Die Frau in Weiß

Die Aussage von Advocat Vincent Gilmore in Chancery-Lane, London

III.

Es verging eine Woche nach meiner Rückkehr nach London, ohne daß ich von Miß Halcombe hörte.

Am achten Tage lag ein Brief mit ihrer Handschrift unter den Briefen auf meinem Pulte.

Derselbe zeigte mir an, daß Sir Percival Glyde definitiv angenommen sei, und daß die Heirat, wie er es ursprünglich gewünscht, vor Ablauf des Jahres stattfinden werde, aller Wahrscheinlichkeit nach innerhalb der letzten vierzehn Tage des Monats December. Miß Fairlie’s einundzwanzigster Geburtstag war Ende März nächsten Jahres. Auf diese Weise also wurde sie drei Monate vor ihrer Mündigkeit Sir Percivals Gemahlin.

Ich hätte nicht erstaunt sein, es hätte mich nicht betrüben sollen; aber Beides war dessenungeachtet der Fall. Eine kleine Unzufriedenheit über die lakonische Kürze von Miß Halcombe’s Brief mischte sich in diese Gefühle und trug dazu bei, mich für den ganzen Tag zu verstimmen. In dem Lapidarstil von sechs Zeilen kündigte meine Correspondentin mir die beabsichtigte Heirat an; in noch dreien, daß Sir Percival von Cumberland abgereist und nach Hampshire zurückgekehrt sei; und in zwei Schlußsätzen, erstens daß Laura sehr einer Veränderung der Luft und heiterer Gesellschaft bedürfe und zweitens, daß sie beschlossen, sofort die Wirkung einer solchen Veränderung zu versuchen, indem sie ihre Schwester mit sich auf einen Besuch zu gewissen alten Bekannten in Yorkshire nehme. Damit endete der Brief, ohne ein Wort zur Erklärung der Umstände, welche Miß Fairlie bewogen hatten, in einer kurzen Woche, nachdem ich sie zuletzt gesehen, Sir Percival anzunehmen.

Die Ursache dieses schnellen Entschlusses wurde mir später zur Genüge erklärt. Doch darf ich sie nicht unvollkommen und nach blosem Hörensagen berichten. Die Umstände gehören zu Miß Halcombe’s persönlichen Erlebnissen; und in ihrer Aussage wird sie dieselben in ihren Einzelheiten genau so beschreiben, wie sie sich ereigneten. Unterdessen bleibt mir nur noch die Aufgabe, das letzte mit Miß Fairlie’s Vermählung in Beziehung stehende Ereigniß, mit welchem ich persönlich zu thun hatte, zu berichten, nämlich das Aufsetzen des Heiratscontractes.

Es ist unmöglich, verständlich von diesem Dokumente zu reden, ohne erst in gewisse Details in Bezug auf die Vermögensverhältnisse der Braut einzugehen. Ich will versuchen, meine Erklärung kurz und deutlich zu geben und mich von allen dunklen, technischen Ausdrücken frei zu halten. Die Sache ist von der allergrößten Wichtigkeit, da Miß Fairlie’s Erbe einen sehr wichtigen Theil von Miß Fairlie’s Geschichte ausmacht.

Miß Fairlie’s Vermögenserwartungen waren also zweierlei Art und bestanden demnach theils in der möglichen Erbschaft liegenden Grundeigenthums oder Ländereien, wenn ihr Onkel starb, theils in ihrem unbedingten Erbe persönlichen Eigentums oder Geldes, sobald sie mündig wurde.

Von den Länderein zuerst.

Zu Lebzeiten von Miß Fairlie’s Großvater – väterlicher Seite – (den wir Mr. Fairlie den Aelteren nennen wollen) stand das Fideicommiß folgendermaßen:

Mr. Fairlie der Ältere starb und hinterließ drei Söhne, Philipp, Frederick und Arthur. Als ältester Sohn erbte Philipp das Gut. Falls er starb, ohne einen Sohn zu hinterlassen, ging das Eigenthum auf seinen zweiten Bruder Frederick über. Und falls Frederick ebenfalls starb, ohne einen Sohn zu hinterlassen, so kam es an den dritten Bruder Arthur.

Nun geschah es aber, daß Mr. Philipp Fairlie bei seinem Ableben eine einzige Tochter hinterließ, die Laura unserer Erzählung, und das Gut fiel in Folge dessen an den zweiten Bruder Frederick, der unverheiratet war.

Der dritte Bruder Arthur war schon viele Jahre vor Philipps Tode gestorben und hatte einen Sohn und eine Tochter hinterlassen. Der Sohn ertrank im achtzehnten Jahre zu Oxford. Durch seinen Tod wurde Laura, Philipp Fairlie’s Tochter, die muthmaßliche Erbin des Gutes mit jeder Aussicht, die Erbschaft, nach dem Laufe der Natur, nach Frederick Fairlie’s Ableben anzutreten, falls besagter Frederick ohne männlichen Erben starb.

Der Fall ausgenommen also, daß Mr. Frederick Fairlie sich verheiratete und einen Erben hinterließ (die beiden letzten Dinge von der Welt, die sich von ihm erwarten ließen), beerbte seine Nichte Laura ihn bei seinem Tode, indem sie jedoch, wie wir nicht vergessen müssen, nur den Nießbrauch des Gutes hatte. Falls sie unverheiratet oder kinderlos starb, so ging das Gut an ihre Cousine Magdalen, Mr. Arthur Fairlie’s Tochter, über. Falls sie sich nach einem angemessenen Contracte oder, mit anderen Worten, nach dem Contracte, den ich für sie zu machen beabsichtigte, verheiratete, stand der Ertrag des Gutes (volle dreitausend Pfund des Jahres) auf Lebenszeit zu ihrer Verfügung. Falls sie früher starb als ihr Gemahl, so würde natürlich er seinerseits den Nießbrauch dieser Einkünfte verlangen; und hatte sie einen Sohn, so erbte derselbe zum Nachtheile ihrer Cousine Magdalen. Auf diese Weise versprachen Sir Percivals Aussichten, indem er Miß Fairlie heiratete, (insoweit sie das zu erwartende Grundeigenthum seiner Frau betrafen) ihm bei Mr. Frederick Fairlie’s Tode folgende zwei Vortheile: erstens den Nießbrauch von jährlich dreitausend Pfund (mit Genehmigung seiner Frau, während sie lebte, und nach ihrem Tode, falls er sie überlebte), kraft seines eigenen Rechtes; und zweitens: die Erbschaft von Limmeridge für seinen Sohn, falls er einen solchen hatte.

So viel über das Landeigenthum und die Verfügung über den Ertrag desselben bei Gelegenheit von Miß Fairlie’s Heirat. Bis hierher ließ sich keine Schwierigkeit oder Meinungsverschiedenheit über den Contract der Dame zwischen Sir Percivals Advocaten und mir erwarten.

Der nächste Punkt, den wir zu berücksichtigen haben, ist das persönliche Eigenthum, oder, mit anderen Worten, das Geld, zu dem Miß Fairlie mit ihrem einundzwanzigsten Jahre berechtigt war.

Dieser Theil ihres Erbes war an sich schon ein hübsches kleines Vermögen. Sie erhielt es nach ihres Vaters Testament und es belief sich auf zwanzigtausend Pfund. Außerdem hatte sie noch den Nießbrauch von zehntausend Pfund, welche Summe bei ihrem Ableben ihrer Tante Eleonor, der einzigen Schwester ihres Vaters, zufiel. Es wird die deutliche Auseinandersetzung dieser Familienangelegenheiten sehr fördern, wenn ich hier einen Augenblick innehalte, um zu erklären, warum die Tante bis zum Tode ihrer Nichte auf ihr Legat warten mußte.

Mr. Philipp Fairlie hatte auf dem freundschaftlichsten Fuße mit seiner Schwester Eleonor gelebt, solange sie unverheiratet war. Als sie sich jedoch erst in den späteren Lebensjahren verheiratete und diese Heirat sie mit einem italienischen Gentleman oder vielmehr – mit einem italienischen Edelmanne, da er sich des Grafentitels erfreute – Namens Fosco, vereinte, mißbilligte Mr. Fairlie diese ihre Handlung in dem Grade, daß er allen Verkehr mit ihr abbrach, ja sogar so weit ging, daß er ihren Namen aus seinem Testamente strich. Die anderen Mitglieder der Familie fanden diese ernstliche Darthuung seines Zornes über die Heirat seiner Schwester mehr oder minder ungerecht. Graf Fosco, obgleich kein reicher Mann, war dessenungeachtet kein vermögensloser Abenteurer. Er besaß ein kleines, aber hinreichendes Einkommen, hatte viele Jahre in England gelebt und behauptete eine sehr gute Stellung in der Gesellschaft. Doch diese Empfehlungen galten Mr. Fairlie Nichts. In vielen seinen Ansichten war er ein Engländer von der alten Schule, und er haßte einen Ausländer einzig und allein, weil er ein Ausländer war. Das Aeußerste, zu dem er sich noch in späteren Jahren bewegen ließ und zwar hauptsächlich auf Miß Fairlie’s Bitten, war, daß er seiner Schwester Namen seine frühere Stelle in seinem Testamente wiedergab, sie jedoch auf ihr Legat warten ließ, indem er seiner Tochter den Nießbrauch der Zinsen und die Summe selbst ihrer Cousine Magdalene vermachte, falls ihre Tante vor ihr sterbe, wenn man das bezügliche Alter der beiden Damen bedenkt, so war die Aussicht der Tante auf die zehntausend Pfund dem gewöhnlichen Gange der Natur nach auf diese Weise eine äußerst zweifelhafte, und die Gräfin Fosco rächte sich für ihres Bruders Verfahren gegen sie auf so ungerechte Weise, wie es in solchen Fällen üblich ist, indem sie sich weigerte, ihre Nichte zu sehen oder zu glauben, daß ihr Name nur auf Miß Fairlie’s Bitten in Mr. Fairlie’s Testament wieder aufgenommen sei.

Dies war die Geschichte der zehntausend Pfund. Auch hieraus konnten mir Sir Percivals Advocaten gegenüber keine Schwierigkeiten erwachsen. Die Zinsen gehörten der Frau, und das Kapital fiel der Tante oder bei ihrem Tode der Cousine zu.

Nachdem auf diese Weise alle vorläufigen Erklärungen beseitigt sind, komme ich jetzt zu dem wirklichen Knoten in der Geschichte – den zwanzigtausend Pfund.

Diese Summe war, sobald sie ihr einundzwanzigstes Jahr erreichte, Miß Fairlie’s unbeschränktes Eigenthum und die ganze zukünftige Verfügung darüber hing vorerst von den Bedingungen ab, die es mir gelingen würde in dem Heiratscontracte für sie zu machen. Die anderen Klauseln, die das Document enthielt, betrafen bloße Formen und brauchen hier nicht wiederholt zu werden. Aber die Clausel in Bezug auf das Geld ist zu wichtig, um hier übergangen zu werden, wenige Zeilen werden genügen, um uns den nothwendigen Auszug zu geben.

Meine Bedingung in Bezug auf die zwanzigtausend Pfund war einfach diese: die Zinsen der Summe sollten der Dame auf Lebenszeit und nach ihrem Tode Sir Percival seinerseits auf Lebenszeit gehören, das Capital selbst aber den Kindern der Ehe. In Ermanglung von Leibeserben sollte über das Capital nach dem Wunsche der Dame verfügt werden, zu welchem Ende ich ihr das Recht, ein Testament zu machen, vorbehielt. Die Wirkungen dieser Bedingungen lassen sich auf folgende Weise zusammenfassen. Falls Lady Glyde starb, ohne Kinder zu hinterlassen, so durften ihre Halbschwester, Miß Halcombe, und sonstige Verwandte oder Freunde, die sie zu begünstigen wünschte, sich bei Ableben ihres Gemahls nach solchen Antheilen in das Geld theilen, wie sie ihnen ausgesetzt waren. Hinterließ Lady Glyde dagegen Kinder, so mußte deren Interesse natürlich jedem anderen Interesse vorgehen. Dies war die Clausel, und wer sie liest, muß, wie ich denke, mit mir darin übereinstimmen, daß sie allen Theilen gleiche Gerechtigkeit zukommen ließ.

Wir werden sehen, wie meine Vorschläge von Seiten des Gemahls aufgenommen wurden.

Zur Zeit, wo ich Miß Halcombe’s Brief empfing, war ich noch mehr beschäftigt als gewöhnlich. Aber es gelang mir noch, die Zeit zu dem Contracte zu finden. Ich hatte ihn in weniger als einer Woche nach Empfang von Miß Halcombe’s Briefe aufgesetzt und Sir Percivals Advocaten zur Genehmigung zugesandt.

Nach Verlauf von zwei Tagen erhielt ich das Document mit den Notizen und Anmerkungen von Sir Percivals Advocaten zurück. Seine Einwendungen erwiesen sich im Allgemeinen als unbedeutend, bis er zu der Clausel über die zwanzigtausend Pfund kam. An dieser entlang, waren mit rother Tinte doppelte Linien gezogen und folgende Bemerkung hinzugefügt:

»Unzulässig. Das Capital an Sir Percival übergehen lassen, falls er Lady Glyde überlebt und keine Leibeserben da sind.«

Das hieß also, daß kein Heller von den ganzen zwanzigtausend Pfund weder Miß Halcombe noch sonst einem Mitgliede der Familie von Lady Glyde zukommen sollte. Die ganze Summe, falls sie keine Kinder hinterließ, sollte in Sir Percival’s Taschen schlüpfen.

Die Antwort, welche ich auf diesen unverschämten Vorschlag schrieb, war so kurz und scharf, wie ich sie nur geben konnte.

»Mein lieber Herr. Ich behaupte Clausel so und so gerade wie sie dasteht.

Aufrichtig der Ihrige.«

Die Erwiderung kam in einer Viertelstunde.

»Mein lieber Herr. Ich behaupte die Clausel in rother Tinte gerade wie sie dasteht.

Aufrichtig der Ihrige.«

In dem abscheulichen Kauderwelsch unserer Zeit hatten wir uns jetzt beide »festgefahren« und es blieb uns Nichts weiter übrig, als an unsere beiderseitigen Clienten zu appelliren.

Wie die Sachen standen, war mein Client – da Miß Fairlie noch nicht ihr einundzwanzigstes Jahr vollendet hatte – ihr Vormund, Mr. Frederick Fairlie. Ich schrieb an ihn und legte die Sache gerade so vor ihn, wie sie stand, indem ich nicht nur nachdrücklich jeden Beweisgrund, der mir nur einfiel, anführte, um ihn zu bewegen, die Clausel so zu behaupten, wie ich sie aufgesetzt hatte, sondern auch deutlich den gewinnsüchtigen Beweggrund hervorhob, welcher der Einwendung gegen meine Verfügung zu Grunde lag. Die Kenntniß von Sir Percival’s Angelegenheiten, welche ich notwendigerweise gewonnen, als die Maßregeln der Acte auf seiner Seite nur zur Einsicht vorgelegt worden, hatte mir nur zu klar bewiesen, daß enorme Schulden auf dem Gute lasteten und daß sein Einkommen, obgleich nominell ein bedeutendes, in der Wirklichkeit aber für einen Mann seines Standes beinahe Nichts war. Das Bedürfniß baaren Geldes war die praktische Notwendigkeit für Sir Percivals Existenz und die Anmerkung seines Advocaten neben der Clausel in dem Contracte war Nichts, als das selbstsüchtig offene Bekenntniß desselben.

Mr. Fairlie’s Antwort kam mit umgehender Post. Auf gut Deutsch lief sie auf etwa Folgendes hinaus:

»Wollte nicht der liebe Gilmore die außerordentliche Güte haben, seinen Freund und Clienten nicht wegen einer solchen Kleinigkeit, wie einen entfernten Möglichkeitsfall, zu quälen? Wäre es wahrscheinlich, daß eine junge Frau von einundzwanzig Jahren früher als ein Mann von fünfundvierzig Jahren und ohne Kinder sterben werde? War es dagegen in einer so jämmerlichen Welt, wie diese, möglich, den Werth des Friedens und der Ruhe zu überschätzen? Und falls diese zwei himmlischen Güter Einem für eine solche irdische Kleinigkeit, wie die entfernte Aussicht auf zwanzigtausend Pfund geboten würden, war das nicht ein guter Tausch? Ganz gewiß. Also warum ihn da nicht eingehen?«

Ich warf den Brief voll Widerwillen von mir. Gerade als er zu Boden fiel, wurde an meine Thür geklopft und Sir Percivals Advocat, Mr. Merriman, trat herein. Es gibt in dieser Welt viele verschiedene Arten von schlauen Praktikanten, aber die, mit der man am allerschwersten fertig wird, sind die Leute, welche uns beständig unter dem Mantel einer unvertilgbaren Fröhlichkeit überlisten. Ein corpulenter, wohl genährter, lächelnder, freundlicher Geschäftsmann ist von Allen, mit denen man zu schaffen haben kann, derjenige, der Einem am wenigsten Hoffnung läßt. Mr. Merriman gehörte zu dieser Classe.

»Und wie geht’s meinem guten Mr. Gilmore?« begann er, von der Wärme seiner eigenen Liebenswürdigkeit erglühend. »Freut mich sehr, Sir, Sie bei so guter Gesundheit zu sehen. Ich ging gerade bei Ihrer Thür vorbei und dachte, ich wollte ’mal sehen, ob Sie mir vielleicht etwas zu sagen hätten. Lassen Sie uns – ich bitte Sie – unsere kleine Meinungsverschiedenheit womöglich mündlich beilegen! Haben Sie schon von Ihrem Clienten gehört?«

»Ja. Haben Sie schon von dem Ihrigen gehört?«

»Mein lieber, guter Herr! Ich wollte, ich hätte in einer Weise von ihm gehört, die Etwas nützen könnte – ich wünsche von ganzem Herzen, er nähme mir die Verantwortung ab; aber er will mir sie nicht abnehmen. ›Merriman, ich überlasse die Einzelheiten Ihnen. Thun Sie, was Ihnen in meinem Interesse recht scheint, und nehmen Sie an, daß ich mich persönlich von der Sache zurückgezogen hätte, bis Alles vorüber ist.‹

Das waren Sir Percivals Worte vor vierzehn Tagen, und das Einzige, was ich über ihn vermag, ist, sie ihn wiederholen zu lassen. Ich bin kein harter Mensch, wie Sie wissen, Mr. Gilmore. Was mich betrifft, und unter uns gesagt, versichere ich Sie, daß ich jene Anmerkung von mir auf der Stelle streichen möchte. Aber wenn Sir Percival sich nicht darum bekümmern will, wenn er durchaus sein ganzes Interesse meinen Händen übergibt, was kann ich möglicherweise Anderes thun, als es behaupten?«

»Dann bestehen Sie also auf Ihrer Anmerkung neben der Clausel buchstäblich?« sagte ich.

»Ja, zum Henker! Es bleibt mir Nichts Anderes übrig.« Er spazierte an den Kamin und wärmte sich, indem er mit einer vollen Baßstimme die letzte Strophe eines Liedes vor sich hin summte. »Was sagt Ihre Partei?« fuhr er fort, »bitte, lassen Sie mich hören, was Ihre Partei sagt?«

Ich versuchte, Zeit zu gewinnen, ja ich that gar noch Schlimmeres. Mein juristischer Instinct übermannte mich, und ich versuchte sogar mit ihm zu handeln.

»Zwanzigtausend Pfund sind eine ziemlich große Summe, um von der Familie der Dame nach zweitägiger Ueberlegung aufgegeben zu werden,« sagte ich.

»Sehr wahr,« sagte Mr. Merriman, gedankenvoll auf seine Stiefeln herabblickend. »Gut gesagt, Sir – sehr gut gesagt!«

»Ein Compromiß, welcher das Interesse der Familie der Dame sowohl, als das des Gemahls anerkannte, hätte meinen Clienten wahrscheinlich nicht so sehr erschreckt,« fuhr ich fort. »Nun, kommen Sie! Die Sache löst sich am Ende in einen blosen Handel auf. Was ist das Wenigste, das Sie annehmen wollen?«

»Das Wenigste, was wir annehmen wollen,« sagte Mr. Merriman, »sind neunzehn – tausend – neun – hundert –– und – neun – und – neunzig – Pfund – neunzehn – Schilling – und – elf – Pence – drei – Farthinge. Ha! ha! ha! Entschuldigen Sie, Mr. Gilmore, ich muß einen kleinen Scherz haben.«

»Klein genug!« bemerkte ich; »der Scherz ist gerade den übrigen Farthing werth, um den er gemacht wurde.«

Mr. Merriman war entzückt. Er erschütterte das Zimmer mit seinem Gelächter über die Art und Weise, wie ich es ihm zurückgegeben. Ich dagegen war nicht halb so guter Laune; ich kehrte zum Geschäfte zurück und machte der Unterredung ein Ende.

»Heute ist Freitag,« sagte ich, »lassen Sie uns bis nächsten Dienstag zur letzten Entscheidung Zeit.«

»Auf jeden Fall,« erwiderte Mr. Merriman. »Noch länger, mein lieber Herr, wenn Sie es wünschen.« Er nahm seinen Hut, um zu gehen und redete mich dann noch einmal an. »Beiläufig gesagt, haben Ihre Clienten in Cumberland nichts mehr von dem Frauenzimmer gehört, die den anonymen Brief schrieb?«

»Nichts mehr,« entgegnete ich. »Haben Sie keine Spur von ihr entdeckt?«

»Noch nicht,« sagte mein juristischer Freund. »Aber wir verzweifeln noch nicht. Sir Percival hegt Verdacht, daß Jemand sie versteckt hält, und diesen Jemand lassen wir bewachen.« sagte ich.

»Eine ganz andere Person, Sir,« entgegnete mir Mr. Merriman. »Wir haben die alte Frau noch nicht erwischt. Unser Jemand ist ein Mann. Ich habe mein Auge auf ihn hier in London, und wir hegen starken Verdacht, daß er es war, der ihr aus der Anstalt entfliehen half. Sir Percival war dafür, ihn sogleich auszufragen, aber ich sprach: Nein. Unser Ausfragen würde den Erfolg haben, daß er auf seiner Hut wäre; wir wollen ihm aufpassen und warten. Wir werden ja sehen, was sich ereignet. Ein gefährliches Frauenzimmer, Mr. Gilmore, um frei zu sein; es ist unberechenbar, was sie zunächst thun mag. Ich wünsche Ihnen einen guten Morgen, Sir. Nächsten Dienstag hoffe ich das Vergnügen zu haben, von Ihnen zu hören.« Er lächelte liebenswürdig und ging.

Ich war während des letzten Theiles der Unterhaltung etwas zerstreut gewesen. Ich war so besorgt in Bezug auf den Contract, daß ich für andere Gegenstände wenig Aufmerksamkeit übrig hatte; und sowie ich wieder allein war, begann ich zu überlegen, was mein nächster Schritt sein müsse.

Hätte die Sache irgend einen anderen meiner Clienten betroffen, so hätte ich meinen Verhaltungsbefehlen gehorcht, wie sehr mir dieselben auch persönlich zuwider gewesen wären, und augenblicklich den Punkt in Bezug auf die zwanzigtausend Pfund aufgegeben. Aber gegen Miß Fairlie konnte ich nicht mit dieser geschäftsmäßigen Gleichgültigkeit verfahren. Ich hegte ein redliches Gefühl der Liebe und Bewunderung für sie; ich erinnerte mich voll Dankbarkeit, daß ihr Vater mir der gütigste Freund und Gönner war, den je ein Mann besaß; ich hatte, während ich den Contract aufsetzte, das für sie gefühlt, was ich, wäre ich nicht ein Junggeselle gewesen, für meine eigne Tochter gefühlt hätte; und ich war daher entschlossen, vor keinem persönlichen Opfer zurückzuweichen, solange ich ihrem Interesse dienen konnte. An ein zweites Schreiben an Mr. Fairlie war nicht zu denken; es würde ihm nur eine zweite Gelegenheit geben, mir durch die Finger zu schlüpfen. Es mochte möglicherweise von besserem Erfolge sein, falls ich ihn sähe und ihm persönlich die Sache vorstellte. Der folgende Tag war Sonnabend. Ich beschloß ein Tagesbillet zu nehmen und meine alten Gebeine nach Cumberland hinunter rütteln zu lassen, auf die Aussicht hin, ihn zu bereden, das gerechte, unabhängige, ehrenvolle Verfahren einzuschlagen. Ich hatte allerdings nur geringe Aussicht darauf; aber nachdem ich es versucht, würde sich mein Gewissen beruhigen. Ich würde dann Alles gethan haben, was ein Mann in meiner Lage thun konnte, um dem Interesse des einzigen Kindes seines alten Freundes zu dienen.

Das Wetter am Sonnabend war schön, ein Westwind und heller Sonnenschein. Da ich in letzterer Zeit wieder an jener Eingenommenheit und jenem Drucke im Kopfe gelitten hatte, vor denen mein Arzt mich schon vor mehr als zwei Jahren warnte, beschloß ich, mir bei dieser Gelegenheit ein wenig Extrabewegung zu verschaffen und schickte meine Reisetasche voraus, um dann zu Fuße nach der Eisenbahnstation von Euston Square zu folgen. Als ich nach Holborn hineinbog, kam ein Herr mir schnell entgegen, und da er mich sah, stand er still und redete mich an. Es war Mr. Hartright.

Hätte er mich nicht zuerst begrüßt, so wäre ich ihm ganz gewiß so vorbeigegangen. Er hatte sich so sehr verändert, daß ich ihn kaum wieder erkannte. Sein Gesicht war bleich und abgemagert, sein Benehmen hastig und unsicher, und seine Kleidung, die mir in Limmeridge als sauber und geschmackvoll aufgefallen, war jetzt so vernachlässigt, daß ich mich geschämt haben würde, wenn ich einen meiner Schreiber so gesehen hätte.

»Sind Sie schon lange wieder aus Cumberland zurück?« fragte er. »Ich habe kürzlich von Miß Halcombe gehört, und weiß, daß Sir Percival Glyde’s Erklärungen als befriedigend angenommen sind. Wird die Heirath bald stattfinden? Wissen Sie es vielleicht, Mr. Gilmore?«

Er sprach so schnell und drängte seine Fragen so seltsam und verwirrt durcheinander, daß ich ihm kaum folgen konnte.

Wie vertraut er auch durch Zufall mit der Familie zu Limmeridge gewesen sein mochte, so schien er mir doch nicht berechtigt, Auskunft über ihre Familienangelegenheiten zu erwarten, und ich beschloß daher, ihn so kurz wie möglich über Miß Fairlie’s Heirath abzufertigen.

»Die Zeit wird’s lehren, Mr. Hartright,« sagte ich – »die Zeit wird’s lehren. Ich denke mir, wenn wir nur hübsch die Zeitungen lesen, daß wir die Vermählung schon angezeigt finden werden. Verzeihen Sie mir die Bemerkung, aber ich bedaure, daß Sie nicht so wohl zu sein scheinen, als da ich Sie zuletzt sah.«

Um seine Augen und Lippen bebte ein momentanes Zucken, und ich machte mir beinahe Vorwürfe, ihm auf so bedeutungsvoll zurückhaltende Weise geantwortet zu haben.

»Ich hatte kein Recht, nach ihrer Heirath zu fragen,« sagte er mit Bitterkeit, »ich muß warten, bis ich, wie andere Leute, sie in der Zeitung angekündigt sehe. Ja,« fuhr er fort, ehe ich ihm noch meine Entschuldigung machen konnte, »ich bin seit Kurzem nicht wohl gewesen. Ich bedarf einer Veränderung des Aufenthaltes sowohl, als der Beschäftigung. Sie haben einen weiten Bekanntschaftskreis, Mr. Gilmore. Sollten Sie von irgend einer Expedition ins Ausland hören, zu der man einen Zeichner gebrauchte, und keiner von Ihren eignen Bekannten Gebrauch davon zu machen wünschen, da würde ich Ihnen sehr dankbar sein, wenn Sie mich davon benachrichtigen wollten. Ich stehe dafür, daß meine Zeugnisse befriedigend sind, und es ist mir einerlei, wohin ich gehen, in welches Klima, oder wie lange ich werde fortbleiben müssen.« Während er dies sagte, blickte er auf sonderbare, mißtrauische Weise auf die fremde Menge, welche sich zu beiden Seiten an uns vorüber drängte, als ob er argwöhne, daß wir beobachtet würden.

»Wenn ich von irgend Etwas der Art höre, will ich nicht verfehlen, es Sie wissen zu lassen,« sagte ich, und fügte dann, um ihn nicht ganz so kurz über die Fairlie’s abzufertigen, hinzu, »ich reise heute in Geschäften nach Limmeridge. Miß Halcombe und Miß Fairlie sind aber augenblicklich nicht da, sondern auf Besuch bei Bekannten in Yorkshire.«

Seine Augen glänzten und er schien im Begriffe, Etwas zu entgegnen, aber dasselbe nervöse Zucken flog wieder über sein Gesicht. Er nahm meine Hand, drückte sie fest und verschwand, ohne ein Wort weiter zu sagen, unter der Menge. Obgleich er für mich fast ein Fremder war, blieb ich einen Augenblick stehen und sah ihm mit einem Gefühle des Bedauerns nach. Ich hatte in meinem Berufe hinreichende Erfahrungen unter jungen Leuten gemacht, um nach äußeren Anzeichen beurtheilen zu können, wann sie anfingen, auf unrechten Wegen zu gehen; und als ich meinen Weg nach der Eisenbahn fortsetzte, hegte ich, zu meinem Bedauern sage ich es, ernste Zweifel über Mr. Hartright’s Zukunft.


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