Die Neue Magdalena - Buch 2
Kapitel 21
Eine große Seele und eine kleinliche Seele
Es entstand eine Pause.
Die Augenblicke verrannen. Keines von allen dreien sprach ein Wort. Ungehört erstarben die flehenden Worte auf Julians Lippen. Sogar ihn verließ die Kraft unter dem zermalmenden Drucke banger Erwartung. Die erste, welche durch eine geringfügige Bewegung den Gedanken an Veränderung und ein undeutliches Gefühl der Erleichterung hervorrief, war Mercy. Unfähig, die Anstrengung des Stehens noch länger zu ertragen, trat sie einen Schritt zurück und ließ sich auf einen Stuhl nieder. Keine Äußerung einer inneren Erregung entschlüpfte ihr. Sie saß da - eine totenähnliche Erstarrung in ihrem Antlitz - und erwartete schweigend ihr Urteil von dem Manne, dem sie in einem Satze die ganze fürchterliche Wahrheit enthüllt hatte!
Julian erhob seinen Kopf, als sie sich rührte. Er blickte auf Horace; dann trat er einige Schritte vor und blickte ihn nochmals an. Plötzlich wendete er sich mit einem Ausdrucke von Furcht im Gesichte gegen Mercy.
„Reden Sie ihn an!” flüsterte er. „Reißen Sie ihn aus seinem dumpfen Brüten, ehe es noch zu spät ist!”
Sie machte eine mechanische Bewegung in ihrem Stuhle; ihre Augen hefteten sich unwillkürlich auf Julian.
„Was soll ich ihm noch weiter sagen?” fragte sie mit schwacher, tonloser Stimme. „Habe ich ihm mit meinem Namen nicht alles gesagt?”
Der natürliche Klang ihrer Stimme hätte vielleicht auf Horace keine Wirkung ausgeübt; der veränderte weckte ihn aus seiner Apathie.
Er näherte sich mit stumpfer Überraschung in seinen Zügen dem Stuhle, auf dem Mercy saß, und legte zögernd und unsicher seine Hand auf ihre Schulter. In dieser Stellung verharrte er eine Weile, den Blick schweigend auf sie herabgesenkt.
Der eine Gedanke, den er in Worte kleidete, war Julian. Ohne die Hand zu rühren, ohne von Mercy emporzusehen, sprach er jetzt zum erstenmale, seitdem der Schlag über ihn hereingebrochen war.
„Wo ist Julian?” fragte er sehr ruhig.
„Hier bin ich, Horace - neben Ihnen!”
„Wollen Sie mir einen Dienst erweisen?”
„Gewiss. Womit kann ich dies tun?”
Er überlegte einen Augenblick, ehe er antwortete. Seine Hand, die auf Mercys Schulter gelegen hatte, fuhr jetzt zum Kopfe empor - dann glitt sie an der Seite herab. Er sprach die nächsten Worte in trauriger, hilfloser Verwirrung.
„Mir kommt es vor, Julian, als sei ich einigermaßen zu tadeln. Ich habe eben vorhin eine harte Sprache gegen Sie geführt. Ich weiß nicht mehr recht, weshalb. Es ist meinem Naturell in diesem Hause viel zugemutet worden; ich war an solche Dinge, wie sie hier vorgehen, nicht gewöhnt - Geheimnisse, rätselhafte Vorgänge und abscheuliche, niedrige Streitigkeiten. Bei uns zu Hause gibt es das nicht. Und schon gar Streit - lächerlich! Meine Mutter und meine Schwester sind Frauen von feiner Bildung - Sie kennen sie - Edelfrauen im wahrsten Sinne des Wortes. Wenn ich bei ihnen bin, stört mich nichts in meiner Ruhe. Zu Hause quälen mich nicht Zweifel, wer die Leute wirklich sind, ob die Namen wahr oder falsch sind und so weiter. Der Gegensatz mag meinen Geist etwas arg bestürmt und in Unordnung gebracht haben. Man hat mich hier übermäßig argwöhnisch gemacht - und das Ende ist, dass ich aus den Zweifeln und Befürchtungen gar nicht mehr herauskomme: Zweifel über Sie und Befürchtungen meinetwegen. Ich habe etwas, das ich meinetwegen fürchte. Da sollen Sie mir helfen. Oder soll ich mich erst entschuldigen?”
„Kein Wort davon. Sagen Sie, was ich für Sie tun kann.”
Zum erstenmale kehrte er sein Gesicht Julian zu.
„Sehen Sie mich einmal an”, sagte er. „Kommt es Ihnen vor, als ob es mit meinem Verstande nicht richtig sei? Sagen Sie mir die Wahrheit, alter Freund.”
„Ihre Nerven sind erschüttert, Horace. Aber sonst nichts.”
Er überlegte abermals nach dieser Erwiderung; seine Augen hafteten noch immer ängstlich auf Julians Gesicht.
„Meine Nerven sind erschüttert”, wiederholte er. „Das ist wohl wahr; ich fühle es. Ich möchte, wenn es Ihnen recht ist, mir darüber Gewissheit verschaffen, dass es nichts ärgeres ist. Wollen Sie mir bei dem Versuch, die Richtigkeit meines Gedächtnisses zu prüfen, behilflich sein?”
„Bei allem, was Sie wollen.”
„Ah! Sie sind ein guter Junge, Julian - und ein gescheiter Junge obendrein, was gerade jetzt von großer Wichtigkeit ist. Sehen Sie! Ich meine, vor ungefähr einer Woche hat in diesem Hause das Unheil begonnen. Ist das wahr?”
„Ja.”
„Die erste Veranlassung dazu war das Erscheinen einer Fremden, die aus Deutschland hierher kam, und sich dort im Speisezimmer sehr ungestüm benahm. Habe ich recht, insoweit?”
„Ganz recht.”
„Die Person tat gar groß. Sie nannte den Obersten Roseberry - nein, ich will ganz genau sein - sie nannte den verstorbenen Obersten Roseberry ihren Vater. Sie erzählte weiter eine lange Geschichte, dass sie durch eine Betrügerin ihrer Papiere und ihres Namens beraubt worden sei, und dass diese Letztere sich für sie ausgegeben habe. Sie nannte die Betrügerin mit dem Namen Mercy Merrick. Und später setzte sie dem allen die Krone auf, indem sie auf die Dame, die mit mir verlobt ist, zeigte und behauptete, sie sei Mercy Merrick. Sagen Sie mir nochmals, habe ich recht oder unrecht?”
Julian antwortete ihm darauf wie zuvor. Horace fuhr fort und sprach nun zuversichtlicher und erregter als bisher.
„Jetzt geben Sie wohl Acht, Julian. Ich gehe jetzt von der Erinnerung dessen, was vor einer Woche geschah, auf das über, was vor fünf Minuten geschah. Sie waren zugegen; ich will es wissen, ob Sie es auch gehört haben.” Er hielt inne und deutete, ohne seine Augen von Julian abzuwenden, nach rückwärts auf Mercy. „Dies ist die Dame, die ich heiraten soll”, nahm er das Gespräch wieder auf. „Habe ich recht gehört oder nicht, dass sie sagte, sie sei in einem Besserungshaus gewesen und kehre dahin zurück? Habe ich recht gehört oder nicht, dass sie sagte, ihr Name sei Mercy Merrick? Antworten Sie mir, Julian. Mein treuer Freund, antworten Sie mir, um vergangener Zeiten willen.”
Bei diesen beschwörenden Worten ward seine Stimme unsicher. Unter der gleichgültigen Maske seines Gesichtes regten sich die ersten Anzeichen einer inneren, allmählich hervorbrechenden Erregung. Die Betäubung, in der sich sein Geist befunden, begann dem wiederkehrenden Leben zu weichen. Julian nahm die Gelegenheit wahr, um ihm vollends dazu zu verhelfen und ergriff sie. Er fasste Horace sanft beim Arme und deutete auf Mercy.
„Da haben Sie die Antwort!” sagte er. „Sehen Sie! - und fühlen Sie Mitleid mit ihr.”
Mercy hatte die beiden Männer während ihres Gespräches auch nicht einmal unterbrochen; nur ihre Stellung hatte sie wieder verändert. Neben dem Stuhl, auf dem sie saß, stand ein Schreibtisch; auf diesem ruhten jetzt ihre ausgestreckten Arme. Ihr Kopf war auf die Arme herabgesunken, und so das Gesicht verdeckt. Julian hatte richtig geurteilt; das gänzliche Selbstvergessen, das sich in ihrer Stellung aussprach, antwortete Horace, wie keine menschliche Sprache ihm hätte antworten können. Er blickte sie an. Ein schmerzliches Zucken flog über sein Gesicht. Er wandte sich abermals an den treuen Freund, der ihm vergeben hatte; sein Kopf sank auf Julians Schulter; er brach in Tränen aus.
„O Gott!” rief sie. „Was habe ich getan!”
Julian beruhigte sie durch eine Bewegung seiner Hand.
„Sie haben mir geholfen, ihn zu retten”, sprach er. „Lassen Sie den Tränen ihren Lauf. Warten Sie.”
Sein Arm umschlang Horace, um ihn zu stützen. Die männliche Zärtlichkeit, welche darin lag, und die volle, edle Verzeihung aller früheren Kränkungen, die sie verriet, rührten Mercy aufs tiefste. Sie ging zu ihrem Stuhl zurück. Scham und Schmerz übermannten sie, und sie verbarg von neuem ihr Gesicht vor fremden Augen.
Julian führte Horace zu einem Stuhl und wartete schweigend neben ihm, bis er seine Beherrschung wieder gewonnen hatte. Er ergriff dankbar die Hand, die ihn gestützt hatte und sprach einfach, beinahe kindlich: „Ich danke Ihnen, Julian. Mir ist schon besser.”
„Sind Sie so weit gefasst, dass Sie hören können, was Ihnen gesagt werden soll?” fragte Julian.
„Ja, wollen Sie mir etwas sagen?”
Julian trat, ohne ihm gleich zu antworten, von ihm zu Mercy hin.
„Der Augenblick ist da”, sprach er. „Sagen Sie ihm alles - offen, ohne Rückhalt, wie Sie es mir sagen würden.”
Sie schauderte bei seinen Worten. „Habe ich ihm noch nicht genug gesagt?” fragte sie. „Soll ich ihm das Herz brechen? Sehen Sie ihn an! Sehen Sie nur, was ich bereits getan habe!”
Horace bebte vor den Enthüllungen ebenso zurück, wie Mercy.
„Nein! Nein! Ich kann es nicht hören! Ich wage es nicht zu hören!” rief er und stand auf, um aus dem Zimmer zu gehen.
Julian hatte das gute Werk begonnen; er wurde darin keinen Augenblick schwankend. Horace hatte sie geliebt - wie sehr, erfuhr Julian jetzt zum erstenmale. Es blieb noch immer die Möglichkeit, dass sie, wenn sie selbst ihre Sache führte, seine Verzeihung erringen konnte. Verzieh ihr Horace, so ward der geheimen Liebe in seinem Herzen der Todesstoß gegeben. Aber er zögerte nicht. Mit einer Entschlossenheit, welcher der Schwächere nicht zu widerstehen vermochte, fasste er den Freund beim Arm und führte ihn auf seinen Platz zurück.
„Um Ihrer beider willen sollen Sie sie nicht ungehört verurteilen”, sprach er in festem Tone zu Horace. „Eine Versuchung nach der anderen, um Sie zu hintergehen, ist an sie herangetreten; und sie hat allen widerstanden. Ohne die Entdeckung fürchten zu müssen; im Besitz eines Briefes ihrer liebevollen Wohltäterin, der ihr Schweigen gebietet; ja dessen bewusst, dass sie mit dem Bekenntnis ihrer Schuld alles verlieren müsse, was einem Weibe teuer ist - hat dies Weib dennoch einzig um der Wahrheit willen die Wahrheit gesprochen. Und verdient das von Ihrer Seite nicht auch eine Erwiderung? Achten Sie sie, Horace - und hören Sie sie an.”
Horace gab nach.
Julian wandte sich zu Mercy:
„Sie haben mir erlaubt, Sie bis hierher zu leiten”, sprach er. „Wollen Sie mir das auch noch weiter zu tun gestatten?”
Sie heftete die Augen auf den Boden; ihr Busen hob und senkte sich in raschen Atemzügen. Julians Einfluss auf sie behauptete seine Gewalt. Sie neigte den Kopf in wortloser Ergebung.
„Sagen Sie ihm”, fuhr Julian in beschwörendem, nicht befehlendem Tone fort, „sagen Sie ihm, was Ihr Leben gewesen ist. Sagen Sie ihm, wie Sie geprüft und versucht worden sind, ohne einen Freund zu haben, der Sie gerettet hätte. Und dann”, fügte er, sie vom Stuhl emporziehend, hinzu, „soll er Ihr Richter sein - wenn er es kann!”
Er versuchte, sie durch das Zimmer nach dem Platz zu führen, welchen Horace einnahm. Aber ihre Unterwürfigkeit hatte ihre Grenzen. Auf halbem Weg blieb sie stehen und weigerte sich, weiter zu gehen. Julian bot ihr einen Stuhl; sie wies ihn zurück. Die Hand auf die Stuhllehne gelegt, wartete sie auf das Wort von Horace, welches ihr gestatten würde, zu sprechen. Sie war in ihr Schicksal ergeben; ihr Antlitz ruhig; ihr Geist klar. Die ärgste Demütigung, die sie zu erdulden gehabt - ihren Namen einzugestehen - war überwunden. Es blieb ihr nichts mehr zu tun, als Julian ihre Dankbarkeit damit zu beweisen, dass sie sich seinem Wunsche fügte und von Horace Verzeihung erbat, ehe sie auf ewig voneinander schieden. Binnen kurzem erschien die Hausmutter hier - und dann war alles vorbei.
Ohne es zu wollen, blickte Horace auf sie. Plötzlich brach seine frühere Heftigkeit wieder hervor.
„Ich kann es selbst noch nicht glauben!” rief er. „Ist es wirklich wahr, dass Sie nicht Grace Roseberry sind? Sehen Sie mich nicht so an! Antworten Sie mir mit einem Wort - ja oder nein!”
Demütig und traurig antwortete sie „Ja.”
„Sie haben das wirklich getan, dessen Sie jene Person beschuldigte? Soll ich das glauben?”
„Sie sollen es glauben, Sir.”
Bei dieser Antwort enthüllte Horace die ganze Schwäche seines Charakters.
„Elende!” rief er aus. „Welche Entschuldigung haben Sie für den schnöden Betrug, den Sie an mir verübt? O, es ist zu schlecht! Zu schlecht! Für Sie gibt es keine Entschuldigung!”
Sie nahm seine Vorwürfe mit unerschütterlicher Ergebung hin. „Ich habe es so verdient!” war alles, was sie zu sich sprach. „Ich habe es so verdient!”
Julian versuchte es nochmals, Mercy zu verteidigen.
„Warten Sie erst ab, Horace, ob es gewiss keine Entschuldigung für sie gibt”, sprach er ruhig. „Gewähren Sie ihr Gerechtigkeit, wenn Sie ihr nicht mehr gewähren können. Ich lasse Sie allein!”
Er schritt nach der Tür ins Speisezimmer. Horacens Schwäche zeigte sich abermals.
„Lassen Sie mich nicht allein mit ihr!” brach er hervor. „Es ist mehr, als ich ertragen kann!”
Julian blickte auf Mercy. Aus ihren Augen leuchtete es vorübergehend wie eine Erleichterung, und verriet ihm, welch wahren Freundschaftsdienst er ihr durch seine Anwesenheit im Zimmer erweisen würde. Das mittlere Bogenfenster des Bibliothekszimmers bildete eine Nische und darin bot sich ein passendes Versteck. Seine Gegenwart konnte da bemerkt und nicht bemerkt werden, wie es eben die Stimmung der Sprechenden mit sich bringen würde.
„Ich will so lange hier bleiben, Horace, als Sie es wünschen.” Nach diesen Worten schritt er dem Fenster zu und blieb im Vorbeigehen vor Mercy stehen. Sein scharfer, wohlwollender Blick sagte ihr, dass er ihr vielleicht noch nützen könne. Ein Wink von ihm konnte ihr den kürzesten und leichtesten Weg zeigen, das Bekenntnis zu machen. In zarten und in wenigen Worten gab er ihr den Wink. „Als ich Sie zum erstenmale sah”, sprach er, „erkannte ich, dass Sie ein schweres Leben durchzumachen gehabt hatten. Lassen Sie uns jetzt hören, wie es so gekommen ist.”
Er zog sich in die Nische zurück. Zum erstenmale, seit jenem verhängnisvollen Abend, an welchem Mercy Merrick mit Grace Roseberry in dem französischen Häuschen zusammengetroffen war, blickte sie jetzt wieder auf das irdische Fegefeuer ihres vergangenen Lebens zurück, und erzählte ihre traurige Geschichte, einfach und getreulich in folgenden Worten.
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