irgend eine Antwort zu geben, bis ich mehr weiß, als mir bis jetzt bekannt ist. Erschien es Ihnen nothwendig, die Gattin dieses Mannes von dem zu unterrichten, was sich zwischen Ihnen zugetragen, und sie um eine Erklärung zu ersuchen?«

»Natürlich erschien mir dies als nothwendig!« sagte der Arzt, entrüstet über den in dieser Frage liegenden Zweifel an seiner Humanität. »Wenn ich je ein Weib sah, das ihren Gatten liebte und um ihn trauerte, so ist es diese unglückliche Mrs. Armadale. Sobald wir mit einander allein waren, setzte ich mich zu ihr und nahm ihre Hand in die meinige. Warum nicht? Ich bin ein häßlicher alter Mann und darf mir wohl solche kleine Freiheiten erlauben!«

»Entschuldigen Sie«, sagte der undurchdringliche Schotte, »wenn ich Sie daran zu erinnern wage, daß Sie mir den Faden Ihrer Erzählung zu verlieren scheinen.«

»Nichts wahrscheinlicher«, erwiderte der Doctor in vollkommen guter Laune. »Es ist eine Gewohnheit meiner Nation, stets den Faden zu verlieren, und eine Gewohnheit der Ihrigen, Sir, denselben beständig zu finden. Welch ein herrliches Beispiel der weisen Anordnungen des Weltalls und der ewigen Uebereinstimmung der Dinge!«

»Sie werden mich verbinden«, sagte Mr. Neal mit ungeduldigem Stirnrunzeln, »wenn Sie sich ein für allemal auf die Thatsachen beschränken. Darf ich um meiner selbst willen fragen, ob Mrs. Armadale Ihnen zn sagen im Stande war, was ihr Gatte mich schreiben zu lassen wünscht, und warum er sich weigert, sie dasselbe für ihn schreiben zu lassen?«

»Da ist der Faden meiner Erzählung, und besten Dank, daß Sie denselben für mich gefunden!« sagte der Doctor. »Sie sollen das, was Mrs. Armadale mir zu erzählen hatte, in Mrs. Armadales eigenen Worten erfahren. »Die Ursache, die mich jetzt aus seinem Vertrauen ausschließt«, sagte sie »ist, wie ich fest überzeugt bin, dieselbe, die mich stets aus seinem Herzen ausgeschlossen. Ich bin das Weib, das er geheirathet, doch nicht das Weib, das er geliebt hat. Ich wußte, als er mich heirathete, daß ein anderer Mann das Weib zum Altar geführt, welches er geliebt hatte. Ich glaubte im Stande zu sein, ihn sie vergessen zu machen. Ich hoffte dies, als ich ihn heirathete, und ich hoffte es wieder, als ich ihm einen Sohn gebar. Ich brauche Ihnen das Ende meiner Hoffnungen nicht zu sagen, Sie haben dasselbe selbst gesehen.« Geduld, Sir, wenn ich bitten darf! Ich habe den Faden nicht wieder verloren, sondern folge demselben Zoll für Zoll. »Ist dies alles, was Sie wissen?» fragte ich. »Alles«, sagte sie, »was ich bis vor kurzer Zeit wußte. In der Schweiz jedoch, als seine Krankheit fast ihren Gipfel erreicht hatte, sollte ich etwas mehr, erfahren. Der Zufall brachte ihm Nachrichten von dem Weibe, das der Schatten und das Gift meines Lebens gewesen, die Nachricht, daß sie gleich mir ihrem Gatten einen Sohn geboren. Sowie er diese Entdeckung gemacht —— eine so unbedeutende Sache, wie es nur eine gab —— erfaßte ihn eine tödtliche Furcht, nicht für sich selbst, nicht für mich, sondern für sein eigenes Kind. An demselben Tage ließ er, ohne mir ein Wort zu sagen, den Arzt holen. Ich war so kleinlich oder gottlos, wie Sie es nennen wollen, an der Thür zu lauschen. Ich hörte ihn sagen: »Ich habe meinem Sohne etwas mitzutheilen, wenn derselbe alt genug ist, um mich zu verstehen. Werde ich lange genug leben, um es ihm sagen zu können?« Der Arzt wollte ihm hierüber nichts Gewisses mittheilen. In derselben Nacht schloß er sich, abermals ohne mir ein Wort zu sagen, in sein Zimmer ein. Was würde ein anderes Weib gethan haben, das man behandelt, wie man mich behandelte? Sie würde gethan haben, was ich that, sie würde abermals gelauscht haben. Ich hörte ihn zu sich selber sprechen: »Ich werde nicht lange genug leben, um es ihm zu sagen; ich muß es niederschreiben, ehe ich sterbe.« Ich hörte seine Feder auf dem Papiere kratzen, ich hörte ihn schwer stöhnen und schluchzen, während er schrieb; ich flehte ihn um Gottes willen an, mich einzulassen. Die grausame Feder war die einzige Antwort, die mir wurde. Ich wartete vor der Thür —— stundenlang —— ich weiß nicht, wie lange. Plötzlich hörte die Feder zu kratzen auf und ich vernahm nichts mehr. Ich flüsterte leise durch das Schlüsselloch; ich sagte, es friere mich und ich sei müde vom langen Warten; ich sagte: Liebes Herz, laß mich ein! doch selbst die grausame Feder antwortete mir jetzt nicht mehr, es herrschte Todtenstille Ich schlug mit der ganzen Kraft meiner schwachen Hände an die Thür Die Diener kamen und. erbrachen dieselbe. Wir kamen zu spät, das Unglück war geschehen. Bei jenem unglückseligen Briefe hatte der Schlag ihn getroffen, bei jenem unglückseligen Briefe fanden wir ihn gelähmt, wie Sie ihn jetzt sehen. Die Worte, die er Ihnen jetzt zu dictiren wünscht, sind jene Worte, die er selbst würde geschrieben haben, falls der Schlag ihn bis zum Morgen verschont hätte. In jenem Augenblicke ist eine Stelle in dem Briefe leer geblieben, und diese leere Stelle bittet er Sie für ihn auszufüllen.« Dies waren Mrs. Armadale’s eigene Worte und in diesen Worten haben Sie die ganze Erklärung und Auskunft, die ich Ihnen zu geben vermag. Sagen Sie mir, Sie, wenn Sie die Güte haben wollen, ob ich diesmal dem Faden meiner Erzählung gefolgt bin? Habe ich Ihnen die Nothwendigkeit gezeigt, die mich von dem Sterbelager Ihres Landsmannes zu Ihnen führte?«

»Bis hierher«, sagte Mr. Neal, »zeigen Sie mir blos, daß Sie sich der Aufregung hingeben. Es ist dies eine zu ernste Sache, als daß man dieselbe behandeln dürfte, wie Sie sie in diesem Augenblicke behandeln. Sie haben mich in die Sache hineingezogen und ich bestehe darauf, meinen Weg klar vor mir zu sehen. Erheben Sie nicht die Hände; Ihre Hände gehören nicht zur Sache. Falls ich mich an der Beendigung dieses geheimnißvollen Briefes betheiligen soll, so ist es nicht mehr als eine gerechtfertigte Vorsicht, wenn ich frage, warum es sich in dem Briefe handelt. Mrs. Armadale scheint Sie, vermuthlich in Erwiderung der höflichen Aufmerksamkeit, mit der Sie ihre Hand in die Ihrige nahmen, mit einer Menge häuslicher Einzelheiten bekannt gemacht zu haben. Darf ich fragen, was sie Ihnen über den Brief ihres Gatten, soweit dieser denselben geschrieben, mitzutheilen wußte?«

»Mrs. Armadale konnte mir darüber nichts mittheilen«, erwiderte der Arzt mit einer plötzlichen Förmlichkeit, welche verrieth, daß ihm die Geduld zu reißen anfange. »Ehe sie sich hinlänglich zu fassen vermochte, um an den Brief zu denken, hatte ihr Gatte denselben gefordert und in sein Schreibpult einschließen lassen. Sie weiß, daß er seitdem einmal über das andere denselben zu beenden versucht hat, daß ihm aber jedes mal seine Finger den Dienst versagten. Sie weiß, daß seine ärztlichen Rathgeber, als jede andere Hoffnung auf Heilung entschwunden, ihm auf die Wirkung des vortrefflichen Brunnens von Wildbad zu hoffen empfahlen Und schließlich weiß sie, welches Ende diese Hoffnung genommen hat, denn sie weiß, was ich heute Morgen ihrem Gatten angekündigt habe«

Das düstere Stirnrunzeln, das sich allmälig auf Mr. Neal’s Gesicht gelagert, war immer finsterer geworden. Er sah den Doctor an, als hätte dieser ihm eine persönliche Beleidigung angethan.

»Je mehr ich mir das, was Sie von mir fordern, überlege, je weniger gefällt mir dasselbe«, sagte er. »Können Sie mit Bestimmtheit erklären, daß Mr. Armadale völlig bei Verstand ist?«

»Ja, so bestimmt, wie ich dies mit Worten zu thun vermag.«

»Billigt seine Gattin es, daß Sie mich um meinen Beistand ersuchen?«

»Seine Gattin sendet mich zu Ihnen, dem einzigen Engländer in Wildbad, damit Sie für Ihren sterbenden Landsmann die Worte niederschreiben, die er selbst nicht zu schreiben im Stande ist und die außer Ihnen Niemand in diesem Orte zu schreiben fähig ist.«

Diese Antwort trieb Mr. Neal aus den letzten Zoll Terrains zurück, den er noch behaupten konnte; doch selbst auf diesem Zoll bot der Schotte noch immer Widerstand.

»Warten Sie einen Augenblick!« sagte er. »Sie drücken sich stark aus; lassen Sie uns untersuchen, ob Sie sich auch richtig ausdrücken. Lassen Sie uns ganz sicher sein, daß außer mir Niemand zur Hand ist, der die Verantwortlichkeit statt meiner zu übernehmen geeignet wäre. Es befindet sich erstens ein Bürgermeister in Wildbad, ein Mann, der eine officielle Stellung einnimmt, die eine solche Einmischung rechtfertigen würde.«

»Ein Mann, wie man ihn unter tausenden kaum findet«, sagte der Doctor, »der nur einen Fehler besitzt —— er kennt keine Sprache, außer seiner Muttersprache.«

»Es befindet sich eine englische Legation in Stuttgart«, sagte Mr. NeaL.

»Und es liegen viele Meilen dichten Waldes zwischen hier und Stuttgart«, entgegnete der Doctor. »Falls wir diesen Augenblick einen Boten nach Stuttgart abschickten, so könnten wir vor morgen keine Hilfe von der Legation erhalten, und es ist, der Art und Weise nach, in der der Sterbende gegenwärtig artikuliert, höchst wahrscheinlich, daß er morgen sprachlos ist. Ich weiß nicht, ob seine letzten Wünsche für sein Kind und Andere harmlos oder schädlich sind, aber ich weiß sehr wohl, daß dieselben entweder sofort oder nie werden erfüllt werden, und daß Sie der einzige Mensch sind, der ihm helfen kann.«

Diese offene Erklärung machte der Erörterung ein Ende. Dieselbe stellte Mr. Neal zwischen die beiden Alternativem entweder Ja zu sagen und eine Unvorsichtigkeit zu begehen, oder Nein und sich einer Unmenschlichkeit schuldig zu machen. Es erfolgte ein Schweigen von einigen Minuten. Der Schotte überlegte ruhig, und der Deutsche beobachtete ihn ebenso ruhig.

Die Verantwortlichkeit der Entscheidung ruhte jetzt aus Mr. Neal, und nach einer Weile übernahm er dieselbe. Er erhob sich von seinem Sessel, indem ein verdrießlicher Ausdruck des Beleidigtseins zwischen seinen struppigen Augenbrauen lag und sich scharf in den Linien um seinen Mund abzeichnete.

»Meine Stellung wird mir aufgedrungen«, sagte er. »Es bleibt mir keine Wahl, als dieselbe anzunehmen.«

Die empfängliche Natur des Doctors empörte sich gegen die unbarmherzige Kürze und Unfreundlichkeit dieser Erwiderung »Wollte Gott«, rief er mit Wärme aus, »ich verstünde Englisch genug, um Ihre Stelle an Mr. Armadale’s Bett einnehmen zu können!«

Ausgenommen, daß Sie den Namen des Allmächtigen unnützlich führen«, entgegnete der Schotte, »theile ich ganz Ihre Ansicht. Ich wollte, es wäre, wie Sie wünschen.«

Dann verließen sie, ohne ein Wort weiter zu verlieren, das Zimmer.



Kapiteltrenner

Drittes Kapitel.

Als der Doctor mit seinem Begleiter vor der Thür des Vorzimmers zu Mr. Armadales Gemächern anlangte, blieb ihr Klopfen unbeantwortet Sie traten deshalb unangemeldet ein, und als sie in das Wohnzimmer hineinschauten, sahen sie, daß dasselbe leer sei.

»Ich muß mit Mrs. Armadale sprechen«, sagte Mr. Neal. »Ich werde in dieser Sache nicht eher handeln, als bis Mrs. Armadale selbst mich zu der Einmischung autorisirt.«

»Mrs. Armadale ist wahrscheinlich bei ihrem Gatten«, entgegnete der Doctor. Bei diesen Worten näherte er sich einer Thür am entgegengesetzten Ende des Zimmers, zögerte und sah, indem er sich wieder umwandte, ängstlich seinen verdrießlichen Begleiter an. »Ich fürchte, ich redete ein wenig barsch, Sir, als wir Ihr Zimmer verließen«, sagte er. »Ich bitte Sie deshalb von ganzem Herzen um Vergebung. Wollen Sie mich, ehe diese arme, schwer heimgesuchte Dame hereinkommt, entschuldigen, wenn ich Sie um die größte Sanftmuth und Rücksicht für sie ersuche?«

»Nein, Sir«, erwiderte der Andere Verdrießlich, »ich will Sie nicht entschuldigen. Welches Recht habe ich Ihnen gegeben, mich der Sanftmuth und Rücksicht für Andere unfähig zu halten?«

Der Doctor sah, daß alles nutzlos sei. »Ich bitte nochmals um Vergebung«, sagte er mit Resignation und ließ den unzugänglichen Fremden allein.

Mr. Neal trat ans Fenster und sah durch die Scheiben, die Augen mechanisch auf die Landschaft gerichtet und innerlich auf die bevorstehende Zusammenkunft sich vorbereitend.

Es war Mittag; die Sonne schien hell und warm und die ganze kleine Welt von Wildbad war lustig und froh in dieser schönen Frühlingszeit Hin und wieder rollten schwere Wagen, unter der Obhut von rußigen Kärrnern, mit ihrer kostbaren Last von Holzkohlen aus dem Schwarzwalde unter dem Fenster vorbei. Von Zeit zu Zeit zogen lange, lose an einander gereihte Holzstämme auf ihrer Reise nach dem fernen Rhein, kopfüber den Strom hinabstürzend, der durch das Städtchen eilt, und von dem hochbestiefelten Floßführer, der mit der Stange in der Hand an dem Ende stand, scharf beobachtet, schnell und schlangenartig an den Häusern vorüber. Hoch und steil erhoben sich hinter den hochgiebeligen hölzernen Häusern am Flußufer die gewaltigen Hügel mit ihren schwarzen Fichtenkronen und funkelten grün an dem hellen Wolkenhimmel. Auf den Waldpfaden und über die grünen Wiesen schwebten die bunten Kleider von Frauen und Kindern dahin, welche Wiesenblumen suchten und erschienen in weiterer Ferne wie bunte Flecken beweglichen Lichts. Unten auf der Uferpromenade zeigten die Buden und der Bazar, die pünktlich mit Beginn der Saison geöffnet werden, ihre glitzernden Kleinodien, und ihre vielfarbigen Banner flatterten prachtvoll in der balsamischen Luft. Die Kinder warfen sehnsüchtige Blicke auf die Schätze; die sonnverbrannten Mädchen strickten geduldig, indem sie auf der Promenade hin und her spazierten; die Bürger und Einwohner der Stadt, die einander auf der Promenade begegneten, grüßten höflich, und die Hilflosen und Verkrüppelten kamen, in ihren Rollstühlen sitzend, langsam zu den Uebrigen in den heitern Mittag hinaus, um sich ihren Antheil an dem gesegneten Lichte und an der lieben Sonne zu holen, die für alle scheint.

Der Schotte schaute auf die Scene mit Augen herab, welche für die Pracht derselben blind waren, und mit einem Gemüthe das der Lehre, welche dieselbe enthielt, fern gerückt war. Er überlegte Wort für Wort, was er sagen wollte, wenn die Gattin des Kranken hereinkäme Wort für Wort formulierte er sich die Bedingungen, die er stellen wollte, ehe er am Bette des Gatten die Feder ansetzte.

»Mrs. Armadale ist hier«, sagte plötzlich die Stimme des Arztes, ihn in seinem Sinnen unterbrechend.

Er wandte sich augenblicklich um und erblickte vor sich in dem hellen Mittagslichte ein Weib von gemischter europäischer und afrikanischer Rasse, deren Züge die nordische Zartheit der Bildung mit südlicher Wärme der Färbung verbanden, ein Weib, in der Blüte ihrer Schönheit, das sich mit angeborener Anmuth bewegte, mit angeborenem Zauber aufschaute, deren große, schmachtende schwarze Augen dankbar auf ihm ruhten, deren bräunliche kleine Hand sich als stummer Dankesausdruck ihm entgegenstreckte. Vielleicht zum ersten Male in seinem Leben fühlte der Schotte sich von Ueberraschung ergriffen. Jedes zu seinem eigenen Schutze ersonnene Wort, das ihn vor einer Secunde beschäftigt, entfiel seinem Gedächtnisse. Seine dreimal undurchdringliche Rüstung von gewohntem Argwohn, gewohnter Selbstbeherrschung und gewohnter Zurückhaltung, die ihn noch nie zuvor in Gegenwart eines Weibes verlassen, entfiel ihm diesem Weibe gegenüber und warf ihn, einen Ueberwundenen, auf seine Kniee. Er nahm die Hand, die sie ihm darbot, und beugte sich zum Zeichen seiner ersten aufrichtigen Huldigung, die er dem weiblichen Geschlecht darbrachte, schweigend über dieselbe.

Sie zögerte ihrerseits. Der schnelle Wahrnehmungssinn der Frauen, der unter glücklicheren Verhältnissen augenblicklich das Geheimniß seiner Verlegenheit entdeckt haben würde, versagte ihr jetzt den Dienst. Sie schrieb diese seltsame Art und Weise seines Verhaltens dem Stolze, dem Widerstreben, ehe jeder andern Ursache zu, als dem unerwarteten Anblick ihrer Schönheit. »Ich finde keine Worte, um Ihnen zu danken«, sagte sie mit matter Stimme, indem sie ihn zu gewinnen versuchte. »Ich würde Sie nur betrüben, falls ich zu sprechen versuchte.« Ihre Lippen singen an zu zittern, sie trat ein wenig zurück und wandte schweigend das Haupt ab.

Der Doctor, welcher still beobachtend auf die Seite getreten war, nahte sich Mrs. Armadale, ehe Mr. Neal etwas sagen konnte, und führte sie zu einem Sessel. »Fürchten Sie sich nicht vor ihm«, flüsterte der gutmüthige Mann, indem er ihr sanft auf die Schulter klopfte. »Er war in meinen Händen hart wie Eisen, aber seinem Aussehen nach denke ich mir, daß er in den Ihrigen weich wie Wachs werden wird. Sagen Sie, was ich Ihnen zu sagen gerathen habe, und lassen Sie uns ihn dann in das Zimmer Ihres Gemahls führen, ehe sein scharfer Verstand Zeit gehabt hat, sich wieder zu erholen.«

Mrs. Armadale raffte all ihren Muth zusammen und ging halbwegs nach dem Fenster zu an Mr. Neal heran. »Mein gütiger Freund, der Doctor, hat mir gesagt, Sir, daß Sie einzig und allein meinetwegen zu kommen gezaudert«, sagte sie, und während sie sprach, sank ihr Kopf ein wenig und die Farbe schwand aus ihrem Gesicht. »Ich bin Ihnen von Herzen dankbar, aber ich bitte Sie, nicht an mich zu denken. Das, was mein Gatte —— « ihre Stimme bebte; sie wartete einen Augenblick und erholte sich wieder. »Das, was mein Gatte in seinen letzten Augenblicken wünscht, wünsche auch ich.«

Diesmal war Mr. Neal hinlänglich gefaßt, um zu antworten. Er bat sie mit leiser, ernster Stimme, kein Wort weiter darüber zu sagen. »Es lag mir nur vor allem daran, Ihnen jede Rücksicht zu zeigen«, sagte er, »und es liegt mir jetzt nur daran, Ihnen jeden Schmerz zu ersparen.« Während er sprach, stieg langsam ein Anflug von Farbe in sein gelbes Gesicht. Ihre Augen sahen mit sanfter Aufmerksamkeit zu ihm auf, und er gedachte mit einem Gefühle der Schuld seiner Gedanken am Fenster, ehe sie ins Zimmer gekommen war.

Der Doctor benutzte die Gelegenheit. Er öffnete die Thür, die in Mr. Armadale’s Zimmer führte, und blieb stumm wartend an derselben stehen Mrs. Armadale ging zuerst hinein. Eine Minute später schloß die Thür sich wieder, und Mr. Neal stand mit der Verantwortlichkeit, die man ihm aufgedrungen hatte,« unwiderruflich beladen auf der andern Seite derselben.

Das Zimmer war nach der prunkhaften Mode des Festlandes decorirt, und der warme Sonnenschein strömte wohlthuend durch die Fenster herein. Die Zimmerdecke war mit Blumen und Liebesgöttern bemalt; die weißen Fenstervorhänge wurden von bunten Bändern zurückgehalten; eine säubere vergoldete Stutzuhr tickte auf dem sammetüberzogenen Kaminsimse; die Wände waren mit glänzenden Spiegeln bedeckt und in dem Teppiche funkelten Blumen in allen Farben des Regenbogens. Inmitten all dieses Schmucks und Flitterstaats und Sonnenscheins lag der Gelähmte mit seinen unstäten Augen und seinem leblosen unteren Gesicht, den Kopf vermittelst vieler Kissen emporgerichtet; die hilflosen Hände waren gleich denen eines Leichnams auf der Bettdecke ausgestreckt. Am Kopfende des Bettes stand grimmig ausschauend und schweigend die runzlige alte schwarze Kinderwärterin, und auf dem Bette, zwischen den ausgestreckten Händen des Vaters, saß das Kind in seinem kleinen weißen Kleidchen, in seine Freude an einem neuen Spielzeug versunken. Als die Thür sich öffnete und Mrs. Armadale ihre Begleiter hereinführte, war der Kleine eben damit beschäftigt, sein Spielzeug —— einen Soldaten zu Pferde —— über die hilflosen Hände seines Vaters hin und her zu fahren, und die unstäten Augen des Vaters folgten dem Spielzeuge mit einer verstohlenen unausgesetzten Wachsamkeit hin und her, einer Wachsamkeit, gleich der eines wilden Thieres, welche fürchterlich anzusehen war.

Sowie Mr. Neal in der Thür erschien, hielten jene rastlosen Augen in ihrem wilden Hin- und her schweifen inne, sahen empor und hefteten sich mit begierig forschendem Blick auf den Fremden. Die regungslosen Lippen rangen langsam nach Bewegung. Mit zögernder schwerfälliger, Artikulation formten sie die stumme Frage der Augen in Worte.

»Sind Sie der Mann?«

Mr. Neal trat an das Bett, während Mrs. Armadale, indem er sich näherte, zurücktrat und mit dem Doctor am andern Ende des Zimmers wartete. Das Kind blickte, mit dem Spielzeug in der Hand, auf, als der Fremde näher trat; es öffnete weit in momentanem Erstaunen die klaren braunen Augen und setzte dann sein Spiel fort.

»Ich bin von Ihrer traurigen Lage unterrichtet worden, Sir«, sagte Mr. Neal. »Und ich komme, um meine Dienste zu Ihrer Verfügung zu stellen, Dienste, die, wie Ihr Arzt mir sagt, Niemand anders in diesem fremden Orte Ihnen zu leisten im Stande ist. Mein Name ist Neal, ich schreibe für das Signet-Journal in Edinburg und darf wohl sagen, daß ich das Zutrauen, welches Sie in mich zusetzen wünschen, zu mißbrauchen unfähig bin.«

Die Augen der schönen Gattin verwirrten ihn jetzt nicht. Er sprach ernst und ruhig und ohne seine gewohnte Barschheit zu dem Gatten, und dazu mit einem ernsten Mitleid in seinem Wesen, das ihn in seinem vortheilhaftesten Lichte erscheinen ließ. Der Anblick des Sterbelagers hatte seinen Eindruck nicht verfehlt.

»Sie wünschen, daß ich etwas für Sie schreibe?« fuhr er fort, nachdem er vergebens auf eine Erwiderung gewartet hatte.

»Ja!« sagte der Sterbende, indem die überwältigende Ungeduld, die seine Zunge auszusprechen machtlos war, sich zornig in seinen Augen ausdrückte. »Meine Hand versagt mir den Dienst, und meine Zunge wird bald sprachlos sein. Schreiben Sie!«

Ehe er noch etwas erwidern konnte, hörte Mr. Neal das Rauschen eines Frauenkleides und ein rollendes Geräusch hinter sich auf dem Teppiche Mrs. Armadale schob den Schreibtisch vom entgegengesetzten Ende des Zimmers an das Fußende des Bettes. Falls er von den Maßregeln Gebrauch machen wollte, die er ersonnen, um sich gegen Tadel zu sichern, wenn sein Verfahren mißliche Folgen haben sollte, so mußte er dies jetzt thun oder nie. Er blieb, Mrs. Armadale den Rücken zugewendet, ruhig stehen und stellte seine Frage in den deutlichsten Worten.

»Darf ich, ehe ich die Feder ergreife, fragen, Sir, was ich für Sie schreiben soll?«

Die Zornigen Augen des gelähmten Mannes blitzten ihn wild an. Seine Lippen öffneten und schlossen sich wieder. Er gab keine Antwort.

Mr. Neal versuchte eine andere Frage in einer neuen Richtung.

»Was«, fragte er, »soll mit dem Geschriebenen geschehen, wenn ich es beendet haben werde?«

Diesmal ließ sich die Antwort vernehmen:

»Sie werden es in meiner Gegenwart versiegeln und an meinen Testamentsvoll ——«

Die Zunge versagte ihm hier den Dienst und er sah dem Fragenden mit jammervoller Miene ins Gesicht.

»Meinen Sie, es soll an Ihren Testamentsvollstrecker abgesandt werden?«

Ja.

»Es ist also vermuthlich ein Brief, den ich auf die Post geben soll?«

Keine Antwort.

»Darf ich fragen, ob es ein Brief ist, der eine Aenderung in Ihrem Testamente trifft?«

»Ganz gewiß nicht.«

—— Mr. Neal überlegte ein wenig. Das Geheimniß fing immer undurchdringlicher zu werden an. Das einzige Licht, das sich über dasselbe verbreitete, war dasjenige, welches durch die seltsame Geschichte von dem unbeendeten Briefe schimmerte, die der Doctor ihm in Mrs. Armadales Worten mitgetheilt hatte. Je näher diese unbekannte Verantwortlichkeit ihm rückte, desto drohender erschien ihm dieselbe in ihren Folgen. Sollte er, bevor er sich unwiderruflich verbindlich machte, noch eine Frage wagen? Als er mit diesem Zweifel beschäftigt war, fühlte er, wie Mrs. Armadales Kleid ihn an derjenigen Seite berührte, die am fernsten von ihrem Gatten war. Ihre zarte Hand ruhte sanft auf seinem Arm, und ihre dunklen afrikanischen Augen schauten ihn mit unterwürfigem Flehen an. »Mein Mann brennt vor Verlangen, daß Sie anfangen, Sir; wollen Sie ihn beruhigen, indem Sie sich an den Schreibtisch setzen?«

Die Bitte kam von ihren Lippen, von den Lippen derjenigen Person, die das größte Recht hatte zu zögern, der Gattin, die aus dem Geheimniß ausgeschlossen ward! Die meisten Leute an Mr. Neal’s Stelle würden sofort alle Vorsichtsmaßregeln aufgegeben haben. Der Schotte gab alle außer einer einzigen auf.

»Ich will schreiben, was Sie mir zu diktieren wünschen, Sir«, sagte er zu Mr. Armadale. »Ich will es in Ihrer Gegenwart versiegeln und selbst an Ihre Testamentsvollstrecker aus die Post geben. Doch indem ich dies thue, muß ich Sie daran zu erinnern mir erlauben, daß ich völlig im Dunkeln handle, und Sie um Entschuldigung bitten, wenn ich mir, nachdem ich Ihre Wünsche in Bezug auf das Schreiben und Absenden Ihres Briefes erfüllt, volle Freiheit in Bezug auf meine eigene Handlungsweise Vorbehalte.«

»Geben Sie mir Ihr Versprechen?«

»Falls Sie mein Versprechen verlangen, Sir, so bin ich Ihnen dasselbe zu geben bereit, unter der Bedingung, die ich Ihnen so eben genannt habe.«

»Stellen Sie Ihre Bedingung und halten Sie Ihr Versprechen. Mein Schreibpult«, fügte er hinzu, indem er zum ersten Male seine Gattin ansah.

Diese beeilte sich, das Schreibpult von einem in einem Winkel des Zimmers stehenden Stuhle zu holen. Als sie mit demselben zurückkehrte, machte sie im Vorübergehen der Negerin, die noch immer grimmig und stumm an derselben Stelle stand, ein Zeichen Das Weib that, dem Winke gehorsam, einen Schritt vorwärts, um das Kind vom Bette zu nehmen. Sowie sie dasselbe berührte, wandten sich die Augen des Vaters, welche auf das Schreibpult geheftet gewesen, mit der heimlichen Schnelligkeit einer Katze ihr zu. »Nein!« sagte er. »Nein!« wiederholte die helle Stimme des Knaben, der sich noch immer an seinem Spielzeuge erfreute und dem sein Platz auf dem Bette gefiel. Die Negerin verließ das Zimmer, und das Kind ließ sein Pferd triumphierend über die Bettdecke nahen, deren Falten die Brust seines Vaters bedecken. Das liebliche Gesicht seiner Mutter verzog sich vor Eifersucht, als sie ihn ansah.

»Soll ich Dein Schreibpult öffnen?« fragte sie, indem sie das Spielzeug des Kindes ungeduldig beiseite schob.

Ein antwortender Blick ihres Gatten führte ihre Hand an die Stelle unter seinem Kopfkissen, wo der Schlüssel versteckt war. Sie öffnete das Pult und sah in demselben einige kleine, mit einer Nadel zusammengesteckte, beschriebene Briefbogen. »Diese?« fragte sie, dieselben herausnehmend.

»Ja«, erwiderte er. »Du magst jetzt gehen.«

Der Schotte an dem Schreibtisch und der Arzt, der in einem Winkel des Zimmers eine stärkende Mixtur schüttelte, sahen einander mit einer Besorgniß an, deren Ausdruck in ihrem Gesicht sie beide nicht zu unterdrücken vermochten. Die. Worte, welche die Gattin aus dem Zimmer verbannten, waren gesprochen. Der entscheidende Augenblick war gekommen.

»Du magst jetzt geben«, sagte Ihr. Armadale zum zweiten Male.

Sie sah das Kind an, welches ungestört auf dem Bette saß, und eine tödtliche Blässe überzog ihr Gesicht. Sie blickte auf den unglückseligen Brief, der ihr ein strenges Geheimniß war, und die Qual eifersüchtigen Verdachts, des Verdachts auf jenes andere Weib, das der Schatten und das Gift ihres Lebens gewesen, marterte ihr Herz. Nachdem sie sich ein paar Schritte vom Bette entfernt, stand sie still und kehrte wieder zurück. Mit dem doppelten Muthe der Liebe und der Verzweiflung bewaffnet, drückte sie ihre Lippen auf die Wange ihres sterbenden Gatten und flehte ihn zum letzten Male an. Ihre heißen Thränen fielen auf sein Gesicht, als sie zu ihm flüsterte »O Allan, bedenke, wie ich Dich geliebt habe; bedenke, wie sehr ich mich bemüht habe, Dich glücklich zu machen; bedenke, wie bald ich Dich verlieren soll! O mein theures Leben, schicke mich nicht fort von Dir!«

Die Worte flehten für sie; der Kuß flehte für sie; die Erinnerung an die Liebe, die sie ihm geschenkt und die er nie erwidert, rührte das Herz des sterbenden Mannes aus eine Weise, wie dasselbe seit dem Tage seiner Vermählung sich durch nichts hatte rühren lassen. Ein schwerer Seufzer hob seine Brust. Er sah sie an und zögerte.

»Laß mich dableiben«, flüsterte sie, indem sie ihr Gesicht fester an das seinige drückte.

»Es wird Dich nur betrüben«, erwiderte er ebenfalls flüsternd.

»Es betrübt mich nichts so sehr, als von Dir fortgeschickt zu werden.« Er schwieg. Sie sah, daß er überlegte, und schwieg ebenfalls.

»Wenn ich Dich noch ein wenig bleiben lasse ——«

»Ja! ja!«

»Willst Du gehen, wenn ich es Dir sage?«

»Ja!«

»Schwörst Du es mir?«

Die Bande, die seine Zunge fesselten, schienen durch die heftige Erregung, die diese Frage seinen Lippen entriß, auf einen Augenblick gelöst zu werden. Er sprach jene Worte so fließend, wie er bisher noch nicht gesprochen hatte.

»Ich schwöre es Dir!« sagte sie, indem sie an seinem Bette auf die Kniee sank und seine Hand mit leidenschaftlichen Küssen bedeckte. Die beiden Fremden im Zimmer wandten in schweigender Uebereinstimmung die Köpfe ab. Während der Ruhe, welche folgte, war kein Laut vernehmbar, außer dem leichten Geräusch, welches das Kind mit seinem Spielzeug machte, indem es dasselbe auf der Bettdecke hin und her rollte.

Der Doctor war der erste, der den Zauber des Schweigens brach, der alle Anwesenden gefangen zu halten schien. Er näherte sich dem Kranken und betrachtete ihn mit großer Besorgniß. Mrs. Armadale erhob sich von den Knieen und trug dann, nachdem sie die Erlaubniß ihres Gatten abgewartet, die beschriebenen Briefbogen, die sie aus dem Pulte genommen, nach dem Schreibtisch, an welchem Mr. Neal wartete. Mit begierigem und glühendem Antlitz, in der heftigen Gemüthsbewegung welche die letzten Augenblicke hervorgerufen, schöner als je, wählte sie, mit frauenhafter Sorglosigkeit ihrem Impulse folgend, das geeignetste Mittel, um ihren Zweck zu erreichen, und flüsterte ihm zu: »Lesen Sie es von Anfang an laut vor. Ich will und muß es hören!« Ihre Augen warfen die Strahlen ihrer Glut in die seinigen, ihr Athem strich an seiner Wange hin. Ehe er zu antworten, ehe er zu überlegen vermochte, war sie an die Seite ihres Gatten zurückgekehrt. Sie hatte nur einen Augenblick gesprochen und in diesem Augenblicke hatte ihre Schönheit den Schotten ihrem Willen unterwürfig gemacht. In widerstrebender Anerkennung seiner Unfähigkeit, ihr zu widerstehen, schlug er, die Stirn runzelnd, die Blätter des Briefes um, blickte die leere Stelle an, wo der Hand des Schreibenden die Feder entfallen und einen Tintenfleck verursacht hatte, blätterte zum Anfang zurück und sprach im Interesse der Gattin die Worte, welche diese selbst ihm in den Mund gelegt hatte.

»Sie wünschen vielleicht einige Verbesserungen zu machen, Sir«, begann er, indem er seine Aufmerksamkeit anscheinend auf die Papiere heftete und dabei sehr das Ansehen hatte, als ob er sich wieder seinem mürrischen Temperament hinzugeben im Begriff sei. »Soll ich Ihnen vorlesen, was Sie bereits geschrieben haben?P«

Mrs. Armadale auf der einen Seite am Kopfende des Bettes und der Doctor auf der andern Seite, die Finger auf den Puls des kranken drückend, erwarteten mit verschiedenartiger Besorgniß die Antwort auf Mr. Neals Frage. Mr. Armadales Blicke wandten sich prüfend von seinem Kinde auf seine Gattin.

»Du bestehst darauf, es zu hören?« sagte er. Sie athmete schnell; ihre Hand suchte die seinige, dann neigte sie schweigend das Haupt. Ihr Gatte schwieg; er ging, die Blicke auf sein Weib heftend, heimlich mit sich zu Rathe. Endlich hatte er seinen Entschluß gefaßt und gab zur Antwort: »Lesen Sie und hören Sie auf, wenn ich es Ihnen sage.«

Es war fast ein Uhr, und die Hotelglocke rief die Gäste zum Mittagsmahl. Die schnellen Fußtritte und das zunehmende Stimmengesumme drangen bis ins Zimmer, als Mr. Neal das Manuscript vor sich auf den Tisch legte und folgendermaßen zu lesen begann:

»Dieser Brief ist an meinen Sohn gerichtet, der denselben lesen soll, sobald er alt genug ist, um ihn zu verstehen. Da mir alle Hoffnung genommen ist, daß ich lange genug leben werde, um meinen Sohn erwachsen zu sehen, bleibt mir nichts weiter übrig, als das, was ich ihm einst gern mit meinen eigenen Lippen mitgetheilt haben würde, jetzt für ihn niederzuschreiben.

Ich bin durch drei verschiedene Gründe zum Schreiben veranlaßt. Ich wünsche erstens die Umstände bekannt zu machen, unter welchen die Vermählung einer englischen Dame meiner Bekanntschaft auf der Insel Madeira stattfand; zweitens das wahre Licht auf den kurz darauf erfolgten Tod ihres Gatten auf dem französischen Schiffe La Gráce de Dieu zu werfen und drittens meinen Sohn vor einer Gefahr zu Warnen, die seiner harrt, einer Gefahr, die sich aus dem Grabe seines Vaters erheben wird, wenn die Erde dessen Asche bedeckt.

Die Geschichte der Heirath jener englischen Dame beginnt mit meiner Erlangung des großen Armadaleschen Vermögens und meiner Annahme des unglückseligen Namens Armadale.

Ich bin der einzige lebende Sohn des verstorbenen Matthew Wrentmore auf der Insel Barbadoes. Ich ward auf unserer Besitzung auf jener Insel geboren und verlor meinen Vater, als ich noch ein kleines Kind war. Meine Mutter hegte eine blinde Zärtlichkeit für mich; sie versagte mir nie etwas und ließ mich thun, was mir beliebte. Meine Kindheit und meine Jünglingsjahre vergingen in Müßiggang und ungehinderter Befriedigung meiner Wünsche, unter Leuten, meistens Sklaven und Mischlingen, denen mein Wille Gesetz war. Ich bezweifle, ob in ganz England ein Mann meiner Herkunft und meines Standes zu finden, der so unwissend ist, wie ich es noch in diesem Augenblicke bin. Ich bezweifle, ob es in der ganzen Welt einen jungen Menschen gibt, der sich so vollkommen ungezügelt seinen Leidenschaften hingeben darf, wie dies zu jener Zeit mir gestattet war.

Meine Mutter hatte einen romantischen, frauenhaften Widerwillen gegen den einfachen Taufnamen meines Vaters. Ich ward daher nach einem wohlhabenden Vetter meines Vaters, dem verstorbenen Allan Armadale, welcher in unserer Nachbarschaft die größten und ergiebigsten Ländereien besaß und durch Stellvertretung mein Pathe zu sein einwilligte, Allan getauft. Mr. Armadale hatte seine Besitzungen in Westindien nie gesehen. Er lebte in England und bekümmerte sich, nachdem er das übliche Pathengeschenk für mich geschickt, jahrelang gar nicht um mich. Ich war gerade einundzwanzig Jahre alt, als wir zum ersten Male wieder von Mr. Armadale hörten. Meine Mutter erhielt einen Brief von ihm, in welchem er anfragte, ob ich noch am Leben sei, und mich für diesen Fall zum Erben seiner westindischen Besitzungen einsetzte.

Dieses Glück ward mir einzig und allein durch die schlechte Ausführung von Mr. Armadale’s einzigem Sohne zu Theil. Der junge Mann hatte sich rettungslos entehrt, hatte die Heimat verlassen und war sofort auf immer von seinem Vater verstoßen worden. Da er keinen andern männlichen Erben besaß, erinnerte Mr. Armadale sich des Sohnes seines Vetters und seines eigenen Pathen und bot mir und meinen Erben seine westindischen Besitzungen an, doch unter der Bedingung, daß ich und meine Erben seinen Namen annähmen. Der Vorschlag ward mit Dank angenommen, und es wurden sofort alle gesetzlichen Maßregeln zur Aenderung meines Namens in der Colonie und im Mutterlande getroffen. Die nächste Post brachte Mr. Armadale die Nachricht, daß wir seine Bedingung eingegangen, und mit umgehender Post erhielten wir Nachricht von den Rechtsanwälten. Das Testament war zu meinen Gunsten geändert worden und der Tod meines Wohlthäters der eine Woche darauf erfolgte, machte mich zu dem größten Grundeigenthümer und reichsten Manne in Barbadoes.

Dies war das erste Glied in der Kette von Ereignissen Das zweite folgte sechs Wochen später.

Es war zu. jener Zeit unter den Comptoiristen auf der Besitzung eine Stelle vacant, und ein junger Mann meines Alters, der vor kurzem auf der Insel angelangt war, bewarb sich um dieselbe.

Er meldete sich unter dem Namen Fergus Ingleby. Ich ließ mich überall durch meine Impulse leiten und kannte kein anderes Gesetz, als das meiner Laune; ich faßte, sowie ich ihn zum ersten Male sah, eine Vorliebe für den Fremden. Er hatte die Manieren eines Gentleman und besaß die einnehmendsten gesellschaftlichen Eigenschaften denen ich in meinem an Erfahrungen nicht eben reichen Leben je begegnet war. Als ich erfuhr, daß die geschriebenen Empfehlungen, die er mitbrachte, für unzureichend erklärt worden, legte ich mich ins Mittel und bestand darauf, daß die Stelle ihm gegeben würde. Mein Wille war Gesetz, und er erhielt dieselbe.

Meine Mutter hegte von Anfang an Abneigung und Mißtrauen gegen Ingleby. Als sie entdeckte, daß unsere Bekanntschaft schnell zu vertrauter Freundschaft reifte, daß ich diesem Untergebenen —— ich war mein Leben lang fast nur mit Untergebenen umgegangen und fand Gefallen daran —— mein vollstes Zutrauen schenkte, machte sie eine Anstrengung nach der andern, um uns zu trennen, doch schlugen dieselben alle fehl. Aufs Aeußerste getrieben, wollte sie ihre letzte Chance versuchen und schlug mir deshalb eine Reise vor, an die ich selbst schon oft gedacht hatte, eine Reise nach England.

Ehe sie den Gegenstand zur Sprache brachte, beschloß sie, für diesen Besuch in England ein Interesse in mir zu erwecken, wie ich es bisher noch nie gefühlt hatte. Sie schrieb an einen alten Freund und ehemaligen Verehrer, den verstorbenen Stephen Blanchard zu Thorpe-Ambrose in Norfolk, einen Grundeigenthümer und Wittwer mit einer zahlreichen erwachsenen Familie. Aus späteren Entdeckungen entnahm ich, daß sie ihn an ihre alte Zuneigung zu einander erinnerte, welche, wie ich glaube, durch die beiderseitigen Aeltern gestört wurde, und daß sie, als sie Mr. Blanchard bat, ihren Sohn willkommen zu heißen, wenn dieser nach England käme, nach seiner Tochter fragte und so auf eine Heirath anspielte, welche die beiden Familien vereinigen würde, falls die junge Dame und ich einander gefielen. Wir waren nach der Ansicht meiner Mutter in jeder Beziehung ein passendes Paar, und die Erinnerung, die sie von ihrer Mädchenliebe zu Mr. Blanchard bewahrte, ließ ihr die Aussicht einer Verbindung zwischen mir und der Tochter ihres alten Verehrers als die schönste und glücklichste erscheinen, die sich ihrem Auge bieten könnte. Von alledem wußte ich nichts, bis Mr. Blanchard’s Antwort in Barbadoes anlangte. Meine Mutter zeigte mir diesen Brief und legte mir die Versuchung, die mich von Fergus Ingleby trennen sollte, offen in den Weg.

Mr. Blanchard’s Brief war von der Insel Madeira datiert. Er war leidend und des Klimas wegen von seinen Aerzten dorthin gesandt worden. Seine Tochter begleitete ihn. Nachdem er seine herzliche Erwiderung aller Hoffnungen und Wünsche meiner Mutter ausgedrückt, schlug er vor, daß ich, falls ich Barbadoes bald zu verlassen beabsichtigte, ihm auf meiner Reise nach England auf der Insel Madeira einen Besuch abstatten sollte. Falls dies jedoch nicht ausführbar sei, nannte er die Zeit, um die er nach England zurückgekehrt zu sein erwartete, wo ich mich dann eines herzlichen Willkommens in seinem Hause zu Thorpe-Ambrose versichert halten solle. Zum Schlusse entschuldigte er sich deswegen, daß er nicht ausführlicher schriebe, indem er erklärte, daß er sehr an den Augen leide und bereits den ärztlichen Verordnungen ungehorsam gewesen, indem er der Versuchung nachgegeben, mit eigener Hand an seine alte Freundin zu schreiben.

Der Brief allein hätte, ungeachtet des gütigen und freundschaftlichen Tons, in dem derselbe gehalten war, wahrscheinlich wenig Eindruck auf mich gemacht. Doch es kam noch etwas mit dem Brief, es war ein Miniaturportrait von Miß Blanchard demselben beigelegt. Auf die Rückseite des Bildes hatte der Vater halb scherzend, halb aus Zärtlichkeit folgende Worte geschrieben: —— Ich kann nicht, wie gewöhnlich, meine Tochter bitten, meine Augen zu schonen und für mich zu schreiben, ohne sie von Ihren Fragen zu unterrichten und in ihrer Bescheidenheit erröthen zu machen. Deshalb sende ich sie ohne ihr Vorwissen in effigie, damit sie für sich selbst spricht. Es ist ein gutes Portrait von einem guten Mädchen. Falls Ihr Sohn ihr gefällt, und falls er mir gefällt, wovon ich im voraus überzeugt bin, so dürfen wir es noch erleben, meine gute Freundin, unsere Kinder als das zusehen, was wir einst selbst zu sein hofften, als Mann und Frau.« Meine Mutter gab mir Bild und Brief. Das Bild frappierte mich augenblicklich, ich weiß nicht wie und ich weiß nicht warum, wie nichts der Art mich je zuvor frappiert hatte.

Ein schärferer Verstand als der meinige hätte den außerordentlichen Eindruck, den dasselbe auf mich machte, vielleicht meinem damaligen zerrütteten Gemüthszustande zugeschrieben, oder dem Ueberdrusse an den gemeinen Vergnügungen, der sich seit einigen Monaten meiner zu bemächtigen angefangen, oder dem sich aus diesem Ueberdrusse ergebenden unbestimmten Verlangen nach neuen Interessen und frischeren Hoffnungen, als noch bisher meinen Geist erfüllt Ich versuchte keine solche verständige Selbstprüfung; ich glaubte damals an eine Bestimmung; ich glaube noch jetzt an eine solche. Es genügte mir, zu wissen —— und ich wußte es —— daß die erste Regung von etwas Besserem als meiner thierischen Natur durch jenes Mädchenantlitz in mir erweckt wurde, das mich aus jenem Bilde anschaute, wie mich bisher noch kein Weib angeschaut hatte. In jenen zärtlichen Augen und in der Hoffnung, jenes sanfte Wesen zu meiner Gattin zu machen, sah ich meine Bestimmung geschrieben. Das Bild, welches auf so seltsame und so unerwartete Weise in meine Hände gelangt, war der stumme Glücksbote, der mich zu Warnen, zu ermuthigen und emporzurichten gesandt worden, ehe es zu spät sein würde. Ich legte das Bild abends unter mein Kissen, um es am nächsten Morgen immer und immer wieder zu betrachten. Meine am Tage zuvor gefaßte Ueberzeugung blieb dieselbe; mein Aberglaube, wenn man es so nennen will, zeigte mir unwiderstehlich den Weg, den ich wandeln sollte. Es lag ein Schiff im Hafen, das in vierzehn Tagen nach England absegeln und bei Madeira anlegen sollte. Auf diesem Schiffe nahm ich einen Platz für die Ueberfahrt.«



Kapiteltrenner

Viertes Kapitel.

Bis hierher hatte der Schotte gelesen, ohne ein einziges Mal unterbrochen zu werden. Bei diesen letzten Worten jedoch mischten sich die leisen, gebrochenen Töne einer andern Stimme in die seinige.

»War sie blond«, fragte die Stimme, »oder dunkel wie ich?«

Mr. Neal hielt inne und sah auf. Der Doctor saß noch immer am Kopfende des Bettes und seine Finger befühlten mechanisch den Puls des Kranken. Das Kind, welches seinen Nachmittagsschlaf vermißte, begann sein Spielzeug zu vernachlässigen. Die Augen des Vaters beobachteten den Knaben mit verzückter und unausgesetzter Aufmerksamkeit. Nur eine große Veränderung hatte unter den Zuhörern stattgefunden, seit die Vorlesung ihren Anfang genommen. Mrs. Armadale hatte die Hand ihres Gatten sinken lassen und saß mit Von ihm abgewandtem Gesichte da. Das heiße afrikanische Blut glühte roth in ihren dunklen Wangen, als sie hartnäckig die Frage wiederholte; »War sie blond oder dunkel wie ich?«

»Blond«, sagte ihr Gatte, ohne die Fragende anzusehen.

Ein krampfhaftes Zusammenpressen ihrer Hände, die gefaltet auf ihrem Schoße lagen, ——— dies war ihre einzige Antwort. Mr. Neal’s buschige Augenbrauen zogen sich finster zusammen, als er sich der Erzählung wieder zuwandte: Er war höchst unzufrieden mit sich selbst, denn er hatte sich eben darüber ertappt, wie er die Dame im Stillen bemitleidete.

»Ich habe gesagt«, hieß es in dem Briefe weiter, »daß Ingleby mein innigstes Zutrauen gewonnen hatte. Es that mir weh, daß ich ihn verlassen mußte, und der Ausbruch seiner Bestürzung und seines ungeheuchelten Schmerzes, womit er die Mittheilung über meine bevorstehende Abreise aufnahm, machte mich vollends unglücklich. Um mich vor ihm zu rechtfertigen, zeigte ich ihm den Brief nebst dem Bilde und erzählte ihm den ganzen Hergang. Mit der Theilnahme eines wahren Freundes erkundigte er sich bei mir nach Miß Blanchards Familie und Vermögensverhältnissen, ja meine Achtung für ihn und mein Glaube an seine Aufrichtigkeit ward noch dadurch erhöht, daß er mit der größten Selbstverleugnung seine eigne Person in den Hintergrund stellte und mich hochherzig aufmunterte, auf der Ausführung meines jetzigen Vorhabens zu bestehen. Als wir uns trennten, war ich kerngesund und gutes Muths, allein bevor wir uns am nächsten Tage wieder treffen konnten, hatte mich plötzlich eine Krankheit befallen, die meinen Verstand wie mein Leben gleichermaßen bedrohte.

Ich habe keinen Beweis gegen Ingleby. Gab es ja doch mehr als eine Frau auf der Insel, gegen die ich mich in unverzeihlicher Weise vergangen hatte und deren Rache mich in jenem Augenblicke recht wohl erreicht haben mochte. Kurz, ich kann Niemanden anschuldigen Nur das kann ich sagen, daß mein Leben durch meine alte Amme, eine Schwarze, gerettet ward, welche, wie sie mir später bekannte, das gewöhnliche Gegengift der Neger gegen ein dort selbst wohlbekanntes Negergift angewandt hatte. Als ich mich in den ersten Tagen meiner Genesung befand, war das Schiff, auf dem ich meinen Platz zur Ueberfahrt gelöst, längst abgesegelt. Als ich nach Ingleby fragte, erfuhr ich, daß er fort sei. Man legte mir Beweise seines unverzeihlichen Mißverhaltens in seiner neuen Stelle vor, die selbst meine Vorliebe für ihn als vollgültige anerkennen mußte. Er war in den ersten Tagen meiner Krankheit aus dem Comptoir entlassen worden, und man hatte nichts weiter über ihn in Erfahrung gebracht, als daß er die Insel verlassen.

Das Portrait hatte meine ganze Krankheit hindurch beständig unter meinem Kissen gelegen. Während meiner Genesung gewährte dasselbe mir den einzigen Trost, wenn ich meiner Vergangenheit gedachte, und die einzige Ermuthigung für die Zukunft. Ich finde keine Worte, um zu beschreiben, wie gewaltig der Eindruck war, den dasselbe, unterstützt von der Zeit, der Einsamkeit und dem Leiden, auf mich machte. Meine Mutter war, bei all ihrem Interesse an der Verbindung, erstaunt über den unerwarteten Erfolg ihres Projectes Sie hatte geschrieben, um Mr. Blanchard von meiner Krankheit in Kenntniß zu setzen, jedoch keine Antwort erhalten. Sie erbot sich jetzt, noch einmal zu schreiben, falls ich versprechen wollte, sie nicht eher zu verlassen, als bis ich vollständig genesen sei. Meine Ungeduld wollte sich keinem Zwange unterwerfen. Es lag abermals ein Schiff im Hafen, das mir Gelegenheit, nach Madeira zu kommen, bot, und Mr. Blanchards Brief gab mir die Versicherung, daß ich, falls ich sofort die Gelegenheit benützte, ihn noch auf der Insel antreffen würde. Ungeachtet der Bitten meiner Mutter bestand ich darauf, auf diesem zweiten Schiffe meinen Platz für die Ueberfahrt zu nehmen, und als dasselbe absegelte, befand ich mich an Bord.

Die Abwechselung that mir wohl; die Seeluft machte wieder einen Mann aus mir. Nach einer ungewöhnlich schnellen Fahrt befand ich mich am Ziele meiner Reise. An einem schönen stillen Abende, den ich nie vergessen werde, stand ich allein, mit ihrem Bilde auf dem Herzen, am Strande und sah die weißen Mauern des Hauses, das sie, wie ich wußte, bewohnte.

Ich ging langsam um den Garten herum, um mich zu sammeln, ehe ich denselben betrat. Dann wagte ich mich durch ein Pförtchen in ein kleines Gebüsch und sah eine Dame auf dem Rasen umherwandeln. Sie wandte das Gesicht in meine Richtung und ich erblickte das Original des Portraits, die Verwirklichung meines Traums! Es ist nutzlos, schlimmer als nutzlos, jetzt hierüber zu schreiben. Ich will nur sagen, daß jedes schöne Versprechen, das das Bild meiner Einbildungskraft gegeben, meinem Auge jetzt von dem lebenden Weibe erfüllt ward. Dies will ich sagen —— und nichts weiter.

Zu heftig bewegt, um noch in ihre Gegenwart zu wagen, zog ich mich unbemerkt zurück, ging zur Vorderthür des Hauses herum und fragte zuerst, ob ich den Vater sehen könne. Mr. Blanchard hatte sich in sein Zimmer zurückgezogen und konnte Niemand empfangen. Darauf faßte ich Muth und fragte nach Miß Blanchard. Der Diener lächelte. »Meine junge Dame«, sagte er, »ist nicht mehr Miß Blanchard, Sir; sie ist verheirathet« Diese Worte würden manche Männer in meiner Lage zu Boden geschmettert haben. Sie entflammten mein heißes Blut und ich packte den Diener in meiner Wuth am Halse. »Das ist eine Lüge!« schrie ich ihn an, als ob er einer der Sklaven auf meiner eignen Besitzung gewesen wäre.

»Es ist die Wahrheit, sagte der Mann, mit mir ringend, »ihr Gemahl ist in diesem Augenblicke im Hause.«

»Wer ist es?«

Der Diener antwortete mir, indem er meinen eigenen Namen nannte.

Du wirst jetzt die Wahrheit errathen. Fergus Ingleby war der verstoßene Sohn, dessen Namen und Erbe ich angenommen. Und Fergus Ingleby hatte sich an mir dafür gerächt, daß ich ihm sein Geburtsrecht genommen.

Es ist nöthig, die Art und Weise zu erzählen, in der dieser Betrug verübt worden, um den Antheil, den ich an den auf meine Ankunft in Madeira folgenden Ereignissen nahm, ich will nicht sagen, zu rechtfertigen, doch zu erklären.

Ingleby’s eigenem Bekenntnisse zufolge war er, von dem Tode seines Vaters und meinem Antritt des Vermögens» unterrichtet, in der festen Absicht, mich auszuplündern und mir zu schaden, nach Barbadoes gekommen. Meine unvorsichtige Vertraulichkeit lieferte ihm eine Gelegenheit in die Hände, wie er sie zu finden nie hoffen durfte. Er hatte gewartet, um sich in den Besitz des Briefes zu setzen, den meine Mutter zu Anfang meiner Krankheit an Mr. Blanchard geschrieben, hatte dann selbst seine Entlassung aus dem Comptoir herbeigeführt und war in demselben Schiffe, auf dem ich meinen Platz genommen, nach Madeira abgesegelt. Auf der Insel angelangt, hatte er abermals gewartet, bis das Schiff wieder abgesegelt war, und sich darauf, nicht unter dem angenommenen Namen, den ich ihm hier zu geben fortfahren werde, sondern unter dem Namen, der ebenso wohl der seinige als der meine war, unter dem Namen Allan Armadale, bei Mr. Blanchard eingeführt. Es stellten sich dem Betruge anfänglich wenig Schwierigkeiten in den Weg. Er hatte es nur mit einem kränklichen alten Manne, der meine Mutter seit einem halben Menschenalter nicht gesehen, und einem unschuldigen, arglosen Mädchen zu thun, das dieselbe nie gesehen; in meinem Dienste aber hatte er genug erfahren, um die wenigen Fragen, die ihm vorgelegt wurden, ebenso leicht beantworten zu können, wie ich dies selber zu thun im Stande gewesen wäre. Sein Aussehen und seine Manieren, sein einnehmendes Wesen gegen Frauen, seine List und Schlauheit thaten das Uebrige. Während ich noch auf dem Krankenbette lag, hatte er Miß Blanchards Zuneigung gewonnen, und während ich in den ersten Tagen meiner Genesung über dem Bilde träumte, hatte er Mr. Blanchard’s Einwilligung zu seiner Vermählung mit der Tochter erlangt, ehe sie und ihr Vater die Insel verließen.

Bis hierher hatte Mr. Blanchard’s getrübte Sehkraft den Betrug unterstützt Er hatte sich damit begnügt, seinen Schwiegersohn mit dem zu beauftragen was er meiner Mutter zu sagen wünschte, und hatte von jenem die erdichteten Erwiderungen erhalten. Doch als der Bewerber angenommen und der Hochzeitstag angesetzt war, hatte er es für seine Schuldigkeit gehalten, selbst an seine alte Freundin zu schreiben, um sie um ihre förmliche Einwilligung zu bitten und zur Hochzeit zu laden. Er konnte selbst nur einen Theil dieses Briefes schreiben; das Uebrige war er seiner Tochter zu dictiren genöthigt. Da diesmal keine Aussicht war, der Post vorzugreifen, lauerte Ingleby, der Herrschaft über sein Opfer gewiß, Miß Blanchard ab, als sie ihres Vaters Zimmer mit dem Briefe in der Hand verließ, und sagte ihr im Vertrauen die Wahrheit. Sie war noch unmündig und die Lage eine bedenkliche Falls der Brief abgesandt wurde, blieb ihnen keine Aussicht, als zu warten und dann auf immer von einander geschieden zu werden, oder unter Verhältnissen, welche Entdeckung zur Gewißheit machten, mit einander zu fliehen. Die Bestimmung jedes Schiffes, mit dem sie abreisen konnten, war im voraus bekannt, und die schnell segelnde Jacht, in der Mr. Blanchard nach Madeira gekommen, wartete im Hafen, um ihn nach England zurückzubringen. Das Einzige, was ihnen so nach übrig blieb, war, daß sie den Betrug fortsetzten, indem sie den Brief zurückbehielten und, sobald sie einmal vermählt waren, die Wahrheit bekannten. Welcher Ueberredungskünste Ingleby sich bediente, oder in welcher schändlichen Weise er ihre Liebe und ihr Zutrauen zu ihm bereits mißbraucht hatte, um Miß Blanchard bis zu seiner eigenen Schlechtigkeit herabzuziehen, vermag ich nicht zu sagen. Jedenfalls hatte er sie so weit gebracht. Der Brief ward nie an seine Bestimmung abgesandt, und mit Vorwissen und Billigung der Tochter gelang es ihm, das Zutrauen des Vaters bis zuletzt zu hintergehen.

Die einzige Vorsichtsmaßregel, die sie noch treffen mußten, war die, daß sie die Antwort fabrizierten, welche Mr. Blanchard von meiner Mutter erwartete und welche rechtzeitig mit der Post noch vor dem Tage eintreffen mußte, an dem die Hochzeit stattfinden sollte. Ingleby hatte den gestohlenen Brief meiner Mutter bei sich, doch besaß er nicht die Geschicklichkeit der Nachahmung, die ihn in Stand gesetzt hätte, denselben zu einer Fälschung zu benutzen Miß Blanchard, welche ihre passive Einwilligung zu der Täuschung gegeben, lehnte es ab, sich thätlich bei dem an ihrem Vater verübten Betruge zu betheiligen. In dieser Verlegenheit fand Ingleby ein bereitwilliges Werkzeug in einer Waise, die, kaum zwölf Jahre alt, ein Wunder von frühreifer Geschicklichkeit war und für die Miß Blanchard ein so romantisches Interesse hegte, daß sie sie aus England mit sich nach Madeira genommen hatte, um sie zu ihrer einstigen Kammerjungfer auszubilden. Die schändliche Geschicklichkeit dieses Mädchens räumte das einzige ernstliche Hinderniß aus dem Wege, das den Erfolg des Betrugs bedrohte. Ich sah die Nachahmung der Handschrift meiner Mutter, die sie, unter Ingleby’s Anweisung und —— wenn ich die schändliche Wahrheit bekennen soll —— unter Vorwissen ihrer jungen Herrin, angefertigt hatte, und ich glaube, daß ich selbst durch dieselbe hätte getäuscht werden können. Ich sah das Mädchen später, und bei ihrem Anblicke erstarrte mir das Blut in den Adern. Wehe denjenigen, die ihr vertrauen, falls sie noch am Leben ist! Ein falscheres und herzloseres Geschöpf als sie hat kaum die Erde getragen.

Der gefälschte Brief ebnete den Weg zur Vollziehung der Heirath, und als ich im Hause anlangte, waren sie, wie mir der Diener sagte, Mann und Weib. Meine Ankunft auf dem Schauplatze führte das Bekenntniß, welches sie beide abzulegen beschlossen hatten, nur etwas früher herbei. Ingleby gestand die schmachvolle Wahrheit mit seinen eigenen Lippen. Er hatte dabei nichts zu verlieren, da er verheirathet war und das Vermögen seiner Gattin sich außer der Macht ihres Vaters befand. Ich übergehe, was darauf folgte, meine Zusammenkunft mit der Tochter, sowie meine Unterredung mit dem Vater, um zu den Folgen zu kommen. Zwei Tage gelang es den Bemühungen der Gattin und denen des Geistlichem der sie getraut hatte, mich und Ingleby von einander fern zu halten. Am dritten hatte ich meine Schlinge glücklicher gelegt, und ich trat dem Mann, der mir ein so tödtliches Unrecht angethan, unter vier Augen gegenüber.

Bedenke, wie mein Vertrauen hintergangen, bedenke, wie der eine gute Zweck meines Lebens vernichtet worden war; bedenke die heftigen Leidenschaften, welche tief in meiner Natur wurzelten und nie bekämpft worden waren, und dann mache Dir eine Vorstellung von dem, was sich zwischen uns beiden zutrug. Das Einzige, was ich hier zu erzählen brauche, ist das Ende. Er war ein größerer und stärkerer Mensch als ich und benutzte mit viehischer Roheit diesen Vortheil. Er schlug mich.

Erinnere Dich des Unrechts, das jener Mensch mir angethan, und daß er danach mein Gesicht durch einen Faustschlag brandmarkte!

Ich ging zu einem englischen Offizier, der auf der Ueberfahrt von Barbadoes mein Reisegefährte gewesen, und er stimmte mit mir überein, daß ein Duell unvermeidlich sei. Das Duellieren hatte seine bestimmten Gesetze und Formalitäten, und er machte mich auf dieselben aufmerksam. Ich unterbrach ihn. »Ich will eine Pistole in die rechte Hand nehmen, und er soll dasselbe thun«, sagte ich; »dann will ich mit der linken ein Taschentuch an dem einen Zipfel anfassen, während er mit seiner linken den andern nimmt, und über diesem Taschentuch soll das Duell stattfinden.« Der Offizier stand auf und sah mich an, als ob ich ihm eine persönliche Beleidigung zugefügt hätte. »Sie fordern meine Gegenwart bei einem Morde und einem Selbstmorde«, sagte er; »ich schlage es aus, Ihnen zu dienen.« Er verließ das Zimmer. Sowie er fort war, schrieb ich die Worte, die ich zu ihm gesprochen, auf ein Blatt Papier und sandte dasselbe durch einen Boten an Ingleby. Während ich auf die Antwort wartete, setzte ich mich vor einen Spiegel und betrachtete die Stelle in meinem Gesichte, wo mich sein Schlag getroffen. »Mancher Mensch«, dachte ich, »hat für Geringeres Blut an seinen Händen und auf seinem Gewissen.«

Der Bote kehrte mit Ingleby’s Antwort zurück. Dieselbe setzte das Zusammentreffen auf Nachmittags drei Uhr des folgenden Tages an einer einsamen Stelle im Innern der Insel fest. Ich hatte, falls er sich geweigert hätte, meinen Entschluß gefaßt; sein Brief ersparte mir die Ausführung einer Gräuelthat. Ich war ihm dankbar, ja, geradezu dankbar dafür, daß er denselben geschrieben.

Am folgenden Tage begab ich mich nach der bestimmten Stelle. Er war nicht dort. Ich wartete zwei Stunden; er kam nicht. Endlich ahnte ich die Wahrheit. »Einmal feig, immer feig«, dachte ich. Ich kehrte nach Mr. Blanchard’s Wohnung zurück. Ehe ich dort anlangte, kam mir plötzlich ein Gedanke und ich wandte mich nach dem Hafen. Ich hatte Recht. Der Hafen war der Ort, nach dem ich meine Schritte lenken mußte. Ein Schiff, das an jenem Nachmittage nach Lissabon absegelte, hatte ihm die Gelegenheit geboten, für sich und seine Gattin Plätze auf demselben zu nehmen und mir zu entwischen. Seine Antwort auf meine Herausforderung hatte den Zweck gehabt, mich aus dem Wege zu bringen. Ich hatte Fergus Ingleby nochmals geglaubt und war abermals durch seine Schlauheit überlistet worden.

Ich fragte den Mann, der mich hiervon in Kenntniß setzte, ob Mr. Blanchard von der Abreise seiner Tochter unterrichtet sei. Er hatte dieselbe erfahren, doch erst nachdem das Schiff bereits abgesegelt war. Diesmal nahm ich mir Ingleby’s Schlauheit zur Lehre. Anstatt mich in Mr. Blanchards Hause zu zeigen, ging ich nach dem Hafen hinunter und nahm Mr. Blanchard’s Jacht in Augenschein.

Das Schiff sagte mir, daß der Besitzer desselben wohl die Wahrheit verschwiegen haben mochte. Ich fand dasselbe in der Verwirrung eines unerwarteten plötzlichen in See Stechens vor. Die Mannschaft befand sich an Bord, mit Ausnahme von ein paar Leuten, die auf Urlaub landeinwärts gegangen waren, Niemand wußte wohin. Sowie ich entdeckte, daß der Kapitän diese durch die ersten besten Leute zu ersetzen beabsichtigte, deren er in der Eile habhaft werden konnte, hatte ich augenblicklich meinen Entschluß gefaßt. Ich war sehr wohl mit dem Dienste an Bord einer Jacht bekannt, da ich selbst eine solche besessen und commandirt hatte. Ich eilte in die Stadt, rauschte meinen Rock und Hut gegen die Jacke und den Hut eines Matrosen um, kehrte nach dem Hafen zurück und erbot mich, unter den Freiwilligen zu dienen. Ich weiß nicht, was der Kapitän in meinem Gesichte sah; meine Antworten auf seine Fragen stellten ihn zufrieden und dennoch saher mich scharf an und zögerte. Doch es fehlte an Leuten und ich ward endlich angenommen. Eine Stunde später langte Mr. Blanchard, an Geist und Körper leidend, auf dem Schiffe an und ward in seine Kajüte geschafft. Abermals eine Stunde später befanden wir uns unter einem sternlosen Wolkenhimmel und vor einer straffen Brise auf offener See.

Wie ich vermuthet hatte, galt es der Verfolgung des Schiffes, in welchem Ingleby und seine Gattin an jenem Nachmittage die Insel verlassen hatten. Das Schiff war ein französisches und zum Holzhandel bestimmt, sein Name La Gráce de Dieu. Es war nichts weiter über dasselbe bekannt, als daß es, nach Lissabon bestimmt, aus seinem Curs getrieben worden sei und aus Mangel an Leuten und Proviant vor Madeira angelegt hatte. Dem letzteren Mangel war abgeholfen worden, doch nicht dem erstem. Die Matrosen mißtrauten dem Fahrzeuge in Bezug auf seine Seetüchtigkeit und es mißfiel ihnen das Aussehen der vagabondenartigen Mannschaft. Als man Mr. Blanchard diese beiden ernsten Thatsachen mittheilte, hatte er sich bereits über die harten Worte, die er im ersten Augenblicke nach der Entdeckung, daß sein Kind ihn zu hintergehen behilflich gewesen, zu diesem gesprochen, bittere Vorwürfe gemacht Er beschloß augenblicklich, seiner Tochter auf seinem eigenen Schiffe eine Zufluchtsstätte zu bieten und sie zu beruhigen, indem er ihren Gatten vor allem Unheil, das ihm von meinen Händen drohen konnte, schützte. Die Jacht segelte dreimal so schnell als das andere Schiff. Es unterlag keinem Zweifel, daß wir dasselbe einholen würden; die einzige Befürchtung war die, daß wir des Nachts an dem Schiffe vorbei segeln könnten.

Nachdem wir eine kleine Weile auf dem Wasser gewesen, legte sich plötzlich der Wind, und an seine Stelle trat eine drückende Stille. Als der Befehl ertheilt ward, die Topmasten aufs Verdeck zu schaffen und die großen Segel umzulegen, wußten wir alle, was wir zu erwarten hatten. In wenig mehr als einer Stunde hatte der Sturm uns ereilt, der Donner rollte über unsern Häuptern und das Schiff flog vor dem Winde dahin. Es war ein kräftiges, wie ein Schooner getakeltes Fahrzeug von dreihundert Tonnen, so stark, wie Holz und Eisen es nur zu machen im Stande sind, es ward von einem Kapitän befehligt, der sein Handwerk gründlich verstand, und es gehorchte ihm vortrefflich. Als der Morgen anbrach, ließ die Wuth des Windes, der noch immer aus Südwesten kam, etwas nach und die See ging weniger hoch. Kurz vor Tagesanbruch hörten wir durch das Geheul des Sturms hindurch den Knall einer Kanone. Die Leute, welche besorgnißvoll auf dem Verdeck versammelt standen, schauten einander an und sagten: »Das ist das Schiff!«

Als der Tag angebrochen war, sahen wir das Schiff. Es war in der That das Holzschiff. Dasselbe wurde von den Wellen hin und her geworfen, Fockmast und Hauptmast waren verschwunden und das Fahrzeug ein hilfloses Wrack. Die Jacht führte drei Boote bei sich, von denen das eine sich auf dem Verdeck befand, die beiden andern aber an den Schiffsseiten aufgehangen waren. Da der Kapitän aus gewissen Zeichen des Wetters entnahm, daß der Sturm bald wieder losbrechen werde, beschloß er, solange die Stille noch währte, die beiden Seitenboote auszusetzen. Mochten sich auch nur wenig Leute an Bord des Wracks befinden, so waren es doch zu viel, um alle in einem einzigen Boote gerettet zu werden, und es ward für minder gefahrvoll erachtet, beide Boote zugleich abzusenden, als in diesem kritischen Zustande des Wetters zwei Hin- und Herfahrten zwischen der Jacht und dem Holzschiffe zu wagen.

Die Boote wurden mit Freiwilligen bemannt und ich befand mich in dem zweiten. Als das erste Boot an der Schiffsseite des Wracks anlangte, was nur mit unsäglichen Schwierigkeiten und großer Gefahr bewerkstelligt ward, stürzten die Leute an Bord des letzteren alle zugleich herbei, um alle auf einmal das Wrack zu verlassen. Wäre das Boot nicht abgestoßen, ehe sie alle hineinspringen konnten, so würde dasselbe mit seinen Insassen unfehlbar zu Grunde gegangen sein. Wie unser Boot sich daraus dem Wrack näherte, kamen wir überein, daß vier von uns an Bord gehen sollten, nämlich ich und ein Andern, um Mr. Blanchard’s Tochter in Sicherheit zu bringen, während zwei Andere die noch übrigen feigen Gesellen abzuwehren hatten, falls sie sich zuerst in das Boot zu drängen versuchten. Der Bootführer aber und zwei Ruderer sollten im Boote zurückbleiben, um dafür zu sorgen, daß dasselbe nicht von dem sich umherwälzenden Wrack zermalmt werde. Was die Andern sahen, als sie aufs Verdeck der Grace de Dieu sprangen, weiß ich nicht; ich sah nur das Weib, welches ich verloren, das Weib, das mir schändlich gestohlen worden, in tiefer Ohnmacht auf dem Verdeck liegen. Wir ließen sie, bewußtlos wie sie war, in das Boot hinab. Dann erst durfte die übrige Mannschaft, fünf an der Zahl, folgen, und zwar Einer nach dem Andern und in minutenlangen Zwischenräumen, wie die Sicherheit des Bootes es erforderte. Ich war der Letzte, der das Wrack verließ; und wie das Schiff das nächste Mal zu uns herüber rollte, sagte das leere Verdeck, auf dem vom Spiegel bis zum Bugspriet kein lebendes Wesen mehr zu sehen war, unsern Leuten, daß ihr Werk vollendet sei. Das immer lauter werdende Heulen des sich erhebenden Sturmes mahnte sie, ums Leben zu rudern, wenn sie die Jacht erreichen wollten.

Eine Reihe heftiger Windstöße hatte den Curs des im Anzuge begriffenen Sturmes von Süden nach Norden umgelegt, und der Kapitän hatte die Jacht vom Winde abfallen lassen, um auf den Sturm gefaßt zu sein, der denn auch, noch ehe der Letzte unserer Leute wieder an Bord war, mit der Wuth eines Orkans über uns losbrach. Unser Boot ward vom Wasser verschlungen, doch kein einziges Menschenleben ging dabei verloren. Und abermals flogen wir, der Gewalt des Windes preisgegeben, in südlicher Richtung vor diesem dahin. Ich stand mit den Uebrigen auf dem Verdeck und beobachtete den einzigen Fetzen von Segel, den wir auszuspannen wagen durften, bereit, dasselbe durch ein frisches zu ersetzen, falls der Wind es aus den Segelsäumen riß. Da trat der Steuermann hart an mich heran und durch das Sturmgetöse brüllte er mir ins Ohr: »Sie ist in der Kajüte wieder zu sich gekommen und fragt nach ihrem Gatten; wo ist er?« Kein Mensch an Bord wußte dies. Man durchsuchte die Jacht von einem Ende zum andern, ohne ihn zu finden. Die Leute wurden, trotz des Unwetters, gemustert; er befand sich nicht unter ihnen. Die Mannschaften der beiden Boote wurden befragt. Aber alles, was die Mannschaft des ersten Bootes zu sagen vermochte, war, daß sie, als die Leute vom Wrack auf das Boot losgestürzt, fort gerudert sei und nicht wisse, wen sie aufgenommen und wen zurückgelassen habe. Die Mannschaft des zweiten Bootes konnte nur berichten, daß sie jede lebende Seele, die das erste Boot auf dem Verdeck des Schiffes zurückgelassen, nach der Jacht zurückgebracht hatte. Niemand traf ein Tadel; aber gleichwohl blieb es eine Thatsache, daß der Mann fehlte.

Der Sturm, welcher den ganzen Tag nicht zu toben aufhörte, schnitt uns jede Möglichkeit ab, zu dem Wrack zurückzukehren und dasselbe zu durchsuchen. War doch unsre eigne Jacht gezwungen, sich einfach vom Winde treiben zu lassen. Erst gegen Abend ließ der Sturm, der uns südlich von Madeira hinab gejagt, ein wenig nach, und da der Wind jetzt umsprang, konnten wir der Insel zusteuern. Am folgenden Morgen früh langten wir wieder im Hafen an. Mr. Blanchard und seine Tochter wurden ans Land gesetzt, und der Kapitän begleitete sie, nachdem er uns angekündigt, daß er bei seiner Rückkehr uns etwas zu sagen habe, das die ganze Mannschaft nahe angehe.

Nach der Rückkehr des Kapitäns wurden wir auf dem Verdeck gemustert und von ihm angeredet. Er habe Befehl von Mr. Blanchard, unverzüglich nach der Grace de Dieu zurückzukehren und den Fehlenden aufzusuchen. Dies seien wir Mr. Blanchard und namentlich seiner Tochter schuldig, welche, wie die Aerzte befürchteten, den Verstand verlieren würde, falls nichts geschehe, sie zu beruhigen. Wir dürften fast überzeugt sein, das Schiff noch über Wasser zu finden, denn die Holzladung desselben müsse es, solange der Rumpf nicht geborsten sei, schwimmend erhalten. Der Mann müsse aufgesucht und, falls er sich an Bord befinde, todt oder lebendig, zurückgebracht werden. Wenn der Sturm nachzulassen fortfahre, so sei kein Grund vorhanden, weshalb die Leute, mit angemessenem Beistande, nicht das Schiff ebenfalls mit zurückbringen und, da er, der Kapitäm hierzu völlig bereit sei, den Bergelohn mit den Offizieren der Jacht theilen sollten.

Diese Rede ward von den Leuten mit einem dreimaligen Hurrah beantwortet, und sie machten sich augenblicklich ans Werk, um wieder mit dem Schooner in See zu stechen. Ich war der Einzige unter ihnen, der sich von dem Unternehmen zurückzog, indem ich erklärte, daß ich in Folge des Sturmes krank sei und der Ruhe bedürfe. Wie ich die Jacht verließ, schauten sie mir Mann für Mann ins Gesicht und kein Einziger von ihnen sprach ein Wort mit mir.

Während jenes ganzen Tages wartete ich in einem Wirthshause am Hafen auf Nachricht von dem Wrack, bis endlich gegen Abend ein Lootsenboot, das an der Rettung des verlassenen Schiffes theilgenommen, mit der Meldung anlangte, La Gráce de Dieu sei noch über Wasser und Ingleby’s Leichnam in der Kajüte gefunden worden, wo er ertrunken sein müsse. Am folgenden Morgen ward der Todte bei Tagesanbruch auf die Jacht gebracht und noch an demselben Tage am dem protestantischen Friedhofe beerdigt.«

»Halt!« rief die Stimme vom Bette her, ehe der Leser umwenden und einen neuen Absatz beginnen konnte.



Kapiteltrenner

Fünftes Kapitel.

Seit Mr. Neal das letzte Mal von seiner Lectüre aufgeblickt, hatten in dem Zimmer und unter seinen Zuhörern einige Veränderungen stattgefunden. Ein Sonnenstrahl fiel aus das Sterbelager, und das Kind, von Müdigkeit überwältigt, lag friedlich schlummernd in dem goldenen Licht. Das Gesicht des Vaters hatte sich merklich verändert; durch den gequälten Geist zur Thätigkeit gezwungen, hatten die bisher bewegungslosen unteren Gesichtsmuskeln jetzt sich zu verzerren angefangen. Der dichte Schweiß aus der Stirn des Sterbenden hatte den Arzt veranlaßt, sich zu erheben, um diesem ein Stärkungsmittel zu geben. Auf der andern Seite des Bettes stand der leere Sessel der Gattin, welche in dem Augenblick wo Mr. Armadale den Leser unterbrochen, hinter das Kopfende des Bettes zurückgetreten war, um seinen Blicken zu eingehen. Dort stand sie, sich versteckend, an die Wand gelehnt und heftete die Augen in gieriger Erwartung auf das Manuscript in Mr. Neal’s Händen.

Eine Minute später ward die Stille abermals durch Mr. Armadale unterbrochen.

»Wo ist sie?« frug er, indem er zornig auf den leeren Sessel blickte. Der Doctor deutete auf die Stelle, wo sie stand, und so blieb ihr nichts weiter übrig, als vorzutreten. Sie kam langsam und stellte sich vor ihn hin.

»Du versprachst zu gehen, wenn ich es Dir heißen würde«, sagte er. »Geh’ jetzt!«

Mr. Neal gab sich alle Mühe, seine Hand zu beherrschen, die zwischen den Blättern des Manuscripts die Stelle anmerkte; gleichwohl konnte er ein Zittern derselben nicht unterdrücken. Ein Verdacht, der inzwischen langsam in seinem Geiste aufgestiegen war, ward ihm zur Gewißheit, als er jene Worte hörte. Der Brief war von einer Enthüllung zur andern fortgeschritten, bis derselbe jetzt endlich bei einer letzten Offenbarung angelangt war, welche der Sohn erst in späteren Jahren, das Weib aber nie erfahren sollte. Deshalb hatte der Sterbende, noch bevor er seiner Gattin erlaubt hatte, die Erzählung mit anzuhören, bei sich beschlossen, der Stimme des Vorlesers Schweigen zu gebieten, wenn er zu dieser Stelle käme; und daß ihn in diesem Entschlusse die zärtlichsten Bitten seiner Gattin um keinen Zoll wanken gemacht hatten, dies erfuhr sie jetzt von seinen eigenen Lippen.

Ohne ein Wort zu erwidern stand sie da und blickte ihn an; mit ihren Blicken sprach sie ihr letztes Flehen aus —— vielleicht ihr letztes Lebewohl. Seine Augen hatten keinen Blick der Erwiderung für sie, sondern wanderten erbarmungslos von ihr fort nach dem schlafenden Knaben. Sprachlos wandte sie sich vom Bette ab, und ohne einen Blick auf das Kind, ohne ein Wort zu den beiden Fremden, die sie athemlos beobachteten, verließ sie, ihrem gegebenen Versprechen getreu, in tiefem Schweigen das Zimmer.

Es lag etwas in der Art und Weise ihres Fortgehens, das die Selbstbeherrschung der beiden Männer erschütterte, welche Zeugen desselben waren. Als die Thür sich hinter ihr schloß, fühlten sie ein instinctmäßiges Widerstreben, sich noch ferner mit einer Sache zu befassen, deren Tragweite sie nicht im mindesten ermessen konnten. Der Doctor war der Erste, der diesem Gefühle Ausdruck gab, indem er von dem Patienten Erlaubniß zu erhalten versuchte, sich zurückziehen zu dürfen, bis der Brief beendet sei. Der Patient verweigerte ihm diese Erlaubniß.

Dann erhob Mr. Neal mit etwas ernsterem Nachdruck seine Stimme.

»Der Doctor«, begann er, »ist gleich mir in seinem Berufe daran gewöhnt, daß ihm von Andern Geheimnisse anvertraut werden. Doch ist es, ehe ich in der Sache weiter gehe, meine Pflicht, Sie zu fragen, ob Sie wirklich die außerordentliche Stellung begreifen, die wir Ihnen gegenüber einnehmen. Sie haben Mrs. Armadale soeben vor unsern Augen von Ihrem Vertrauen ausgeschlossen, welches Sie doch jetzt zwei Männern anbieten, die Ihnen völlig fremd sind.«

»Ja«, erwiderte Mr. Armadale, »eben weil sie mir fremd sind.« Diese wenigen Worte ließen einen Schluß zu, der nicht eben geeignet war, den Argwohn der beiden Männer zu beschwichtigen. Mr. Neal sprach denselben deutlich in folgenden Worten aus:

»Sie benöthigen dringend meiner und des Doctors Hilfe«, sagte er. »Habe ich Ihre Worte so aufzufassen, daß es Ihnen, solange Sie unseres Beistandes gewiß sind, völlig gleichgültig ist, welchen Eindruck der Schluß Ihrer Mittheilungen auf uns macht?«

»Ja. Ich schone Sie nicht. Ich schone mich selber nicht. Mein Weib aber schone ich.«

»Sie zwingen mich zu einer Schlußfolgerung Sir, die mir als eine sehr bedenkliche erscheint«, entgegnete Mr. Neal. »Falls Sie mir diesen Brief zu Ende zu dictiren verlangen, werden Sie mir, nachdem ich den größeren Theil desselben bereits vorgelesen, auch erlauben, den Rest noch in Gegenwart dieses Herrn als Zeugen vorzulesen.«

»Lesen Sie!«

Voll ernsten Zweifels ließ der Arzt sich wieder auf seinen Sessel nieder; voll ernster Zweifel schlug Mr. Neal das Blatt um und las weiter:

»Ehe ich den Todten ruhen zu lassen vermag, habe ich noch etwas zu berichten. Ich habe erwähnt, wie man seinen Leichnam fand, ohne jedoch der Umstände zu gedenken, unter denen er seinen Tod fand.

Es war bekannt, daß er sich auf dem Verdeck befunden hatte, als man die Mannschaft der Jacht in den beiden Booten dem Wrack zu rudern gesehen; aber in der Verwirrung, die durch die Angst der Mannschaft herbeigeführt ward, hatte man ihn später nicht beachtet. Zu jener Zeit stand das Wasser fünf Fuß hoch in der Kajüte und stieg mit großer Schnelligkeit. Es unterlag wenig Zweifel, daß er freiwillig in jenen vom Wasser erfüllten Raum hinuntergestiegen sei. Denn sowohl die Entdeckung des Schmuckkästchens seiner Gattin, das unter ihm auf dem Fußboden gefunden ward, als auch der Umstand, daß er das Herannahen unserer Rettungsboote bemerkt hatte, machten es vollkommen wahrscheinlich, daß er in die Kajüte hinabgestiegen sei, um einen Versuch zu machen, das Schmuckkästchen zu retten. Weniger wahrscheinlich war es, obgleich immer wohl anzunehmen, daß sein Tod durch irgendeinen Unfall beim Untertauchen herbeigeführt worden sei, der ihm für den Augenblick die Besinnung geraubt. Doch eine Entdeckung, welche von der Mannschaft der Jacht gemacht wurde, wies auf eine deutliche Lösung des Geheimnisses hin und erfüllte die Leute alle mit Entsetzen. Als sie im Verlauf ihrer Nachsuchung an die Kajüte kamen, fanden sie die Springluke verriegelt und die Thür von außen verschlossen. Hatte man die Kajüte zugeschlossen, ohne zu wissen, daß sich Ingleby dort befinde? Allein von dem angsterfüllten Zustande der Mannschaft gänzlich abgesehen, war durchaus kein Grund vorhanden, weshalb irgend Jemand, ehe er das Wrack verließ, die Kajüte hätte verschließen sollen. Deshalb blieb nur noch ein Schluß übrig. Hatte irgendeine mörderische Hand absichtlich den Mann eingeschlossen, damit er in dem schnell steigenden Wasser ertränke?

Ja. Eine mörderische Hand hatte ihn eingeschlossen, um ihn ertrinken zu lassen. Diese Hand war die meinige.«

Der Schotte sprang von seinem Sitze am Tische empor; der Doctor fuhr von dem Bette zurück. Von dem gleichen Abscheu erfüllt, durch dasselbe Grausen erstarrt, blickten beide auf den sterbenden Bösewicht. Dort lag er, mit dem Haupte seines Kindes an seiner Brust; von der Theilnahme der Menschen verlassen, von Gottes Gerechtigkeit verflucht —— dort lag er, in der Vereinsamung eines Kain, und gab ihren Blick zurück.

In demselben Augenblicke, wo die beiden Männer aufstanden, ward die Thür, die in das anstoßende Zimmer führte, heftig von der Außenseite erschüttert, und ein Geräusch, wie das eines schweren Falles, machte sie beide schweigen. Der Doctor, welcher der Thüre zunächst stand, öffnete dieselbe, ging hinaus und schloß sie augenblicklich wieder hinter sich. Mr. Neal wandte dem Bette den Rücken zu und wartete schweigend ab, was sich ereignet hatte. Das Geräusch, welches das Kind nicht aus dem Schlummer geweckt, hatte auch nicht die Aufmerksamkeit des Vaters erregt. Seine eigenen Worte hatten ihn weit von dem hinweg versetzt, was sich an seinem Sterbebette zutrug. Sein hilfloser Körper befand sich wieder aus dem Wrack, und das Gespenst seiner leblosen Hand drehte wieder den Schlüssel in der Kajütenthür um.

Im nächsten Zimmer wurde heftig geschellt —— eifrige Stimmen redeten durch einander, eilige Schritte gingen hin und her —— es vergingen einige Augenblicke, und dann kam der Doctor zurück »Hatte sie gelauscht?« flüsterte Mr. Neal auf Deutsch. »Die Frauen sind beschäftigt, sie zum Bewußtsein zurückzurufen«, erwiderte der Arzt ebenfalls leise. »Sie hat alles gehört. Sagen Sie mir um Gottes willen, was wir zunächst thun sollen?« Ehe es dem Schotten möglich war, zu antworten, erhob Mr. Armadale abermals seine Stimme. Die Rückkehr des Doctors hatte ihn zur Gegenwart zurückgerufen.

»Fahren Sie fort«, sagte er, als wäre nichts vorgefallen.

»Ich mag mich ferner nicht mit Ihrem schändlichen Geheimnisse befassen«, versetzte Mr. Neal »Sie sind Ihrem eigenen Bekenntnisse zufolge ein Mörder. Falls jener Brief beendet werden soll, verlangen Sie wenigstens nicht von mir, daß ich dazu die Feder ansetze!«

»Sie haben mir Ihr Versprechen gegeben«, war die Antwort, die mit derselben unbeweglichen Gelassenheit gesprochen wurde. »Sie müssen entweder für mich schreiben oder Ihr Wort brechen.«

Für den Augenblick war Mr. Neal zum Schweigen gebracht. Dort lag der Mann, durch den Schatten des Todes gegen den Abscheu seiner Mitmenschen geschützt, außer dem Bereiche aller menschlichen Verdammung, außer dem Bereiche aller irdischen Gesetze; nur eines einzigen letzten Entschlusses sich bewußt, des Entschlusses, den Brief an seinen Sohn zu beenden.

Mr. Neal zog den Arzt auf die Seite »Ein Wort«, sagte er auf Deutsch. »Bleiben Sie bei Ihrer Behauptung, daß er die Sprache verlieren kann, bis wir nach Stuttgart zu senden im Stande sind?«

»Sehen Sie seine Lippen an«, erwiderte der Arzt, »und urtheilen Sie dann selbst.«

Die Lippen des Sterbenden beantworteten die Frage; denn eine Verzerrung der Mundwinkel, die kaum bemerkbar gewesen war, als Mr. Neal zuerst ins Zimmer getreten, war jetzt deutlich sichtbar, und seine langsame Articulation ward mit jedem Worte, das er sprach, immer schwerer und mühsamer. Die Lage war eine fürchterliche. Nach einem Augenblicke des Zögerns machte Mr. Neal einen letzten Versuch, sich aus derselben herauszuziehen.

»Können Sie es wagen, mich jetzt, da mir die Augen geöffnet sind, an ein Versprechen zu binden, das ich in Unwissenheit gab?«

»Nein«, erwiderte Mr. Armadale, »ich lasse Ihnen die Freiheit, Ihr Wort zu brechen.«

Der Blick, welcher diese Antwort begleitete, versetzte dem Stolze des Schotten einen empfindlichen Stich. Als er das nächste Mal sprach, geschah dies von seinem Platze am Schreibtische aus.

»Es hat noch kein Mensch von mir sagen können, daß ich je mein Wort gebrochen«, entgegnete er aufgebracht, »und selbst Sie sollen dies jetzt nicht von mir sagen dürfen. Doch vergessen Sie nicht! Wenn Sie mich an mein Versprechen binden, so binde ich Sie an meine Bedingung. Ich habe mir unbedingte Freiheit in meinem Verhalten vorbehalten, und erinnere Sie hiermit daran, daß ich, sobald ich mich von Ihrem Anblicke befreit sehe, nach eigenem Gutdünken Gebrauch von derselben zu machen beabsichtige.«

»Bedenken Sie, daß er im Sterben liegt«, bat der Doktor sanft.

»Kehren Sie auf Ihren Platz zurück, Sir«, sagte Mr. Neal, auf den leeren Sessel deutend. »Ich will das, was mir noch zu lesen bleibt, nur in Ihrer Gegenwart lesen, und was noch zu schreiben ist, nur in Ihrer Gegenwart schreiben Sie haben mich hierher gebracht. Ich habe das Recht, daraus zu bestehen —— und ich bestehe darauf —— daß Sie bis zuletzt als Zeuge dableiben.«

Der Doktor fügte sich, ohne eine Einwendung zu machen, in seine Lage Mr. Neal nahm sein Manuscript wieder auf und las den Rest desselben ohne weitere Unterbrechung bis zu Ende.

»Ich habe, ohne ein Wort zu meiner Entschuldigung vorzubringen, meine Schuld bekannt. Ohne ein Wort zu meiner Vertheidigung zu sagen, will ich jetzt berichten, in welcher Weise das Verbrechen verübt ward.

Kein Gedanke an ihn beschäftigte mich, als ich seine Gattin bewußtlos auf dem Verdeck des Schiffes liegen sah. Ich that das Meinige, um sie sicher in das Boot zu schaffen. Erst nachdem dies geschehen, kam er mir wieder in den Sinn. In der Verwirrung, welche herrschte, während unsre Mannschaft die Leute des Schiffes zwang, ordentlich und der Reihe nach ins Boot zu steigen, fand ich Gelegenheit, unbeachtet nach ihm zu suchen. Nicht wissend, ob er sich mit im ersten Boote befunden oder noch an Bord des Wracks sei, näherte ich mich der Mitte des Verdecks und sah ihn mit leeren Händen und von Wasser triefend die Kajütentreppe herauskommen. Nachdem er, ohne mich zu bemerken, einen schnellen begierigen Blick aus das Boot geworfen, überzeugte er sich, daß ihm noch Zeit bliebe, ehe die Mannschaft abstoßen könne. »Noch einmal!« sprach er zu sich selber und verschwand wieder, um einen letzten Versuch zur Rettung des Schmuckkästchens zu machen. Der Teufel flüsterte mir ins Ohr: »Erschieße ihn nicht, wie einen Mann; ersäufe ihn, wie einen Hund!« Er befand sich unter Wasser, als ich die Springluke verriegelte. Aber sein Kopf tauchte aus der Wasserfläche empor, ehe ich die Kajütenthür verschließen konnte. Er blickte mich an, und ich ihn —— und ich schloß die Thür vor seinen Augen. Im nächsten Augenblick stand ich wieder unter den Wenigen, die noch auf dem Verdeck harrten, und eine Minute später war es zu spät, um zu bereuen; der Sturm drohte uns mit Vernichtung und die Mannschaft ruderte mit aller Gewalt vom Schiffe fort.

Mein Sohn! Ich verfolge Dich aus meinem Grabe mit einem Bekenntnisse, womit meine Liebe Dich gern verschont hätte. Lies weiter, dann wirst Du erfahren warum.

Ich will nichts von meinen Leiden sagen, will Dich nicht um Mitleid für mein Andenken bitten. Während ich dies schreibe, fühle ich eine seltsame Mattigkeit des Herzschlags, ein seltsames Zittern der Hand, welches mich mahnt, zum Schlusse zu eilen. Ich verließ die Insel, ohne zu wagen, das Weib, welches ich in so jammervoller Weise verloren und dem ich ein so schmachvolles Unrecht zugefügt, noch einmal zu sehen. Als ich mich entfernte, lastete der ganze Verdacht, den Ingleby’s Todesart erweckt hatte, auf der Mannschaft des französischen Schiffes. Es konnte keinem derselben ein Beweggrund für diesen Mord untergeschoben werden; aber da sie meistens als geächtete und jedes Verbrechens fähige Missethäter bekannt waren, so fiel der Verdacht auf sie und man unterwarf sie einer gerichtlichen Untersuchung. Erst später hörte ich durch Zufall, daß sich der Verdacht auf mich gelenkt habe. Die Wittwe allein erkannte aus der undeutlichen Beschreibung, die man ihr von dem Fremden machte, welcher sich unter der Mannschaft der Jacht befunden hatte und am Tage nach der That verschwunden war, wer der Mörder gewesen; sie allein wußte auch, warum ihr Gatte gemordet worden sei. Als sie diese Entdeckung machte, hatte sich ein falsches Gerücht von meinem Tode auf der Insel verbreitet, und diesem Gerüchte verdankte ich vielleicht, daß ich von jeder gerichtlichen Verfolgung verschont blieb. Auch war es wohl möglich, da außer Ingleby kein menschliches Auge mich die Kajütenthür hatte verschließen sehen, daß es an hinreichenden Beweismitteln gebrach, um eine Untersuchung zu rechtfertigen; —— vielleicht aber bebte die Wittwe selbst vor Enthüllungen zurück, welche die unvermeidliche Folge einer einzig und allein auf ihren Verdacht begründeten öffentlichen Anklage gegen mich gewesen wären. Doch, wie dem immer sein mochte, das Verbrechen, welches ich ungesehen verübt, ist bis auf diesen Tag unbestraft geblieben.

Ich verließ Madeira in einer Verkleidung und kehrte nach Westindien zurück. Die erste Nachricht, die mich traf, als das Schiff in den Hafen von Barbadoes einlief, war die von dem Tode meiner Mutter. Ich hatte nicht das Herz, zu der alten Heimath zurückzukehren. Die Aussicht, Tag und Nacht von meinem eigenen Schuldbewußtsein gemartert in Einsamkeit zu Hause zu leben, war mehr, als ich den Muth hatte zu ertragen. Ohne zu landen oder mich irgend Jemandem zu erkennen zu geben, reiste ich weiter, so weit, wie ich mit dem Schiffe gehen konnte —— bis nach der Insel Trinidad.

Dort sah ich Deine Mutter zum ersten Male. Es war meine Pflicht, ihr die Wahrheit zu sagen —— und ich bewahrte hinterlistiger Weise mein Geheimniß; es war meine Pflicht, ihr das hoffnungslose Opfer ihrer Freiheit und ihres Glücks für ein Dasein, wie das meinige, zu ersparen —— und ich fügte ihr das Unrecht zu, sie zu heirathen. Sollte sie, wenn Du dies liest, noch am Leben sein, so habe Erbarmen mit ihr und verhehle ihr die Wahrheit. Der einzige Ersatz, den ich ihr zu geben im Stande bin, ist der, daß ich sie bis zuletzt nicht ahnen lasse, welch einen Mann sie geheirathet hat. Habe Mitleid mit ihr, wie ich es ihr bewiesen habe! Laß diesen Brief ein geheiligtes Geheimniß zwischen Vater und Sohn bleiben!

Zu derselben Zeit, da Du geboren wurdest, fing meine Gesundheit zu wanken an. Einige Monate später, in den ersten Tagen meiner Genesung, brachte man Dich zu mir und unterrichtete mich, daß Du während meiner Krankheit getauft worden seist. Deine Mutter hatte gethan, was die meisten liebenden Mütter thun; sie hatte ihrem Erstgeborenen den Namen seines Vaters gegeben. Auch Du hießest Allan Armadale. Selbst damals schon, als ich noch in glücklicher Unwissenheit über das lebte, was ich seitdem erfahren habe, fühlte ich mich von trüben Ahnungen erfüllt, indem ich Dich anblickte und an jenen unglückseligen Namen dachte.

Sobald ich mich hinlänglich erholt hatte, um die Reise zu wagen, ward meine Anwesenheit auf meinen Besitzungen in Barbadoes aufs dringendste verlangt. Es kam mir der Gedanke —— wie unsinnig Dir derselbe auch erscheinen mag —— die Bedingung zu brechen, die mich und meinen Sohn zwang, den Namen Armadale zu führen oder dem Armadale’schen Erbe zu entsagen. Schon damals verbreitete sich das Gerücht von einer beabsichtigten Emancipation der Sklaven —— der Emancipation, die jetzt nahe bevorsteht. Es konnte Niemand sagen, in wie weit der Werth der westindischen Besitzungen von dieser drohenden Veränderung, falls sie in Wirklichkeit stattfände, berührt werden würde. Niemand konnte sagen —— falls ich Dir wieder meinen eigenen väterlichen Namen gäbe und Dich für die Zukunft ohne jegliche andere Versorgung als die meiner eigenen väterlichen Besitzungen ließe —— wie sehr Du etwa eines Tages die reichen Armadale’schen Besitzungen vermissen könntest oder zu welcher künftigen Armuth ich dadurch Dich und Deine Mutter verdammen würde. Bemerke wie ein Verhängniß dem andern folgte; wie Du zu Deinem Taufnamen kamst, und wie Dein Zuname, wider meinen Willen, Dir anhaftete!

Meine Gesundheit hatte sich in meiner Heimath gebessert; doch nur für kurze Zeit. Ich ward wieder krank, und die Aerzte verordneten mir das Klima von Europa. Indem ich England mied —— Du wirst errathen, warum —— reiste ich mit Dir und Deiner Mutter nach Frankreich und von da nach Italien. Dort nahmen wir unsern Aufenthalt; doch es war nutzlos! Der Tod hatte mich einmal gepackt und verfolgte mich, wohin ich auch gehen mochte. Ich ertrug es, denn ich besaß einen Trost, den ich nicht verdiente. Du magst jetzt voll Grausen vor meinem bloßen Andenken zurück beben; in jenen Tagen warst Du mein Trost, das einzige Labsal meines Herzens. Die letzten Lichtschimmer des Glücks, die mir in dieser Welt beschieden waren, waren die, welche mir aus meinem kleinen Sohne entgegen strahlten.

Wir verließen Italien und gingen nach Lausanne, von welchem Orte aus ich jetzt an Dich schreibe. Die heutige Post hat mir über die Wittwe des Gemordeten spätere und ausführlichere Nachrichten gebracht, als ich noch bisher erhalten. Der Brief liegt vor mir, während ich schreibe; er kommt von einem Jugendfreunde, der mit ihr gesprochen und sie zuerst davon unterrichtet hat, daß das Gerücht von meinem Tode in Madeira ein falsches gewesen. Er vermag sich nicht zu erklären, warum die Nachricht, daß ich noch am Leben, verheirathet und Vater eines Sohnes sei, sie in eine heftige Gemüthsbewegung versetzte, und fragt mich daher, ob ich dies zu erklären im Stande bin. Er drückt sich mit großer Theilnahme über sie aus: Ein junges schönes Weib, das sich in der Zurückgezogenheit eines entlegenen Fischerdorfes auf der Küste von Devonshire begräbt, deren Vater todt und deren Familie in unbarmherziger Unzufriedenheit über ihre Heirath ihr entfremdet ist. Seine Worte würden mir das Herz zerrissen haben, wenn nicht der Schluß seines Briefes, sowie ich denselben gelesen, meine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch genommen und mir die Erzählung entrissen hätte, die in diesen Blättern enthalten ist.

Ich weiß jetzt etwas, wovon ich nie die leiseste Ahnung hatte, bis ich seinen Brief erhielt; ich weiß jetzt, daß die Wittwe des Mannes, dessen Tod auf meinem Gewissen lastet, ein nachgeborenes Kind zur Welt gebracht hat. Dieses Kind ist ein Knabe, ein Jahr älter als mein Sohn. In dem sichern Glauben, daß ich todt sei, hat sie dasselbe gethan, was die Mutter meines Sohnes that: Sie hat ihrem Sohne den Namen des Vaters gegeben. Es giebt in der zweiten Generation wie in der ersten zwei Allan Armadale. Nachdem die unglückselige Namensgleichheit so tödtliches Unheil zwischen den Vätern gestiftet, wird sie dasselbe zwischen den Söhnen herbeiführen.

Ein argloses Gemüth sieht in diesem allen vielleicht bis hierher nichts als die Folgen einer Reihe von Ereignissen, die eben zu nichts Anderem führen konnten. Ich aber, der für das Leben jenes Mannes Rede stehen soll; ich, der ich ins Grab hinabsinke, ohne die Strafe meines Verbrechens erlitten oder dasselbe gesühnt zu haben, ich sehe das, was einem schuldlosen Gemüth nicht erkennbar ist. Ich sehe Gefahr für die Zukunft, die in der Gefahr der Vergangenheit wurzelt; Trug, der seinem Trug entsprossen; Verbrechen, welches das Kind meines Verbrechens ist. Ist die Angst, die mich jetzt bis in die Seele erschüttert, ein Gespenst, das sich aus dem Aberglauben eines sterbenden Mannes erhebt? Ich blicke in das Buch, das die ganze Christenheit verehrt, und das Buch sagt mir, daß die Sünde der Väter an den Kindern heimgesucht werden soll. Ich schaue hinaus in die Welt, und erblicke rund um mich her die lebenden Zeugen jener fürchterlichen Wahrheit. Ich sehe, wie die Laster, die den Vater befleckten, auf das Kind vererbt werden und dasselbe ebenso beflecken; ich sehe die Schande, die den Namen des Vaters entehrte, auf das Kind fallen und dasselbe ebenfalls entehren. Ich werfe einen Blick in mein Inneres, und sehe wie mein Verbrechen unter denselben Umständen, unter denen der Same desselben in der Vergangenheit gesäet ward, für die Zukunft reift und in erblicher Befleckung von mir auf meinen Sohn übergeht.«

Mit diesen Zeilen endete das Geschriebene. Hier hatte der Schlag ihn getroffen und die Feder war seiner Hand entsunken.

Er kannte die Stelle; er erinnerte sich der Worte. In dem Augenblicke, wo die Stimme des Lesers schwieg, warf er einen verlangenden Blick auf den Arzt. »Ich habe das, was zunächst folgen soll, in meinem Geiste geordnet«, sagte er mit immer langsamer werdender Articulation »Helfen Sie mir, damit ich es aussprechen kann.«

Der Doctor gab ihm ein Stärkungsmittel ein und deutete Mr. Neal durch ein Zeichen an, er möge ihm Zeit lassen. Nach einer kleinen Weile flackerte die ersterbende Flamme seines Geistes nochmals in seinen Augen auf. Entschlossen mit seiner ihm versagenden Sprache kämpfend, forderte er den Schotten auf, die Feder zu ergreifen, und dictirte dann den Schluß seiner Erzählung, wie ihm sein Gedächtniß denselben darbot, in folgenden Worten:

»Verachte die Ueberzeugung eines Sterbendem wenn Du willst; aber gewähre mir, ich beschwöre Dich auf das feierlichste, eine letzte Bitte! Mein Sohn! Die einzige Hoffnung, die mir noch für Dich bleibt, hängt an einem großen Zweifel, an dem Zweifel, ob wir Herr über unser eigenes Schicksal sind oder nicht. Es ist möglich, daß der freie Wille des Menschen sein Geschick zu bezwingen vermag; es mag sein, daß wir, indem wir alle unfehlbar dem Tode entgegengehen, ebenso unfehlbar nur dem entgegengehen, was dem Tode nicht vorausgeht. Falls dem so ist, so achte, wenn Dir sonst nichts heilig sein sollte, auf die Warnung, die ich Dir aus meinem Grabe zurufe. Laß Dir bis zu Deinem Sterbetage nie eine lebende Seele nahe kommen, die je mittelbar oder unmittelbar mit dem Verbrechen in Verbindung gestanden hat, das Dein Vater beging. Meide die Wittwe des Mannes, den ich getödtet habe, falls sie noch am Leben ist. Meide das Mädchen, dessen gottlose Hand den Pfad zu ihrer Heirath ebnete, falls dieses Mädchen noch in ihrem Dienste ist. Und vor allem meide den Mann, dessen Name auch der Deinige ist. Beleidige Deinen besten Wohlthäter, falls der Einfluß dieses Wohlthäters Euch mit einander in Berührung gebracht hat. Verlasse das Weib, das Dich liebt, falls dieses Weib ein Verbindungsglied zwischen Dir und ihm ist. Verbirg Dich vor ihm unter einem angenommenen Namen. Mögen Gebirge und Meere Dich von ihm trennen. Sei undankbar, sei unversöhnlich; sei, ehe Du mit jenem Manne unter demselben Dache wohnst oder dieselbe Luft athmest, lieber alles, was Deiner besseren Natur am meisten zuwider ist. Laß die beiden Allan Armadale einander nie in dieser Welt begegnen, nie, nie, nie!

Dies ist der Weg, aus dem Du entkommen magst, wenn es überhaupt einen solchen giebt. Wenn Dir Deine Unschuld und Dein Glück werth ist, so schlage diesen Weg fürs ganze Leben ein!

Ich bin zu Ende. Hätte ich von einem gelinderen Mittel als dem dieses Bekenntnisses erwarten können, daß dasselbe Dich bestimmen würde, meinem Willen gemäß zu handeln, so würde ich Dir die Enthüllung erspart haben, welche diese Blätter enthalten. In diesem Augenblicke liegst Du in dem unschuldigen Schlummer eines Kindes an meiner Brust, während die Hand eines Fremden diese Worte für Dich niederschreibt, wie sie meinen Lippen entfahren. Bedenke, wie mächtig meine Ueberzeugung sein muß, wenn ich hier auf meinem Sterbebette den Muth habe, Dein ganzes Leben schon bei seinem Beginne durch den Schatten meines Verbrechens zu trüben. Bedenke dies —— und laß Dich warnen! Bedenke es —— und vergieb mir, wenn Du kannst!«

Dies waren die letzten Worte des Vaters an den Sohn.

Seiner ihm aufgedrungenen Pflicht unerbittlich getreu, legte Mr. Neal die Feder nieder und las die Zeilen, die er soeben geschrieben, laut vor. »Soll noch sonst etwas hinzugefügt werden?« frug er mit seiner mitleidslosen festen Stimme. Es sollte nichts mehr hinzugefügt werden.

Mr. Neal legte das Manuskript zusammen und schloß es in ein Couvert ein, das er mit Mr. Armadale’s Petschaft versiegelte. »Die Adresse?« sagte er mit unbarmherziger Geschäftsförmlichkeit »An Allan Armadale junior«, schrieb er, wie die Worte ihm vom Bette aus dictirt wurden. »Durch Güte des Herrn Godfrey Hammick, in Firma Hammick & Ridge, Lincoln’s-Inn-Fields, London.« Nachdem er die Adresse geschrieben, wartete er und überlegte einen Augenblick. »Soll Ihr Testamentsvollstrecker dies öffnen?« frug er.

»Nein! Er soll es meinem Sohne übergeben, wenn dieser alt genug ist, um es zu verstehen.«

»In dem Falle«, fuhr Mr. Neal mit der trockensten Geschäftsmäßigkeit fort, »will ich ein datiertes Schreiben beifügen, in welchem ich die Worte wiederhole, die Sie soeben gesprochen haben, und die Umstände auseinandersetze, unter denen meine Handschrift in dem Documente erscheint.« Er that dies in den kürzesten und deutlichsten Ausdrücken, las, was er geschrieben, wie das Vorhergehende laut vor, unterschrieb seinen Namen und seine Adresse, und ließ dann den Doctor als Zeugen des ganzen Verfahrens und als ärztliche Autorität in Bezug auf Mr. Armadales derzeitigen Zustand, ebenfalls unterzeichnen. Sobald dies geschehen, legte er alles in ein zweites Couvert, versiegelte dasselbe wie zuvor und adressierte es an Mr. Hammick, indem er »Zu eignen Händen« hinzufügte.

»Bestehen Sie darauf, daß ich dies auf die Post gebe?« frug er, indem er mit dem Briefe in der Hand aufstand.

»Geben Sie ihm Zeit, sich zu besinnen«, sagte der Doctor. »Um des Kindes willen, geben Sie ihm Zeit, sich zu besinnen! Eine Minute mag ihn anders stimmen.«

»Ich will ihm fünf Minuten geben«, erwiderte Mr. Neal, indem er, bis zuletzt unerbittlich gerecht, seine Uhr vor sich auf den Tisch legte.

Sie warteten, indem sie beide aufmerksam Mr. Armadale beobachteten. Die Anzeichen einer mit ihm vorgehenden Veränderung vermehrten sich schnell. Die Bewegung, welche die unausgesetzte geistige Aufregung seinen Gesichtsmuskeln mitgetheilt hatte, fing unter demselben gefährlichen Einflusse sich nach unten zu erstrecken an. Seine bisher regungslosen Hände lagen nicht länger still; sie bewegten sich in jammervollem Ringen auf der Bettdecke. Beim Anblicke dieses warnenden Zeichens wandte der Doctor sich mit einer Gebärde der Unruhe um und winkte Mr. Neal, näher zu kommen» »Legen Sie ihm sofort Ihre Frage vor«, sagte er; »falls Sie fünf Minuten verstreichen lassen, mag es zu spät sein.«

Mr. Neal trat ans Bett. Auch er hatte die Bewegung der Hände wahrgenommen. »Ist das ein schlimmes Zeichen?« frug er.

Der Doktor neigte ernst den Kopf. »Legen Sie ihm ohne Verzug Ihre Frage vor«, wiederholte er, »oder es dürfte zu spät sein.«

Mr. Neal hielt den Brief vor die Augen des Sterbenden. »Wissen Sie, was dies ist?«

»Mein Brief.«

»Bestehen Sie darauf, daß ich denselben auf die Post gebe?«

»Ja!«

Mr. Neal ging mit dem Briefe in der Hand der Thür zu. Der Deutsche folgte ihm ein paar Schritte und öffnete die Lippen, um ihn um ein längeres Verziehen zu bitten, begegnete jedoch dem unerbittlichen Auge des Schotten und trat schweigend wieder zurück. Die Thür schloß sich und schied sie von einander, ohne daß der Eine wie der Andere ein Wort gesprochen.

Der Doctor kehrte an das Bett zurück und flüsterte dem sterbenden Manne zu: »Lassen Sie mich ihn zurückrufen, es ist noch Zeit, ihn zurückzuhalten!« Es war nutzlos Es kam keine Antwort; nichts verrieth ihm, daß er verstanden oder nur gehört worden sei. Die Augen des Sterbenden schweiften von dem Kinde ab, ruhten einen Augenblick auf seinen eigenen zuckenden Händen und blickten dann flehend in das mitleidsvolle Antlitz, das sich über ihn hinbeugte. Der Doctor hob seine Hand auf, wartete einen Augenblick, folgte dem auf das Kind gerichteten sehnsüchtigen Blicke des Vaters und lenkte, den letzten Wunsch desselben verstehend, die Hand sanft nach dem Haupte des Kindes. Die Hand berührte dasselbe und zitterte heftig. Im nächsten Augenblicke ward der Arm von dem Zittern ergriffen, das sich dann dem ganzen Oberkörper mittheilte. Das bleiche Gesicht wurde roth, dann blau, dann wieder bleich. Endlich lagen die zuckenden Hände still und die Farbe wechselte nicht mehr.

Als der Doctor mit dem Kinde im Arm aus dem Sterbezimmer in das nächste Zimmer trat, stand das Fenster dort offen. Er schaute im Vorübergehen hinaus und sah Mr. Neal langsam nach dem Gasthofe zurückkehren.

»Wo ist der Brief?« frug er.

Drei Worte genügten dem Schotten als Antwort: »Auf der Post.«



Kapiteltrenner

Sechstes Kapitel.

An einem warmen Maiabende im Jahre achtzehnhundert einundfünfzig zog Se. Ehrwürden Mr. Decimus Brock, zur Zeit ein Gast in Castletown auf der Insel Man, sich auf sein Schlafzimmer zurück, von einer ernstlichen persönlichen Verantwortlichkeit verfolgt und ohne eine klare Vorstellung von der Art und Weise, wie er sich aus seiner gegenwärtigen Verlegenheit zu ziehen im Stande sein werde.

Der Geistliche hatte dasjenige Stadium des menschlichen Lebens erreicht, wo ein vernünftiger Mann gelernt hat, allen unnützen Kampf gegen tyrannische Sorgen aufzugeben. Er ließ jeden ferneren Versuch, in seiner augenblicklichen Bedrängniß zu einer Entscheidung zu kommen, fahren und setzte sich mit vollkommener Gelassenheit in bloßen Hemdärmeln auf sein Bett nieder, wo er sich zunächst der Betrachtung hingab, ob diese Sorge in der That so ernster Natur sei, wie dieselbe sich ihm bisher dargestellt hatte. Indem Mr. Brock diesen neuen Ausweg aus seinen Verlegenheiten einschlug, sah er sich unerwarteter Weise bald auf einer Wanderung, welche die am wenigsten erheiternde im ganzen menschlichen Leben zu sein pflegt —— auf einer Wanderung durch die Jahre seiner Vergangenheit.

Die Ereignisse dieser Jahre, die alle mit derselben kleinen Gruppe von Charakteren in Verbindung standen und alle mehr oder weniger die Verlegenheit herbeigeführt hatten, die sich jetzt zwischen den Geistlichen und seine Nachtruhe drängte, stiegen eines nach dem andern in regelmäßiger Reihenfolge in Mr. Brocks Erinnerung auf. Das erste derselben führte ihn durch einen Zeitraum von vierzehn Jahren zu seiner Pfarre an der Sommersetshire-Küste des Kanals von Bristol zurück zu einer Privatunterredung mit einer fremden Dame, die ihm einen Besuch machte.

Die Gesichtsfarbe der Dame war zart und ihre Gestalt wohl conservirt; sie war allerdings noch jung, aber ihr Aussehen war jugendlicher, als ihre Jahre hätten erwarten lassen. Es lag ein Schatten von Trauer in ihrem Gesichtsausdrücke und ein leidender Ton in ihrer Stimme, welche bekundeten, daß sie gelitten hatte —— doch nicht genug, um ihren Kummer der Welt aufzubringen. Sie brachte einen hübschen achtjährigen blonden Knaben mit, den sie als ihren Sohn vorstellte und der zu Anfang ihrer Unterredung hinausgeschickt wurde, um sich im Pfarrgarten zu unterhalten. Vor ihrem Eintritt in das Arbeitszimmer des Geistlichen hatte sie ihre Karte abgegeben, und diese Karte meldete sie unter dem Namen »Mrs. Armadale« an. Noch ehe sie die Lippen geöffnet, begann Mr. Brock ein Interesse für sie zu fühlen; und sobald der Sohn entlassen worden, wartete er mit einiger Spannung auf das, was die Mutter ihm mitzutheilen hatte.

Mrs. Armadale machte den Anfang damit, daß sie ihn unterrichtete, sie sei eine Wittwe. Ihr Gatte sei kurz nach ihrer Vermählung auf der Fahrt von Madeira nach Lissabon bei einem Schiffbruche ums Leben gekommen. Nach diesem Verluste sei sie unter dem Schutze ihres Vaters nach England zurückgebracht worden, und ihr Sohn, ein nachgebornes Kind, sei auf dem Familiengut in Norfolk zur Welt gekommen. Der bald darauf erfolgte Tod ihres Vaters habe sie elternlos gemacht und sie der Vernachlässigung und den Mißdeutungen ihrer übrigen Angehörigen, zweier Brüder, ausgesetzt, ja sie fürchte, für den Rest ihres Lebens denselben entfremdet zu sein. Seit einiger Zeit habe sie daher in der benachbarten Grafschaft Devonshire gelebt und sich ganz der Erziehung ihres Knaben gewidmet, der indessen jetzt ein Alter erreicht habe, wo er einer andern Erziehung bedürfe, als die, welche seine Mutter ihm zu geben im Stande sei. Abgesehen von ihrer Abneigung, sich in ihrer jetzigen Vereinsamung von ihm zu trennen, sei ihr ganz besonders daran gelegen, daß er nicht auf eine öffentliche Schule geschickt werde, indem sie Gründe habe zu wünschen, daß er nicht mit Fremden in Berührung komme. Ihr Lieblingsplan gehe dahin, ihn zu Hause zu erziehen und ihn in späteren Jahren vor allen Versuchungen und Gefahren der Welt zu bewahren. Unter diesen Umständen müsse ihr Aufenthalt in ihrem gegenwärtigen Wohnorte, wo ihr die Dienste des Geistlichen als Lehrer für ihren Knaben nicht zu Gebote standen, ein Ende haben. Sie habe Erkundigungen angestellt und von einem Hause in Mr. Brock’s Nachbarschaft gehört, welches ihren Zwecken entsprechen würde; außerdem habe sie erfahren, daß Mr. Brock früher Kostgänger und Schüler bei sich aufzunehmen gepflegt. Im Besitze dieser Auskunft habe sie es gewagt, mit Beweisen ihrer Achtbarkeit versehen, doch ohne ein förmliches Empfehlungsschreiben, sich ihm vorzustellen; sie wünsche Mr. Brock jetzt zu fragen, ob er, falls sie sich in seiner Gegend niederließe, auf irgendeine Weise zu bewegen sein würde, sein Haus abermals einem Zöglinge zu öffnen.

Wäre Mrs. Armadale eine Dame ohne persönliche Reize gewesen oder hätte Mr. Brock die Schutzwehr einer Gattin besessen, so würde die Wittwe ihre Reise wahrscheinlich vergebens unterenommen haben. Doch, wie die Sachen sich jetzt verhielten, prüfte der Pfarrer die Papiere, welche ihre Achtbarkeit verbürgten, und bat sich Bedenkzeit aus. Als dieselbe verstrichen war, that er, was Mrs. Armadale gehofft hatte; er war bereit, seine Schultern mit der Verantwortlichkeit für ihren Sohn zu beladen.

Dies war das erste in der Reihe der Ereignisse, welche mit seiner gegenwärtigen Verlegenheit in Beziehung standen. Dasselbe hatte sich im Jahre achtzehnhundert siebenunddreißig zugetragen. Mr. Brocks Gedächtniß führte ihn dann zu einem Erlebniß, das der Gegenwart näher lag, zu einem Erlebniß aus dem Jahre achtzehnhundert fünfundvierzig.

Der Schauplatz war wieder in dem Fischerdorfe an der Küste von Sommersetshire und die Personen abermals Mrs. Armadale und ihr Sohn. Während der verflossenen acht Jahre war Mr. Brock’s Verantwortlichkeit eine ziemlich leichte gewesen, denn der Knabe hatte seiner Mutter und seinem Lehrer nur wenig Sorge verursacht. Er lernte allerdings langsam, doch lag die Ursache hiervon mehr in einer angeborenen Unfähigkeit, seine Aufmerksamkeit auf seine Arbeit zu ruhten, als in einem Mangel an Fassungsgabe. Sein Temperament —— dies ließ sich nicht leugnen —— war ein im höchsten Grade leichtsinniges; er handelte ganz unbekümmert nach seinen ersten Impulsen und überließ sich blindlings seinen Einfällen. Auf der andern Seite mußte man zu seinen Gunsten zugeben, daß er offen war wie der Tag; es wäre schwer gewesen, irgendwo einen großmüthigeren, liebevolleren, gutherzigeren Knaben zu finden. Eine gewisse Originalität des Charakters und eine natürliche Gesundheit in allen seinen Gefühlen und Neigungen ließ ihn aus den meisten Gefahren, denen das Erziehungssystem seiner Mutter ihn unvermeidlicher Weise aussetzte, unverletzt hervorgehen. Er hatte eine echt englische Vorliebe für das Meer und alles was mit demselben in Beziehung steht; und wie er heranwuchs, ward es fast unmöglich, ihn vom Strande fortzulocken und von den Schiffszimmerhöfen fern zu halten. Im Verlaufe der Zeit ertappte seine Mutter ihn zu ihrem großen Erstaunen und Verdrusse sogar dabei, daß er als Freiwilliger in einem der letzteren arbeitete. Er gestand, daß sein ganzer Ehrgeiz für die Zukunft darin bestehen einst selbst einen solchen Hof zu besitzen, und daß sein gegenwärtiger Zweck dahin gehe, sich selbst ein Boot bauen zu lernen. In der weisen Voraussicht, daß eine solche Beschäftigung während seiner Mußestunden gerade am meisten geeignet sei, den Knaben für den Mangel an Gefährten seines Standes und Alters zu entschädigen, überredete Mr. Brock Mrs. Armadale mit großer Mühe, ihren Sohn hierin gewähren zu lassen. Zur Zeit jenes zweiten Ereignisses im Leben des Geistlichen mit seinem Zöglinge, welches uns jetzt zu erzählen bevorsteht, hatte der junge Armadale lange genug im Hofe des Schiffszimmermanns gelernt, um das Ziel seiner Wünsche erreicht und mit eigener Hand den Kiel seines Bootes gelegt zu haben.

Spät an einem Sommerabende, bald nachdem Allan sein sechszehntes Jahr vollendet, verließ Mr. Brock seinen Zögling bei der Arbeit im Bauhofe und ging, die »Times« in der Hand, um den Abend bei Mrs. Armadale zuzubringen.

Die Jahre, die seit ihrem ersten Begegnen verflossen waren, hatten die Beziehungen zwischen dem Geistlichen und seiner Nachbarin längst geordnet. Die ersten Bewerbungen, zu denen Mr. Brocks Bewunderung für die Wittwe ihn schon in der ersten Zeit ihres Umganges hingerissen hatten, waren von dieser mit einer Bitte um seine Nachsicht aufgenommen worden, welche für die Zukunft seine Lippen geschlossen hatte. Sie hatte ihn ein für allemal überzeugt, daß die einzige Stelle, die er je in ihrem Herzen einzunehmen hoffen dürfe, die eines Freundes sei, und er hatte sie lieb genug, um sich mit dem zu begnügen, was sie ihm zu bieten hatte. So wurden sie Freunde, und blieben Freunde. Das friedliche Verhältniß des Geistlichen zu dem Weibe, das er liebte, ward durch keine eifersüchtige Furcht vor dem Erfolge eines Andern in dem, was ihm selbst mißglückt war, verbittert. Von den wenigen Gentleman, die in der Umgegend wohnhaft waren, ward keiner anders als wie ein bloßer Bekannter von Mrs. Armadale empfangen. Mit der ländlichen Zurückgezogenheit, in die sie sich freiwillig verbannte, vollkommen zufrieden, hatte die Gesellschaft für sie nicht den Reiz, welcher andere Frauen in ihrer Lage und ihrem Alter verlockt haben würde. Mr. Brock und seine Zeitung, die mit einförmiger Regelmäßigkeit dreimal in der Woche an ihrem Theetische erschienen, theilten ihr alles dasjenige mit, was sie von der großen äußeren Welt, welche die Grenzen ihres wechsellosen Lebens umkreiste, zu wissen begehrte.

An dem in Frage stehenden Abende ließ Mr. Brock sich in dem Lehnsessel nieder, in dem er stets dort saß, nahm die eine Tasse Thee an, die er dort jedes Mal trank, und entfaltete die Zeitung, die er Abs. Armadale regelmäßig vorlas, während diese ihm von dem Sofa aus zuhörte. »Gerechter Himmel!« rief der Pfarrer in einer ganz neuen Tonart, als seine Augen auf die erste Seite der Zeitung fielen.

Eine solche Introduction zu der Abendlectüre hatte, soviel Mrs. Armadale sich zu erinnern vermochte, noch niemals stattgefunden. Vor Neugier zitternd blickte sie von ihrem Sofa zu ihm hin und bat ihren ehrwürdigen Freund, ihr eine Erklärung geben zu wollen.

»Kaum kann ich meinen Augen trauen«, sagte Mr. Brock »Hier steht eine Aufforderung an Ihren Sohn, Mrs. Armadale.«

Und er las ohne weitere Vorrede wie folgt: »Falls diese Zeilen Allan Armadale in die Augen fallen, wird er ersucht, sich entweder persönlich oder brieflich mit den Herren Hammick & Ridge, Lincoln’s-Inn-Fields, London, wegen wichtigen Angelegenheiten, die ihn persönlich betreffen, in Verbindung zu setzen. Wenn Jemand die Herrn Hammick & Ridge zu unterrichten im Stande ist, wo die obengenannte Person zu finden, so würden jene Herrn ihm sehr verpflichtet sein. Um jedem Mißverständnisse vorzubeugen, sei bemerkt, daß der vermißte Allan Armadale ein junger Mensch von fünfzehn Jahren ist und daß dieser Aufruf von seiner Familie und seinen Angehörigen erlassen worden ist.«

»Eine andere Familie und andere Angehörige sind gemeint«, sagte Mrs. Armadale »Die in jenem Aufruf beschriebene Person ist nicht mein Sohn.«

Der Ton, in dem sie sprach, überraschte Mr. Brock. Die Veränderung, die er in ihrem Gesichte bemerkte, beunruhigte ihn. Ihre zarte Gesichtsfarbe war einer fahlen Blässe gewichen; ihre Augen wandten sich in einer seltsamen Mischung von Verwirrung und Bestürzung von ihrem Gaste ab; sie sah wenigstens um zehn Jahre älter aus als sie war.

»Es ist ein so ungewöhnlicher Name«, entgegnete Mr. Brock, indem er sich zu entschuldigen suchte, denn er befürchtete, er habe sie beleidigt. »Es schien mir wirklich unmöglich, daß es zwei solche ——«

»Es giebt ihrer in der That zwei«, unterbrach ihn Mrs. Armadale. »Allan ist, wie Sie wissen, sechszehn Jahre alt. Wenn Sie den Ausruf noch ein- mal ansehen wollen, werden Sie finden, daß der darin Beschriebene nur fünfzehn Jahre alt ist. Obgleich er denselben Tauf und Familiennamen führt, ist er doch, Gott sei’s gedankt, in keiner Weise mit meinem Sohne verwandt. So lange ich lebe, wird es der Gegenstand all meiner Hoffnungen und Gebete sein, daß Allan ihn niemals sehen, nie von ihm hören möge. Mein gütiger Freund, ich sehe, daß ich Sie in Erstaunen setze; wollen Sie Nachsicht mit mir haben, wenn ich diese Verhältnisse unerklärt lasse? Mein vergangenes Leben birgt so viel Elend und Kummer, daß es mich schmerzt, davon zu reden, selbst Ihnen gegenüber. Wollen Sie mir, indem Sie nie wieder von dem Gegenstande sprechen, behilflich sein, die Erinnerung an denselben zu ertragen? Wollen Sie noch mehr thun —— wollen Sie mir versprechen, desselben nicht gegen Allan zu erwähnen und ihm jene Zeitung nicht in die Hände fallen zu lassen?«

Mr. Brock gab das von ihm geforderte Versprechen und ließ sie auf das rücksichtsvollste allein.

Der Pfarrer hegte eine zu bewährte und aufrichtige Zuneigung für Mrs. Armadale, um eines unwürdigen Argwohns gegen sie fähig zu sein. Doch würde es überflüssig sein zu leugnen, daß er ihren Mangel an Zutrauen zu ihm tief empfand und daß er die Annonce auf seinem Heimwege wieder und wieder prüfend durchlas. Es war jetzt klar genug, daß der Zweck, den Mrs. Armadale bei ihrer Zurückgezogenheit in einem entlegenen Dorfe im Auge hatte, nicht so sehr darin bestand, ihren Sohn mit eigenen Augen zu überwachen, als vielmehr, ihn davor zu bewahren, daß sein Namensbruder ihn entdecke. Warum fürchtete sie den Gedanken, daß sie einander einst begegnen könnten? Galt die Furcht ihrer eigenen oder der Person ihres Sohnes? Mr. Brock’s aufrichtige Ueberzeugung von der Reinheit seiner Freundin verwarf jede Lösung des Geheimnisses die auf ein früheres Mißverhalten ihrerseits hindeutete und dasselbe mit jenen schmerzlichen Erinnerungen, deren sie erwähnt hatte, oder mit jener Entfremdung von ihren Brüdern in Verbindung brachte, wodurch sie seit Jahren von ihren Verwandten und ihrer Heimath fern gehalten worden war. An jenem Abende vernichtete er mit eigener Hand die Annonce und faßte den Entschluß, den Gegenstand nie wieder in seinem Geiste aufkommen zu lassen. Es gab noch einen Allan Armadale in der Welt, der mit seinem Zöglinge keine Verwandtschaft hatte und ein Umherstreicher war; dieser war es, der in öffentlichen Blättern aufgerufen wurde. » So viel hatte der Zufall ihm verrathen. Mehr verlangte er, um Mrs. Armadale’s willen, nicht zu entdecken —— und mehr wollte er nie zu erfahren suchen.

Dies war das zweite in der Reihe von Ereignissen, die sich aus des Pfarrers Bekanntschaft mit Mrs. Armadale und deren Sohne datierten.



Kapiteltrenner

Siebentes Kapitel.

Mr. Brock’s Gedächtniß wandte sich immer mehr und mehr der Gegenwart zu, und auf der dritten Station seiner Reise durch die Vergangenheit angelangt, hielt es zunächst beim Jahre achtzehnhunderts fünfzig an.

Die fünf Jahre, welche inzwischen verflossen waren, hatten in Allan’s Charakter wenig oder gar keine Veränderung hervorgebracht. Er war eben ganz einfach, um uns des Ausdrucks seines Lehrers zu bedienen, aus einem Knaben von sechzehn ein Knabe von einundzwanzig Jahren geworden, der noch immer so offen und unbefangen und noch immer ebenso gutherzig war und sich unbekümmert seinen Einfällen überließ, wohin dieselben ihn immer führen mochten. Seine Vorliebe für das Meer hatte mit den Jahren zugenommen. Vom Bauen eines Boots war er jetzt so weit vorgeschritten, daß er mit Hilfe zweier Schiffszimmergesellen ein verdecktes Schiff von fünfunddreißig —— Tonnen zu bauen angefangen hatte. Mr. Brock hatte sich auf das gewissenhafteste bemüht, ihn zu höheren Bestrebungen zu leiten; er war mit ihm nach Oxford gegangen, um ihm das Universitätsleben zu zeigen; er war mit ihm nach London gereist, um durch den Anblick der gewaltigen Hauptstadt seinen Gesichtskreis zu erweiteren. Die Abwechselung hatte Allan Unterhaltung gewährt, ihn jedoch nicht im mindesten verändert. Er war so hoch über allen weltlichen Ehrgeiz erhaben wie Diogenes selbst. »Was ist besser«, frug dieser unbewußte Philosoph, »daß man für sich selber entdeckt, wie man am glücklichsten ist, oder daß man Andere versuchen läßt, dies für uns zu entdecken?« Von diesem Augenblicke an unterließ Mr. Brock jeden weiteren Versuch, auf den Charakter seines Zöglings einzuwirken, und Allan widmete sich ununterbrochen dem Bau seiner Jacht.

Die Zeit, welche an dem Sohne so wenig Veränderung hervorgebracht, war an der Mutter nicht so spurlos vorübergegangen. Mrs. Armadales Gesundheit hatte bedeutend zu wanken angefangen, und in dem Grade, wie ihre Kräfte wichen, verschlimmerte sich ihre Laune; sie wurde immer reizbarer, gab sich immer mehr ihren krankhaften Ideen und Befürchtungen hin und war immer schwerer zu bewegen, ihr Schlafzimmer zu verlassen. Seit jene Annonce vor fünf Jahren in der Zeitung erschienen war, hatte sich nichts weiter ereignet, um ihrem Gedächtnisse jene schmerzlichen Umstände wieder aufzudringen, die mit ihrem Jugendleben in Verbindung standen. Es war zwischen ihr und dem Geistlichen kein Wort über den verpönten Gegenstand wieder erwähnt worden. Allan hatte noch immer keine Ahnung von dem Dasein eines Namensbruders; und obgleich sonach Mrs. Armadale nicht den geringsten Grund zu besonderer Besorgniß hatte, so war sie dennoch in den letzteren Jahren unaufhörlich von einer aufreibenden Angst um ihren Sohn erfüllt. Einmal beglückwünschte sie sich über die Vorliebe zum Schiffbau und Segeln, die ihn vor ihren eignen Augen in glücklicher und zufriedener Beschäftigung festhielt, und dann sprach sie wieder mit Grausen von seiner tief eingewurzelten Vorliebe für den falschen Ocean, in dem ihr Gatte den Tod, gefunden. Sie stellte die Langmuth ihres Sohnes bald auf diese, bald auf jene Weise auf die Probe, sodaß Mr. Brock mehr als einmal befürchtete, daß es zu einer ernstlichen Veruneinigung zwischen ihnen kommen werde; doch Allan’s natürliche Sanftmuth, gepaart mit inniger Liebe zu seiner Mutter, trug ihn siegreich durch alle diese Prüfungen hindurch. Kein einziges unfreundliches, hartes Wort entschlüpfte ihm je in ihrer Gegenwart, kein unfreundlicher Blick kränkte sie je; er war bis zuletzt unveränderlich liebevoll und nachsichtig gegen sie.

In diesen Verhältnissen nun standen Sohn, Mutter und Freund zu einander, als sich das nächste bemerkenswerthe Ereigniß in dem Leben dieser Drei zutrug.

An einem düsteren Nachmittage zu Anfange des Monats November ward Mr. Brock durch den Besuch des Gastwirthes aus dem Dorfe in der Abfassung seiner Predigt gestört.

Nachdem der Wirth zunächst seine Entschuldigungen vorgebracht, erzählte er mit ziemlicher Kürze und Klarheit die dringende Angelegenheit, die ihn nach dem Pfarrhause geführt. Vor einigen Stunden hätten ein paar Feldarbeiter einen jungen Mann nach seinem Wirthshause gebracht, der in einem Zustande augenscheinlicher Geisteszerrüttung auf einem der Felder ihres Herrn umhergewandert war. Er, der Wirth, habe dem armen Geschöpfe Obdach gewährt und inzwischen nach ärztlichen Beistande ausgesandt; der Arzt aber habe, sobald er ihn gesehen, erklärt, daß er an einer Gehirnentzündung leide und daß seine Fortschaffung nach der nächsten Stadt, wo es ein Hospital oder Arbeitshaus zu seiner Aufnahme gebe, nicht räthlich erscheine. Nachdem er diesen Ausspruch vernommen und sich überzeugt habe, daß das einzige Gepäck des Fremden in einer Handtasche bestehe, die neben ihm auf dem Felde gefunden worden, habe er sich sofort aus den Weg gemacht, um den Pfarrer um seinen Rath zu ersuchen und ihn zu fragen, welches Verfahren er zunächst in dieser ernstlichen Verlegenheit einschlagen solle.

Mr. Brock war nicht nur der Geistliche, sondern auch zugleich der Magistratsherr des Bezirks, und das zunächst einzuschlagende Verfahren schien ihm klar genug. Er setzte seinen Hut auf und kehrte mit dem Wirthe nach dessen Hause zurück. An der Thür des Wirthshauses trafen sie Allan, der die Nachricht aus anderem Wege erfahren hatte und jetzt Mr. Brocks Ankunft abwartete, um dem Magistratsherrn zu folgen und sich den Fremden anzusehen. In demselben Augenblicke gesellte sich auch der Dorfarzt zu ihnen und die Vier gingen zusammen hinein.

Bei ihrem Eintreten erblickten sie den Sohn des Wirths an der einen, und den Stallknecht an der andern Seite des Mannes, den sie in seinem Sessel festzuhalten bemüht waren. Obgleich jung, schmächtig und unter mittlerer Größe, war er doch in diesem Augenblick stark genug, um den Beiden einige Mühe zu machen, ihn zu halten. Seine gelbliche Gesichtsfarbe, seine großen glänzenden braunen Augen und sein schwarzer Schnurr- und Backenbart gaben ihm ein fremdländisches Aussehen. Seine Kleidung war ein wenig abgetragen, aber seine Wäsche sauber. Seine bräunlichen Hände waren dünn und nervig und trugen an verschiedenen Stellen die gelblichen Narben alter Verletzungen. Die Zehen seines rechten Fußes, von dem er den Schuh abgeschleudert, klammerten sich um das Querholz des Stuhles, und zwar mit einer Kraft, wie man sie nur bei Leuten wahrnimmt, welche barfuß zu gehen gewohnt gewesen. Bei der Wuth, die sich seiner jetzt bemächtigt hatte, war es unmöglich, mehr als dies an ihm zu beobachten. Nach einer leise geführten Berathung mit Mr. Brock ließ der Arzt unter seiner persönlichen Aufsicht den Kranken nach einem ruhigen Schlafzimmer auf der Hinterseite des Hauses bringen. Bald darauf wurden seine Kleider und seine Handtasche hinunter gesandt und in Gegenwart des Magistratsherrn untersucht, um dadurch wo möglich einigen Aufschluß über seine Person und Verhältnisse zu erlangen und seine Angehörigen benachrichtigen zu können.

In der Handtasche befand sich nichts als ein einziger Anzug und zwei Bücher, Sophocles’ Tragödien in griechischen und Goethe’s Faust in deutscher Sprache. Beide Bücher waren durch häufiges Lesen stark mitgenommen, und auf dem ersten weißen Blatte derselben standen die Anfangsbuchstaben O. M. geschrieben. Dies war alles, was die Handtasche verrieth.

Sodann durchsuchte man die Kleider, die der Mann getragen, als er auf dem Felde gesunden worden war. Eine Börse, die einen Sovereign und ein paar Schillinge enthielt, eine Pfeife, ein Tabaksbeutel, ein Taschentuch und ein kleiner Trinkbecher von Horn wurden der Reihe nach zum Vorschein gebracht. Der letzte Gegenstand aber fand sich nachlässig zusammengedrückt in der Brusttasche des Rockes; es war ein geschriebenes Zeugnis datiert und unterzeichnet, doch fehlte die Adresse des Ausstellers. Die Geschichte des Fremden war, soweit dieses Document dieselbe erzählte, in der That eine traurige. Er war, wie es schien, eine kurze Zeit als Unterlehrer an einer Schule angestellt gewesen; da sich aber Spuren einer Krankheit bei ihm gezeigt hatten, von der man befürchtet, daß sie ansteckend sein und somit der Schule Schaden bringen könne, war er in die Welt hinausgestoßen worden. Es wurde ihm in seiner Amtsverwaltung nicht das geringste Mißverhalten zur Last gelegt; im Gegentheil, der Inhaber der Schule bezeugte dem Unterlehrer mit Vergnügen seine Fähigkeit und seine gute Aufführung und drückte seine aufrichtige Hoffnung aus, daß er mit Hilfe der Vorsehung bald in einem andern Hause seine Gesundheit wiederfinden möge.

Das geschriebene Zeugniß, welches ihnen diesen flüchtigen Blick in die Geschichte des Mannes gestattete, leistete zugleich noch einen andern Dienst. Aus diesem Zeugniß nämlich, in Verbindung mit den Anfangsbuchstaben in den Büchern, ersahen der Magistratsherr und der Gastwirth wenigstens so viel, daß der Mann den eigenthümlich häßlichen Namen Ozias Midwinter führe.

Mr. Brock legte das Zeugniß bei Seite; er vermuthete, daß der Schulinhaber absichtlich seine Adresse hinzuzufügen unterlassen, um im Falle des Todes seines Unterlehrers aller Verantwortlichkeit zu entgehen. Jedenfalls war es unter den obwaltenden Umständen offenbar nutzlos, die Angehörigen des unglücklichen Kranken ermitteln zu wollen, falls er deren überhaupt besaß. Er war einmal nach dem Wirthshause gebracht worden, und die Menschlichkeit forderte, daß er vor der Hand dort gelassen werde. Die Kosten konnten, falls das Schlimmste zum Schlimmen kam, vielleicht durch mitdthätige Beiträge der Nachbarn oder durch eine Kirchencollecte nach der Predigt aufgebracht werden. Indem er dem Gastwirthe die Versicherung gab, daß er diesen Theil der Frage in Erwägung ziehen und ihn dann von dem Erfolge unterrichten wolle, verließ Mr. Brock das Wirthshaus, ohne sich in dem Augenblicke daran zu erinnern, daß er seinen Zögling dort zurückgelassen.

Noch ehe er fünfzig Schritte vom Hause entfernt war, holte Allan ihn ein. Dieser war während der ganzen Untersuchung im Wirthshause ungewöhnlich ernst und schweigsam gewesen, doch hatte er jetzt seine ganze natürliche Lebhaftigkeit wiedergefunden. Ein Fremder würde ihn vielleicht eines Mangels an Mitgefühl beschuldigt haben.

»Dies ist eine traurige Geschichte«, begann der Pfarrer. »Ich weiß wirklich nicht, was ich eigentlich für jenen unglücklichen Menschen thun soll«

»Sie dürfen sich darüber vollkommen beruhigen, Sir«, entgegnete der junge Armadale in seiner unbekümmerten Weise. »Ich habe vor einer Minute alles mit dem Wirthe abgemacht.«

»Du!« rief Mr. Brock im höchsten Erstaunen.

»Ich habe ihm bloß einige einfache Instructionen gegeben«, fuhr Allan fort. »Unser Freund, der Unterlehrer, soll mit allem versehen werden, dessen er bedarf, und dazu wie ein Prinz behandelt werden; und wenn der Arzt und der Wirth ihr Geld verlangen, so sollen sie zu mir kommen«

»Mein lieber Allan!« sagte Mr. Brock in sanft vorstellendem Tone. »Wann wirst Du nur lernen zu überlegen, ehe Du Deinen großmüthigen Eingebungen folgst? Du giebst bereits für Deinen Schiffbau mehr Geld aus, als Dir ——«

»Ja, denken Sie nur! Wir haben vorgestern die ersten Planken des Verdecks gelegt«, sagte Allan, in seiner gewohnten leichtfüßigen Manier zu dem neue Gegenstande übergehend. »Es sind gerade genug Planken gelegt, daß man darauf gehen kann, wenn man nicht zum Schwindel geneigt ist. Ich will Ihnen die Leiter hinauf helfen, Mr. Brock, wenn Sie nur mitkommen und es versuchen wollen.«

»Höre mich an«, versetzte der Pfarrer. »Ich rede jetzt nicht von der Jacht. Das heißt, ich erwähne der Jacht bloß als einer Illustration ——«

»Und zwar eine sehr hübsche Illustration«,« bemerkte der unverbesserliche Allan. »Wenn Sie mir in ganz England ein hübscheres kleines Fahrzeug von ihrer Größe finden können, so will ich morgen den Schiffbau für immer aufgeben. Aber, wo waren wir in unserer Unterhaltung, Sir? Ich fürchte fast, wir haben den Faden verloren.«

»Ich fürchte fast, daß einer von uns beiden die Gewohnheit hat, jedes mal den Faden zu verlieren, sobald er die Lippen öffnet«, entgegnete Mr. Brock. »Komm, komm, Allan, dies ist eine ernste Sache. Du hast Dich für Kosten verantwortlich gemacht, die Du vielleicht nicht zu bestreiten im Stande sein magst. Ich bin weit entfernt, das laß Dir gesagt sein, Dich wegen Deines freundlichen Mitgefühls für diesen armen freundlosen Menschen zu tadeln ——«

»Machen Sie sich keine Gedanken um ihn, Sir; er wird schon durchkommen —— in einer Woche oder zweien wird er schon wieder auf den Beinen sein. Ein vortrefflicher Bursche, das bezweifle ich keinen Augenblick. Gesetzt, Sie lüden ihn zu Tische ein, Mr. Brock, sobald er wieder genesen ist? Ich möchte wohl, wenn wir alle Drei gemüthlich und freundschaftlich beim Weine sitzen, wissen Sie, aus ihm herausbekommen, wie er zu seinem unerhörten Namen kam. Ozias Midwinter! Beim Himmel, sein Vater sollte sich schämen!«

»Willst Du mir eine Frage beantworten, ehe ich hineingehe?« sagte der Pfarrer, verzweiflungsvoll vor seinem Gartenpförtchen stillstehend »Die Rechnung dieses Mannes für Logis und ärztliche Behandlung mag sich, ehe er wieder gesund ist —— falls er überhaupt wieder genesen sollte —— auf zwanzig bis dreißig Pfund Sterling belaufen. Wie willst Du dies bezahlen?«

»Wie sagt doch gleich der Großkanzler der Schatzkammer, wenn er mit seinen Rechnungen in eine Klemme gerathen ist, aus der er keinen Ausweg sieht?« frug Allan. »Er unterrichtet seinen ehrenwerthen Freund stets, daß er völlig bereit ist, einen —— wie heißt es gleich ——«

»Einen Rand?« ergänzte Mr. Brock.

»Ganz recht! Ich habe große Aehnlichkeit mit dem Großkanzler der Schatzkammer. Ich bin voll kommen bereit, »einen Rand zu lassen.« Die Jacht, Gott segne sie, verschlingt nicht alles. Falls ich um ein paar Pfund zu kurz komme, so machen Sie sich keine Sorgen, Sir! Ich bin nicht stolz; ich will das Fehlende mit dem Hute in der Hand in der Nachbarschaft sammeln. Der Henker hole die Pfunde, Schillinge und Pence! Ich wollte, sie könnten sich alle drei, gleich den Beduinenbrüdern in der Schaubude, gegenseitig aufessen! Erinnern Sie sich nicht der Beduinenbrüder, Mr. Brock? »Ali wird eine brennende Fackel nehmen und in den Hals seines Bruders Muli hinunterspringen, Muli wird eine brennende Fackel nehmen und in den Hals seines Bruders Hassan hinunterspringen, Hassan aber wird die dritte brennende Fackel nehmen und zum Schlusse der Vorstellung in seinen eignen Hals hinunterspringen und die Zuschauer in totaler finsterenis; zurücklassen!« Vortrefflich das —— das nenne ich echten Witz! Warten Sie einen Augenblick! Wo waren wir gleich? Wir haben abermals den Faden verloren. O, ich erinnere mich —— Geld! Eine Sache«, schloß Allan, der gar nicht daran dachte, daß er einem Geistlichen socialistische Lehren predigte, »eine Sache, die ich mir nicht in meinen dicken Kopf hineinzutrommeln vermag, ist das Aufheben, das stets gemacht wird, wenn Jemand Geld weggiebt. Warum können nicht die Leute, die Geld übrig haben, dasselbe denjenigen geben, die keines übrig haben, und es dadurch in der ganzen Welt hübsch und gemüthlich machen? Sie empfehlen mir stets, Ideen zu kultivieren, Mr. Brock. Da haben Sie eine Idee, und beim Himmel, es scheint mir keine schlechte zu sein«

Mr. Brock stieß seinen Zögling gutmüthig mit seinem Stocke in die Rippen. »Geh zu Deiner Jacht zurück«, sagte er. »Das ganze Bißchen Klugheit, das Du in Deinem leichtsinnigen Kopfe besitzest, ist in Deinem Geschirrkasten an Bord geblieben. —— Wie dies enden soll«, sprach der Pfarrer bei sich, sobald er allein war, »ist mir unbegreiflich. Ich wollte fast, ich hätte nie die Verantwortlichkeit für ihn auf mich genommen.«

Es vergingen drei Wochen, ehe der Fremde mit dem häßlichen Namen sich auf dem Wege der Genesung befand. Während dieses Zeitraumes hatte Allan sich regelmäßig in dem Wirthshause nach seinem Befinden erkundigt, und sobald es dem Kranken gestattet war, Besuche anzunehmen, war Allan der Erste, der an seinem Bette erschien. Bis dahin hatte Mr. Brock’s Zögling ein nicht mehr als natürliches Interesse an einem der wenigen romantischen Ereignisse seines einförmigen Landlebens gezeigt; er hatte keine Unvorsichtigkeit begangen und sich keinerlei Tadel zugezogen. Doch wie die Tage vergingen, wurden die Besuche des jungen Armadale in dem Wirthshause immer länger, und der Arzt, ein vorsichtiger ältlicher Mann, gab dem Pfarrer heimlich einen Wink, daß er sich ins Mittel lege. Mr. Brock folgte diesem Winke augenblicklich und machte die Entdeckung, daß Allan auf seine gewohnte unbekümmerte Weise seinen Eingebungen gefolgt war. Er hatte eine heftige Zuneigung zu dem von der Welt verlassenen Unterlehrer gefaßt und Ozias Midwinter den Vorschlag gemacht, sich unter dem neuen und interessanten Titel seines Busenfreundes für immer in der Nachbarschaft niederzulassen.

Ehe Mr. Brock in dieser Verlegenheit zu einem Entschlusse kommen konnte, erhielt er ein Billet von Allan’s Mutter, in welchem diese ihn bat, von seinem Privilegium als alter Freund Gebrauch zu machen und sie auf ihrem Krankenzimmer zu besuchen. Er fand Mrs. Armadale in einer heftigen nervösen Gemüthsbewegung, die ihr einzig und allein eine kürzlich gehabte Unterredung mit ihrem Sohne verursacht hatte. Allan hatte den ganzen Morgen bei ihr gesessen und von nichts Anderem als seinem neuen Freunde gesprochen. Der Mann mit dem entsetzlichen Namen, wie die arme Mrs. Armadale ihn nannte, hatte Allan auf eine merkwürdig neugierige Weise über ihn selbst und seine Familie ausgefragt, seine eigne Geschichte dagegen vollkommen in Dunkel gehüllt. In seinen früheren Lebensjahren war er ans Meer und ans Umher segeln gewöhnt gewesen. Dies hatte Allan unglücklicherweise entdeckt, und somit hatte sich alsbald ein Anknüpfungspunkt zu seiner Freundschaft gefunden. Mit einem unbarmherzigen Argwohne gegen den Fremden, der Mr. Brock als ziemlich unverständig erschien, flehte Mrs. Armadale den Pfarrer an, ohne einen Augenblick zu verlieren nach dem Wirthshause zu gehen und nicht eher zu ruhen, als bis er den Mann zu einer befriedigenden Auskunft über sich gebracht habe. »Lassen Sie sich alles über seine Eltern mittheilen!« rief sie in ihrer ungestümen Frauenweise »Vergewissern Sie sich, ehe Sie ihn verlassen, daß er kein Vagabond ist, der unter einem angenommenen Namen im Lande umherstreicht.«

»Meine liebe Lady«, erwiderte der Pfarrer, indem er gehorsam seinen Hut aufnahm, »wie sehr wir auch sonst in Ungewißheit über ihn sein mögen, so glaube ich doch wirklich, daß wir uns über den Namen des Mannes keine Zweifel zu machen brauchen. Denn derselbe ist in der That so außerordentlich häßlich, daß er echt sein muß. Kein Mensch würde bei gesundem Verstande einen solchen Namen wie Ozias Midwinter annehmen.«

»Sie haben vielleicht Recht und ich Unrecht; aber ich bitte Sie, gehen Sie zu ihm und schonen Sie ihn nicht, Mr. Brock! Wie können wir wissen, ob er sich nicht zu irgendeinem Zwecke bloß krank gestellt hat?«

Es war unnütz, ihr Vorstellungen zu machen. Der ganze Sanitätsrath hätte die Krankheit des Mannes bezeugen können und doch würde Mrs. Armadale in ihrem gegenwärtigen Gemüthszustande keinem einzigen seiner Mitglieder Glauben geschenkt haben. Mr. Brock schlug daher den verständigsten Weg ein, indem er nichts erwiderte, sondern sofort nach dem Wirthshause ging. Jedermann, der Ozias Midwinter zum ersten Mal sah, wie er sich jetzt von seiner Gehirnentzündung erholte, mußte bei seinem Anblicke zurückschrecken. Sein rasierter Kopf, um den er nachlässig ein altes gelbseidenes Taschentuch geschlungen, seine gelben, eingesunkenen Wangen; seine glänzenden, braunen Augen, die unnatürlich groß und wild erschienen; sein unordentlicher schwarzer Bart; seine langen, sehnigen, gelenkigen Finger, die durch die Krankheit so abgemagert waren, daß sie wie Krallen aussahen —— alles dies zusammen war geeignet, den Pfarrer gleich zu Anfang seines Besuches außer Fassung zu bringen. Als er das erste Gefühl des Erstaunens überwunden hatte, war der zunächst folgende Eindruck kein angenehmer. Mr. Brock konnte sich nicht verhehlen, daß das Wesen dieses Mannes gegen ihn spreche. Man pflegt allgemein anzunehmen, ein ehrlicher Mann gebe sich als solcher dadurch zu erkennen, daß er, wenn er mit seinen Mitmenschen redet, ihnen gerade ins Gesicht blickt. Wenn dieser Mann wirklich ehrlich war, so zeigten seine Augen allerdings einen merkwürdigen Eigensinn, indem sie sich beständig abwandten und ihm dadurch jene Eigenschaft absprachen. Es mochte sein, daß dieselben unter einer nervösen Unruhe litten, die in seiner Organisation lag und sich bis in jede Fiber seines hageren, geschmeidigen Körpers erstreckte. Jede zufällige Bewegung der gelenkigen braunen Finger des Schullehrers und jede flüchtige Verzerrung seines abgezehrten gelben Gesichts verursachte dem Pfarrer in seiner gesunden angelsächsischen Haut einen Schauder. »Gott verzeih mir!« dachte Mr. Brock, im Geiste mit Allan und Allan’s Mutter beschäftigt, »ich wollte, ich sähe ein Mittel, um Mr. Ozias Midwinter wieder in die Welt hinaus zusenden!«

Die Unterhaltung, die zwischen den beiden Männern stattfand, ward mit großer Behutsamkeit geführt. Mr. Brock ging sehr zartfühlend zu Werke, doch sah er sich, er mochte es anfangen wie er wollte, immer auf die höflichste Weise im Dunkeln gelassen. Der Mann wich von Anfang an mit einer wilden Scheu jeder Berührung des Geistlichen aus. Er machte den Anfang mit einer Angabe, der man bei seinem Anblicke unmöglich Glauben schenken konnte —— er behauptete, er sei erst zwanzig Jahre alt. Alles, was in Bezug auf die Schule aus ihm herauszubringen war, beschränkte sich daraus, daß die bloße Erinnerung an dieselbe ihm ein Gräuel sei. Er habe die Stelle eines Unterlehrers nur zehn Tage innegehabt, als die ersten Anzeichen seiner Krankheit ihm seine Entlassung zuzogen. In welcher Weise er in das Feld gelangt sei, wo man ihn gefunden, vermöge er nicht zu sagen. Er erinnere sich, daß er in einer gewissen Absicht, auf die er sich jetzt nicht mehr besinnen könne, eine lange Reise auf der Eisenbahn zurückgelegt habe, und dann —— er wisse nicht, ob den ganzen Tag oder die ganze Nacht der Küste zugewandert sei. Das Meer habe ihm im Sinne gelegen, als sein Verstand zu wanken angefangen. Schon als Knabe sei er auf dem Meere beschäftigt gewesen, habe aber später eine Stelle bei einem Buchhändler in einer Provinzialstadt angenommen. Nachdem er den Buchhändler wieder verlassen, habe er es in einer Schule versucht, und jetzt, da die Schule ihn verstoßen, müsse er etwas Anderes versuchen. Es sei einerlei, sagte er, was er versuche —— es müsse stets früher oder später ein unglückliches Ende nehmen, wofür indessen Niemand zu tadeln sei als er selbst. Freunde, die ihm zu Hilfe kommen könnten, besitze er nicht, und er bitte, ihn zu entschuldigen, wenn er von seinen Verwandten nicht sprechen möge. Er wisse so wenig von ihnen, daß sie immerhin gestorben sein möchten, und ebenso sei er für sie todt. Es lasse sich nicht leugnen, daß dies für einen Menschen in seinem Alter ein trauriges Bekenntniß sei. Dasselbe könne ihm in der Meinung Anderer schaden —— und nehme ohne Zweifel den Herrn, mit dem er sich in diesem Augenblicke zu unterhalten die Ehre habe, gegen ihn ein.

Diese seltsamen Antworten gab er in einem Tone und in einer Manier, die ebenso weit von aller Bitterkeit als von Gleichgültigkeit entfernt waren. Ozias Midwinter sprach in seinem zwanzigsten Jahre von seinem Leben, wie er etwa im siebzigsten hätte sprechen dürfen.

Zwei Umstände sprachen entschieden gegen das blinde Mißtrauen, das Mr. Brock in seiner Unschlüssigkeit gegen ihn hegte. Er hatte nämlich an eine Sparkasse in einem entlegenen Theile von England um sein Geld geschrieben und sodann mit demselben den Arzt und den Gastwirth bezahlt. Ein Mann von niedriger Sinnesart würde, nachdem er in dieser Weise gehandelt und seine Rechnungen bezahlt, seine Verpflichtungen gegen Andere leicht genommen haben. Ozias Midwinter aber sprach von seinen Verpflichtungen —— und namentlich von seinen Verpflichtungen gegen Allan —— mit einer Gluth der Dankbarkeit, die nicht allein überraschend, sondern förmlich peinlich anzuhören war. Er war förmlich erstaunt darüber, daß er in einem christlichen Lande mit der gewöhnlichsten christlichen Barmherzigkeit behandelt worden war, und sprach von der Art und Weise, in der Allan alle Verantwortlichkeit für die Kosten seines Obdachs, seiner Pflege und Wiederherstellung auf sich genommen, mit einem wilden Entzücken von Dankbarkeit und Erstaunen, das wie ein wahrer Blitz aus ihm hervorleuchtete »Gott sei mir gnädig!« rief der von der Welt verstoßene Unterlehrer, »seinesgleichen ist mir niemals vorgekommen; ich habe nie von seinesgleichen gehört!« Im nächsten Augenblicke aber war dieser eine Lichtstrahl, den er auf seine leidenschaftliche Natur hatte fallen lassen, wieder völlig erloschen. Seine unstäten Augen kehrten zu ihrem alten widerwärtigen Spiele zurück und wandten sich unruhig wieder von Mr. Brock ab; auch seine Stimme versank wieder in ihre unnatürliche Sicherheit und Ruhe des Tones. »Ich bitte Sie um Vergebung, Sir«, sagte er, »ich bin gewohnt gewesen, gehetzt und betrogen und ausgehungert zu werden. Alles Andere erscheint mir seltsam.« Halb angezogen, halb abgestoßen von dem Manne, bot Mr. Brock ihm zum Abschied die Hand; allein von einem plötzlichen Zweifel überfallen, zog er sie verlegen wieder zurück »Das war freundlich gemeint«, sagte Ozias Midwinter, seine eigenen Hände schnell entschlossen hinterrücks verschränkend. »Ich beklage mich nicht darüber, daß Sie sich eines Besseren besannen. Ein Mann, der keine befriedigende Auskunft über sich zu geben im Stande ist, ist nicht der Mann, dem ein Herr in Ihrer Stellung die Hand bieten kann.«

Mr. Brock verließ in gründlicher Verwirrung das Wirthshaus. Ehe er zu Mrs. Armadale zurückkehrte, ließ er ihren Sohn zu sich kommen. Es war ja Aussicht vorhanden, daß der Fremde seine Zunge in der Unterhaltung mit Allan nicht so strenge bewacht hatte; und bei Allan’s Offenheit stand es nicht zu befürchten, daß er dem Pfarrer irgendetwas verhehlen werde, das sich zwischen ihm und dem Fremden zugetragen.

Doch auch hier erzielte Mr. Brock’s Diplomatie keine großen Resultate. Sowie die Rede einmal auf Ozias Midwinter gekommen war, schwatzte Allan in seiner gewohnten leichten, unbekümmerten Weise von seinem neuen Freunde in einem Zuge. Doch hatte er wirklich nichts von Wichtigkeit mitzutheilen, denn er selbst hatte nichts Wichtiges erfahren. Sie hatten sich stundenlang vom Schiffbau und vom Segeln unterhalten, und Allan hatte manche nützliche Winke aufgefangen; insbesondere hatten sie sich mit einander über das ernste Ereigniß des bevorstehenden Von-Stapel-laufens der Jacht berathen. Bei andern Gelegenheiten waren sie auf andere Gegenstände abgeschweift, deren Allan sich im Augenblicke nicht zu erinnern vermochte. Aber hatte Midwinter im Flusse dieser freundschaftlichen Unterhaltungen nichts über seine Familie fallen lassen? Nichts, außer daß dieselbe nicht gut gegen ihn gehandelt —— zum Henker mit seiner Familie! War er in Bezug auf seinen eigenthümlichen Namen irgendwie empfindlich? Nicht im geringsten; er war, als ein vernünftiger Bursche, seinem Freunde mit einem guten Beispiele vorangegangen, indem er selbst darüber lachte —— zum Henker mit seinem Namen; derselbe war gut genug, sobald man sich einmal an ihn gewöhnt! Was hatte Allan an ihm gefunden, um eine so große Zuneigung zu ihm zu fassen? Allan hatte das an ihm gefunden, was er an andern Leuten zu finden nicht gewohnt war. Er glich den übrigen jungen Leuten in der Nachbarschaft nicht im mindesten. Alle diese Bursche waren nach demselben Muster zugeschnitten. Jeder Einzelne von ihnen war so gesund, muskulös, geräuschvoll, hartköpfig, reingewaschen und roh wie der Andere; sie tranken alle, Einer wie der Andere, dieselbe Quantität Bier, rauchten den ganzen Tag dieselben kurzen Thonpfeifen, ritten die besten Pferde, nahmen den besten Hund auf die Hühnerjagd und stellten Abends die beste Flasche Wein auf ihren Tisch; jeder Einzelne von ihnen nahm jeden Morgen sein kaltes Bad und rühmte sich dessen an frostigen Wintertagen; jeder von ihnen sah einen herrlichen Scherz im Schuldenmachen und hielt das Wetten bei Pferderennen für eine der verdienstvollsten Handlungen, deren ein menschliches Wesen fähig ist. Sie waren ohne Zweifel auf ihre Weise vortreffliche Leute; aber leider einander alle völlig gleich. Es sei ein wahres Glück, meinte Allan, einen Mann wie Midwinter zu finden, einen Mann, der nicht nach dem einförmigen Muster dieser Gegend zugeschnitten sei und dessen Art und Weise den einen großen Vorzug besaß, seine ihm eigenthümliche zu sein.

Der Pfarrer verschob alle ferneren Vorstellungen bis zu einer passenderen Gelegenheit und kehrte zu Mrs. Armadale zurück. Er konnte sich nicht verhehlen, daß eigentlich Allan’s Mutter diejenige« Person sei, die für Allan’s unkluges Benehmen gegen den Fremden verantwortlich war. Denn hätte der junge Bursche etwas weniger von den kleinen Gutsherrschaften der Umgegend und dafür etwas mehr von der großen Außenwelt in der Heimath und im Auslande gesehen, so würde das Vergnügen, das er in Ozias Midwinters Gesellschaft fand, vielleicht ein geringeres gewesen sein.

In dem Bewußtsein des unbefriedigenden Resultats seines Besuches im Wirthshause war Mr. Brock, als er sich abermals mit Mrs. Armadale allein befand, ein wenig besorgt über die Aufnahme, die sein Bericht finden würde. Seine Ahnungen bestätigten sich bald. Wie er die Sache immer zu beschönigen versuchte, Mrs. Armadale hielt sich an das eine verdächtige Factum, daß der Unterlehrer ein so entschlossenes Schweigen über sich selbst bewahrte —— ein Factum, das sie ihrer Ansicht nach zu den strengsten Maßregeln berechtigte, um ihren Sohn von ihm zu trennen. Für den Fall, daß der Pfarrer sich weigere, sich ferner in die Sache zu mischen, erklärte sie, selbst an Ozias Midwinter schreiben zu wollen. Mr. Brock’s Gegenvorstellungen reizten sie in dem Grade, daß sie ihn durch die Erwähnung jenes verbotenen Gegenstandes überraschte, indem sie ihn an die Unterhaltung erinnerte, die vor fünf Jahren zwischen ihnen stattgefunden hatte, als er jene Annonce in der Zeitung entdeckt gehabt. Sie erklärte mit großer Heftigkeit, daß, was immer dagegen zusprechen scheine, der in der Annonce aufgerufene Landstreicher Armadale vielleicht derselbe Landstreicher sei, der sich jetzt unter dem Namen Ozias Midwinter in der Dorfschenke aufhalte. Der Pfarrer wiederholte vergebens seine Ueberzeugung, daß dieser Name der aller unwahrscheinlichste sei, den ein Mensch, und zumal ein junger Mensch, annehmen würde. Nichts vermochte Mrs. Armadale zu beruhigen, als absolute Ergebung in ihren Willen. Da er die Folgen befürchtete, wenn er sich ihr bei ihrem gegenwärtigen schwachen Gesundheitszustande noch ferner widersetzte und außerdem eine ernstliche Veruneinigung zwischen Mutter und Sohn besorgte, falls Erstere sich persönlich in die Sache mischte, so unterzog Mr. Brock sich der Aufgabe, Midwinter nochmals auszusuchen und ihm ganz offen zu erklären, daß er entweder eine befriedigende Auskunft über sich geben oder seinen vertrauten Umgang mit Allan abbrechen müsse. Die einzigen Gegenbedingungen, die Mr. Brock dafür Mrs. Armadale auferlegte, waren erstens, daß sie geduldig warten solle, bis der Arzt erklärt haben werde, daß der Mann so weit wiederhergestellt sei, um seine Reise fortzusetzen, und zweitens, daß sie den Gegenstand inzwischen in keiner Weise gegen ihren Sohn erwähne.

Nach Verlauf einer Woche war Midwinter wohl genug, um sich von Allan in dem Ponywagen des Wirthshauses ausfahren lassen zu können; und nach zehn Tagen erklärte der Arzt gegen Mr. Brock, daß Midwinter’s Zustand ihm erlaube, weiter zu reisen. An jenem zehnten Tage begegnete Mr. Brock Allan mit seinem neuen Freunde in einer der landeinwärts führenden Allem, wo sie die letzten Strahlen der Wintersonne genossen. Er wartete, bis die Beiden von einander geschieden waren, und folgte dann dem Unterlehrer auf seinem Heimwege nach dem Wirthshause.

Des Pfarrers Entschluß, gerade heraus und ohne Mitleid zu sprechen, war in Gefahr, wankend zu werden, als er dem freundlosen Manne näher kam und sah, wie schwach noch immer sein Gang war, wie lose sein Rock an ihm herabhing und wie schwer er sich auf seinen Stock stützte. In seinem humanen Widerstreben, die entscheidenden Worte zu früh zu sprechen, versuchte Mr. Brock zuerst ein kleines Kompliment über seine ausgedehnten Kenntnisse auf die sich aus den beiden Büchern, dem Bande von Sophocles und dem von Goethe, schließen lasse, welche man in seiner Handtasche gefunden, und frug ihn, wie lange er schon mit der deutschen und der griechischen Sprache vertraut sei. Midwinters feines Ohr entdeckte etwas ungewöhnliches in Mr. Brocks Stimme. Er wandte sich in dem sinkenden Abendlichte um und schaute dem Pfarrer plötzlich mißtrauisch ins Gesicht.

»Sie wünschen mir etwas zu sagen«, erwiderte er, »und es ist etwas Anderes als das, wovon Sie jetzt reden.«

Es blieb Mr. Brock nichts weiter übrig, als auf die Herausforderung einzugehen. Sehr zartfühlend und mit vielen einleitenden Worten, die der Andere mit ununterbrochenem Schweigen anhörte, näherte Mr. Brock sich dem Gegenstande. Doch lange, ehe er denselben erreicht, lange bevor ein Mann von gewöhnlichem Ernpfindungsvermögen etwas von dem Kommenden geahnt haben würde, stand Ozias Midwinter in der Allee still und sagte dem Pfarrer, er brauche nicht weiterzureden.

»Ich verstehe Sie, Sir«, sagte der Schullehrer. Mrs. Armadale hat eine bestimmte Stellung in der Welt; Mr. Armadale hat nichts zu verheimlichen, nichts, dessen er sich zu schämen braucht. Ich stimme mit Ihnen überein, daß ich kein passender Gefährte für ihn bin. Die beste Art und Weise, in der ich ihm für seine Güte gegen mich danken kann, besteht darin, daß ich dieselbe nicht mißbrauche. Sie dürfen sich darauf verlassen, daß ich diesen Ort morgen früh verlassen werde.«

Er sprach kein Wort weiter und wollte kein Wort weiter hören. Mit einer Selbstbeherrschung, die bei seinem Alter und seinem Temperament ans Wunderbare grenzte, nahm er höflich den Hut ab, verbeugte sich und kehrte allein nachdem Wirthshause zurück.

Mr. Brock schlief diese Nacht nur schlecht. Der Erfolg der Unterredung in der Allee hatte das Problem über Ozias Midwinter unlösbarer als je gemacht.

Früh am nächsten Morgen ward dem Pfarrer ein Brief aus dem Wirthshause gebracht und der Bote meldete, daß der fremde Herr abgereist sei. Der Brief enthielt eine unversiegelte Einlage an Allan und ersuchte Allan’s Erzieher, dieselbe, nachdem er selbst sie gelesen, nach seinem eignen Gutdünken entweder an den Adressaten abzugeben oder zu vernichten. Die Einlage war von einer überraschenden Kürze; sie ent hielt nicht mehr als ein Dutzend Worte: »Tadeln Sie Mr. Brock nicht; Mr. Brock hat Recht. Ich danke Ihnen; leben Sie wohl! —— O. M.«

Der Pfarrer beförderte das Billet selbstverständlich an seine Bestimmung und schrieb zugleich ein paar Zeilen an Mrs. Armadale, um sie durch die Nachricht von der Abreise des Schullehrers zu beruhigen. Dann wartete er, nicht eben in besonderer Gemüthsruhe, den Besuch seines Zöglings ab, den dieser ihm nach dem Empfange des Billets höchst wahrscheinlich machen würde. Dem Benehmen Midwinter’s mochte vielleicht ein tieferes Motiv zu Grunde liegen —— vielleicht auch nicht; doch war es unmöglich zu leugnen, daß sein bisheriges Verhalten der Art gewesen sei, um den Argwohn des Pfarrers als unbegründet erscheinen zu lassen und Allan’s gute Meinung von ihm zu rechtfertigen.

Der Morgen verstrich und der junge Armadale ließ sich nicht sehen. Nachdem Mr. Brock ihn vergebens in dem Hofe gesucht, wo der Bau der Jacht vor sich ging, begab er sich nach Mrs. Armadale’s Hause und erfuhr dort von dem Stubenmädchen Dinge, die seine Schritte sofort nach dem Wirthshause lenken. Der Wirth bekannte augenblicklich die Wahrheit; der junge Mr. Armadale sei mit einem offenen Briefe in der Hand zu ihm gekommen und habe darauf bestanden, daß man ihn von dem Wege unterrichte, den sein Freund eingeschlagen. Der junge Herr sei sehr aufgebracht gewesen, und das Stubenmädchen, welches die Gäste bediente, habe einfältiger weise noch eines Umstandes erwähnt, welcher Oel in die Flamme gegossen. Sie habe nämlich erklärt, daß sie gehört, wie Mr. Midwinter nach seiner Heimkehr sich in sein Zimmer eingeschlossen habe und in ein heftiges Weinen ausgebrochen sei. Dieser unbedeutende Umstand habe dem jungen Mr. Armadale die Gluth ins Gesicht getrieben; er habe getobt und geflucht, sei nach dem Stalle gestürzt, habe den Stallknecht gezwungen, ihm ein Pferd zu satteln, und sei im vollen Galopp auf dem Wege davon geritten, den Ozias Midwinter eingeschlagen hatte.

Nachdem Mr. Brock dem Wirth ans Herz gelegt, Allan’s Benehmen geheim zu halten, falls von Mrs. Armadales Dienerschaft Jemand nach dem Wirthshause käme, begab er sich wieder nach Hause und erwartete voll ängstlicher Besorgniß, was der Tag mit sich bringen werde.

Zu seiner unaussprechlichen Erleichterung erschien sein Zögling spät am Nachmittage auf der Pfarrei. Allan verrieth in seinem Gesicht und seiner Stimme eine trotzige Entschlossenheit, die sein alter Freund bisher nie an ihm bemerkt hatte. Ohne Mr. Brocks Frage abzuwarten, erzählte er seine Geschichte in seiner gewohnten offenen Weise. Er hatte Midwinter auf der Landstraße eingeholt und, nachdem er vergebens versucht, zuerst ihn zum Umkehren zu bewegen, und dann, zu erfahren, wohin er gehe, hatte er gedroht, ihn den ganzen Tag begleiten zu wollen, und ihm dadurch das Bekenntniß abgezwungen, daß er sein Glück zunächst in London zu versuchen beabsichtige. Nachdem er einmal soviel erreicht, hatte Allan darauf bestanden, daß sein Freund ihm seine Londoner Adresse mittheile. Dieser hatte ihn angefleht, nicht weiter in ihn zu dringen; allein Allan hatte sich dessen ungeachtet nicht abweisen lassen und endlich seinem Freunde die Adresse dadurch abgetrotzt; daß er an dessen Dankbarkeit appelliert hatte, wofür er ihn später um Verzeihung gebeten, da er sich seines Benehmens sogleich geschämt »Ich habe den armen Burschen lieb und will ihn daher nicht aufgeben«, sagte Allan zum Schlusse, indem er mit geballter Faust auf den Tisch des Pfarrers schlug. »Fürchten Sie nicht, daß ich meiner Mutter Verdruß machen werde; ich überlasse es Ihnen, Mr. Brock, mit ihr darüber zu reden, wann und wie Sie wollen, für jetzt will ich nur noch Eins hinzufügen und der Sache damit ein Ende machen: Die Adresse befindet sich hier in mein Taschenbuch eingetragen, und hier stehe ich, für diesmal fest in einem Entschlusse. Ich will Ihnen und meiner Mutter Zeit geben, sich die Sache zu überlegen; nach Ablauf dieser Frist aber will ich, falls mein Freund Midwinter nicht zu mir kommt, zu meinem Freunde Midwinter gehen!«

Und dabei blieb es für den Augenblick. Dies also war die Folge davon, daß man den unglücklichen Unterlehrer abermals in die Welt hinausgestoßen hatte.



Kapiteltrenner

Achtes Kapitel.

Mr. Brock machte nun in seiner Erinnerung mit schwerem Herzen bei dem nächsten Ereignisse Halt, das für ihn das traurigste- und denkwürdigste in der ganzen Reihe war —— Mrs. Armadales Tod, der im Jahre 1851 erfolgte.

Die nächste Veranlassung zu diesem Unglück glaubte der Pfarrer in folgendem Vorfalle suchen zu müssen, der noch aus dem December des Jahres 1850 datierte und welcher sich von der Zeit an auf das schmerzlichste dem Gedächtnisse des Pfarrers eingeprägt hatte.

Drei Tage nach Midwinter’s Abreise im December ward Mr. Brock im Dorfe von einer ihm völlig fremden, wohl gekleideten Frau angeredet; sie trug ein Kleid und einen Hut von schwarzer Seide und einen gewirkten Shawl. Ohne den dichten Schleier aufzuheben, der über ihr Gesicht herabfiel, frug sie Mr. Brock nach dem Wege zu Mrs. Armadale’s Wohnung. Während er sie berichtete, machte er die Bemerkung, daß sie eine außerordentlich elegante und anmuthige Frau sei, und wie sie sich verbeugte und ihn verließ, schaute er ihr verwundert nach und erging sich in Muthmaßungen darüber, wer wohl diese Besucherin Mrs. Armadale’s sein möge.

Eine Viertelstunde später ging diese Dame, noch immer dicht verschleiert, ganz nahe beim Wirthshause abermals an Mr. Brock vorbei. Sie trat ein und sprach mit der Wirthin. Da Mr. Brock bald darauf den Wirth nach den Ställen eilen sah, frug er ihn, ob die Dame wieder abreise. Ja; sie sei mit dem Omnibus von der Eisenbahnstation gekommen, wolle aber eine anständigere Gelegenheit zur Rückreise benützen und habe daher vom Wirthe einen Wagen gemiethet.

Der Pfarrer setzte seinen Spaziergang fort und war einigermaßen überrascht, daß seine Gedanken sich so neugierig mit einer Frau beschäftigten, die ihm doch völlig fremd war. Als er wieder nach Hause zurück kehrte, fand er dort den Dorfarzt vor, welcher mit einer dringenden Botschaft von Allan’s Mutter auf ihn wartete. Dieser berichtete, vor etwa einer Stunde sei er eiligst zu Mrs. Armadale beschieden worden und habe diese Dame an einem beunruhigenden Nervenanfalle leidend vorgefunden, welcher nach der Vermuthung der Dienerschaft durch einen unerwarteten und vielleicht unwillkommenen Besuch am Vormittage veranlaßt worden sei. Er habe alle nothwendigen Mittel angewandt und befürchte keinerlei gefährliche Folgen. Da seine Patientin, sowie sie sich erholt, den dringenden Wunsch ausgesprochen habe, unverzüglich Mr. Brock zu sehen, so habe er es für angemessen erachtet, diesem Verlangen zu willfahren, und es deshalb übernommen, zu diesem Zwecke auf der Pfarrei vorzusprechen.

Mr. Brock, der ein weit tieferes Interesse für Mrs. Armadale fühlte als der Arzt, las sofort bei seinem Eintreten in ihrem Gesichte deutlich genug, daß ihr Zustand ein solcher sei, um seine augenblickliche ernstliche Besorgniß zu rechtfertigen. Sie gestattete ihm keine Zeit, sie zu besänftigen, noch beachtete sie eine seiner Fragen. Alles was sie verlangte und bei ihm durchzusetzen entschlossen war, war die Beantwortung gewisser Fragen, die sie an ihn richtete: Ob Mr. Brock die Frau gesehen, die sich heute Morgen herausgekommen, sie zu besuchen? Ja! Hatte Allan sie gesehen? Nein; Allan sei seit dem Frühstück bei der Arbeit im Bauhofe gewesen und befinde sich noch immer dort. Diese letztere Antwort schien Mrs. Armadale für den Augenblick zu beruhigen; sie that ihre nächste Frage —— die merkwürdigste von allen dreien —— mit mehr Fassung. Ob der Pfarrer glaube, daß Allan etwas dagegen einzuwenden haben werde, sein Schiff für jetzt zu verlassen und seine Mutter auf einer Reise zu begleiten, um in einem andern Theile von England eine Wohnung zu suchen? Mr. Brock frug im äußersten Erstaunen, welchen Grund sie wohl haben könne, um ihren gegenwärtigen Aufenthalt zu verlassen? Der Grund, den Mrs. Armadale angab, vermehrte nur noch sein Erstaunen. Der Besuch jener Frau könne wiederholt werden, und ehe sie es riskiere, dieselbe noch einmal zu sehen, oder Allan sie sehen zu lassen, wolle sie lieber England verlassen und ihr Leben in einem fremden Lande beschließen. Indem Mr. Brock die Erfahrungen zu Rathe zog, die er in seiner Eigenschaft als Magistratsperson gesammelt, frug er, ob jene Frau gekommen sei, sie um Geld zu bitten. Ja; ungeachtet ihres anständigen Aeußern habe sie erklärt, sie befinde sich in Noth; sie habe um Geld gebeten und dasselbe erhalten; doch das Geld sei Nebensache; die Hauptsache sei, Von hier fortzuziehen, ehe die Frau ihren Besuch wiederholen könne. Immer mehr in Erstaunen gesetzt, wagte Mr. Brock noch eine Frage; ob es nämlich lange her sei, seit Mrs. Armadale und ihr Besuch einander nicht gesehen? Ja, seit Allan’s Geburt; es sei einundzwanzig Jahre her.

Nach dieser Antwort wechselte der Pfarrer seinen Standpunkt, indem er jetzt seine Erfahrungen als Freund zu Rathe zog.

»Steht diese Person etwa mit den schmerzlichen Erinnerungen Ihres Jugendlebens in Verbindung?«

»Ja, mit den schmerzlichen Erinnerungen an die Zeit, wo ich mich verheirathete«, war Mrs. Armadale’s Antwort. »Sie war, fast noch ein Kind, bei einem Vorgange betheiligt, an den ich bis zu meinem Ende nur mit Beschämung und Kummer zu denken vermag.«

Mr. Brock bemerkte den veränderten Ton, in dem seine alte Freundin sprach, und mit welchem Widerstreben sie diese Antwort gab.

»Können Sie mir mehr über sie mittheilen, ohne deshalb Ihrer selbst dabei zu erwähnen?« frug er.

»Ich bin überzeugt, daß ich Sie zu beschützen im Stande bin, wenn Sie mir nur ein wenig behilflich sein wollen. Ihr Name, zum Beispiel —— Sie können mir doch ihren Namen sagen?« Mrs. Armadale schüttelte den Kopf. »Der Name, unter dem sie mir bekannt war, würde Ihnen nichts nützen. Sie war seitdem verheirathet —— dies hat sie mir selbst gesagt.«

»Und ohne Ihnen ihren jetzigen Namen zu sagen?«

»Sie weigerte sich, mir denselben zu nennen.«

»Wissen Sie irgendetwas über ihre Angehörigen?«

»Nur von ihren Angehörigen, die sie als Kind hatte, ihrem Onkel und ihrer Tante Sie waren rohe Leute und ließen sie in der Schule auf dem Gute meines Vaters im Stiche. Wir haben nie wieder von ihnen gehört.«

»Blieb sie unter der Obhut Ihres Vaters?«

»Sie blieb unter meiner Obhut —— das heißt, sie reiste mit uns. Wir verließen eben zu jener Zeit England, um uns nach Madeira einzuschiffen Ich hatte die Erlaubniß meines Vaters, sie mit mir zu nehmen und die elende Person zu meiner Kammerjungfer auszubilden ——«

Bei diesen Worten ward Mrs. Armadale verlegen und hielt inne. Mr. Brock versuchte sanft, sie zum Weiterreden zu bewegen; aber vergebens. Sie erhob sich in heftiger Gemüthsbewegung und ging aufgeregt im Zimmer auf und ab.

»Fragen Sie mich nicht weiter!« rief sie mit lauter, zorniger Stimme aus. »Ich entließ sie, als sie ein Mädchen von zwölf Jahren war, und bis zu diesem Tage habe ich sie nie wieder gesehen, nie wieder von ihr gehört. Ich weiß nicht, auf welche Weise sie mich nach so vielen Jahren entdeckt hat; ich weiß bloß, daß sie mich entdeckt hat. Sie wird sich nun zunächst Allan zu nähern suchen; sie wird das Herz meines Knaben gegen mich einnehmen. Helfen Sie mir, mich ihr zu entziehen! Helfen Sie mir, Allan von hier fortzuführen, ehe sie zurückkehrt!«

Der Pfarrer that keine Fragen weiter, denn es würde grausam gewesen sein, noch ferner in sie zu dringen. Vor allem erschien ihm unerläßlich, daß er sie durch das Versprechen beruhigte, ihr in allem willfahren zu wollen; dann aber, daß er sie bewog, einen andern Arzt zu Rathe zu ziehen. In diesem letzteren Punkte erreichte Mr. Brock ganz harmlos seinen Zweck, indem er sie daran erinnerte, daß sie der Kräfte zum Reisen ermangele, und daß ihr bisheriger Arzt ihr um so schneller zur Genesung werde verhelfen können, wenn ihm der Rath eines andern bewährten Arztes zur Seite stehe. Nachdem er so ihr gewohntes Widerstreben gegen Fremde überwunden, ging der Pfarrer unverzüglich zu Allan, und indem er zartfühlend alles verschwieg was Mrs. Armadale während ihrer Unterredung mit ihm gesagt, unterrichtete er ihn so schonend als möglich, daß seine Mutter ernstlich krank sei. Allan wollte nichts davon hören, daß ein Bote nach dem Arzt abgeschickt werde, sondern fuhr auf der Stelle selbst nach der Eisenbahnstation und sandte eine telegraphische Depesche an einen Arzt in Bristol ab.

Derselbe langte am folgenden Morgen an, und Mr. Brock sah seine schlimmsten Befürchtungen bestätigt. Der Dorfarzt hatte die Krankheit von Anfang an falsch aufgefaßt, und es war jetzt zu spät, um seine Irrthümer in der Behandlung wieder gut zu machen Die Erschwerung, der sie am Tage vorher ausgesetzt gewesen, hatte das Unheil vollständig gemacht. Mrs. Armadale’s Tage waren gezählt.

Der Sohn, der sie so innig liebte, der alte Freund, dem ihr Leben so kostbar war, gaben sich bis zuletzt vergeblichen Hoffnungen hin. Nach Verlauf eines Monats war alle Hoffnung zu Ende, und Allan vergoß die ersten bitteren Tränen an dem Grabe seiner Mutter.

Ihr Ende war ein friedlicheres gewesen, als Mr. Brock zu hoffen gewagt hatte. Sie hatte ihr ganzes kleines Vermögen ihrem Sohne hinterlassen und diesen der Obhut ihres einzigen Freundes aufs Erden empfohlen. Der Pfarrer hatte sie gebeten, ihn an ihre Brüder schreiben zu lassen, um diese zu einer Versöhnung mit ihr zu bewegen, ehe es zu spät sein werde; aber sie hatte ihm hierauf bloß traurig erwidert, es sei schon jetzt zu spät. Nur einmal ließ sie sich in ihrer letzten Krankheit eine Anspielung auf jene frühen Leiden entschlüpfen, die ihr ganzes späteres Leben getrübt und sich bereits dreimal, gleich Schatten des Unglücks, zwischen ihr und dem Pfarrer erhoben hatten. Selbst auf ihrem Sterbelager war sie davor zurückgeschaudert, ein klares Licht auf die Geschichte der Vergangenheit fallen zu lassen. Mit einem Blick auf Allan, der an ihrem Bette kniete, hatte sie Mr. Brock zugeflüstert: »Sorgen Sie, daß ihm sein Namensbruder niemals nahe kommt. Sorgen Sie, daß jene Frau ihn nie entdecke!« Kein Wort weiter entfiel ihr, das mit den Leiden ihrer Vergangenheit in Beziehung stand oder auf die Gefahren hindeutete, die sie für die Zukunft fürchtete. Das Geheimniß, das sie vor ihrem Sohne und ihrem Freunde bewahrt, nahm sie auch mit sich ins Grab.

Sobald ihr die letzten Dienste der Liebe und der Achtung erwiesen waren, fühlte Mr. Brock, daß es seine Pflicht sei, an ihre Brüder zu schreiben und sie von ihrem Tode in Kenntniß zu setzen. Da er mit zwei Männern zu thun zu haben glaubte, die seine Beweggründe zu mißdeuten im Stande seien, falls er Allan’s Lage unerklärt ließe, so trug er Sorge, sie zu erinnern, daß Mrs. Armadale’s Sohn wohlversorgt sei, und daß der einzige Zweck seines Schreibens darin bestehe, sie von dem Ableben ihrer Schwester zu unterrichten. Die beiden Briefe wurden um die Mitte des Monats Januar abgesandt, und die Antworten trafen mit umgehender Post ein. Der erste Brief, den der Pfarrer öffnete, war nicht von dem ältesten Bruder selbst, sondern von dessen einzigem Sohne geschrieben, Der junge Mann hatte vor kurzem bei dem Ableben seines Vaters die Besitzungen in Norfolk angetreten. Er schrieb in einem offenen und freundschaftlichen Tone und versicherte Mr. Brock, daß, wie sehr auch sein Vater gegen Mrs. Armadale eingenommen gewesen, dieses feindselige Gefühl sich doch nie bis auf ihren Sohn erstreckt habe. Was ihn selbst betreffe, so wolle er nur hinzufügen, daß er sich aufrichtig freuen werde, seinen Vetter in Thorpe-Ambrose zu begrüßen, falls derselbe einmal in jene Gegend komme.

Der zweite Brief war ein weit weniger angenehmer als der erste. Der jüngere Bruder war noch am Leben und noch immer entschlossen, weder zu vergessen noch zu vergeben. Er unterrichtete Mr. Brock in Bezug auf seine Schwester, daß die Wahl ihres Gatten und ihr Betragen gegen ihren Vater zur Zeit ihrer Vermählung der Art gewesen sei, daß alle brüderliche Liebe und Achtung für sie von jenem Augenblicke an seinerseits habe aufhören müssen. Bei seinen Ansichten über die Sache würde persönlicher Umgang zwischen ihm und seinem Neffen für beide gleich peinlich sein. »Er habe in möglichst allgemeinen Ausdrücken dieser Veruneinigung zwischen ihm und seiner Schwester Erwähnung gethan, um Mr. Brock zu überzeugen, daß seine persönliche Bekanntschaft mit dem jungen Armadale ein zu zarter Gegenstand sei, um ausführlicher darüber zu sprechen, und somit bitte er um Erlaubniß, dem Briefwechsel seinerseits ein Ende machen zu dürfen.

Wohlweislich vernichtete Mr. Brock diesen zweiten Brief auf der Stelle und zeigte AlIan nur die Einladung seines Vetters vor, wobei er ihm den Vorschlag machte, nach Thorpe-Ambrose zu reisen, sobald er sich in der Stimmung fühle, Fremde zu sehen. Allan hörte den Rath geduldig genug an; doch schlug er es aus, nach demselben zu handeln. »Ich will meinem Vetter, falls ich je mit ihm zusammenkomme, gern die Hand reichen«, sagte er; »doch mag ich keine Familie besuchen und in keinem Hause ein Gast sein, in dem meine Mutter schlecht behandelt worden ist.« Mr. Brock machte ihm sanfte Vorstellungen und versuchte es, ihm die Sache im rechten Lichte zu zeigen. Selbst jetzt, wo er sich noch in Unwissenheit über Ereignisse befand, welche nahe bevorstanden, war Allan’s eigenthümlich verlassene Lage in der Welt ein Gegenstand ernstlicher Sorge für seinen alten Freund und Lehrer. Ein Besuch in Thorpe-Ambrose eröffnete ihm die Aussicht auf Bekanntschaften, die seiner Stellung und seinem Alter angemessen waren und die Mr. Brock deshalb so sehr für ihn wünschte; doch Allan war nicht zu überreden; er war hartnäckig und unvernünftig, und es blieb dem Pfarrer nichts weiter übrig, als den Gegenstand fallen zu lassen.

Es verging eine Woche nach der andern in derselben Einförmigkeit, und Allan zeigte in der Art und Weise, wie er den Verlust seiner Mutter ertrug, nur wenig von der Elasticität seines Alters und Charakters. Er beendete zwar seine Jacht und ließ sie von Stapel laufen; aber seine Arbeiter bemerkten, daß er sein Interesse an dem Werke verloren zu haben schien. Es lag etwas Unnatürliches darin, daß der junge Mann so über seine Verlassenheit und seinen Kummer brütete, wie er es that. Je weiter der Frühling vorschritt, desto unruhiger wurde Mr. Brock über Allan’s Zukunft, wenn derselbe nicht sofort durch eine durchgreifende Veränderung aus seinen gegenwärtigen Verhältnissen herausgerissen würde. Nach langem, reiflichen Ueberlegen beschloß der Pfarrer endlich, eine Reise nach Paris zu versuchen und dieselbe, falls sein Zögling Interesse für das Reisen auf dem Festlande an den Tag legte, nach dem Süden fortzusetzen. Die Art und Weise, in der Allan diesen Vorschlag aufnahm, machte die Hartnäckigkeit, mit der er sich geweigert hatte, die Bekanntschaft seines Vetters zu machen, wieder gut; er war bereit, Mr. Brock zu begleiten, wohin er wolle. Der Pfarrer nahm ihn beim Worte, und um die Mitte des Monats März reisten diese seltsam für einander passenden Gefährten nach London ab.

In London angelangt, sah Mr. Brock sich ganz unerwartet einer neuen Sorge preisgegeben. Jener unwillkommene Gegenstand, welcher seit Anfang December ruhig begraben gelegen, kam wieder ans Tageslicht und stellte sich dem Pfarrer gleich beim Beginn der Reise drohender als je entgegen —— Allan brachte das Gespräch auf Ozias Midwinter.

War Brock’s Stellung in dieser Angelegenheit von vornherein schwierig genug gewesen, so hatte er jetzt alles Terrain verloren. Die Ereignisse hatten sich so gestaltet, daß die Meinungsverschiedenheit zwischen Allan und seiner Mutter in Betreff des Schullehrers in keiner Weise mit der Gemüthsbewegung in Verbindung gebracht werden konnte, welche Mrs. Armadale’s Tod beschleunigt hatte. Allan’s Entschluß, sich kein aufregendes Wort entschlüpfen zu lassen, und Mr. Brocks Widerstreben, einen unangenehmen Gegenstand zur Sprache zu bringen, hatte sie beide während der drei Tage, die zwischen Midwinters Abreise aus dem Dorfe und dem Erscheinen der fremden Frau gelegen, in Gegenwart von Mrs. Armadale völliges Schweigen über jenen Unglücklichen beobachten lassen. Während der zunächst folgenden Zeit der Spannung und des Kummers war jede Erwähnung des Gegenstandes unmöglich gewesen. Von aller Unruhe über diesen Gegenstand frei, hatte Allan sein eigensinniges Interesse für seinen neuen Freund fest bewahrt. Er hatte an Midwinter geschrieben, um ihn von seinem Verluste in Kenntniß zu setzen, und beschloß jetzt, falls sich der Pfarrer dem nicht förmlich entgegenstellte, seinem Freunde einen Besuch zu machen, ehe er am folgenden Morgen nach Paris abreiste. Was sollte Mr. Brock anfangen? Es ließ sich nicht leugnen, daß Midwinter’s Betragen den unbegründeten Argwohn der armen Mrs. Armadale entschieden widerlegt hatte. Wenn also der Pfarrer ohne überzeugende Gründe und ohne ein anderes Recht als dasjenige, welches Allan’s Höflichkeit ihm zugestand, sich diesem Besuche widersetzte, so durfte er dem alten geselligen Verkehr und Vertrauen zwischen Lehrer und Zögling für die Dauer der bevorstehenden Reise nur Lebewohl sagen. Von Schwierigkeiten umringt, die ein weniger gerechter und gutherziger Mann vielleicht hätte überwinden können, willigte Mr. Brock in Allan’s Begehr, indem er sich begnügte, ihm beim Scheiben ein paar warnende Worte zu sagen, und überließ somit Allan der Discretion und Selbstverleugnung Midwinters, von der er doch für seine Person nicht hinlänglich überzeugt war.

Nachdem er während der Abwesenheit seines Zöglings eine Stunde lang in den Straßen umhergegangen war, kehrte der Pfarrer in das Hotel zurück, und da er im Gastzimmer die Zeitung auf dem Tische liegen sah, nahm er dieselbe auf, um sie nachlässig durchzusehen. Sein Auge, welches auf der ersten Seite ruhte, ward augenblicklich durch die allererste Annonce an der Spitze der Spalte gefesselt. Abermals figurirte dort in großen Buchstaben Allan’s geheimnißvoller Namensbruder —— diesmal als Todtgeglaubter und in Verbindung mit einer Belohnung! Die Annonce lautete folgendermaßen:

»An Küster, Kirchendiener, Todtengräber und Andere. Eine Belohnung von zwanzig Pfund Sterling soll demjenigen gezahlt werden, welcher Beweise von dem Tode Allan Armadales beibringen kann, dem einzigen Sohne weiland Allan Armadales aus Barbadoes und im Jahre 1830 aus jener Insel geboren. Alles Weitere ist zu erfahren bei den Herren Hammick und Ridge, Lincoln’s-Inn-Fields, London.«

Obgleich Mr. Brock im Grunde nichts weniger als abergläubisch war, zog doch eine bange Ahnung durch sein Gemüth, als er die Zeitung wieder aus der Hand legte; ein unbestimmter Argwohn bemächtigte sich seiner allmählig, daß alle jene Ereignisse seit dem ersten Erscheinen von Allan’s Namensbruder in der Zeitung auf irgendeine geheimnißvolle Weise mit einander in Verbindung ständen und unaufhaltsam einem unbegreiflichen Ende entgegengingen. Ohne zu wissen warum, fühlte er sich durch Allan’s Abwesenheit beunruhigt, ohne zu wissen warum, wünschte er seinen Zögling aus England fort, ehe sich noch zwischen Nacht und Morgen etwas Verhängnißvolles ereigne.

Indessen eine Stunde später sah sich der Pfarrer durch Allan’s Rückkehr von allen diesen Sorgen befreit. Der junge Mann war ärgerlich und mißmuthig, denn er hatte wohl Midwinter’s Wohnung, aber nicht Midwinter selbst gefunden. Die einzige Auskunft, welche seine Wirthin ihm zu geben vermocht, war die, daß er zu seiner gewohnten Stunde ausgegangen sei, um in der nächsten Restauration zu Mittag zu speisen, ohne indeß zu seiner gewohnten Stunde wieder zurückzukehren. Allan war deshalb nach der Restauration gegangen und hatte sich überzeugt, daß Midwinter dort wohl bekannt sei. Er erfuhr, daß es seine Gewohnheit sei, ein einfaches Mittagessen einzunehmen und dann eine halbe Stunde die Zeitung zu lesen. Auch heute hatte er wie gewöhnlich nach dem Essen die Zeitung zur Hand genommen, dieselbe aber plötzlich wieder niedergeworfen und war von dannen geeilt, Niemand wußte wohin. Da er weiter nichts in Erfahrung zu bringen vermocht, hatte Allan ein Billet in Midwinter’s Wohnung zurückgelassen, in dem er ihm die Adresse des Hotels angegeben und seinen Freund gebeten hatte, ihm vor seiner Abreise nach Paris Lebewohl zu sagen.

Allein der Abend verging und Allan’s Freund blieb unsichtbar, der Morgen kam, und Mr. Brock und sein Zöglings verließen London. So weit hatte das Glück sich für den Pfarrer erklärt. Ozias Midwinter war, nachdem er so aufdringlich zur Oberfläche emporgestiegen, zu gelegener Zeit wieder verschwunden. Was sollte sich wohl zunächst ereignen?



Kapiteltrenner

Neuntes Kapitel.

Indem Mr. Brock die Bilder vergangener Tage an seiner Seele vorüberziehen ließ, langte er endlich bei einem Ereigniß an, welches vom siebenten April datierte und also von dem zuletzt erzählten nur durch einen Zeitraum von drei Wochen geschieden war. Jenes legte, Ereigniß war allem Anscheine nach das letzte Glied in der Kette gewesen, denn das neue Ereigniß hatte weder für ihn noch für Allan irgendwelche wahrnehmbare Beziehung zu den Personen oder Ereignissen der Vergangenheit.

Die Reisenden waren noch nicht weiter als bis Paris gelangt. Mit dem Wechsel der Scene hatte sich Allan’s Stimmung gebessert und er war um so bereitwilliger darauf eingegangen, die neue Welt zu genießen, von der er sich umgeben sah, als er von Midwinter einen Brief mit einer Nachricht erhalten hatte, die selbst Mr. Brock als eine hoffnungsvolle anzuerkennen genöthigt war. Der ehemalige Unterlehrer war in Geschäften abwesend gewesen, als Allan ihn in seiner Wohnung ausgesucht hatte, indem er gerade an demselben Tage durch einen Zufall mit seinen Verwandten in Berührung gebracht worden war. Der Erfolg dieser Zusammenkunft hatte ihn außerordentlich überrascht, denn derselbe hatte ihm für den Rest seines Lebens ein unabhängiges kleines Einkommen gesichert. Seine Pläne für die Zukunft, sagte er, seien jetzt, da ihm dieses unerwartete Glück zugefallen, noch ganz unbestimmt. Wenn aber Allan zu hören wünsche, wofür er sich schließlich entschieden habe, so werde sein Agent in London, dessen Adresse er beischloß, alle Mittheilungen für ihn in Empfang nehmen und Mr. Armadale für die Zukunft stets mit seiner Adresse bekannt machen.

Beim Empfange dieses Briefes hatte Allan sofort in seiner gewohnten hastigen Manier die Feder ergriffen und darauf bestanden, daß Midwinter sich sofort ihm und Mr. Brock auf ihren Reisen anschlösse. Indeß, die letzten drei Tage des Monat März vergingen und es kam keine Antwort auf diesen Vorschlag. Die ersten Apriltage kamen und am siebenten lag endlich ein Brief für Allan auf dem Frühstückstische. Er ergriff denselben, betrachtete die Aufschrift und warf ihn ärgerlich wieder weg. Es war nicht Midwinter’s Handschrift. Allan beendete sein Frühstück, ehe ihm daran gelegen war zu lesen, was sein Correspondent zu sagen habe.

Als das Mahl vorüber war, öffnete der junge Armadale mit träger Hand den Brief und begann ihn mit einer Miene der äußersten Gleichgültigkeit zu lesen; am Ende angelangt, sprang er jedoch mit einem lauten Ausrufe des Erstaunens plötzlich von seinem Stuhle auf. Ueber dieses merkwürdige Benehmen im höchsten Grade verwundert, griff Mr. Brock zu dem Briefe, welchen Allan ihm über den Tisch zugeschoben hatte. Ehe er denselben noch zu Ende gelesen, sanken seine Hände aus seine Knie herab und die verblüffte Miene seines Zöglings spiegelte sich auf das genaueste in seinem eigenen Gesichte wieder.

Wenn je zwei Männer guten Grund hatten, alle Fassung zu verlieren, so waren es Allan und der Pfarrer. Der Brief, der sie beide in das gleiche Erstaunen versetzte, enthielt unbestreitbar eine Nachricht, die auf den ersten Blick unglaublich schien. Sie kam von Norfolk und war folgenden Inhalts. In einem Zeitraume von wenig mehr als einer Woche hatte der Tod nicht weniger als drei Menschenleben in Thorpe-Ambrose dahingerafft —— und Allan Armadale war in diesem Augenblicke der Erbe eines Besitzthums von achttausend Pfund jährlicher Renten!

Ein zweites Durchlesen des Briefes klärte den Pfarrer und seinen Gefährten über die Einzelheiten auf, die ihnen in der ersten Aufregung entgangen waren. Der Schreiber des Briefes war der Familienanwalt zu Thorpe-Ambrose. Nachdem er Allan davon unterrichtet, daß sein Vetter Arthur im fünfundzwanzigsten, sein Onkel Henry im achtundvierzigsten und sein Vetter John im einundzwanzigsten Lebensjahre gestorben seien, gab der Advokat ihm einen kurzen Auszug aus dem Testament des älteren Mr. Blanchard. Die männlichen Erben waren, wie gewöhnlich unter solchen Verhältnissen, den weiblichen vorgezogen. In erster Linie waren Arthur und dessen männliche Nachkommenschaft, eventuell aber Henry und dessen männliche Nachkommen, beziehentlich die männliche Nachkommenschaft von Henry’s Schwester als Erben eingesetzt, und in Ermangelung solcher Erben sollte die Besitzung an den nächsten männlichen Erben übergehen. Allein das Schicksal hatte es gewollt, daß die beiden jungen Leute, Arthur und John, unvermählt, und Henry Blanchard mit Hinterlassung einer einzigen Tochter gestorben war. Unter diesen Umständen war Allan der in dem Testamente bezeichnete nächste männliche Erbe und somit jetzt der rechtmäßige Eigenthümer der Besitzungen von Thorpe-Ambrose. Nachdem der Rechtsanwalt diese erstaunliche Nachricht gemeldet, bat er, daß Mr. Armadale ihn mit seinen Instructionen beehren wolle, und fügte zum Schlusse hinzu, daß es ihm Vergnügen machen werde, jede fernere Auskunft zu geben, die man etwa noch wünsche.

Es war unnütz, die Zeit mit Verwunderung über ein Ereigniß zu verlieren, das weder Allan noch seine Mutter je im geringsten für möglich gehalten hatten. Das Einzige, was sofort geschehen mußte, war, nach England zurückzukehren. Am folgenden Tage befanden unsere Reisenden sich abermals in ihrem Hotel in London, und am Tage darauf war die Sache zuverlässigen juristischen Händen übergeben. Es erfolgte das bei solchen Gelegenheiten unvermeidliche Hin- und Herschreiben und Berathschlagen, bis endlich alle einschlagenden Thatsachen festgestellt waren.

Die seltsame Geschichte der drei Todesfälle war folgende:

Zur Zeit, wo Mr. Brock an Mrs. Armadale’s Verwandte geschrieben, um ihnen den Tod ihrer Schwester zu melden, also in der Mitte des Januar, bestand die Familie zu Thorpe-Ambrose aus fünf Personen: Arthur Blanchard, dem Besitzer der Güter, welcher mit seiner Mutter in dem großen Hause lebte, und Henry Blanchard, dem Onkel, der als Wittwer mit zwei Kindern, einem Sohne und einer Tochter, sich in der Nachbarschaft aufhielt. Um die Familienbande noch fester zu knüpfen, hatte sich Arthur Blanchard mit seiner Cousine verlobt. Die Hochzeit hatte im nächsten Sommer, wo die junge Dame ihr zwanzigstes Jahr zurücklegte, mit großen öffentlichen Festlichkeiten gefeiert werden sollen.

Der Monat Februar aber hatte Veränderungen in der Familie herbeigeführt. Mr. Henry Blanchard hatte bemerkt, daß die Gesundheit seines Sohnes zu wanken beginne, weshalb er Norfolk verlassen und ärztlichem Rathe zufolge den jungen Mann mit sich genommen hatte, um das Klima von Italien zu versuchen.

Anfangs März hatte Arthur Blanchard ebenfalls, doch nur auf ein paar Tage, Thorpe-Ambrose verlassen, da seine Geschäfte seine Anwesenheit in London erforderten. Diese Geschäfte führten ihn nach der City. Da die ewigen Hindernisse in den Straßen auf dem Wege dorthin ihn aber langweilten, kehrte er in einem der Flußdampfboote nach dem Westende zurück; allein unterwegs trug sich Etwas zu, das seinen Tod zur Folge hatte.

Als nämlich das Dampfboot von der Brücke abstieß, bemerkte er neben sich eine Frau, die beim Besteigen des Schiffes sich durch ein merkwürdiges Zögern bemerklich gemacht hatte und die letzte Person gewesen war, die ihren Platz auf dem Schiffe eingenommen. Sie war sauber in schwarze Seide gekleidet, trug einen gewirkten Shawl und verbarg ihr Gesicht hinter einem dichten Schleier. Arthur Blanchard war von der seltenen Eleganz und Anmuth ihrer Gestalt frappiert und fühlte die flüchtige Neugier eines jungen Mannes, ihr Gesicht zu sehen. Doch sie hob weder ihren Schleier auf, noch wandte sie den Kopf nach seiner Seite um. Nachdem sie ein paarmal zögernd auf dem Verdeck hin und her gegangen war, begab sie sich plötzlich nach dem Hintertheile des Schiffes. Eine Minute später erscholl ein Schreckensruf von dem Mann am Steuer, und die Dampfmaschinen wurden augenblicklich zum Stehen gebracht. Jene Frau war über Bord gesprungen.

Die Passagiere stürzten alle an den Schiffsrand, um ins Wasser zu schauen; Arthur Blanchard allein sprang, ohne eine Sekunde zu zögern, in den Fluß. Er war ein vortrefflicher Schwimmer und erreichte die Frau, als sie nach dem ersten Sinken wieder an die Oberfläche kam. Hilfe war zur Hand und sie wurden beide sicher ans Ufer geschafft. Die Frau ward nach der nächsten Polizeistation gebracht und erlangte bald ihr Bewußtsein wieder; ihr Retter aber gab, wie dies bei solchen Fällen üblich ist, dem Wache habenden Inspector seinen Namen und seine Adresse an, und dieser empfahl ihm, sofort ein warmes Bad zu nehmen und sich trockene Kleider aus seiner Wohnung holen zu lassen. Arthur Blanchard, der seit seiner Kindheit nie eine Stunde krank gewesen, lachte über den Rath und kehrte in einem Fiaker zurück. Allein am folgenden Tage war er bereits zu krank, um der Untersuchung vor Gericht beizuwohnen, und vierzehn Tage darauf war er todt.

Die Nachricht von diesem Unglücke erreichte Henry Blanchard und seinen Sohn in Mailand; binnen einer Stunde nach Empfang derselben befanden sie sich auf dem Heimwege nach England. Der Schnee auf den Alpen war in diesem Jahre früher als gewöhnlich von der Sonne erweicht worden, und es war bekannt, daß die Pässe im höchsten Grade gefährlich seien. Vater und Sohn, die in ihrer eignen Equipage reisten, begegneten auf dem Gebirge der umkehrenden Post, welche die Briefe durch Fußboten weiter gesandt hatte. Warnungen, die unter gewöhnlichen Umständen ihre Wirkung geübt haben würden, wurden jetzt von den beiden Engländern unbeachtet gelassen. Ihre Ungeduld, nach dem Unglücke, das ihre Familie getroffen, wieder zu Hause zu sein, wollte sich keinem Verzuge fügen, und die reichen Belohnungen, die sie den Postillons versprachen, verlockten diese, die Reise fortzusetzen. Der Wagen fuhr weiter und war bald im Nebel verschwunden. Derselbe ward erst wiedergesehen, als er aus der Tiefe eines Abgrundes hervor gegraben wurde, wo eine Lavine ihn ereilt hatte; Menschen, Pferde, Equipage lagen in einer entsetzlichen Masse da.

In dieser Weise waren die drei Menschenleben vom Tode dahingerafft worden. Und so hatte der selbstmörderische Sprung, den eine Frau in den Fluß gethan, Allan Armadale zu dem Besitze der Güter von Thorpe-Ambrose verholfen.

Wer war jene Frau? Der Mann, der ihr das Leben rettete, erfuhr es nie. Der Richter, der sie zurückschickte, der Kaplan, der sie ermahnte, der Zeitungsberichterstatter, der ihr Bild in der Zeitung brachte —— sie alle erfuhren es nie. Es ward mit Verwunderung von ihr gemeldet, daß sie, obgleich wohlgekleidet, sich in Noth zu befinden vorgegeben. Obgleich sie die tiefste Zerknirschung gezeigt, hatte sie doch einen Namen als den ihrigen angegeben, der augenscheinlich ein falscher war; sie hatte ferner eine alltägliche Geschichte über sich erzählt, die ebenso offenbar eine Erfindung war, und endlich hatte sie jeden Aufschluß über ihre Angehörigen verweigert. Eine Dame, die zu einer Mildthätigkeitsanstalt gehörte, hatte, durch ihre außerordentliche Eleganz und Schönheit für sie eingenommen, sich erboten, sie unter ihren Schutz zu nehmen und zu einer besseren Sinnesart zu bringen. Allein die Erfahrung, die man am ersten Tage mit der reuigen Sünderin gemacht hatte, war nichts weniger als ermuthigend, und die des zweiten entscheidend gewesen. Sie hatte die Anstalt heimlich verlassen, und obgleich der Geistliche derselben, der ein besonderes Interesse an dem Falle genommen, alles Mögliche aufbot, um sie wieder aufzufinden, so waren seine Bemühungen doch völlig erfolglos geblieben.

Während diese nutzlose Untersuchung, die auf Allan’s ausdrückliches Verlangen angestellt ward, vor sich ging, hatten die Rechtsanwälte die vorläufigen Formalitäten in Bezug auf den Antritt der Erbschaft zum Abschluß gebracht. Es blieb jetzt nichts weiter zu thun übrig, als daß der neue Herr von Thorpe-Ambrose bestimmte, wann er sich persönlich auf dem Gute niederlassen wolle, dessen rechtmäßiger Besitzer er jetzt geworden war.

Da er in dieser Angelegenheit nothwendigerweise seiner eigenen Führung überlassen war, entschied Allan nach seiner gewohnten übereilten, großmüthigen Weise über dieselbe. Er weigerte sich entschieden, Besitz zu nehmen, ehe Mrs. Blanchard und ihre Nichte, denen es bisher aus Höflichkeitsrücksichten gestattet gewesen war, in ihrem alten Hause zu verweilen, sich von dem Schlage erholt haben würden, der sie getroffen, und sich wieder in der Stimmung befanden, ihre Pläne für die Zukunft festzustellen. Dieser Erklärung Allan’s folgte eine Privatcorrespondenz in der er unumschränkte Anerbietungen über alles machte, was er zu geben hatte, während die Damen unter Ausdrücken bescheidenen Widerstrebens ihre Bereitwilligkeit zu erkennen gaben, von der Großmuth des jungen Herrn in Bezug auf die ihnen gestattete Frist Gebrauch zu machen. Zum Erstaunen seiner Rechtsanwälte trat Allan eines Morgens mit Mr. Brock in ihr Geschäftszimmer und verkündete ihnen mit vollkommener Gelassenheit, daß die Damen die Güte gehabt, ihm seine eigenen Angelegenheiten aus den Händen zu nehmen und daß er um ihrer Bequemlichkeit willen seine Besitznahme von Thorpe-Ambrose auf zwei Monate zu verschieben beabsichtige. Die Advokaten starrten Allan an —— und Allan in Erwiderung ihres Compliments die Advokaten.

»Was in aller Welt versetzt Sie so in Erstaunen, meine Herren?« frug Allan mit kindlicher Verwunderung in seinen gutmüthigen blauen Augen. »Warum sollte ich den Damen nicht die zwei Monate gestatten, wenn sie derselben bedürfen? Lassen Sie doch den armen Wesen Zeit! Meine Rechte? Und meine Stellung? O, bah, bah! Ich habe keine so große Eile, den Gutsherrn zu spielen —— dies ist gar nicht nach meinem Geschmack. Was ich während der zwei Monate zu thun beabsichtige? Was ich in jedem Falle gethan haben würde —— ob nun die Damen geblieben wären oder nicht: Ich beabsichtige, auf dem Wasser umherzusegeln. Das ist mein Vergnügen! Ich habe eine neue Jacht zu Hause in Sommersetshire. Und ich will Ihnen Etwas sagen, Sir,« fuhr Allan fort, indem er in der Wärme seiner freundschaftlichen Gesinnungen das Haupt der Firma beim Arme faßte, »Sie sehen mir aus, als ob Sie etwas frische Seeluft recht gut gebrauchen könnten, und sollen mich deshalb auf meiner ersten Fahrt in meiner neuen Jacht begleiten. Und Ihre Compagnons ebenfalls. Und der Oberclerk, der der beste Bursch ist, den ich je in meinem ganzen Leben kennen gelernt, soll auch mitkommen. Ich habe Raum genug —— wir wollen alle auf dem Kajütenboden schlafen und Mr. Brock soll eine wollene Decke auf dem Tische haben. Thorpe-Ambrose mag der Henker holen! Wollen Sie etwa behaupten, daß Sie, wenn Sie sich selbst ein Schiff gebaut hätten, wie ich es gethan habe, irgendein Landgut in den drei Königreichen beziehen würden, während Ihr eigenes Kleinod wie eine Ente daheim auf dem Wasser schwimmt und wartet, bis Sie zu ihm kommen und eine Probe mit ihm machen. Ihr Herren Rechtsgelehrten seid groß im Argumentiren. Wie gefällt Ihnen dies Argument? Mir scheint es unwiderlegbar —— und morgen reife ich nach Sommersetshire.«

Mit diesen Worten stürzte der neue Besitzer von achttausend Pfund jährlichen Renten in das Zimmer des Oberclerk und lud denselben zu einer Fahrt auf hoher See ein, und zwar indem er ihm einen Schlag auf die Schulter versetzte, welcher von den Prinzipalen im nächsten Zimmer deutlich gehört ward. Die Herren von der Firma schauten Mr. Brock mit fragender Verwunderung an. Ein Client, der eine Stellung unter den vornehmen Gutsbesitzern von England seiner harren sah und durchaus keine Eile hatte, dieselbe bei der allerersten Gelegenheit anzutreten, war ein Client, wie er ihnen bisher noch nicht vorgekommen war.

»Er muß eine sehr sonderbare Erziehung genossen haben,« sagten die Rechtsgelehrten zu dem Pfarrer.

»Eine sehr sonderbare«, bestätigte der Pfarrer.

Ein letzter Sprung von einem Monate brachte Mr. Brock zu dem gegenwärtigen Augenblicke —— nach dem Schlafzimmer in Castletown, in dem er dasaß und überlegte, und zu der Sorge, die sich so hartnäckig zwischen ihn und seine Nachtruhe drängte. Diese Sorge war nicht erst seit gestern ein Feind der Gemüthsruhe des Pfarrers, vielmehr hatte sie ihn schon vor sechs Monaten in Sommersetshire das erste Mal heimgesucht und war ihm jetzt nach der Insel Man gefolgt, und zwar in der hartnäckig aufdringlichen Gestalt von Ozias Midwinter.

Die Veränderung in Allan’s Aussichten hatte seiner eigensinnigen Zuneigung zu dem Ausgestoßenen in der Dorfschenke keinen Abbruch gethan. Inmitten der Consultationen mit seinen Advokaten hatte er Zeit gesunden, Midwinter zu besuchen; und auf der Rückreise nach Sommersetshire, siehe, da saß auch Allan’s Freund im Wagen, ihn und den Pfarrer auf Allan’s Einladung zu begleiten. Auf dem rasierten Schädel des ehemaligen Schullehrers war wieder frisches Haar gewachsen und seine Kleider zeigten den verschönernden Einfluß vermehrter Mittel; doch in jeder andern Beziehung war der Mann unverändert. Er begegnete Mr. Brocks Mißtrauen mit der alten geduldigen Ergebung in dasselbe; er bewahrte noch immer dasselbe verdächtige Schweigen in Bezug auf seine Familie und sein früheres Leben; er sprach von Allan’s Güte gegen ihn mit derselben unbändigen Gluth der Dankbarkeit und des Erstaunens. Ich habe gethan, was ich konnte, Sir«, sagte er zu Mr. Brock, während Allan im Waggon eingeschlafen war. »Ich bin Mr. Armadale aus dem Wege gegangen und habe sogar seine beiden letzten Briefe an mich unbeantwortet gelassen. Mehr als das zu thun bin ich außer Stande. Ich verlange nicht, daß Sie aus meine eignen Gefühle gegen das einzige menschliche Wesen Rücksicht nehmen, welches mich nie beargwöhnt und niemals mißhandelt hat. Meinen eignen Gefühlen kann ich widerstehen; doch nicht dem jungen Herrn selber. Es giebt in der ganzen Welt keinen Menschen, der ihm gleich wäre. Wenn wir wieder von einander geschieden werden sollen, so muß dies von ihm selbst ausgehen, oder von Ihnen —— nicht von mir. —— Der Herr des Hundes hat gepfiffen«, sagte dieser seltsame Mensch in einem momentanen Ausbruche der in ihm schlummernden Leidenschaftlichkeit, und indem ihm plötzlich die zornigen Thränen in die wilden braunen Augen stiegen, »und es ist hart, Sir, den Hund dafür zu tadeln, wenn er kommt.«

Mr. Brocks Humanität trug abermals den Sieg über Mr. Brocks Vorsicht davon.

Er beschloß zu warten und zu sehen, was die bevorstehenden Tage geselligen Umganges mit sich bringen würden.

Die Tage vergingen; die Jacht war getakelt und seetüchtig gemacht; eine Fahrt nach der Küste von Wales ward arrangiert, und Midwinter, der Geheimnißvolle, war noch immer derselbe Midwinter. Einsperrung in einem kleinen Schiffe von fünfunddreißig Tonnen hatte für einen Mann in Mr. Brock’s Jahren keinen großen Reiz. Dessen ungeachtet segelte er auf dieser Probefahrt der Jacht lieber mit, als daß er Allan mit seinem neuen Freunde allein ließ.

Verlockte der enge Verkehr der drei Gefährten auf dieser Fahrt den Mann zu einer größeren Offenheit über seine eignen Angelegenheiten? Nein. Ueber andere Gegenstände sprach er bereitwillig genug, besonders wenn Allan ihn dazu veranlaßte; doch über sich selbst ließ er sich kein Wort entschlüpfen. Mr. Brock versuchte es mit Fragen über das ihm kürzlich zugefallene Vermächtniß, erhielt aber dieselbe Art von Antwort, die er bereits im Wirthshause in Sommersetshire erhalten hatte. Midwinter gab zu, es sei allerdings ein merkwürdiges Zusammentreffen, daß sowohl Mr. Armadale’s Aussichten als die seinigen auf so unerwartete Weise und um dieselbe Zeit eine so günstige Wendung genommen hätten. Doch damit ende die Aehnlichkeit Es sei kein großes Vermögen, das ihm in den Schoß gefallen, obwohl es für seine Bedürfnisse ausreiche. Das Ereigniß habe ihn nicht mit seiner Familie ausgesöhnt, denn das Erbe sei ihm nicht durch irgendwelche Güte von ihrer Seite, sondern von Rechtswegen zugefallen. Was die Umstände betreffe, die ihn mit seiner Familie in Berührung gebracht, so seien diese nicht des Erwähnens werth, da der dadurch herbeigeführte kurze Verkehr keine freundschaftlichen Resultate gehabt habe. Es sei ihm nichts weiter daraus erwachsen als das Geld, und mit dem Gelde eine Sorge, die ihn oft in schlaflosen Morgens stunden quäle.

Bei diesen letzten Worten schwieg er plötzlich, wie wenn seine von ihm sonst so scharf bewachte Zunge ihn diesmal verrathen hätte. Mr. Brock ergriff die Gelegenheit und frug ihn geradezu, welcher Art diese Sorge sei. Ob dieselbe mit Geld zu thun habe? Nein, sie habe mit einem Briefe zu thun, der seit vielen Jahren seiner geharrt. Ob er diesen Brief erhalten habe? Noch nicht; derselbe befinde sich in dem Gewahrsam eines der Compagnons der Advokatenfirma, die seine Erbschaftsangelegenheiten für ihn geordnet habe; dieser Compagnon sei von England abwesend, und er könne daher den Brief, der mit den Privatpapieren des Advokaten zusammen sich unter Verschluß befinde, nicht eher erhalten, als bis dieser wieder nach England zurückkehre. Er werde gegen Ende des gegenwärtigen Monats Mai zurückerwartet, und wenn er, Midwinter, mit Sicherheit zu bestimmen im Stande sei, wohin ihre Fahrt sie um diese Zeit geführt haben werde, so gedenke er zu schreiben und sich den Brief dorthin zusenden zu lassen. Ob irgendwelche Familienverhältnisse ihm Grund zu Besorgnissen wegen jenes Briefes gaben? Nicht, soviel er wisse; er sei neugierig, das zu erfahren, was seit so vielen Jahren seiner geharrt, das sei alles. In dieser Weise beantwortete er die Fragen des Pfarrers, indem er sein gelbbraunes Gesicht von ihm abwandte und über die niedrige Schiffsseite der Jacht hinaus blickte, während seine geschmeidigen braunen Hände die Fischleine nachzogen.

Von Wind und Wetter begünstigt hatte das kleine Fahrzeug auf dieser Probefahrt Wunder gethan. Ehe noch die Hälfte der für die Fahrt angesetzten Zeit verstrichen war, befand sich die Jacht schon auf der Höhe von Holyhead vor der Küste von Wales, und Allen, der auf Abenteuer in unbekannten Regionen erpicht war, hatte kühn seinen Entschluß erklärt, die Reise nordwärts nach der Insel Man fortzusetzen Nachdem er von zuverlässigen Gewährsmännern in Erfahrung gebracht hatte, daß das Wetter einer Fahrt in jenen Gewässern wirklich günstig sei und daß, wenn irgendein unvorhergesehener Fall ihre schleunige Heimkehr nöthig mache, sie das Dampfboot von Douglas nach Liverpool benützen und von letzterem Orte mit der Eisenbahn weiterreisen könnten, ging Mr. Brock auf den Vorschlag seines Zöglings ein. An demselben Abende schrieb er noch an Allan’s Rechtsanwälte und nach seiner Pfarrei, und gab Douglas auf der Insel Man als den Ort an, wohin man die Briefe für sie nachzusenden habe. Vor dem Posthause traf er Midwinter, der soeben einen Brief auf die Post gegeben hatte. Mr. Brock erinnerte sich seiner Unterhaltung mit ihm an Bord der Jacht und vermuthete, daß sie beide dieselbe Vorsichtsmaßregel getroffen und ihre Briefe an denselben Ort nachbestellt hätten.

Am folgenden Tage spät segelten sie nach der Insel Man ab. Einige Stunden lang ging Alles gut; aber mit Sonnenuntergang stellten sich die Vorboten einer baldigen Veränderung ein und mit einbrechender Dunkelheit stieg der Wind bis zu einem förmlichen Sturme. Die Frage, ob Allan und seine Arbeiter ein starkes Seeschiff gebaut, ward somit zum ersten Male einer ernstlichen Probe unterworfen. Während der ganzen Nacht blieb das kleine Schiff, nachdem es vergebens Holyhead zu erreichen versucht, in offener See, und bestand seine Probe vortrefflich. Am folgenden Morgen war die Insel Man in Sicht, und die Jacht lag bald sicher im Hafen von Castletown. Als Rumpf und Takelwerk bei Tage untersucht wurden, ergab es sich, daß der ganze Schaden in einer Woche wieder gut gemacht werden könne. Die Reisegefährten waren deshalb in Castletown geblieben; Allan war mit Beaufsichtigung der Ausbesserungen beschäftigt, Mr. Brock mit Ausflügen in die Nachbarschaft, und Midwinter mit täglichen Wallfahrten nach Douglas und zurück, um sich nach Briefen zu erkundigen.

Der Erste von der Gesellschaft, der einen Brief erhielt, war Man. »Noch mehr Quälerei von jenen nimmer rastenden Advokaten!« war alles, was er sagte, nachdem er den Brief gelesen und zusammengeknüllt in die Tasche gesteckt hatte. Dann kam der Pfarrer an die Reihe, welcher am fünften Tage des Aufenthalts in Castletown einen Brief aus Sommersetshire im Hotel vorfand. Derselbe war durch Midwinter von Douglas herübergebracht worden und enthielt Nachrichten, die alle seine Ferienpläne über den Haufen warfen. Der Geistliche, der während seiner Abwesenheit seine Amtspflichten übernommen, war unerwarteterweise heimgerufen worden, und es blieb Mr. Brock nichts weiter übrig, als am folgenden Tage von Douglas nach Liverpool überzusetzen und am Sonnabend Abend per Eisenbahn nach Sommersetshire zu reisen, um am Sonntag zu rechter Zeit zum Morgengottesdienste dort zu sein.

Nachdem er diesen Brief gelesen und sich so geduldig wie möglich in seine veränderten Umstände gefügt, drang sich ihm zunächst eine Frage auf, welche allerdings ernstlicher Erwägung bedurfte. Bei der schweren Verantwortlichkeit, die in Betreff Allan’s auf ihm lastete, und bei seinem unverminderten Mißtrauen gegen Allan’s neuen Freund mußte er sich fragen, wie er unter den obwaltenden Schwierigkeiten gegen die beiden jungen Männer handeln solle, die seine Gefährten auf der Fahrt gewesen waren.

Mr. Brock hatte sich diese ungeschickte Frage zuerst am Freitag Nachmittag vorgelegt; und um ein Uhr am Sonnabend Morgen saß er noch immer in seinem Schlafzimmer, ohne zu einer befriedigenden Lösung derselben gelangt zu sein. Es war jetzt erst gegen Ende des Monat Mai, und die Damen in Thorpe-Ambrose sollten ihren dermaligen Aufenthalt, falls sie sich nicht von selbst dazu erboten, nicht früher als um die Mitte des Monat Juni verlassen. Selbst wenn die Ausbesserungen der Jacht bereits beendet gewesen wären, was doch nicht der Fall war, hatte Mr. Brock keinen vernünftigen Vorwand, um Allan nach Sommersetshire zurückzutreiben. Es blieb ihm nur eine Wahl —— ihn dort zu lassen, wo er war. Mit andern Worten, es blieb ihm nichts weiter übrig, als ihn auf diesem Wendepunkte seines Lebens ganz und gar dem Einflusse eines Mannes preiszugeben, den er zuerst als einen Ausgestoßenen in einer Dorfschenke kennen gelernt hatte und der, aus einem practischen Gesichtspunkte genommen, ihm noch immer völlig fremd war.

In seiner Verzweiflung glaubte Mr. Brock, daß er noch am sichersten gehe, wenn er sich den Eindruck vergegenwärtige, den Midwinter in dem vertrauteren Verkehr während ihrer Seefahrt auf ihn gemacht; hiervon wollte er seine Entscheidung abhängig machen.

Ungeachtet seiner Jugend hatte der ehemalige Schullehrer offenbar ein wildes und bunt bewegtes Leben geführt. Er hatte mehr gesehen und beobachtet als die meisten Leute, die noch einmal so alt waren als er; in seiner Unterhaltung verrieth sich eine sonderbare Mischung von Verstand und Ungereimtheit, ein Schwanken zwischen ernster Begeisterung und phantastischen Humor. Er konnte von Büchern reden wie ein Mann, der Wahrhaften Genuß an denselben gefunden hat; er konnte seine Stelle am Steuerrad einnehmen wie ein Seemann, der sein Handwerk verstand; er konnte singen und Geschichten erzählen und kochen und im Takelwerk umher klettern und die Tafel decken —— alles mit einer komischen satirischen Freude an der Zurschaustellung seiner Geschicklichkeit. Diese und andere ähnliche Eigenschaften, die sich bei der Fröhlichkeit der Fahrt an ihm herausgestellt hatten, erklärten das Geheimniß seiner Anziehungskraft für Allan zur Genüge. Doch hatten alle Entdeckungen über ihn damit ein Ende gehabt? Hatte der Mann in Gegenwart des Pfarrers nie ein zufälliges Licht auf seinen Charakter fallen lassen? Nur sehr spärlich, und dieses Wenige hatte ihm keine besonderen moralischen Reize verliehen. Sein Pfad durch die Welt hatte offenbar durch zweifelhafte Gegenden geführt; er verrieth hin und wieder eine Bekanntschaft mit geringeren Schurkereien und Vagabonden; es entschlüpften seiner Zunge oft Worte, die einen unangenehm herben Beigeschmack hatten; und, was ein noch bedeutungsvollerer Umstand war, er schlief jenen leisen, argwöhnischen Schlaf eines Mannes, welcher den Leuten nicht traut, die sich mit ihm unter demselben Dache befinden. Bis zu diesem letzten Augenblicke —— diesem Freitag Abend —— war sein Benehmen dasselbe geblieben, bis zuletzt versteckt und unbegreiflich. Nachdem er Mr. Brocks Brief im Hotel abgegeben, war er, ohne eine Bestellung an seine Gefährten zurückzulassen und ohne irgend Jemandem zu sagen, ob er selbst einen Brief erhalten habe oder nicht, spurlos verschwunden, um erst spät am Abend in der Dunkelheit wieder ins Haus zurückzuschleichen. Er hatte Allan auf der Treppe getroffen, der ihm eifrig die Veränderung in den Plänen des Pfarrers mittheilte; aber ohne irgendeine Bemerkung zu machen, hatte er die Nachricht angehört und sich schließlich verdrießlich in seinem Zimmer eingeschlossen. Was ließ sich wohl gegen solche Offenbarungen seines Charakters wie diese —— gegen sein unstätes Auge, seine hartnäckige Zurückhaltung gegen den Pfarrer, sein ominöses Schweigen in Bezug auf seine Familie und seine Angehörigen —— zu seinen Gunsten anführen?

Wenig oder gar nichts: Sein ganzes Verdienst begann und endete mit seiner Dankbarkeit gegen Allen.

Mr. Brock verließ seinen Sitz auf dem Bette, putzte sein Licht und schaute, noch immer in Gedanken versunken, zerstreut in die Nacht hinaus; allein diese Veränderung brachte ihm keinen neuen Gedanken. Sein Rückblick auf die Vergangenheit hatte ihn vollkommen überzeugt, daß sein gegenwärtiges Gefühl der Verantwortlichkeit kein übertriebenes oder unbegründetes sei; aber dabei hatte es auch sein Bewenden. Rathlos stand er dort am Fenster, wo er nichts zu sehen vermochte, als seine eigene totale geistige finstereniß, ein treues Spiegelbild der totalen finstereniß der Nacht.

»Wenn ich nur einen Freund besäße, an den ich mich wenden könnte!« dachte der Pfarrer. »Wenn ich in diesem elenden Orte nur eine Seele zu finden im Stande wäre, die mir beistehen könnte!«

In dem Augenblicke, wo dieser Wunsch in ihm auftauchte, schien sich derselbe zu erfüllen, denn ein leises Klopfen an seiner Thür ließ sich vernehmen und eine leise Stimme draußen im Gange flüsterte: »Lassen Sie mich ein!«

Eine halbe Minute wartete Mr. Brock, um sich zu beruhigen, dann öffnete er die Thür und auf der Schwelle seines Schlafzimmers erschien um ein Uhr Morgens —— Ozias Midwinter.

»Sind Sie krank?« fragte der Pfarrer, sobald sein Erstaunen ihm zu sprechen gestattete.

»Ich komme zu Ihnen, um mir das Herz zu erleichtern«, war die seltsame Antwort.»Darf ich eintreten?«

Mit diesen Worten schritt er ins Zimmer —— die Augen auf den Boden geheftet, mit blassen Lippen und hinter sich etwas in der Hand haltend.

»Ich sah das Licht durch eine Spalte Ihrer Thür«, fuhr er fort, ohne aufzublicken oder seine Hand zu bewegen, »und ich weiß, welche Sorge Ihnen Ihre Nachtruhe raubt. Sie reisen morgen ab und lassen Mr. Armadale nicht gern allein mit einem Fremden, wie ich bin, zurück.«

Ungeachtet seiner Ueberraschung sah Mr. Brock doch die Nothwendigkeit ein, deutlich zu einem Manne zu reden, der zu einer solchen Zeit zu ihm gekommen war und solche Worte gesprochen hatte.

»Sie haben richtig gerathen «, erwiderte er. »Ich vertrete Vaterstelle bei Allan Armadale und fühle ein natürliches Widerstreben, ihn mit einem Manne allein zu lassen, den ich nicht kenne.«

Ozias Midwinter that einen Schritt näher an den Tisch. Seine unstäten Blicke fielen auf das Neue Testament, welches unter andern Gegenständen auf dem Tische des Pfarrers lag.

»Sie haben jenes Buch während eines langen Lebens vielen verschiedenen Gemeinden ausgelegt«, sagte er. »Hat dasselbe Sie Barmherzigkeit für Ihre elenden Mitgeschöpfe gelehrt?«

Ohne eine Antwort abzuwarten, schaute er Mr. Brock zum ersten Male gerade ins Gesicht und ließ seine verborgene Hand langsam sichtbar werden.

»Lesen Sie dies«, sagte er, »und, um Jesu Christi willen, haben Sie Mitleid mit mir, wenn Sie erfahren, wer ich bin.«

Er legte einen aus vielen Seiten bestehenden Brief auf den Tisch. Es war der Brief, den Mr. Neal vor neunzehn Jahren in Wildbad auf die Post gegeben hatte.



Kapiteltrenner

Zehntes Kapitel.

Die ersten frischen Lüfte des anbrechenden Tages zogen durch das offene Fenster herein, als Mr. Brock die letzten Zeilen des Bekenntnisses las. Schweigend und ohne aufzublicken legte er dasselbe fort. Die erste Erschwerung, welche die Entdeckung seinem Gemüthe verursacht hatte, war jetzt Vorüber. In seinem Alter und bei seiner Gewohnheit zu denken war sein Geist nicht stark genug, um die Enthüllung sofort in ihrem ganzen Umfange zu erfassen. Wie er das Manuscript beenden, war sein ganzes Herz mit der Erinnerung an das Weib beschäftigt, welches die geliebte Freundin seiner späteren und glücklicheren Lebensjahre gewesen war; alle seine Gedanken richteten sich auf den unseligen Betrug, den sie gegen ihren Vater gespielt und welchen der Brief ihm jetzt enthüllt hatte.

Das Erzittern des Tisches unter einer schwer auf denselben herabsinkenden Hand entriß ihn dem Sinnen über seinen eigenen kleinen Kummer. Ein lebhaftes unwillkürliches Widerstreben war in ihm rege, doch überwand er dasselbe und blickte empor. Dort, in dem Zwielicht der gelben Kerzenlampe und der matten, grauen Dämmerung des anbrechenden Tages, stand schweigend der Ausgestoßene aus der Dorfschenke vor ihm —— der Erbe des unglückseligen Namens Armadale.

Mr. Brock schauderte, wie der Anblick des Mannes ihm plötzlich die Angst vor der Gegenwart und die noch größere Angst vor der Zukunft wieder vor die Seele führte. Der Mann bemerkte dies und ergriff zuerst das Wort.

»Blickt das Verbrechen meines Vaters Ihnen etwa aus meinen Augen entgegen?« frug er. »Ist das Gespenst des Ertrunkenen mir bis in dies Zimmer nachgefolgt?«

Der Schmerz und die Leidenschaft, die er zu unterdrücken strebte, machten die Hand zittern, die noch immer auf dem Tische lag, und erstickten fast die Stimme, die bis zum Flüstern herabsank.

»Ich wünsche nicht, Sie anders als gerecht und rücksichtsvoll zu behandeln «, erwiderte Mr. Brock. »Lassen Sie mir Ihrerseits Gerechtigkeit widerfahren, indem Sie mir nicht die Grausamkeit zuschreiben, die darin liegen würde, wenn ich Sie für das Verbrechen Ihres Vaters verantwortlich hielte.«

Diese Antwort schien ihn zu beruhigen. Er neigte schweigend das Haupt und nahm das Bekenntniß vom Tische auf.

»Haben Sie dies durchgelesen?« fragte er ruhig.

»Von Anfang bis zu Ende.«

»Habe ich bis hierher offen gegen Sie gehandelt? Hat Ozias Midwinter ——«

»Geben Sie sich noch immer diesen Namen«, unterbrach ihn Mr. Brock, »jetzt, da Ihr wahrer Name mir bekannt ist?«

»Seitdem ich das Bekenntniß meines Vaters gelesen«, war die Antwort, »gefällt mir mein häßliches Alias besser denn je. Erlauben Sie mir, die Frage zu wiederholen, die ich soeben an Sie zu richten im Begriff war: Hat Ozias Midwinter bis hierher sein Möglichstes gethan, um Mr. Brock über ihn aufzuklären?«

Der Pfarrer wich einer directen Antwort aus. »Wenige Männer in Ihrer Lage würden den Muth gehabt haben«, sagte er, »mir jenen Brief zu zeigen.«

»Bilden Sie sich keine zu gute Meinung über den Vagabonden, den Sie in einer Dorfschenke gefunden haben, Sir, bis Sie etwas mehr über ihn wissen als Ihnen bis jetzt von ihm bekannt ist. Sie sind mit dem Geheimnisse meiner Geburt, nicht aber mit der Geschichte meines Lebens vertraut. Diese müssen und sollen Sie kennen lernen, ehe Sie mich mit Mr. Armadale allein lassen. Wollen Sie warten und ein wenig ausruhen, oder soll ich Ihnen dieselbe jetzt erzählen?«

»Jetzt«, erwiderte Mr. Brock, noch ebenso weit entfernt wie je, den Charakter des Mannes begriffen zu haben.

Alles, was Ozias Midwinter sagte, alles, was er that, sprach gegen ihn. Er hatte mit einer erzwungenen Gleichgültigkeit, ja fast mit einer Frechheit gesprochen, die jeden abgestoßen haben würde, der ihn hörte. Und jetzt hatte er, anstatt sich an dem Tische niederzulassen und seine Erzählung direct an den Pfarrer zu richten, schweigend und mißmuthig sich nach dem Fenstersitze zurückgezogen. Dort saß er, mit abgewandtem Gesichte; seine Hände schlugen mechanisch die Blätter des Briefes von seinem Vater um, bis er zu der letzten Seite desselben kam. Die Augen auf die Schlußzeilen des Manuscripts heftend und mit einer seltsamen Mischung von Gleichgültigkeit und Trauer in seiner Stimme begann er dann folgendermaßen die versprochene Erzählung:

»Das Erste, was Ihnen über mich bekannt ist«, sagte er, »ist das, was meines Vaters Bekenntniß Ihnen bereits mitgetheilt hat. Er sagt hier, daß ich ein kleines Kind war und schlummernd an seiner Brust ruhte, als er seine letzten Worte in dieser Welt sprach und die Hand eines Fremden dieselben an seinem Sterbebette niederschrieb. Der Name dieses Fremden steht, wie Sie vielleicht bemerkt haben, auf dem Couverte geschrieben: »Alexander Neal, am Signet-Journal in Edinburg angestellt.« Meine erste Erinnerung aus meiner Kindheit ist die an meinen Stiefvater Alexander Neal, wie er mich einst auspeitschte —— was ich wahrscheinlich verdient hatte.«

»Haben Sie aus derselben Zeit keine Erinnerung an Ihre Mutter?« frug Mr. Brock.

»Ja; ich erinnere mich, wie sie mir alte abgetragene Kleider gab, den beiden Kindern aus ihrer zweiten Ehe aber schöne neue Kleider kaufte. Auch erinnere ich mich, wie ich von der Dienerschaft wegen meiner schädigen alten Kleider verlacht und dann wieder gezüchtigt wurde, weil ich wüthend geworden und meine alten Kleider zerrissen hatte. Meine nächsten Erinnerungen datieren sich ein paar Jahre später. Ich erinnere mich, wie ich bei Brod und Wasser in der Rumpelkammer eingesperrt war und darüber nachsann, warum nur meiner Mutter und meinem Stiefvater schon mein bloßer Anblick zuwider zu sein schien. Diese Frage war ich bis gestern nie zu beantworten im Stande; doch nachdem ich meines Vaters Brief gelesen habe, ist das Geheimniß gelöst. Meine Mutter wußte, was sich in Wirklichkeit auf dem französischen Holzschiffe zugetragen hatte, und ebenso mein Stiefvater; sie wußten außerdem beide, daß das schmachvolle Geheimniß, das sie so gern jedem lebenden Geschöpfe verborgen hätten, eines Tages zu meiner Kenntniß gelangen müsse. Dies konnte nicht verhindert werden —— das Bekenntniß befand sich in den Händen des Testamentsvollstreckers und dort war ich, ein ungezogener Junge, der das Negerblut seiner Mutter im Gesichte und die Leidenschaftlichkeit seines mörderischen Vaters im Herzen trug and ihnen zum Trotz Erbe ihres Geheimnisses war! Ich verwundere mich jetzt nicht mehr über die Peitsche, oder die abgetragenen alten Kleider, oder die Einsperrung bei Brod und Wasser in der Rumpelkammer. Dies alles waren natürliche Strafen, die das Kind für die Sünde des Vaters trafen.«

Mr. Brock warf einen Blick auf das dunkle, verschlossene Gesicht, welches noch immer hartnäckig von ihm abgewendet war. »Ist dies die starre Gefühllosigkeit eines Vagabonden«, frug er sich, »oder die verstellte Verzweiflung eines unglücklichen Menschen?«

»Meine nächste Erinnerung betrifft die Schule«, fuhr der Andere fort. »Eine wohlfeile Anstalt in einem entlegenen Winkel von Schottland. Dorthin steckte man mich, und ein ungünstiger Bericht Seiten meiner Pfleger war die einzige Mitgift, die mir beim Beginne meines Lebenslaufes von ihnen zu Theil wurde. Ich verschone Sie mit der Geschichte der Schläge, die ich von dem Lehrer in der Schulstube, und der Fußstöße, die ich von den Knaben auf dem Spielhofe zu erdulden hatte. Die Undankbarkeit lag vermuthlich in meiner Natur; jedenfalls lief ich davon. Die erste Person, die mir begegnete, fragte mich nach meinem Namen. Ich war zu jung und zu dumm, um denselben zu verhehlen, und ward natürlich noch an demselben Abende nach der Schule zurückgebracht. Der Erfolg brachte eine Lehre für mich mit sich, die ich seitdem nicht vergessen habe. Vagabond, wie ich war, lief ich ein paar Tage später abermals fort. Allein der Hofhund der Schule hatte vermuthlich seine Instructionen erhalten; er hielt mich fest, ehe ich bis ans Thor gelangt war. Hier auf der Rückseite meiner Hand befindet sich unter andern Zeichen auch das seiner Zähne. Die Zeichen, die sein Herr auf mir zurückgelassen, kann ich Ihnen nicht zeigen; dieselben befinden sich alle auf meinem Rücken. Können Sie sich eine Vorstellung von meinem Eigensinne machen? Es lebte ein Teufel in mir, den kein Hund aus mir herauszuschütteln im Stande war; denn sowie ich wieder mein Lager verlassen konnte, rannte ich nochmals fort, und diesmal entkam ich. Gegen Abend befand ich mich, mit einer Tasche voll Hafergrütze die ich im Schulhause entwendet, auf einer Haide und legte mich unter dem Schutze eines großen, grauen Felsens in dem weichen Haidekraut nieder. Glauben Sie etwa, daß ich mich einsam fühlte? Wahrlich, nein! Ich war den Stockschlägen meines Lehrers, den Fußstößen meiner Schulkameradem meiner Mutter und meinem Stiefvater entwischt, und ich legte mich an diesem Abend als der glücklichste Knabe in ganz Schottland am Fuße meines Freundes, des Felsens, nieder!«

Durch den Einblick in die jammervolle Kindheit, den dieser einzige bedeutungsvolle Umstand zuließ, ward Mr. Brock Manches klar, was ihm bisher an dem Charakter des Mannes, der jetzt zu ihm sprach, unerklärlich gewesen war.

»Ich schlief fest am Fuße meines Freundes, des Felsens«, fuhr Midwinter fort, »und als ich am Morgen erwachte, sah ich an meiner Seite einen derben alten Mann mit einer Geige sitzen, der zwei tanzende Hunde in scharlachrothen Jacken mit sich führte, Die Erfahrung hatte mich zu schlau gemacht, um die ersten Fragen des Mannes der Wahrheit gemäß zu beantworten. Er drang auch nicht weiter in mich, gab mir ein gutes Frühstück aus seinem Ranzen und ließ mich mit den Hunden spielen. Nachdem er hierdurch mein Vertrauen gewonnen, redete er mich von neuem also an. »Ich will Dir etwas sagen. Du bedarfst dreier Dinge, mein kleiner Mann; eines neuen Vaters, neuer Geschwister und eines neuen Namens. Ich will Dein Vater sein; die Hunde will ich Dir zu Brüdern geben, und wenn Du mir versprechen willst, dieselben wohl in Acht zu nehmen, so sollst Du auch meinen Namen haben. Ozias Midwinter junior, Du hast ein gutes Frühstück genossen; verlangt es Dich nach einem guten Mittagessen, so komme mit mir!« Er stand auf, die Hunde trabten ihm nach, und ich folgte den Hunden. Wer war mein neuer Vater? werden Sie fragen. Ein halber Zigeuner, Sir, ein Trunkenbold, ein Raufbold und ein Dieb —— und der beste Freund, den ich je besessen! Ist nicht der Mann, der uns unsre Nahrung, unser Obdach und unsre Erziehung giebt, unser Freund? Ozias Midwinter lehrte mich den Highland-Fling tanzen, Purzelbäume schlagen, auf Stelzen gehen und Lieder zu seiner Geige singen. Zuweilen strichen wir im Lande umher und ließen uns auf den Jahrmärkten hören und sehen; zuweilen versuchten wir es in großen Städten und unterhielten schlechte Gesellschaften bei ihren Trinkgelagen. Ich war ein hübscher, lustiger, kleiner Knabe von elf Jahren, und die schlechte Gesellschaft —— namentlich die Weiber —— fand Gefallen an meinen gewandten Füßen. Ich war Vagabond genug, um Behagen an dieser Lebensweise zu finden. Die Hunde und ich lebten zusammen —— wir aßen und tranken und schliefen zusammen. Ich kann jener armen, kleinen, vierfüßigen Brüder selbst jetzt nicht ohne ein Gefühl der Wehmuth gedenken. Wir haben manche Tracht Schläge erhalten, haben manchen Tag mühseligen Tanzens mit einander verlebt, manche Nacht mit einander auf dem kalten Erdboden geschlafen und gewinselt. Ich wünsche nicht, Sie zu betrüben, Sir; ich erzähle Ihnen bloß die Wahrheit. Trotz allem Mühsale war dies ein Leben, das mir zusagte, und der Raufbold und halbe Zigeuner, der mir seinen Namen gab, war ein Mensch, den ich lieb hatte.«

»Ein Mensch, der Sie schlug!« rief Mr. Brock erstaunt.

»Habe ich Ihnen nicht gesagt, Sir, daß ich mit den Hunden zusammen lebte? und haben Sie je von einem Hunde gehört, der seinen Herrn weniger liebte, weil dieser ihn schlug? Hunderte und Tausende von Männern, Weibern und Andern würden jenen Menschen geliebt haben, wie ich ihn liebte, wenn er ihnen gegeben, was er mir gab —— das heißt, genug zu essen. Es war meistens gestohlenes Gut, und mein neuer Zigeunervater war freigebig mit demselben. Wenn er nüchtern war, traktierte er uns selten mit dem Stocke; doch in der Trunkenheit belustigte es ihn, uns schreien zu hören. Er starb im Rausche und genoß seine Lieblingsunterhaltung noch, wie er seinen letzten Athemzug that. Eines Tages —— ich war etwa zwei Jahre in seinem Dienste gewesen —— setzte er sich, nachdem er uns auf der Haide ein gutes Mittagessen gegeben, mit dem Rücken an einen Felsblock gelehnt, nieder, und rief uns zu sich, um sich mit seinem Stocke seine gewohnte Unterhaltung zu verschaffen. Zuerst machte er die Hunde heulen und dann rief er mich zu sich. Ich ging nicht sehr bereitwillig, denn er hatte mehr als gewöhnlich getrunken, und je mehr er trank, desto größeren Genuß gewährte ihm diese Unterhaltung. Er war an diesem Tage in vortrefflicher Laune, und er traf mich so kräftig, daß er, in seinem Zustande der Trunkenheit, durch die Gewalt seines Schlages niedergeworfen ward. Er fiel mit dem Gesichte in eine Pfütze und blieb dort regungslos liegen. Ich und die Hunde standen in einiger Entfernung und sahen nach ihm hin; wir glaubten, er verstelle sich, damit wir herangingen und er uns nochmals prügeln konnte. Allein er verstellte sich so lange, daß wir uns endlich zu ihm heran wagten Es währte einige Zeit, ehe ich ihn herum legen konnte, denn er war ein schwerer Mann. Als es mir endlich gelang, war er bereits todt. Wir erhoben ein so lautes Geschrei wie möglich; doch die Hunde waren klein, und ich war klein, und es war ein entlegener, einsamer Ort; kurz es kam keine Hilfe. Ich nahm seine Geige und seinen Stock und sagte zu meinen beiden Brüdern: »Kommt, wir müssen uns jetzt unsern Lebensunterhalt verdienen.« Schweren Herzens gingen wir von dannen und ließen ihn auf der Haide liegen. Es mag Ihnen unnatürlich erscheinen —— aber ich trauerte um ihn. Ich behielt seinen häßlichen Namen auf allen meinen späteren Wanderschaften bei und habe noch genug von dem alten Geist in mir, um an dem Klang desselben noch immer Gefallen zu finden. Midwinter oder Armadale —— das ist jetzt alles einerlei —— wir wollen davon später sprechen; vorher müssen Sie noch das Schlimmste von mir erfahren.«

»Warum nicht das Beste von Ihnen?« sagte Mr. Brock sanft.

»Ich danke Ihnen, Sie, aber ich bin hier, um die Wahrheit zu reden. Wir wollen jetzt, wenn es Ihnen gefällt, zu dem nächsten Kapitel in meiner Geschichte übergehen. Die Hunde und ich machten nach dem Tode unseres Herrn schlechte Geschäfte —— das Glück war gegen uns. Ich verlor einen meiner kleinen Brüder, den besten Tänzer der beiden; er wurde mir gestohlen, und ich fand ihn niemals wieder. Dann nahm mir ein Landstreicher, der kräftiger war als ich, mit Gewalt meine Geige und meine Stelzen ab. Diese Unglücksschläge knüpften Tommy und mich —— ich bitte um Vergebung, Sir, ich meine den Hund —— immer fester an einander. Ich denke mir, wir hatten beide eine unbestimmte Ahnung, daß unser Unglück noch nicht aus sei; jedenfalls währte es nicht lange, bis wir auf immer von einander getrennt wurden. Wir waren zwar keine Diebe, denn unser Herr hatte sich damit begnügt, uns tanzen zu lehren; dessen ungeachtet machten wir uns beide einer Eigenthumverletzung schuldig. Junge Geschöpfe, selbst wenn sie halb verhungert sind, können zuweilen nicht der Versuchung widerstehen, eines schönen Morgens einen Wettlauf zu halten. Tommy und ich rannten in die Baumanlagen eines vornehmen Herrn; der Herr gab viel auf sein Wild, und der Jäger des Herrn kannte seine Pflicht. Ich hörte den Knall einer Flinte —— dass Uebrige können Sie errathen. Gott verhüte, daß ich je wieder solchen Jammer fühle, wie in dem Augenblicke, da ich neben Tommy, lag und ihn todt und blutend in meinen Armen hielt! Der Jäger versuchte, uns zu trennen —— ich biß ihn, wie ein wildes Thier, wofür er zunächst seinen Stock an mir probierte —— er hätte ihn ebenso gut an einem Baume versuchen können. Der Lärm drang bis zu den Ohren zweier jungen Damen, die in der Nähe ritten —— die Töchter des Herrn, in dessen Eigenthum ich eingedrungen war. Sie waren zu wohlerzogen, um ihre Stimmen gegen das heilige Recht des Wildschutzes zu erheben; aber sie waren gutherzige Mädchen; sie bemitleideten mich und nahmen mich mit sich nach Hause. Ich erinnere mich, wie die Herren des Hauses, die alle leidenschaftliche Jäger waren, ein helles Gelächter aufschlugen, als ich, meinen kleinen todten Hund in den Armen, weinend an dem Fenster vorüberging. Denken Sie nicht, daß ich mich über ihr Gelächter beklage; dasselbe leistete mir gute Dienste —— es erweckte die Entrüstung der beiden Damen. Die eine derselben führte mich in ihren eignen Garten und zeigte mir eine Stelle, wo ich meinen Hund unter den Blumen begraben könne, ohne befürchten zu müssen, daß er je von andern Händen gestört werde Die andere ging zu ihrem Vater und überredete ihn, dem verlassenen kleinen Vagabonden unter einem der oberen Diener im Hause eine Gelegenheit zur Verbesserung seiner Lage zu geben.

Ja! Sie sind in der Gesellschaft eines Mannes umhergesegelt, der einst ein Bedienter war! Ich sah, wie Sie mich anblickten, als ich Mr. Armadale an Bord der Jacht durch mein Tischdecken belustigte; jetzt begreifen Sie, wie es kam, daß ich dies so ordentlich zu thun im Stande war und nichts dabei vergaß. Ich habe das Glück gehabt, einiges von der Gesellschaft zu sehen; ich habe geholfen, derselben den Magen zu füllen und die Stiefel zu putzen Meine Erfahrungen in der Bedientenstube waren jedoch nicht von langer Dauer. Ehe ich noch meine erste Livree abgetragen hatte, Ward ein Diebstahl im Hause begangen. Es war die alte Geschichte, und es ist unnöthig, dieselbe zum tausendsten Male zu erzählen. Es hatte Jemand Geld auf einem Tische liegen lassen und dasselbe dort nicht wiedergefunden; die ganze Dienerschaft konnte sich aus Zeugnisse ihrer Ehrlichkeit berufen, der Bedientenjunge ausgenommen, der unvorsichtigerweise zur Probe angenommen worden war. Nun, nun, ich hatte in diesem Hause bis zuletzt Glück, ich wurde nicht verklagt, etwas gestohlen zu haben, das ich nicht nur niemals angerührt, sondern sogar nicht einmal gesehen hatte —— ich wurde bloß fortgejagt. Eines Morgens ging ich in meinen alten Kleidern nach der Stelle, wo ich Tommy begraben hatte, küßte das Grab und nahm von meinem kleinen todten Hunde Abschied; dann stand ich wieder in der weiten Welt da. Ich war jetzt bereits dreizehn Jahre alt!«

»Kam Ihnen in dieser Verlassenheit und bei so zartem Alter nie der Gedanke, wieder zur Heimath zurückzukehren?« frug Mr. Brock.

»Ich kehrte noch an demselben Abende nach meiner Heimath zurück, Sir —— ich schlief auf dem blanken Erdboden. Welche andere Heimath gab es wohl für mich? In ein paar Tagen sah ich mich wieder in die großen Städte und in die schlechte Gesellschaft zurückgetrieben —— die großen öden Gefilde waren mir jetzt so einsam, da ich meine Hunde verloren hatte! Zunächst ward ich von zwei Matrosen aufgegriffen, ich war ein gewandter Bube und erhielt eine Stelle als Kajütenjunge an Bord eines Küstenfahrers, Eine Stelle als Kajütenjunge haben heißt soviel als im Schmutze leben, Unrath essen, die Arbeit eines Mannes auf Knabenschultern tragen und in regelmäßigen Zeiträumen das Tauende auf dem Rücken fühlen. Das Schiff legte in einem Hafen der Hebriden an. Ich war so undankbar wie gewöhnlich gegen meine Wohlthäter —— ich lief abermals davon. Einige Frauen fanden mich halb verhungert in den nördlichen Wildnissen der Insel Skye. Es war unsern der Meeresküste, und ich versuchte es zunächst unter den Fischersleuten. Bei meinem neuen Herrn ward ich zwar weniger mit dem Tauende tractirt, allein ich war jedem Wind und Wetter ausgesetzt und hatte Arbeit, die einen Knaben, der nicht wie ich durch ein Vagabondenleben abgehärtet war, getödtet haben würde. Ich kämpfte mich indessen durch alles hindurch, bis der Winter kam, und dann sandten die Fischer mich wieder in die Welt hinaus. Ich tadele sie nicht dafür —— es gab wenig Lebensmittel auf der Insel und viele hungrige Mägen. Warum sollten sie, Hungersnoth vor Augen, einen Knaben bei sich behalten, der nicht zu ihnen gehörte? Eine große Stadt war im Winter meine einzige Chance; deshalb ging ich nach Glasgow, und wäre, dort angelangt, fast dem Löwen in den Rachen gefallen. Ich hatte die Aufsicht über einen leeren Karren auf dem Broomielaw übernommen, als ich plötzlich auf der Trottoirseite von dem Pferde, das ich hielt, die Stimme meines Stiefvaters hörte. Er war einem Bekannten begegnet, und zu meinen! Erstaunen und Schrecken unterhielten sie sich von mir. Hinter dem Pferde versteckt, hörte ich genug von ihrem Gespräche, um zu erfahren, daß ich, ehe ich an Bord des Küstenfahrers gegangen, mit genauer Noth der Entdeckung entgangen war. Zu jener Zeit war ich mit einem Vagabonden meines Alters zusammengetroffen, da wir aber Streit mit einander bekommen, hatten wir uns wieder getrennt. Den Tag darauf stellte mein Stiefvater in demselben Districte seine Nachforschungen nach mir an, und da er keine genaue Personenbeschreibung zu erlangen vermochte, war er mit sich uneinig, welchem der beiden Knaben er folgen solle. Der eine, hörte er, sei unter dem Namen Brown, und der andere unter dem Namen Midwinter bekannt. Brown war gerade der gewöhnliche Name, den ein schlauer fortgelaufener Knabe annehmen, Midwinter dagegen ein auffallender Name, den er wahrscheinlich meiden würde. Man hatte deshalb Brown verfolgt und mir dadurch Gelegenheit zum Entkommen gegeben. Ich überlasse es Ihnen, sich zu denken, ob ich danach nicht doppelt und dreifach entschlossen war, den Namen meines Zigeunerherrn beizubehalten. Mein Entschluß ging jedoch noch weiter; ich beschloß, das Land ganz zu verlassen. Nachdem ich ein paar Tage im Hafen umher gelauert, entdeckte ich, welches der fremden Schiffe zuerst absegeln werde, und versteckte mich an Bord desselben. Der Hunger hätte mich fast aus meinem Versteck hervorgetrieben, ehe der Lootse das Schiff verlassen hatte, aber der Hunger war nichts Neues für mich, und ich blieb, wo ich war. Als ich auf dem Verdeck erschien, war der Lootse fort, und es blieb dem Capitän nichts weiter übrig, als mich entweder zu behalten oder über Bord zu werfen. Er sagte. —— und ich bezweifle nicht, daß er die Wahrheit sprach —— er würde mich lieber über Bord geworfen haben; doch die Majestät des Gesetzes ist zuweilen selbst die Freundin eines Vagabonden wie ich. Aus diese Weise kehrte ich zum Seeleben zurück und lernte genug, um mich auf, Mr. Armadales Jacht nützlich zu machen. Ich machte mehr als eine Reise, in mehr als einem Schiffe, nach mehr als einem Theile der Welt, und ich hätte dieses Leben vielleicht fortsetzen können, wenn es mir möglich gewesen wäre, mir alles und jedes ruhig gefallen zu lassen und mein Temperament zu beherrschen. Ich hatte viel gelernt; doch da ich dies Eine nicht gelernt hatte, mußte ich den letzten Theil meiner letzten Heimfahrt nach Bristol in Eisen zurücklegen; und dort sah ich, der Meuterei gegen einen meiner Vorgesetzten angeklagt, zum ersten Male das Innere eines Gefängnisses Sie haben mich mit außerordentlicher Geduld angehört, Sir, und ich freue mich, Ihnen dafür sagen zu können, daß wir nicht mehr weit von dem Ende meiner Geschichte entfernt sind. Wenn ich nicht irre, so fanden Sie einige Bücher, als Sie in dem Wirthshause in Sommersetshire mein Gepäck durchsuchten?«

Mr. Brock bejahte die Frage.

»Jene Bücher bezeichnen den nächsten Wechsel in meinem Leben, und zwar den letzten bis zu der Zeit, wo ich die Stelle eines Unterlehrers an jener Schule annahm. Meine Gefangenschaft war nicht von langer Dauer. Meine Jugend sprach vielleicht für mich, oder die Magistratsherrn von Bristol zogen möglicherweise den Umstand in Betracht, daß ich schon so lange an Bord des Schiffes in Fesseln gelegen hatte. Wie dem immer sein mochte, als ich wieder in die Welt hinaustrat, war ich eben siebzehn Jahre alt. Ich hatte keine Angehörigen, von denen ich aufgenommen zu werden hoffen durfte; ich hatte keine Heimath. Das Seeleben war nach dem, was ich dabei erfahren, ein Leben, vor dem ich mit Abscheu zurück bebte. So stand ich unter der Menschenmenge auf der Brücke zu Bristol und dachte, was ich nur mit meiner Freiheit anfangen solle, da ich dieselbe jetzt zurückerhalten. Ob in dem Gefängnisse eine Veränderung mit mir vorgegangen war, oder ob ich den Charakterwechsel fühlte, der das herannahende Mannesalter begleitet —— ich weiß es nicht; aber das alte leichtsinnige Vergnügen an dem früheren Vagabondenleben schien gänzlich aus meiner Natur gewichen. In einem fürchterlichen Gefühl der Einsamkeit wanderte ich, da mir vor dem freien Felde graute, bis nach Einbruch der Nacht in den Straßen von Bristol umher. Mit jämmerlichem Neide gegen die, welche in den Häusern wohnten, sah ich, wie in den Erdgeschossen derselben die Kerzen angezündet wurden. Ein Wort des Rathes würde in jenem Augenblicke viel für mich werth gewesen sein. Nun, dasselbe ward mir vergönnt: Ein Constabler befahl mir, weiter zu gehen. Er hatte vollkommen Recht —— was konnte ich wohl anders thun? Ich schaute zum Nachthimmel empor, und dort sah ich meinen alten Freund von mancher Nachtwache auf dem Wasser her —— den Polarstern. »Die Punkte des Compasses sind mir alle einerlei«, dachte ich bei mir; »ich will deiner Richtung nachgehen.« Doch selbst der Stern wollte mir an diesem Abend nicht Gesellschaft leisten. Er verbarg sich hinter einer Wolke und ließ mich im Regen und in der finsterenis; allein. Tastend fand ich den Weg nach einem Karrenschuppen, schlief dort ein und träumte von den alten Zeiten, als ich noch meinem Zigeunerherrn diente und mit den Hunden zusammenlebte. O Gott, was würde ich nicht darum gegeben haben, wenn ich beim Erwachen Tommy’s kleine feuchte Schnauze in meiner Hand gefühlt hätte! Doch warum Verweile ich bei diesen Dingen? Warum eile ich nicht lieber dem Ende zu? Sie sollten mich nicht durch so geduldiges Zuhören dazu ermuthigen, Sir.«

Nachdem ich wieder eine Woche lang, ohne Aussicht auf Hilfe, umhergewandert war, befand ich mich eines Tages in den Straßen von Shrewsbury und stierte in die Fenster eines Buchhändlerladens. Es kam ein alter Mann an die Ladenthür; er schaute um sich und erblickte mich. »Sucht Ihr Arbeit?« frug er mich, »und haltet Ihr Euch nicht zu gut, um es billig zu thun?« Die Aussicht auf Beschäftigung und auf die Gelegenheit, ein Wort mit einem menschlichen Wesen reden zu können, verlockte mich und ich übernahm ein schmutziges Tagewerk in einer Buchhändlerniederlage für einen Schilling. Ich erhielt noch mehr Arbeit dieses Schlages. Nach einer Woche ward ich dazu befördert, den Laden auszukehren und die Fensterläden zu schließen; bald darauf wurden mir die Bücher zum Austragen anvertraut, und als das Vierteljahr zu Ende war und der Ladendiener seine Stelle verließ, erhielt ich dieselbe. »Erstaunliches Glück!« werden Sie sagen; denn hier hatte ich endlich den Weg zu einem Freunde gefunden. Ich hatte den Weg zu einem der unbarmherzigsten Geizhälse in ganz England gefunden und mich durch ein ganz einfaches commercielles Verfahren in der kleinen Welt von Shrewsbury emporgearbeitet, indem ich meine Dienste wohlfeiler gab, als alle meine Mitbewerber. Die Arbeit in der Niederlage war von allen Leuten der Stadt, die gerade beschäftigungslos waren, ausgeschlagen worden —— und ich übernahm dieselbe. Der regelmäßig angestellte Markthelfer nahm seinen armseligen Wochenlohn unter allwöchentlichem Protest in Empfang; ich dagegen begnügte mich mit zwei Schillingen weniger und erhob keine Klage. Der Ladendiener sagte seinem Herrn den Dienst auf, weil er nicht allein zu schlecht besoldet, sondern auch zu schlecht beköstigt wurde. Ich erhielt die Hälfte seines Gehalts und ernährte mich von den spärlichen Brocken, die mir mein Herr zukommen ließ. Noch nie paßten zwei Menschen besser für einander, als jener Buchhändler und ich! Sein einziger großer Lebenszweck ging dahin, Jemand zu finden, der bereit war, seine Arbeit für Hungerlohn zu thun; mein einziger Lebenszweck, Jemanden zu finden, der mir ein Obdach geben wollte. Ohne ein einziges Gefühl mit einander gemein zu haben; ohne daß überhaupt irgendein Gefühl, ob der Feindschaft oder Freundschaft, zwischen uns erwuchs; ohne einander abends an der Haustreppe Gute Nacht, oder morgens am Ladentische Guten Morgen zu wünschen —— lebten wir, von Anfang bis zu Ende einander fremd, zwei Jahre lang zusammen in jenem Hause. Dies war eine traurige Existenz für einen Burschen in meinem Alter, wie? Sie sind ein Geistlicher und Gelehrter und können deshalb gewiß errathen, was mir jenes Leben erträglich machte.«

Mr. Brock erinnerte sich der zerlesenen Bände, die in der Handtasche des Unterlehrers gefunden worden waren. »Die Bücher machten Ihnen dasselbe erträglich«, sagte er.

Die Augen des Armen funkelten in einem neuen Lichte.

»Ja«, sagte er, »die Bücher —— die großmüthigen Freunde, die mir ohne Argwohn entgegenkamen —— die barmherzigen Lehrer, die mich nie mißhandelten! Die einzigen Jahre meines Lebens, auf die ich mit einer Art von Stolz zurückzublicken im Stande bin, waren die, welche ich im Hause des Geizhalses zubrachte. Das einzige unverdorbene Vergnügen, das ich je genossen, ist das, welches ich auf den Bücherbrettern des Geizhalses fand. Früh nnd spät, an den langen Winterabenden und den stillen Sommertagen, trank ich an der Quelle des Wissens, ohne des Trunkes überdrüssig zu werden. Wir hatten wenig Kunden zu bedienen, denn die Bücher waren meistens von der soliden, wissenschaftlichen Sorte. Es ruhten keine Verantwortlichkeiten auf mir, denn die Rechnungsbücher wurden von meinem Herrn geführt und es gingen nur geringe Geldsummen durch meine Hände. Er lernte mich bald hinreichend kennen, um zu wissen, daß er meiner Ehrlichkeit vertrauen und sich auf meine Geduld verlassen dürfe, wie er mich immer behandeln mochte. Der einzige Einblick, den ich in seinen Charakter that, entfernte mich noch mehr von ihm. Er war im Geheimen ein leidenschaftlicher Opiumesser —— in Laudanum förmlich verschwenderisch, obgleich in allem Uebrigen ein Geizhals. Er gestand mir diese Schwäche niemals ein, und ich sagte ihm nie, daß ich dieselbe entdeckt habe. Er genoß sein Vergnügen allein, und ich genoß das meinige ebenso. Eine Woche nach der andern, einen Monat nach dem andern saßen wir da, ohne je ein freundschaftliches Wort mit einander auszutauschen; ich allein mit meinem Buche an dem Ladentische, er allein mit seinem Rechnungsbuche in seinem Privatzimmer, wo er mir durch das schmutzige Fenster der Glasthür undeutlich sichtbar war, wie er zuweilen stundenlang über seinen Zahlen brütete oder regungslos in der Verzückung des Opiumrausches dasaß. Die Zeit verging und brachte keine Veränderungen für uns mit sich; die Jahreszeiten zweier Jahre wechselten und ließen uns unverändert. Eines Morgens, zu Anfange des dritten Jahres, erschien mein Herr nicht wie gewöhnlich, um mir mein Frühstück zuzumessen. Ich ging auf sein Zimmer und fand ihn hilflos im Bette. Er weigerte sich, mir die Schlüssel zum Vorrathschranke anzuvertrauen oder mich einen Doctor holen zu lassen. Ich kaufte mir ein Stückchen Brod und kehrte zu meinen Büchern zurück, und zwar ohne mehr für ihn zu fühlen —— dies gestehe ich offen —— als er unter ähnlichen Umständen für mich gefühlt haben würde. Ein paar Stunden später ward ich von einem gelegentlichen Kunden, einem Arzte, der seine Praxis aufgegeben, in meiner Lectüre gestört. Er ging in das Zimmer meines Herrn hinauf, und ich war froh, seiner los zu werden, um zu meinen Büchern zurückzukehren. Er kam wieder herunter und unterbrach mich nochmals. »Ihr gefallt mir nicht besonders, mein Bursche«, sagte er zu mir; »aber ich halte es für meine Pflicht, Euch zu sagen, daß Ihr bald für Euch selber zu sorgen genöthigt sein werdet. Ihr seid nicht sehr beliebt im Orte und werdet deshalb vielleicht einige Mühe haben, eine neue Stelle zu finden. Laßt Euch daher ein schriftliches Zeugniß von Eurem Herrn geben, ehe es zu spät ist.« Er sprach mit Kälte. Ich dankte ihm meinerseits ebenfalls kalt und verschaffte mir noch an demselben Tage das Zeugnis. Glauben Sie etwa, mein Herr habe mir dasselbe umsonst gegeben? Er dachte nicht daran! Noch auf dem Sterbebette handelte er mit mir. Er war mir den Gehalt für einen Monat schuldig und wollte keine Zeile von dem Zeugnisse schreiben, bis ich ihm verspräche, jene Schuld nicht von ihm zu fordern. Drei Tage später starb er, nachdem er bis zuletzt die Seligkeit genossen, seinen Ladendiener zu übervortheilen. »Aha!« flüsterte er, als der Arzt mich zu ihm gebracht hatte, damit ich Abschied von ihm nähme; »ich hab’ Euch wohlfeil gehabt!« War wohl Ozias Midwinters Stock so grausam wie dies? Mir scheint es nicht!

Nun, da stand ich wieder draußen in der Welt, doch diesmal sicherlich mit besseren Aussichten. Ich hatte auf eigene Hand Lateinisch, Griechisch und Deutsch gelernt und hatte ein schriftliches Zeugniß aufzuweisen, das zu meinen Gunsten sprach. Es nützte alles nichts! Der Arzt hatte vollkommen Recht —— ich war nicht beliebt im Orte. Die niederen Klassen verachteten mich, weil ich dem Geizhalse für seinen schmalen Lohn gedient hatte. Was die besseren Klassen betrifft, so ging es mir mit ihnen —— Gott mag wissen, wie es kam wie es mir, Mr. Armadale ausgenommen, stets mit allen Leuten ergangen ist —— ich machte im ersten Augenblicke einen unangenehmen Eindruck, und dies konnte ich später nicht wieder gut machen. Es ist höchst wahrscheinlich, daß ich alle meine Ersparnisse, mein armseliges kleines goldenes Erzeugniß zweier kümmerlicher Jahre ausgegeben hätte, wenn ich nicht in einem Localblatte eine Schullehrerstelle angezeigt gefunden hätte. Die herzlosen Bedingungen derselben ermuthigten mich, mich um die Stelle zu bewerben, und ich erhielt dieselbe. Wie es mir in der Schule erging und was dann ferner aus mir wurde, brauche ich Ihnen nicht zu erzählen. Der Faden meiner Erzählung ist völlig abgewunden; mein Vagabondenleben liegt, alles Geheimnisses entkleidet, vor Ihnen, und Sie wissen endlich das Schlimmste von mir.«



Kapiteltrenner

Elftes Kapitel.

Den letzten Worten der Erzählung Midwinter’s die wir im vorigen Kapitel berichtet haben, folgte ein kurzes Schweigen. Dann verließ Midwinter den Fenstersitz und kam mit dem Briefe aus Wildbad in der Hand an den Tisch zurück.

»Das Bekenntniß meines Vaters hat Ihnen gesagt, wer ich bin, und das meinige, welch ein Leben ich geführt habe«, sagte er zu Mr. Brock, ohne den Sitz anzunehmen, den der Pfarrer ihm mit der Hand andeutete. »Als ich um Erlaubniß bat, in dies Zimmer kommen zu dürfen, versprach ich, mir durch ein offenes Geständniß die Brust zu erleichtern. Habe ich Wort gehalten?«

»Es unterliegt dies keinem Zweifel«, erwiderte Mr. Brock »Sie haben Ihr Anrecht an mein Zutrauen und meine Theilnahme dargethan, und ich würde in der That ein gefühlloser Mensch sein, wenn ich, nachdem ich die Geschichte Ihrer Jugend gehört, für Allan’s Freund nicht etwas von Allan’s Freundschaft fühlte.«

»Ich danke Ihnen, Sir«, sagte Midwinter einfach und ernst. Dann setzte er sich zum ersten Male Mr. Brock gegenüber an den Tisch.

»In wenigen Stunden werden Sie diesen Ort verlassen haben«, fuhr er fort. »Falls ich dazu beitragen kann, daß Sie denselben mit beruhigtem Gemüthe verlassen, so will ich dies thun. Wir haben noch mehr mit einander zu sprechen; meine zukünftigen Beziehungen zu Mr. Armadale sind noch nicht festgestellt worden, und die ernste Frage, die in dem Briefe meines Vaters: aufgeworfen wird, ist noch nicht von uns in Erwägung gezogen worden.«

Er schwieg und blickte mit einer momentanen Ungeduld auf die im Morgengrauen noch immer auf dem Tische brennende Kerze. Der Kampf, mit vollkommener Fassung zu sprechen und seine eigenen Gefühle in stoischem Gleichmuth außer Betracht zu lassen, wurde ihm offenbar immer schwerer und schwerer.

»Sie werden vielleicht schneller zu einer Entscheidung kommen«, fuhr er fort, »wenn ich Ihnen erzähle, in welcher Weise ich, nachdem ich diesen Brief gelesen und mich hinreichend gesammelt hatte, um überhaupt wieder denken zu können, in Bezug auf die Namensgemeinschaft zwischen mir und Mr. Armadale gegen Letzteren zu handeln beschloß.« Er hielt inne und warf abermals einen ungeduldigen Blick auf die Kerze. »Wollen Sie die seltsame Grille eines seltsamen Menschen entschuldigen?« frug er mit einem matten Lächeln. »Ich möchte das Licht auslöschen —— ich möchte von dem neuen Gegenstande bei neuem Lichte redete.«

Bei diesen Worten löschte er die Kerze aus und ließ das erste zarte Morgenlicht ins Zimmer strömen.

»Ich muß Sie nochmals um Ihre Geduld bitten«, fuhr er fort, »indem ich wieder auf einen Augenblick zu mir selbst und meinen Verhältnissen zurückkehre. Ich habe Ihnen bereits gesagt, daß mein Stiefvater, einige Jahre nachdem ich die Schule in Schottland verlassen, Versuche machte, mich wiederzufinden. Er that diesen Schritt nicht etwa aus persönlicher Besorgniß oder Theilnahme für mich, sondern ganz einfach als Agent der Administratoren des Vermögens meines Vaters. Diese hatten, zur Zeit der Emancipation der Sklaven und des Ruins aller westindischen Besitzungen nach ihrem besten Dafürhalten die Güter auf der Insel Barbadoes um den Preis verkauft, den sie eben für dieselben erhalten konnten. Nachdem sie den Erlös angelegt, waren sie verpflichtet, eine jährliche Summe für meine Erziehung auszusetzen, und diese Verantwortlichkeit nöthigte sie zu dem Versuche, meine Spur zu entdecken —— der, wie Sie bereits wissen, ein fruchtloser war. Ein wenig später wurde ich, wie ich seitdem erfahren habe, durch eine Zeitungsannonce die mir niemals zu Gesicht gekommen ist, aufgerufen, und noch später, als ich einundzwanzig Jahre alt war, erschien eine zweite Annonce in der Zeitung, welche ich selbst gelesen habe und die eine Belohnung für den Nachweis meines Todes bot. Falls ich am Leben war, hatte ich, sobald ich mündig geworden, Ansprüche an die Hälfte des Erlöses aus den verkauften Gütern; war ich aber todt, so fiel das Ganze meiner Mutter zu. Ich ging zu den Advokaten und erfuhr von diesen, was ich Ihnen soeben mitgetheilt habe. Nach einigen Schwierigkeiten, meine Identität zu beweisen, und nach einer Zusammenkunft mit meinem Stiefvater und einem Gruße von meiner Mutter, der uns hoffnungsloser denn je von einander getrennt hat —— wurden meine Rechte anerkannt, und das Geld ist jetzt für mich unter dem Namen, der wirklich der meinige ist, in Staatspapieren angelegt.«

Mr. Brock rückte begierig näher an den Tisch. Er sah, daß der Sprechende sich jetzt dem Ende näherte.

»Zweimal des Jahres «, fuhr Midwinter fort, »bin ich genöthigt, meinen eignen Namen zu unterzeichnen, um mein Einkommen zu erhalten. Zu allen andern Zeiten und unter allen andern Umständen darf ich unter jedem mir beliebigen Namen meine Identität verbergen. Mr. Armadale machte meine Bekanntschaft als Ozias Midwinter und als Ozias Midwinter soll er mich bis zum letzten Tage meines Lebens kennen. Welcher Art der Erfolg dieser Unterredung immer sei —— ob ich Ihr Vertrauen gewinne oder verliere —— so dürfen Sie sich wenigstens einer Sache versichert halten: Ihr Zögling soll nie das gräßliche Geheimniß erfahren, welches ich Ihnen anvertraut habe. Dies ist kein außerordentlicher Entschluß, denn es kostet mich, wie Sie bereits wissen, keine besondere Ueberwindung, meinen angenommenen Namen beizubehalten. Andrerseits liegt in diesem Verfahren durchaus nichts Ruhm würdiges; dasselbe ist die ganz natürliche Folge der Dankbarkeit eines erkenntlichen Mannes. Ueberlegen Sie sich die Verhältnisse, Sir, und lassen Sie mein persönliches Grauen vor einer Offenbarung derselben gegen Mr. Armadale außer Frage. Falls die Geschichte der Namen je erzählt wird, so kann dieselbe nicht auf die Enthüllung des Verbrechens meines Vaters beschränkt bleiben; es würde die Mittheilung der Geschichte von Mrs. Armadales Heirath bedingen. Ich habe ihren Sohn von ihr reden hören; ich weiß, wie sehr er ihr Andenken liebt. So wahr Gott mein Zeuge ist, dasselbe soll ihm durch mich nie minder theuer gemacht werden!«

Ungeachtet der Einfachheit, mit der diese Worte gesprochen wurden, berührten dieselben doch die zartesten Saiten in der Natur des Pfarrers; sie führten seine Gedanken an Mrs. Armadale’s Sterbelager zurück. Dort saß der Mann, vor dem sie ihn im Interesse ihres Sohnes gewarnt hatte, ohne ihn zu kennen —— und dieser Mann hatte aus freien Stücken die Verpflichtung auf sich genommen, um ihres Sohnes willen ihr Geheimniß zu achten! Die Erinnerung an seine eigenen früheren Bemühungen der Freundschaft ein Ende zu machen, aus der dieser Entschluß entsprang, erhob sich vor seinem Geiste und machte Mr. Brock bittere Vorwürfe. Er reichte Midwinter zum ersten Male die Hand. »Ich danke Ihnen«, sagte er mit Wärme, »in ihrem Namen und im Namen ihres Sohnes.«

Midwinter legte, ohne etwas zu erwidern, das Bekenntniß offen auf den Tisch.

»Ich glaube alles gesagt zu haben, was zu sagen meine Pflicht war, ehe ich zu den Betrachtungen in Bezug auf diesen Brief überging«, fuhr er fort. »Was Ihnen in meinem Benehmen gegen Sie und Mr. Armadale seltsam erschienen ist, wird sich jetzt leicht von selbst erklären. Sie werden leicht begreifen, daß ich mich der Enthüllung unserer Namensgleichheit nur deshalb enthielt, weil ich meiner Stellung nicht schaden mochte —— wenigstens in Ihrer Meinung, wenn auch nicht in der seinigen —— indem ich bekannte, daß ich mich unter einem angenommenen Namen bei Ihnen eingeführt. Und nach allem, was Sie soeben über mein Vagabondenleben und meinen niedrigen Umgang erfahren haben, werden Sie sich kaum über das hartnäckige Schweigen verwundern, das ich zu einer Zeit über mich selber bewahrte, wo ich noch nicht die Verantwortlichkeit fühlte, die meines Vaters Bekenntniß mir auferlegt hat. Wir können, falls Sie es wünschen, ein andermal zu diesen unbedeutenden persönlichen Angelegenheiten zurückkehren; dieselben dürfen uns nicht von den wichtigeren Dingen abhalten, über die wir entscheiden müssen, ehe Sie diesen Ort verlassen. Wir müssen jetzt ——« seine Stimme bebte, und er wandte plötzlich das Gesicht dem Fenster zu, sodaß der Pfarrer dasselbe nicht sehen konnte. »Wir müssen jetzt«, wiederholte er, und seine Hand, die den Brief hielt, zitterte sichtlich, »zu dem Morde an Bord des Holzschiffes und der Warnung kommen, die mir aus dem Grabe meines Vaters gefolgt ist.«

Leise, wie wenn er fürchtete, daß dieselben bis zu Allan dringen könnten, der im anstoßenden Zimmer schlief —— las er die letzten fürchterlichen Worte, welche die Feder des Schotten zu Wildbad niedergeschrieben hatte, wie dieselben von den Lippen seines Vaters gekommen waren.

«Meide die Wittwe des Mannes, den ich getödtet habe, falls sie noch am Leben ist. Meide das Mädchen, dessen gottlose Hand den Pfad zu ihrer Heirath ebnete, falls dieses Mädchen noch in ihrem Dienste ist. Und vor allem meide den Mann, dessen Name auch der Deinige ist. Beleidige Deinen besten Wohlthäter, falls der Einfluß dieses Wohlthäters Euch mit einander in Berührung gebracht hat. Verlasse das Weib, das Dich liebt, falls dieses Weib ein Verbindungsglied zwischen ihm und Dir ist. Verbirg Dich vor ihm unter einem falschen Namen. Mögen Gebirge und Meere Dich von ihm trennen. Sei undankbar, sei unversöhnlich; sei, ehe Du mit jenem Manne unter demselben Dache wohnst oder dieselbe Luft athmest, lieber alles, was Deiner besseren Natur am meisten zuwider ist. Laß die beiden Allan Armadale einander nie in dieser Welt begegnen; nie, nie, nie!«

Nachdem er diese Zeilen gelesen, schob er, ohne aufzublicken, das Manuskript von sich. Die unglückselige Zurückhaltung, die er vor wenigen Minuten so glücklich zu überwinden angefangen, bemächtigte sich seiner wieder. Seine Augen wurden abermals unstät und seine Stimme sank. Ein Fremder, der seine Geschichte gehört und ihn jetzt gesehen hätte, würde gesagt haben, sein Blick sei falsch, sein Wesen schlecht; er sei Zoll für Zoll der echte Sohn seines Vaters.

»Ich wünsche eine Frage an Sie zu richten«, sagte Mr. Brock, seinerseits das Schweigen brechend. »Warum haben Sie soeben jene Stelle in dem Briefe Ihres Vaters gelesen?«

»Um mich zu zwingen, die Wahrheit zu reden«, war die Antwort. »Ehe Sie mir gestatten, Mr. Armadale’s Freund zu sein, müssen Sie wissen, wie viel mir von meinem Vater anhaftet. Ich erhielt meinen Brief gestern früh, und von einer geheimen Ahnung ergriffen, ging ich allein nach dem Meeresstrand hinunter, ehe ich das Siegel erbrach. Glauben Sie, daß die Todten in die Welt zurückkehren können, in der sie einst gelebt haben? Ich glaube, daß mein Vater in diesem hellen Morgenlichte, beim Glanze jenes funkelnden Sonnenscheins und dem Gebrüll der freudig rauschenden Meereswogen zu mir kam und mich beobachtete, während ich las. Als ich zu den Worten kam, die ich Ihnen soeben vorlas, und als ich wußte, daß das Ende, welches er in seiner Sterbestunde befürchtet hatte, wirklich gekommen war —— da fühlte ich, wie mich dasselbe Grausen beschlich, das auch ihn in seinen letzten Augenblicken ergriffen hatte. Ich kämpfte gegen mich selber, wie er es von mir verlangte, und versuchte alles zu sein, was meiner besseren Natur am meisten zuwider war; ich versuchte, ohne dem Mitleid Raum zu geben, darüber nachzudenken, auf welchem Wege ich es dahin bringen könnte, daß Meere und Berge mich von dem Manne trennten, der meinen Namen führt. Es vergingen viele Stunden, ehe ich es über mich vermochte, zurückzukehren und mich der Gefahr eines Begegnens mit Allan Armadale in diesem Hause auszusetzen. Als ich endlich zurückkam und er mir auf der Treppe begegnete, war mirs, als blickte ich ihm ins Gesicht, wie mein Vater dem seinigen ins Gesicht geblickt, als die Kajütenthür sich zwischen ihnen geschlossen hatte. Ziehen Sie Ihre eigenen Schlüsse, Sir«, sagen Sie, wenn Sie wollen, daß ich meines Vaters heidnischen Aberglauben an ein Schicksal geerbt habe. Ich will dies nicht bestreiten; ich will es nicht leugnen, daß während des ganzen gestrigen Tages sein Aberglaube auch der meinige war. Die Nacht war hereingebrochen, ehe ich den Weg zu ruhigeren und besseren Gedanken finden konnte. Aber ich fand denselben endlich. Sie dürfen es mir als etwas anrechnen, daß ich mich endlich von dem Einflusse dieses fürchterlichen Briefes freimachte. Wissen Sie, was mir dazu behilflich war?«

»Vernunftgründe?«

»Mit Vernunftgründen vermag ich nichts wider meine Gefühle auszurichten.«

»Beruhigten Sie Ihr Gemüth durch Gebet?«

»Ich war nicht in einem Zustande, um zu beten.«

»Und dennoch führte Sie etwas zu dem besseren Gefühle und der richtigeren Ansicht?«

»Ja —— etwas.«

»Was war es?«

»Meine Liebe zu Allan Armadale.«

Indem er diese Antwort gab, warf er einen zweifelhaften, fast furchtsamen Blick auf Mr. Brock und kehrte, plötzlich vom Tische aufstehend, an den Fenstersitz zurück.

»Habe ich nicht das Recht, in dieser Weise von ihm zu reden«, frug er, dem Pfarrer sein Gesicht verbergend. »Kenne ich ihn noch nicht lange genug? Habe ich noch nicht genug für ihn gethan? Erinnern Sie sich, welcher Art meine Erinnerungen von andern Leuten waren, als er mir zuerst seine Hand entgegenstreckte, als ich zum ersten Male in meinem Krankenzimmer seine Stimme hörte? Welcher Art waren von meiner Kindheit an meine Erfahrungen in Bezug auf Fremde gewesen? Ich hatte dieselben nur als Menschen kennen gelernt, die ihre Hände erhoben, um mir zu drohen oder mich zu schlagen. Aber seine Hand glättete das Kissen unter meinem Haupte und klopfte mich sanft auf die Schulter und reichte mir Speise und Trank. Was waren meine Erfahrungen von anderer Leute Stimmen, als ich selbst zum Manne herangewachsen war? Ich hatte nur Stimmen gekannt, welche meiner spotteten, die mir fluchten, Stimmen, die schmachvolles Mißtrauen gegen mich ausstreuten. Seine Stimme dagegen sprach zu mir: »Frohen Muth, Midwinter! Wir wollen Sie bald wieder auf die Beine bringen. In einer Woche werden Sie kräftig genug sein, um in unsern hübschen Alleen von Sommersetshire mit mir spazieren zu fahren.«

Erinnern Sie sich des Zigeunerprügels; erinnern Sie sich jener Teufel, die über mich lachten, als ich, meinen kleinen todten Hund im Arme tragend, an ihrem Fenster vorüberging; erinnern Sie sich des Herrn, der mich auf seinem Sterbebette um meinen Monatslohn betrog —— und dann fragen Sie ihr eigenes Herz, ob der elende Wicht, den Allan Armadale als seinen Freund und Seinesgleichen behandelt, zu viel gesagt hat, wenn er sagt, daß er ihn liebt? Ich liebe ihn! Es muß heraus; ich kann es nicht unterdrücken. Ich liebe den Boden, den sein Fuß berührt; ich würde mein Leben hingeben —— ja, dieses Leben, das mir jetzt kostbar ist, seitdem seine Güte dasselbe glücklich gemacht hat —— ich sage Ihnen, ich würde mein Leben ——«

Die letzten Worte erstarben auf seinen Lippen; eine heftige krampfhafte Leidenschaft überwältigte ihn. Er streckte seine Hand mit einer wilden, flehenden Gebärde gegen Mr. Brock aus; sein Haupt sank auf das Fensterbrett und er brach in Thränen aus.

Doch die harte Disciplin seines Lebens machte sich selbst hier geltend. Er erwartete keine Theilnahme; er rechnete auf keine mitleidsvolle menschliche Achtung für seine menschliche Schwachheit Die grausame Nothwendigkeit der Selbstbeherrschung war seinem Geiste gegenwärtig, während ihm die Thränen über die Wangen strömten. »Gestatten Sie mir eine Minute«, sagte er mit schwacher Stimme. »Ich werde es in einer Minute überwunden haben und will Sie nicht wieder in dieser Weise betrüben.«

Seinem Entschlusse getreu, hatte er es in der That in einer Minute überwunden; und dann vermochte er mit Fassung weiter zu reden.

»Wir wollen zu jenen besseren Gedanken zurückkehren, Sir, die mich gestern Abend nach Ihrem Zimmer führten«, fuhr er fort. »Ich kann nur wiederholen, daß ich die Gewalt, mit welcher dieser Brief mich gepackt hatte, nimmer abzuschütteln im Stande gewesen wäre, wenn ich nicht Allan Armadale mit der ganzen Bruderliebe geliebt hätte, deren meine Natur fähig ist. Ich sprach zu mir: »Wenn der Gedanke, ihn zu verlassen, mir das Herz bricht, so ist dieser Gedanke ein unrechter!« Dies war vor einigen Stunden, und ich bin noch immer derselben Ansicht Ich kann und will nicht glauben, daß eine Freundschaft, die lediglich der Güte auf der einen Seite und der Dankbarkeit auf der andern ihren Ursprung verdankt, zu einem bösen Ende zu führen bestimmt ist. Ich unterschätze die seltsamen Umstände, die uns zu Namensbrüdern gemacht haben, nicht; auch nicht die seltsamen Umstände, die uns zusammengeführt und einander werth gemacht haben; noch die seltsamen Dinge, die sich seitdem für uns beide ereignet haben. Dieselben mögen sich in meinen Gedanken alle an einander reihen, und sie thun dies; aber sie sollen mich nicht abschrecken. Ich will eben nicht glauben, daß diese Ereignisse eine Fügung des Schicksals und ein schlechtes Ende zu nehmen bestimmt sind, sondern vielmehr, daß sie eine Fügung Gottes sind und zum Guten führen sollen. Entscheiden Sie, der Sie ein Geistlicher sind, zwischen dem todten Vater, dessen Worte in diesen Blättern stehen, und dem lebenden Sohne, dessen Worte Sie jetzt von seinen Lippen hören! Was bin ich, jetzt, da die beiden Allan Armadale in einer zweiten Generation zusammengeführt worden sind? Ein Werkzeug in den Händen des blinden Schicksals oder ein Werkzeug in den Händen der Vorsehung? Welches ist meine Ausgabe, jetzt da ich mit dem Sohne des Mannes, den mein Vater tödtete, dieselbe. Luft athme und dasselbe Obdach theils? Soll ich das Verbrechen meines Vaters fortsetzen, indem ich ihm tödtliches Unrecht zufüge, oder soll ich das Verbrechen meines Vaters wieder gut machen, indem ich ihm mein ganzes Leben widme? Diese letztere Ueberzeugung ist die meinige und soll die meinige bleiben, was sich immer ereignen möge. In dieser festen bessern Ueberzeugung bin ich zu Ihnen gekommen, um Ihnen das Geheimniß meines Vaters anzuvertrauen und Ihnen die elende Geschichte meines Lebens mitzutheilen. In dieser festen besseren Ueberzeugung kann ich entschlossen mit der offenen Frage vor Sie hintreten, welche sich auf den Endzweck meiner ganzen Unterredung mit Ihnen bezieht.

»Und diese Frage ist —?« Ihr Zögling befindet sich beim Eintritt in seine neuen Lebensverhältnisse in einer merkwürdigen Lage: Er ist ohne Freunde. Sein größtes Bedürfniß ist das eines Gefährten seines Alters, auf den er sich verlassen kann. Der Augenblick ist da, Sir, zu entscheiden, ob ich dieser Gefährte sein soll oder nicht. Sagen Sie mir offen, ob Sie nach allem, was Sie über Ozias Midwinter gehört haben, ihm trauen und ihm gestatten wollen, Allan Armadale’s Freund zu sein?«

Mr. Brock beantwortete diese furchtlos an ihn gerichtete offene Frage mit derselben furchtlosen Offenheit.

»Ich glaube, daß Sie Allan lieben«, erwiderte er; »ich glaube auch, daß Sie die Wahrheit gesprochen haben. Ein Mann, der einen solchen Eindruck auf mich gemacht hat, ist ein Mann, dem ich mein Vertrauen schuldig bin. Ich vertraue Ihnen.«

Midwinter sprang auf und sein braunes Gesicht erglühte tief; seine Augen waren endlich klar und fest auf das Gesicht des Pfarrers geheftet.»Ein Licht!« rief er aus, indem er den Brief seines Vaters Blatt für Blatt von dem Faden riß, der das Manuskript zusammenhielt. »Lassen Sie uns das letzte Glied der Kette vernichten, die uns mit der fürchterlichen Vergangenheit verbindet! Lassen Sie uns, ehe wir von einander scheiden, aus diesem Bekenntnisse einen Aschenhaufen machen!«

»Warten Sie!« sagte Mr. Brock »Es giebt Gründe, dasselbe noch einmal durchzusehen, ehe Sie es verbrennen.«

Midwinter ließ die abgerissenen Blätter fallen. Mr. Brock nahm dieselben auf und ordnete sie sorgfältig bis zu der letzten Seite.

»Ich theile Ihre Ansicht über den Aberglauben Ihres Vaters vollkommen«, sagte der Pfarrer. »Doch steht hier eine Warnung, die Sie um Allan’s und Ihrer selbst willen wohl beachten sollten. Das letzte Glied der Verbindungskette zwischen uns und der Vergangenheit ist noch nicht zerstört, wenn Sie diese Blätter verbrannt haben. Eine der Personen in dieser Geschichte von Falschheit und Mord ist noch nicht todt. Lesen Sie diese Worte!«

Er schob das Blatt über den Tisch hin, während er mit dem Finger eine Stelle aus demselben bezeichnete. Midwinter’s Gemüthsbewegung ließ ihn ein Versehen machen und er las: »Meide die Wittwe des Mannes, den ich getödtet habe, falls die Wittwe noch am Leben ist.«

»Nicht jene Stelle«, sagte der Pfarrer. »Die nächste!«

Midwinter las dieselbe: »Meide das Mädchen, deren gottlose Hand den Pfad zu dieser Heirath ebnete, falls dieses Mädchen noch in ihrem Dienste ist.«

»Das Mädchen und ihre Herrin«, sagte Mr. Brock, »schieden zur Zeit der Heirath von einander. Das Mädchen und ihre Herrin kamen voriges Jahr in Mrs. Armadale’s Wohnung in Sommersetshire wieder zusammen. Ich selbst begegnete dem Mädchen im Dorfe, und ich weiß, daß ihr Besuch Mrs. Armadale’s Tod beschleunigte. Warten Sie ein wenig und fassen Sie sich. Ich sehe, ich habe Sie überrascht.«

Er wartete, wie ihm geheißen worden, während die frohe Gluth in seinem Gesichte sich in eine graue Blässe verwandelte und das Licht in seinen klaren braunen Augen langsam erlosch. Das, was der Pfarrer gesagt, hatte nicht blos einen flüchtigen Eindruck auf ihn gemacht; es lag etwas mehr als Zweifel, es lag Bestürzung in seinen Zügen, wie er in Gedanken versunken dasaß. Kehrte etwa der Kampf vom vergangenen Abend schon wieder zurück? Fühlte er sich wieder von dem Grausen seines ererbten Aberglaubens beschlichen?

»Können Sie mir dazu behilflich sein, daß ich jenem Frauenzimmer gegenüber auf meiner Hut bin?« frug er nach einem langen Schweigen. »Können Sie mir den Namen dieser Person sagen?«

»Ich kann Ihnen nur das sagen, was ich von Mrs. Armadale erfahren habe«, war die Antwort. »Die Person gestand, daß sie sich, seit sie und ihre Herrin einander zuletzt gesehen, verheirathet habe. Doch ließ sie sich weiter kein Wort über ihr vergangenes Leben entschlüpfen. Sie kam zu Mrs. Armadale, um sie unter dem Vorwand der Bedürftigkeit um Geld zu bitten. Sie erhielt das Geld und verließ das Haus, nachdem sie sich entschieden geweigert hatte, ihren jetzigen Namen anzugeben.«

»Sie haben sie selbst im Dorfe gesehen. Können Sie mir ihr Gesicht beschreiben?«

»Nein; denn sie war dicht verschleiert.«

»Aber Sie können das beschreiben, was Sie an ihr sahen?«

»Das versteht sich. Ich sah, als sie zu mir herankam, daß ihre Bewegungen auffallend anmuthig und ihre Gestalt schön und etwas über mittlerer Größe war. Als sie mich anredete und um den Weg nach Mrs. Armadales Hause fragte, bemerkte ich, daß ihre Manieren die einer gebildeten Dame waren und daß ihre Stimme etwas auffallend Sanftes und Einnehmendes hatte. Schließlich erinnerte ich mich später, daß sie einen dichten schwarzen Schleier, einen schwarzen Hut, ein schwarz seidenes Kleid und einen rothen gewirkten Shawl trug. Ich fühle vollkommen, wie wichtig es für Sie ist, bessere Auskunft zu erlangen, um sie identificiren zu können. Unglücklicherweise aber ——«

Er hielt inne. Midwinter beugte sich eifrig über den Tisch und legte plötzlich seine Hand auf den Arm des Pfarrers.

»Ist es möglich, daß Sie die Frau kennen?« frug Mr. Brock, erstaunt über die plötzliche Veränderung in seinem Wesen.

»Nein.«

»Was habe ich gesagt, das Sie so bewegt hat!«

»Erinnern Sie sich der Frau, die sich von dem Flußdampfboote ins Wasser stürzte?« fragte der Andere; »der Frau, welche die Ursache jener Reihe von Todesfällen war, infolge deren Allan Armadale die Güter von Thorpe-Ambrose zufielen?«

»Ich erinnere mich der Beschreibung, welche die Polizeiberichte von ihr gaben«, antwortete der Pfarrer.

»Jene Frau«, fuhr Midwinter fort, »bewegte sich anmuthig und besaß eine schöne Gestalt; jene Frau trug einen schwarzen Schleier, einen schwarzen Hut, ein schwarzes Kleid und einen rothen gewirkten Shawl ——« Er schwieg, ließ Mr. Brocks Arm los und kehrte plötzlich zu seinem Sitze zurück. »Kann sie dieselbe sein?« sprach er flüsternd zu sich selber. »Giebt es wirklich ein Verhängnis das den Menschen im Dunkeln verfolgt? Und verfolgt dasselbe uns in den Schritten jenes Weibes?«

War diese Muthmaßung eine richtige, so mußte das eine Ereigniß in der Vergangenheit, welches mit den anderen, ihm vorausgegangenen, anscheinend durchaus in gar keiner Verbindung gestanden, das einzige fehlende Glied sein, welches die Kette vollständig machte. Mr. Brocks gesunder, einfacher Sinn wies diese außerordentliche Folgerung instinctmäßig zurück. Er sah Midwinter mit einem mitleidsvollen Lächeln an.

»Mein junger Freund«, sagte er mit gütiger Stimme; »haben Sie sich wohl so vollkommen allen Aberglaubens entschlagen, wie Sie glauben? Ist das, was Sie soeben gesagt haben, wohl jenes besseren Entschlusses würdig, den Sie gestern Abend gefaßt haben?«

Midwinter ließ den Kopf auf die Brust sinken; es verbreitete sich eine schnelle Röthe über sein Gesicht und er seufzte bitterlich.

»Sie fangen an meiner Aufrichtigkeit zu zweifeln an«, sagte er. »Ich kann Sie nicht dafür tadeln.«

»Ich glaube noch so fest wie je an Ihre Aufrichtigkeit«, erwiderte Mr. Brock. »Nur bezweifle ich,ob Sie die schwachen Stellen in Ihrer Natur so stark befestigt haben, wie Sie selber es annehmen. Es hat schon Mancher in dem Kampfe mit sich selbst weit häufigere Niederlagen erlitten als Sie, und dennoch zuletzt den Sieg davongetragen. Ich tadele Sie nicht; ich mißtraue Ihnen nicht. Ich erwähne bloß dessen, was sich ereignet hat, um Sie vor sich selbst zu Warnen. Kommen Sie, kommen Sie! Nehmen Sie Ihren eigenen vortrefflichen Verstand zu Hilfe, und Sie werden bald mit mir übereinstimmen, daß wirklich kein Beweis vorliegt, der den Argwohn rechtfertigt, daß die Frau, die ich in Sommersetshire sah, und die Frau, welche in London einen Selbstmord versuchte, eine und dieselbe Person sind. Braucht ein alter Mann wie. ich einen jungen Mann daran zu erinnern, daß es in England Tausende von Frauen mit schönen Gestalten giebt —— Tausende von Frauen, die einfach schwarze Seide und gewirkte Shawls tragen?«

Midwinter fing die Idee begierig auf; zu begierig, wie ein schärferer Beurtheiler der Menschen, als Mr. Brock war, vielleicht gedacht haben würde.

»Sie haben vollkommen Recht, Sir«, sagte er, »und ich Unrecht. Zehntausende von Frauen entsprechen jener Beschreibung wie Sie sagen. Ich habe mit meinen müßigen Grillen die Zeit vergeudet, die ich zum sorgfältigen Sammeln von Thatsachen hätte verwenden sollen. Falls diese Frau jemals den Weg zu Allan zu finden versucht, muß ich darauf vorbereitet sein, sie hieran zu hindern.« Er fing hastig zwischen den Blättern des Manuscripts zu suchen an, welche auf dem Tische zerstreut lagen, hielt bei einem derselben an und heftete aufmerksam die Blicke auf die darauf geschriebenen Worte. »Dies verhilft mir zu etwas Positivem«, fuhr er fort; »es klärt mich über ihr Alter auf. Sie war zur Zeit von Mrs. Armadale’s Heirath zwölf Jahre alt; fügen wir ein Jahr hinzu, so macht dies dreizehn; fügen wir dann Allan’s Alter (zweiundzwanzig Jahre) hinzu, so muß sie jetzt eine Frau von fünfunddreißig Jahren sein. Ich kenne ihr Alter und weiß auch, daß sie ihre Gründe hat, um über ihr eheliches Leben zu schweigen. Dies ist etwas für den Anfang und es mag mit der Zeit zu Mehrerem führen.« Er sah abermals mit erheitertem Gesicht zu Mr. Brock empor. »Bin ich jetzt auf dem rechten Wege, Sir? Thue ich mein Möglichstes, um von der Warnung zu profitieren, die Sie so gütig waren mir zu ertheilen?«

»Sie rechtfertigen Ihr eigenes besseres Urtheil«, erwiderte der Pfarrer, um ihn zu ermuthigen, daß er seiner Einbildungskraft nicht die Zügel schießen lasse. »Sie bahnen sich den Weg zu einem glücklicheren Leben.«

»Meinen Sie das?« sagte der Andere gedankenvoll. Er suchte nochmals unter den Papieren nach und hielt bei einem andern der zerstreuten Blätter inne.

»Das Schiff!« rief er plötzlich aus, indem er abermals die Farbe wechselte und sein Wesen sich augenblicklich veränderte.

»Welches Schiff?« frug der Pfarrer.

»Das Schiff, auf welchem die That geschah«, erwiderte Midwinter mit den ersten Anzeichen der Ungeduld; »das Schiff, auf dem die mörderische Hand meines Vaters den Schlüssel in der Kajütenthür umdrehte.«

»Was soll es damit?« frug Mr. Brock.

Er schien die Frage nicht zu hören; seine Augen waren begierig auf die Zeilen geheftet, die er zu lesen beschäftigt war.

»Ein französisches Schiff, das zum Holzhandel verwendet wurde«, sagte er, zu sich selber redend; »ein französisches Schiff, welches La Gráce de Dieu hieß. Wäre der Glaube meines Vaters begründet gewesen; hätte das Verhängnis; mich Schritt für Schritt vom Grabe meines Vaters an verfolgt, so würde ich auf einer oder der andern meiner Fahrten auf jenes Schiff gestoßen sein.« Er schaute abermals zu Mr. Brock auf. »Ich bin mir dessen jetzt völlig gewiß«, sagte er.»Jene beiden Frauen sind nicht eine und dieselbe Person.«

Mr. Brock schüttelte den Kopf.

»Ich freue mich, daß Sie zu diesem Schlusse gekommen sind«, sagte er; »aber ich wollte, Sie wären auf einem andern Wege zu demselben gelangt.«

Midwinter sprang Ungestüm von seinem Sitze auf, ergriff mit beiden Händen die Blätter des Manuscripts und warf dieselben in den leeren Kamin.

»Ich bitte Sie um Gottes willen, lassen Sie mich die Blätter verbrennen!« rief er. »Solange noch eine Seite davon vorhanden ist, werde ich dieselben zu lesen fortfahren. Und solange ich lese, behält mein Vater wider meinen Willen die Oberhand über mich!«

Mr. Brock wies auf die Zündhölzchenschachtel. Im nächsten Augenblicke war das Bekenntniß ein Raub der Flammen. Als das Feuer das letzte Stückchen Papier verzehrt hatte, athmete Midwinter tief auf. Dann rief er mit einer fieberhaften Fröhlichkeit. »Ich darf mit Macbeth sagen: »Jetzt, da es geschehen, bin ich wieder ein Mann!« Sie sehen ermüdet aus, Sir, und dies ist nicht zum Verwundern«, fügte er mit leiserer Stimme hinzu. »Ich habe Sie zu lange von Ihrer Nachtruhe abgehalten —— ich will Sie nicht länger stören. Verlassen Sie sich darauf, daß ich mich dessen erinnern werde, was Sie mir gesagt haben; verlassen Sie sich darauf, daß ich mich zwischen Allan und jeden Feind stellen werde, der ihm nahe kommt, sei derselbe Mann oder Weib. Ich danke Ihnen, Mr. Brock, ich danke Ihnen tausend, tausendmal! Ich kam als das unglücklichste aller lebenden Wesen in dieses Zimmer; ich verlasse dasselbe so glücklich wie die Vögel, die im Garten singen!«

Wie er sich der Thür zuwandte, strömten die Strahlen der aufgehenden Sonne durch das Fenster herein und fielen auf den Aschenhaufen, der schwarz auf dem schwarzen Herde lag.

»Sehen Sie!« rief er froh. »Die Verheißung einer schöneren Zukunft, die die Asche der Vergangenheit verklärt!«



Kapiteltrenner

Zwölftes Kapitel.

Die Morgenstunden waren vergangen; der Mittag war gekommen und verstrichen, Mr. Brock hatte seine Heimreise angetreten.

Die beiden jungen Leute waren, nachdem sie im Hafen von Douglas von dem Pfarrer Abschied genommen hatten, nach Castletown zurückgekehrt und hatten sich dort an der Thür des Hotels von einander getrennt; Allan war nach dem Strande hinabgegangen, um nach seiner Jacht zu sehen, und Midwinter ins Haus, um die Ruhe zu suchen, deren er nach der schlaflosen Nacht bedurfte.

Er verdunkelte das Zimmer und schloß die Augen —— doch der Schlaf kam nicht. An diesem ersten Tage der Abwesenheit des Pfarrers vergrößerte seine empfindsame Natur sich die Verantwortlichkeit, die er jetzt an Mr. Brocks Stelle übernommen hatte, in übertriebener Weise. Eine nervöse Angst, Allan selbst nur auf ein paar Stunden allein zu lassen, erhielt ihn wach und in Zweifel, bis es ihm eher eine Erleichterung als ein Opfer war, sein Bett wieder zu verlassen und Allan nach dem Strande und der Jacht zu folgen.

Die Ausbesserungen, deren das kleine Fahrzeug bedurfte, waren fast beendet. Es war ein heiterer, windiger Tag; das Land lag lachend im Sonnenschein da, das blaue Meer breitete sich unter dem wolkenlosen Himmel aus; die Wellen hüpften in der goldenen Gluth und die Leute sangen bei ihrer Arbeit. Als Midwinter in die Kajüte hinabstieg, fand er seinen Freund eifrig beschäftigt, Ordnung in derselben herzustellen. Für gewöhnlich der unsystematischste Mensch von der Welt, fühlte Allan sich von Zeit zu Zeit unwiderstehlich von dem Gedanken an die Vortheile ergriffen, welche die Ordnung dem Menschen bietet, und zu solchen Zeiten bemächtigte sich seiner eine wahre Raserei der Ordnung. Als Midwinter zu ihm herein sah, kniete er auf dem Boden und war mit einem Eifer, der sich gar komisch ausnahm, damit beschäftigt, die saubere kleine Kajütenwelt in ein wahrhaft ursprüngliches Chaos zu verwandeln —— anstatt sie in Ordnung zu bringen.

»Hier hast Du eine schöne Confusion!« rief Allan, sich mit großer Gemüthsruhe von dem Schauplatze seiner von ihm selbst geschaffenen Unordnung erhebend. »Weißt Du was, mein lieber Junge, ich fange an zu glauben, daß ich es lieber hätte bleiben lassen sollen.«

Midwinter lächelte und kam seinem Freunde mit der den Seeleuten eigenen Gewandtheit im Ordnen zu Hilfe.

Der erste Gegenstand, dem er begegnete, war Allan’s Toilettenkästchen, das Unterste zu oberst gekehrt, während sein Inhalt in der Gesellschaft des Flederwisches und des Staubbesens auf dem Fußboden zerstreut lag. Als Midwinter die zur Ausstattung des Toilettenkästchens gehörigen Gegenstände wieder der Reihe nach jeden an seine Stelle legte, traf er unvermuthet auf ein Miniaturgemälde. Von der altmodischen ovalen Form, welches zierlich mit kleinen Diamanten eingefaßt war.

»Du scheinst hierauf keinen großen Werth zu legen«, sagte er. »Was ist es?«

Allan beugte sich über ihn hin und betrachtete das Bildchen.

»Es gehörte meiner Mutter«, antwortete er, »und ich lege den größten Werth darauf, denn es ist ein Porträt meines Vaters.«

Midwinter gab das kleine Gemälde schnell in Allan’s Hände und zog sich nach dem entgegengesetzten Ende der Kajüte zurück.

»Du weißt selbst am besten, wo Du die Sachen in Deinem Toilettenkästchen zu haben wünschst«, sagte er, Allan den Rücken zuwendend. »Ich will auf dieser Seite Ordnung herstellen und Du sollst dasselbe dort thun.«

Er fing an, die auf dem Kajütentische und dem Fußboden liegenden Gegenstände zu ordnen. Doch schien es fast, als ob das Schicksal beschlossen hätte, ihm an diesem Tage alle Gegenstände in die Hände zu führen, die Allan persönlich gehörten, mochte er sich beschäftigen wie und wo er wollte. Einer der ersten Gegenstände, der ihm ausstieß, war Allan’s Tabakbüchse, in dem sich ein, dem Umfange nach zu urtheilen, mit Einlagen beschwerter Brief befand, der die Stelle des fehlenden Deckels vertreten mußte.

»Wußtest Du, daß Du dies hier hineingethan hattest?« frug er. »Ist dieser Brief von Wichtigkeit?«

Allan erkannte denselben augenblicklich. Es war der erste einer kleinen Anzahl von Briefen, die den Seglern auf ihrer Vergnügungsfahrt nach der Insel Man nachgeschickt worden waren —— der Brief, dessen der junge Armadale kurzweg als eines Schreibens erwähnte, das ihm wieder allerlei Langweiliges von jenen niemals fertig werdenden Advokaten« bringe, und den er dann in seiner gewohnten unbekümmerten Weise ohne weiteres bei Seite gelegt hatte.

»Das kommt davon, wenn man ganz besonders ordentlich ist«, meinte Allan; »dies ist ein Beispiel meiner außerordentlichen Sorgfalt. Du wirst es vielleicht nicht glauben, aber ich habe den Brief absichtlich dort hineingelegt. Jedes mal, wenn ich die Tabakbüchse öffnete, weißt Du, mußte ich diesen Brief sehen, und jedes mal, wenn ich den Brief sah, mußte ich unfehlbar daran erinnert werden, daß ich denselben beantworten müsse. Es ist dies gar nicht zum Lachen; es war ein vollkommen vernünftiges Verfahren —— wäre ich mich nur zu erinnern im Stande gewesen, wo ich die Tabakbüchse hingestellt hatte. Gesetzt, ich knüpfte diesmal einen Knoten in mein Taschentuch? Du hast ein wunderbares Gedächtniß, mein lieber Junge; vielleicht erinnerst Du mich im Laufe des Tages daran, falls ich jetzt den Knoten vergessen sollte.«

Hierin erblickte Midwinter die erste Gelegenheit, sich in Mr. Brocks Abwesenheit an dessen Stelle nützlich zu machen.

»Hier ist Dein Schreibpult«, sagte er; »warum den Brief nicht sogleich beantworten? Wenn Du ihn wieder bei Seite legst, so könntest Du ihn abermals vergessen.«

»Sehr wahr«, erwiderte Allan. »Aber das Schlimmste an der Sache ist, daß ich noch nicht ganz mit mir einig bin, welche Art von Antwort ich schreiben soll. Ich bedarf eines Rathes. Komm und setze Dich hierher und dann will ich Dir die ganze Geschichte erzählen.«

Mit seinem lauten, knabenhaften Lachen —— das in Midwinter, der sich von seiner Fröhlichkeit angesteckt fühlte, ein Echo fand —— strich er einen bunten Haufen von Gegenständen von dem Kajütensofa und machte auf demselben Platz für sich und seinen Freund. Die Beiden setzten sich voll jugendlichen Uebermuthes nieder, um über einen, in eine Tabakbüchse verlegten Brief eine Consultation zu halten. Es war dies ein denkwürdiger Augenblick für sie, wie leicht sie auch die Sache zur Zeit nehmen mochten. Ehe sie sich wieder von ihren Plätzen erhoben, hatten sie zusammen den ersten unwiderruflichen Schritt auf dem dunklen und verworrenen Pfade ihrer Zukunft gethan.

Die Sache, in Bezug auf welche Allan jetzt den Rath seines Freundes verlangte, verhielt sich in Kürze folgendermaßen:

Während die Erbschaftsangelegenheiten wegen des Besitzthums von Thorpe-Ambrose geordnet wurden und der neue Eigenthümer desselben sich noch in London aushielt, war nothwendigerweise auch die Frage entstanden, wer die Güter in Zukunft verwalten solle. Der Verwalter, welcher bisher der Familie Blanchard gedient, hatte ohne Zeitverlust geschrieben und seine Dienste auch dem neuen Herrn ungetragen. Obgleich ein vollkommen fähiger und zuverlässiger Mann, hatte er doch bei diesem keine Gunst gefunden. Indem Allan, wie gewöhnlich, nach seinen ersten Eingebungen gehandelt und für alle Fälle beschlossen hatte, Midwinter dauernd zu Thorpe-Ambrose zu installieren, war er zu der Ueberzeugung gekommen, daß die Verwalterstelle genau die Stelle sei, die seinem Freunde zusage —— und zwar aus dem einfachen Grunde, weil dies seinen Freund nöthigen würde, bei ihm auf dem Gute zu bleiben. Er hatte deshalb das ihm gemachte Anerbieten abgelehnt, ohne Mr. Brock zu Rathe zu ziehen, dessen Mißbilligung er zu fürchten Ursache hatte, und ohne Midwinter etwas davon zu sagen, der wahrscheinlich eine Stelle zurückgewiesen hätte, für die er durch sein früheres Leben nicht im mindesten befähigt war. Diese Bestimmung Allan’s hatte eine weitere Correspondenz zur Folge gehabt und zwei neue Schwierigkeiten herbeigeführt, welche auf den ersten Anblick ein wenig widerwärtig aussahen, die aber Allan mit Hilfe seiner Rechtsanwälte bald aus dem Wege räumte. Die erste Schwierigkeit, die Rechnungsbücher des abgehenden Verwalters zu prüfen, ward gelöst, indem man einen Buchhalter von Profession nach Thorpe-Ambrose sandte; die zweite Schwierigkeit, nämlich über die leere Wohnung des Verwalters in vortheilhafter Weise zu verfügen, ward dadurch beseitigt, daß man die Wohnung auf die Liste eines thätigen Hausagenten der benachbarten Grafschaftsstadt setzen ließ. In diesem Stadium hatte sich die Sache befunden, als Allan London verlassen. Er hatte nicht weiter an dieselbe gedacht oder ferner etwas über dieselbe gehört, bis ihm ein Brief von seinen Advokaten nach der Insel Man gefolgt war, welchem zwei Anerbietungen in Bezug auf die Wohnung beigeschlossen waren, die beide an demselben Tage eingelaufen waren. Der Brief enthielt die Bitte um möglichst baldige Nachricht, welche der beiden Anerbietungen er anzunehmen beabsichtige.

Da Allan, nachdem er den Gegenstand einige Tage vergessen, jetzt die Nothwendigkeit einer Entscheidung vor sich sah, gab er seinem Freunde die beiden Anträge und ersuchte ihn, nachdem er ihm eine verworrene Auseinandersetzung der Sachlage gegeben, um seinen Rath. Allein anstatt die Anerbietungen zu lesen, legte Midwinter dieselben ohne alle Ceremonie bei Seite und that die beiden sehr natürlichen und für Allan sehr unbequemen Fragen, wer der neue Verwalter sei und weshalb er in Allan? Hause wohnen solle?

»Ich will Dir sagen, wer, und ich will Dir sagen, warum —— wenn wir nach Thorpe-Ambrose kommen«, erwiderte Allan. »Inzwischen wollen wir den Verwalter X. Y. Z. nennen und sagen, er wohnt bei mir, weil ich verdammt strenge bin und ihm mit eigenen Augen auf die Finger sehen will. Du brauchst nicht so erstaunt auszusehen; ich kenne den Mann vollkommen, und man muß vorsichtig mit ihm zu Werke gehen. Wenn ich ihm die Verwalterstelle schon früher antrüge, so würde er in seiner Bescheidenheit Nein sagen. Stürze ich ihn aber, ohne ihm vorher ein Wort davon zu sagen und zu einer Zeit, wo Niemand zur Hand ist, um an seine Stelle zu treten, über Hals und Kopf in dieselbe hinein, so wird ihm nichts weiter übrig bleiben als mein Interesse zu berücksichtigen und »Ja« zu sagen. X. Y. Z. ist durchaus kein übler Bursche, kann ich Dir sagen. Du wirst ihn sehen, wenn wir nach Thorpe-Ambrose kommen, und ich denke mir, daß Ihr beide sehr gut mit einander auskommen werdet.«

Das lustige Funkeln in Allan’s Auge und die bedeutungsvolle Schlauheit in seiner Stimme würden einem glücklichen Menschen sein Geheimniß verrathen haben. Midwinter aber war ebenso weit entfernt, dasselbe zu ahnen, wie die Zimmerleute, die über ihnen auf dem Verdeck der Jacht arbeiteten.

»Befindet sich augenblicklich kein Verwalter auf dem Gute?« frug er und sein Gesicht verrieth, daß er keineswegs mit Allan’s Antwort zufrieden war. »Werden die Geschäfte inzwischen völlig vernachlässigt?«

»Durchaus nicht!« erwiderte Allan. »Die Geschäfte gehen mit schwellendem Segel und günstigem Wind.« Ich scherze nicht, ich drücke mich nur bildlich aus. Ein echter Buchhalter hat seine Nase in die Bücher gesteckt, und ein gesetzter Advokatenschreiber zeigt sich wöchentlich einmal im Bureau. Das sieht doch nicht etwa wie Vernachlässigung aus, wie? Laß den neuen Verwalter für jetzt in Ruh’ und sage mir lieber, welchen der beiden Miethanträge Du an meiner Stelle annehmen würdest.«

Midwinter öffnete die beiden Anerbietungen und las dieselben aufmerksam durch.

Die erste derselben kam von keiner geringeren Person als dem Advokaten von Thorpe-Ambrose, welcher Allan die Nachricht von dem ihm zugefallenen großen Vermögen nach Paris gemeldet hatte. Dieser Herr schrieb selbst; er sagte, er habe längst das Häuschen bewundert, welches allerliebst innerhalb der Parkanlagen von Thorpe-Ambrose gelegen sei. Er sei Junggeselle, dem Studium ergeben, und wünsche sich nach den ermüdenden Geschäftsstunden in ländliche Einsamkeit zurückzuziehen; auch glaube er versichern zu dürfen, daß Mr. Armadale, wenn er ihn als Miether annähme, einen friedlichen Nachbarn in ihm finden und die Wohnung in zuverlässige und sorgfältige Hände geben würde.

Das zweite Anerbieten kam durch den Hausagenten und von einem Fremden. Der Herr, welcher das Häuschen zu miethen wünschte, war ein Offizier außer Diensten, ein Major Milroy. Seine Familie bestand blos aus einer Gattin, welche leidend war, und einem einzigen Kinde —— einer jungen Dame. Seine Empfehlungen waren untadelhaft, und auch er wünschte besonders deshalb dieses Häuschen zu miethen, weil die vollkommen ruhige Lage desselben genau das war, was Mrs. Milroy’s schwacher Gesundheitszustand erforderte.

»Nun! Welchem Stande soll ich den Vorzug geben?« frug Allan. »Dem Soldatenstande oder dem Rechtsfache?«

»Es scheint mir darüber kein Zweifel obzuwalten«, sagte Midwinter. »Der Advokat hat bereits mit Dir correspondirt und hat deshalb die besten Ansprüche.«

»Ich wußte, daß Du dies sagen würdest. Alle die tausendmal, daß ich andere Leute um Rath befragte, habe ich noch nie den Rath erhalten, den ich mir wünschte. Nehmen wir zum Beispiel diese Vermiethung. Ich selbst bin durchaus auf der andern Seite; ich wünsche mir den Major.«

»Warum?«

Der junge Armadale deutete mit dem Zeigefinger auf diejenige Stelle im Briefe des Hausagenten, welche die Familie des Majors aufzählte und folgende drei Worte enthielt —— »eine junge Dame.«

»Ein dem Studium ergebener Junggeselle ist kein interessanter Spaziergänger in meinen Anlagen«, sagte Allan; »eine junge Dame aber ist dies. Ich bezweifle nicht im mindesten, daß Miß Milroy ein allerliebstes Mädchen ist. Ozias Midwinter mit dem ernsten Gesicht, denke Dir nur ihr hübsches Musselinkleid zwischen Deinen Bäumen, indem sie sich auf Deinem Grund und Boden Uebertretungen erlaubt; denke Dir, wie ihre anbetungswürdigen Füßchen in Deinem Obstgarten herum trippeln und ihre reizenden, frischen Lippen Deine reifen Pfirsichen küssen; male Dir ihre kleine runde Hand aus, wie sie unter Deinen ersten Veilchen sucht, und ihre kleine weiße Nase, wie sie den Duft Deiner Theerosen einsaugt. Was hat der studierende Junggeselle mir für alles dies zu bieten? Höchstens einen rheumatischen braunen Gegenstand in Gamaschen und Perücke. Nein, nein! Die Gerechtigkeit ist zwar eine gute Sache, mein lieber Freund, aber glaube mir, Miß Milroy ist eine bessere!«

»Kannst Du irgendetwas in der Welt mit Ernst behandeln, Allan?«

»Ich will es versuchen, wenn Du es wünschest. Daß ich den Advokaten nehmen sollte, weiß ich recht wohl; aber was kann ich thun, wenn die Majorstochter mir fortwährend im Kopfe herumgeht?«

Midwinter führte die Sache entschlossen auf den richtigen und verständigen Gesichtspunkt zurück und machte Allan mit der ganzen Beredsamkeit, die ihm zu Gebote stand, auf denselben aufmerksam. Nachdem Allan ihn mit exemplarischer Geduld bis zu Ende angehört, strich er abermals einen bunten Haufen von Gegenständen vom Kajütentische herunter und nahm einen halben Kronenthaler aus der Westentasche.

»Ich habe einen ganz neuen Einfall«, rief er. »Ueberlassen wir es dem Zufalle.«

Die Lächerlichkeit dieses Vorschlages war unwiderstehlich. Midwinters Ernst ließ ihn im Stich.

»Ich will drehen«, sagte Allan, »und Du sollst rathen. Wir müssen natürlich der Armee den Vorrang gestatten; sagen wir also Kopf —— der Major, Wappen —— der Advokat. Das erste Umdrehen entscheidet. Jetzt geht? los, aufgepaßt!«

Damit drehte er die Münze und sie tanzte auf dem Kajütentische herum.

»Wappen!« rief Midwinter, auf Allan’s Knabenscherz eingehend.

Die Münze fiel mit dem Kopfe nach oben auf dem Tische nieder.

»Du willst doch nicht sagen, daß Du es wirklich im Ernste meinst!« sagte Midwinter, wie der Andere sein Schreibepult öffnete und seine Feder ins Tintenfaß tauchte.

»O, das sollt’ ich meinen!« erwiderte Allan. »Der Zufall ist auf meiner und Miß Milroy’ Seite und Du bist überstimmt mit zwei Stimmen gegen eine. Es nützt nichts, darüber zu reden, Der Major hat oben gelegen; der Major soll die Wohnung haben. Ich werde es nicht den Advokaten überlassen, denn sie würden mich nur mit noch mehr Briefen quälen; ich will selbst an den Major schreiben.«

Er schrieb seine Antworten auf die beiden Anträge buchstäblich in zwei Minuten. Die an den Hausagenten lautete: »Mein Werther Herr! Ich nehme Major Milroy’s Anerbieten an; lassen Sie ihn einziehen, sobald es ihm beliebt. Aufrichtig der Ihre, Allan Armadale.« Und die an den Advokaten: »Mein Werther Herr! Ich bedanke, daß die Verhältnisse mich verhindern, Ihr Anerbieten anzunehmen. Aufrichtig der Ihre.«

»Die Leute machen ein solches Aufheben über das Briefschreiben. Ich finde es sehr leicht.«

Er schrieb die beiden Adressen und versah die Briefe mit Postmarken, indem er lustig vor sich hin pfiff. Während er geschrieben hatte, hatte er nicht bemerkt, wie sein Freund sich inzwischen beschäftigte. Als er aber mit den Briefen fertig war, fiel es ihm auf, daß plötzlich eine tiefe Stille in der Kajüte herrschte, und wie er aufblickte, sah er, daß Midwinter’s Aufmerksamkeit in seltsamer Weise auf die Münze geheftet war, welche auf dem Tische lag. Allan stellte erstaunt sein Pfeifen ein.

»Was in aller Welt machst Du da?« frug er.

»Es lag mir etwas im Sinne«, sagte der Andere.

»Was?«

»Der Gedanke, ob es wirklich einen Zufall giebt«, entgegnete Midwinter, ihm sein Geldstück zurückgebend.

Eine halbe Stunde später waren die beiden Briefe auf die Post gegeben, und Allan, dem die unausgesetzte Beaufsichtigung der Ausbesserungen an Bord seiner Jacht bisher wenig Muße am Lande gestattet hatte, machte den Vorschlag, sich durch einen Spaziergang in Castletown die Zeit zu verkürzen. Selbst Midwinter’s nervöse Aengstlichkeit, Mr. Brock’s Vertrauen zu verdienen, konnte gegen diesen harmlosen Vorschlag nichts einzuwenden finden, und die beiden jungen Männer machten sich deshalb auf, um die Hauptstadt der Insel Man in Augenschein zu nehmen.



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