Ein tiefes Geheimnis



Neuntes Kapitel

Vierzigtausend Pfund

Kein volkstümlicher Ausspruch ist weiter verbreitet als die Maxime, welche behauptet, die Zeit sei die große Trösterin, aber wahrscheinlich drückt kein volkstümlicher Ausspruch die Wahrheit unvollkommener aus. Die Arbeit, die wir verrichten, die Verantwortlichkeiten, die wir übernehmen, das Beispiel, welches wir Andern geben müssen – dies sind die großen Tröster, denn diese bringen gegen die Krankheit des Grams die ersten Heilmittel in Anwendung.

Die Zeit besitzt bloß die negative Eigenschaft, den Gram sich abzehren und abstumpfen zu lassen. Wer, der überhaupt beobachtet, hat nicht bemerkt, daß die von uns, welche sich am frühesten von dem Schlage eines großen Kummers über Todesfälle erholen, die sind, welche die meisten Pflichten gegen die Lebenden zu erfüllen haben? Wenn der Schatten des Unglücks auf unsern Häusern ruht, dann ist die Frage für uns nicht, wie viel Zeit hinreichen wird, um den Sonnenschein wieder zu uns zurückzubringen, sondern wie viel Beschäftigung wir haben, die uns vorwärts an den Platz bringt, wo der Sonnenschein auf uns wartet. Die Zeit kann viele Siege für sich beanspruchen, aber nicht den Sieg über den Gram. Der Haupttrost über den Verlust teurer Angehöriger, welche in das Jenseits eingegangen, ist in der großen Notwendigkeit, an die Lebenden, welche noch da sind, denken zu müssen, zu finden.

Die Geschichte von Rosamundes täglichem Leben, jetzt, wo das Dunkel eines schweren Herzenskummers sich darauf niedergesenkt hatte, war an und für sich ein genügender Beleg für die Wahrheit dieser Behauptung. Als die ganze Kraft, selbst ihres starken Charakters, durch den unaussprechlichen, furchtbaren Schlag des plötzlichen Todes ihrer Mutter niedergeworfen worden, war es nicht der langsame Verlauf der Zeit, der sie wieder aufrichten half, sondern die Notwendigkeit, welche nicht auf die Zeit wartete – die Notwendigkeit, welche sie an das erinnerte, was sie ihrem Gatten schuldig war, der ihren Kummer teilte, dem Kinde, dessen junges Leben mit dem ihrigen zusammenhing, und dem alten Manne, dessen hülfloser Schmerz keinen andern Trost fand, als den, welchen sie ihm geben konnte und dessen Resignation nur ein Vorbild in der ihrigen fand.

Gleich vom Anfang an war die Aufgabe, ihn aufrecht zu erhalten, bloß ihr zugefallen. Ehe noch die erste Stunde der Nacht auf das Ende des Tages folgte, ward Rosamunde von dem Bett ihrer Mutter durch die Notwendigkeit hinweggerissen, ihm bis an die Tür entgegenzugehen und ihn darauf vorzubereiten, daß er das Zimmer des Todes beträte.

Diese furchtbare Wahrheit ihm allmälig und behutsam vorzuführen, bis sie ihm Auge in Auge gegenüberstand, ihn den unvermeidlichen Schlag tragen und überwinden zu helfen – dies waren die heiligen Pflichten, welche alle Hingebung Rosamundes in Anspruch nahmen und ihrem Herzen wehrten, allzu egoistisch bei dem eigenen Kummer zu verweilen.

Es war nicht die kleinste der Prüfungen, welchen sie jetzt gegenüberzutreten hatte, den Zustand von Hülflosigkeit zu sehen, in welchen der alte Mann durch die Last eines Kummers versetzt war, den er für sich allein nicht die Kraft hatte zu tragen.

Er sah aus wie ein Mensch, dessen Geisteskräfte in eine Betäubung versenkt sind, aus welcher sie sich nie wieder emporrichten können. Stundenlang saß er neben seiner Spieluhr, streichelte und liebkoste sie von Zeit zu Zeit und flüsterte mit sich selbst, während er sie ansah, versuchte aber nie, sie spielen zu lassen. Es war das noch einzige Andenken, welches ihn an die Freuden und Leiden, die einfachen Familieninteressen und Neigungen seines vergangenen Lebens erinnerte.

Als Rosamunde sich das erste Mal neben ihn setzte und ihn bei der Hand ergriff, um ihn zu trösten, ließ er seine Blicke zwischen ihrem mitleidigen Gesicht und der Spieluhr hin- und herschweifen und wiederholte wie geistesabwesend immer und immer wieder dieselben Worte: „Sie sind alle fort – mein Bruder Max, mein Weib, mein kleiner Joseph, meine Schwester Agathe, Sara, meine Nichte. Ich und meine kleine Spieluhr sind nun noch allein miteinander in der Welt. Mozart kann nicht mehr singen. Er hat nun sein letztes Lied gesungen.“

Am zweiten Tage war keine Veränderung an ihm zu bemerken. Am dritten legte Rosamunde das Gesangbuch ehrerbietig auf die Brust ihrer Mutter, eine Locke von ihrem eigenen Haar um das Buch herum und küßte das wehmütige, friedliche Antlitz zum letzten Male.

Der alte Mann war bei diesem stummen Abschiede bei ihr und folgte ihr nach als Alles vorüber war. Neben dem Sarge und später, als Rosamunde ihn wieder mit zu ihrem Gatten nahm, war er noch in dieselbe Apathie des Grams versunken, die sich seiner gleich von Anfang an bemächtigt hatte. Als man jedoch davon zu sprechen begann, daß die sterbliche Hülle den nächstfolgenden Tag nach dem Kirchhofe von Porthgenna gebracht werden sollte, bemerkte man, daß seine trüben Augen plötzlich hell wurden, und daß seine bis jetzt so zerstreute Aufmerksamkeit jedem hierauf bezüglichen Worte folgte.

Nach einer Weile erhob er sich von seinem Stuhl, näherte sich Rosamunden und sah sie schüchtern an.

„Ich glaube, ich könnte meinen Schmerz besser ertragen, wenn Sie mich Sara begleiten ließen“, sagte er. „Wäre sie am Leben geblieben, so wären wir zwei miteinander nach Cornwall zurückgekehrt. Wollen Sie nun, da sie gestorben ist, mich auch noch mit ihr dahin zurückkehren lassen?“

Rosamunde machte sanfte Gegenvorstellungen und versuchte ihm zu zeigen, daß es am besten sei, die Leiche unter der Aufsicht ihres Dieners transportieren zu lassen, auf dessen Treue man sich verlassen könne und dessen Stellung ihn als die geeignetste Person erscheinen lasse, um mit Verrichtungen und Verantwortlichkeiten beauftragt zu werden, welche nahe Verwandte nicht im Stande wären, mit hinreichender Fassung zu übernehmen. Sie sagte ihm ferner, ihr Gatte beabsichtige noch einen Tag in London zu bleiben, um ihr Zeit zu der Erholung und Ruhe zu gönnen, deren sie unbedingt bedürfte, und daß sie dann nach Cornwall zurückkehren und wieder in Porthgenna zu sein gedächten, ehe das Begräbnis stattfände.

Deshalb bat Rosamunde den alten Mann inständig, sich jetzt in diese Stunden der Trauer, wo sie alle drei durch die Bande der Sympathie und des Kummers aneinander gefesselt wären, nicht von ihnen zu trennen.

Schweigend und unterwürfig hörte er zu, während Rosamunde sprach; als sie aber fertig war, wiederholte er dennoch seine Bitte. Er hatte jetzt einmal weiter keinen Gedanken, als mit den sterblichen Überresten des Kindes seiner Schwester nach Cornwall zurückzukehren.

Leonard und Rosamunde sahen beide, daß es vergeblich sein würde, sich ihm länger zu widersetzen; beide fühlten, daß es grausam wäre, ihn zwingen zu wollen, bei ihnen zu bleiben, und daß man ihm dagegen keine größere Freundlichkeit beweisen könnte, als wenn man ihm erlaubte, die Leiche zu begleiten.

Nachdem die beiden jungen Ehegatten daher ihren Diener instruiert, dem alten Mann soviel als möglich alle Belästigung und Mühe zu ersparen, auf seine Wünsche, so weit er sie zu erkennen geben würde, einzugehen und ihm allen möglichen Schutz und Beistand angedeihen zu lassen, ohne sich jedoch seiner Aufmerksamkeit allzusehr aufzudrängen, stellten sie es ihm frei, das einzige Vorhaben auszuführen, welches ihn noch mit den Ereignissen und Interessen des vorübergehenden Tages verknüpfte.

„Ich werde Ihnen“, sagte er, als er Abschied nahm, „bald noch besser dafür danken, daß Sie mich mit Allem, was mir von Sara, meiner Nichte, übriggeblieben, aus diesem Lärm und Getöse Londons fortgehen lassen. Ich will meine Tränen trocknen so gut ich kann und mich bemühen, mehr Mut zu besitzen, wenn wir uns wiedersehen.“

Am nächstfolgenden Tage, als Rosamunde und ihr Gatte miteinander allein waren, suchten sie Zuflucht vor dem Drucke der Gegenwart, indem sie miteinander vor der Zukunft und von dem Einflusse sprachen, welchen die Veränderung in ihren Vermögensumständen auf ihre künftigen Pläne und Projekte ausüben müßte.

Nachdem sie dieses Thema erschöpft, kam das Gespräch auf ihre Freunde und auf die Notwendigkeit, einigen der ältesten ihrer Bekannten die Ereignisse mitzuteilen, welche auf die Entdeckung im Myrtenzimmer gefolgt waren. Der erste Name, den sie, während sie diese Frage erwogen, nannten, war der des Doktor Chennery, und Rosamunde, welche eine nachteilige Wirkung auf ihr Gemüt befürchtete, wenn sie ihre Gedanken unbeschäftigt ließe, erbot sich sofort, an den Vikar zu schreiben, kurz zu erzählen, was, seitdem sie das letzte Mal mit ihm Briefe gewechselt, geschehen, und ihn zu bitten, in diesem Jahre ein ihr und ihrem Gatten schon lange gegebenes Versprechen zu lösen, nämlich seine Herbstferien bei ihnen in Porthgenna Tower zu verleben. Rosamundes Herz sehnte sich nach dem Anblick des alten Freundes und sie kannte ihn genau genug, um versichert zu sein, daß ein Wink über die Trübsal, von welcher sie heimgesucht worden, und über die schwere Prüfung, die sie zu bestehen gehabt, hinreichen würde, Doktor Chennery unverweilt, sobald es mit seinen amtlichen und häuslichen Pflichten vereinbar wäre, zu ihnen zu führen.

Das Schreiben dieses Briefes erweckte zugleich die Erinnerung an einen zweiten Freund, dessen Bekanntschaft mit Leonard und Rosamunde allerdings erst aus neuer Zeit datierte, dessen Zusammenhang mit der Kette von Umständen aber, welche zur Entdeckung des Geheimnisses geführt, ihn zu einem gewissen Anteil an ihrem Vertrauen berechtigte.

Dieser Freund war Doktor Orridge, der Arzt in West Winston, welcher zufällig die Veranlassung gewesen, Rosamundes Mutter an das Bett ihrer Tochter zu führen.

An diesen schrieb Rosamunde jetzt, indem sie sich auf das Versprechen bezog, welches sie ihm bei ihrer Abreise von West Winston gegeben und welchem zufolge er Nachricht von dem Resultat ihrer Nachforschungen in dem Myrtenzimmer erhalten sollte.

Sie teilte ihm mit, daß diese Nachforschungen zur Entdeckung einiger sehr betrübenden Familienereignisse geführt, die aber nun zu den Ereignissen der Vergangenheit zu rechnen seien. Mehr als dies war einem Freund, der eine solche Stellung ihnen gegenüber einnahm wie Doktor Orridge, nicht nötig zu sagen.

Rosamunde hatte eben die Adresse dieses zweiten Briefes geschrieben und zog zerstreut mit ihrer Feder Linien auf dem Löschpapier, als sie zu ihrer Verwunderung zornig streitende Stimmen auf dem Korridor draußen vernahm. Fast ehe sie noch Zeit hatte, Vermutungen darüber anzustellen, was dieser Lärm wohl zu bedeuten habe, ward die Tür heftig aufgestoßen und ein langer, schäbig gekleideter, ältlicher Mann mit einem mürrischen, hagern Gesicht und zottigen, grauen Bart kam hereingestiegen, während der Oberkellner des Hotels in großer Entrüstung ihm auf dem Fuße folgte.

„Ich habe diesem Menschen“, begann der Kellner, das letzte Wort nachdrücklich betonend, „ich habe diesem Menschen dreimal gesagt, daß Mr. und Mistreß Frankland –“

„Nicht zu Hause wären“, unterbrach ihn der schäbig gekleidete Mann, den Redesatz vollendend. „Ja, das sagtet Ihr mir und ich sagte Euch, daß der Mensch die Gabe der Rede bloß benutze, um Lügen zu sagen und daß ich Euch deshalb nicht glaubte. Ihr habt mir auch wirklich eine Lüge gesagt. Hier sind Mr. und Mistreß Frankland beide zu Hause. Ich komme in Geschäften und beabsichtige, ungefähr fünf Minuten lang mit Ihnen zu sprechen. Ich setze mich, obschon man mich noch nicht dazu eingeladen hat, und nenne meinen Namen – Andrew Treverton.“

Mit diesen Worten setzte der Sonderling sich kaltblütig auf den nächsten Stuhl.

Leonards Wangen erröteten vor Zorn, während er sprach, Rosamunde aber mischte sich ein, ehe ihr Gatte ein Wort sprechen konnte.

„Es wäre zwecklos, Lenny, sich über diesen Mann zu erzürnen“, flüsterte sie. „Es wird am besten sein, wenn wir ihm gegenüber ganz ruhig bleiben.“

Sie gab dem Kellner einen Wink und damit die Erlaubnis, das Zimmer zu verlassen – dann wendete sie sich zu Mr. Treverton.

„Sie dringen uns“, sagte sie ganz ruhig, „Ihre Gegenwart zu einer Zeit auf, wo ein tief betrübender Trauerfall uns zu Streitigkeiten aller Art völlig unfähig macht. Wir sind jedoch bereit, Ihrem Alter mehr Rücksicht zu schenken als Sie unserm Kummer angedeihen lassen. Wenn Sie meinem Gatten etwas zu sagen haben, so ist er um meinetwillen bereit, sich Gewalt anzutun und Sie ruhig anzuhören.“

„Und ich werde um meiner selbst willen mit ihm wie mit Ihnen die Sache kurz machen“, entgegnete Mr. Treverton. „Noch niemals hat ein Weib Gelegenheit gehabt, lange an mir die Zunge zu wetzen, und dies soll auch nimmermehr der Fall sein. Ich bin hierhergekommen, um Ihnen dreierlei zu sagen. Erstens hat Ihr Anwalt mir die ganze Geschichte der Entdeckung in dem Myrtenzimmer, und wie sie dieselbe gemacht, erzählt. Zweitens habe ich Ihr Geld bekommen. Drittens gedenke ich es zu behalten. Was meinen Sie dazu?“

„Ich meine, daß Sie sich nicht die Mühe zu nehmen brauchen, länger in diesem Zimmer zu verweilen, wenn Sie weiter nichts wollen als uns sagen, was wir schon wissen“, entgegnete Leonard. „Daß Sie das Geld bekommen haben, ist uns bekannt, und daß Sie es zu behalten gedenken, daran haben wir nie gezweifelt.“

„Dann sind Sie also wohl fest überzeugt davon?“ sagte Mr. Treverton. „Sie hegen wohl keinerlei versteckte Hoffnung, daß künftige Flausen und Verdrehungen des Gesetzes dieses Geld wieder aus meiner Tasche herausangeln und in die Ihrige zurückführen werden? Die Ehrlichkeit verlangt, Ihnen zu sagen, daß auch nicht der Schatten einer Möglichkeit vorhanden ist, es werde jemals so etwas geschehen, oder ich jemals großmütig werden und Sie auf eigenen Antrieb für das Opfer belohnen, welches Sie gebracht haben. Ich bin bei der betreffenden Gerichtsbehörde gewesen, ich habe die ganze Geschichte zu Protokoll nehmen lassen, das Geld ist mir in aller Form ausgezahlt worden, ich habe es bereits sicher bei meinem Bankier untergebracht und für Sie so lange ich danken kann nie ein einziges wohlwollendes Gefühl in meinem Herzen gehegt. So lautet wenigstens das Zeugnis, welches mein Bruder mir ausstellte, und dieser kannte meinen Charakter natürlich besser als irgend jemand anderss. Noch einmal sage ich Ihnen beiden: Sie bekommen von diesem ganzen bedeutenden Vermögen auch keinen roten Heller wiederzusehen.“

„Und ich sage Ihnen nochmals“, entgegnete Leonard, „daß wir durchaus nicht zu hören wünschen, was wir bereits wissen. Es ist eine Beruhigung für mein Gewissen und das meines Weibes, auf ein Vermögen verzichtet zu haben, welches wir nicht das Recht hatten zu besitzen, und ich spreche sowohl meine als Rosamundes Meinung aus, wenn ich Ihnen sage, daß Ihr Versuch, unserer Verzichtleistung auf dieses Geld einen eigennützigen Beweggrund unterzuschieben, eine Beleidiung gegen uns beide ist, deren Sie sich schämen sollten.“

„Ist das wirklich Ihre Meinung?“ sagte Mr. Treverton. „Sie, der Sie das Geld verloren haben, sprechen zu mir, der ich es gewonnen habe, auf diese Weise? Und“, fuhr er sich plötzlich zu Rosamunde wendend fort, „billigen Sie es, daß Ihr Gatte einen reichen Mann, der Sie beide glücklich machen könnte, auf diese Weise behandelt?“

„Ja wohl billige ich es“, antwortete sie. „In meinem ganzen Leben bin ich nie herzlicher mit ihm einverstanden gewesen, als eben jetzt in diesem Augenblick.“

„Oho“, sagte Mr. Treverton, “dann amchen Sie sich aus dem Verluste des Geldes wohl ebensowenig als er?“

„Er hat Ihnen schon erklärt“, sagte Rosamunde, „daß es für mein Gewissen eine ebenso große Beruhigung ist wie für das seine, darauf verzichtet zu haben.“

Mr. Treverton stellte den dicken Stock, den er führte, sorgfältig aufrecht zwischen seine Knie, legte kreuzweise die Hände darauf, stemmte auf diese das Kinn und stierte in dieser Haltung Rosamunde unverwandt und forschend an.

„Ich wollte, ich hätte Shrowl mitgebracht“, sagte er bei sich selbst. „Ich wollte, er sähe dies. Es verblüfft mich und ich glaube, es würde auch ihn verblüfft haben. Diese beiden Leute“, fuhr er fort, indem er wie verlegen von Rosamunde auf Leonard und von Leonard wieder zurück auf Rosamunde blickte, „sind allem äußern Anscheine nach menschliche Wesen. Sie gehen auf den Hinterbeinen, sie sprechen ganz geläufig durch artikulierte Laute ihre Gedanken aus, sie haben die gewöhnliche Anzahl von Gliedmaßen und scheinen mir nach Größe und Gewicht ganz gewöhnliche menschliche Wesen von der gewöhnlichen zivilisierten Sort zu sein. Und dennoch sitzen sie da und nehmen den Verlust eines Vermögens von vierzigtausend Pfund so gleichmütig hin wie Krösus, der König von Lydien, den Verlust eines halben Penny hingenommen haben würde.“

Er erhob sich, setzte seinen Hut auf, nahm den dicken Stock unter den Arm und trat Rosamunde einige Schritt näher.

„Ich gehe jetzt“, sagte er. „Wollen Sie mir die Hand drücken?“

Rosamunde kehrte ihm verächtlich den Rücken.

Mr. Treverton kicherte mit der Miene unendlichen Wohlbehagens in sich hinein.

Mittlerweile hatte Leonard, der in der Nähe des Kamins saß und dem wieder die Zornesröte ins Gesicht stieg, nach der Klingelschnur getastet und eben war es ihm gelungen, dieselbe in die Hand zu bekommen, als Mr. Treverton sich der Tür näherte.

„Klingle nicht, Lenny“, sagte Rosamunde. „Er geht von selbst.“

Mr. Treverton stieg über die Schwelle und warf dann einen Blick zurück in das Zimmer mit einem Ausdruck von Verwunderung und Neugier, als ob er in einen Käfig blickte, welcher zwei Tiere von einer ihm bis jetzt noch gänzlich unbekannt gebliebenen Gattung enthielte.

„Ich habe in meinem Leben allerhand wunderliches Zeug gesehen“, sagte er bei sich selbst. „Ich habe auf unserm erbärmlichen kleinen Planeten und unter den Geschöpfen, die ihn bewohnen, mancherlei Erfahrungen gemacht, aber niemals sind mir derartige menschliche Phänomene vorgekommen wie diese beiden.“

Ohne weiter ein Wort zu sagen, schloß er die Tür und Rosamunde hörte ihn wieder in sich hineinkichern, während er den Korridor entlang ging.

Zehn Minuten später brachte der Kellner einen an Mistreß Frankland adressierten versiegelten Brief. Derselbe war, wie er sagte, in dem Gastzimmer des Hotels von dem „Menschen“ geschrieben worden, der sich fast mit Gewalt in Mr. und Mistreß Franklands Zimmer gedrängt. Nachdem er dem Kellner den Brief zur Bestellung übergeben, war er, lustig seinen dicken Stock schwenkend und vor sich hinlachend, eiligst fortgegangen.

Rosamunde öffnete den Brief.

Die eine Seite desselben enthielt eine auf ihren Namen ausgestellte, durchkreuzte Anweisung auf vierzigtausend Pfund.

Auf der andern Seite standen folgende erläuternde Zeilen:

„Nehmen Sie dies – erstens weil Sie und Ihr Gatte die einzigen Menschen sind, die ich je kennengelernt, von welchen sich nicht erwarten läßt, daß der Reichtum sie zu Schurken machen werde – zweitens weil Sie die Wahrheit gesprochen und dadurch ein Vermögen verloren haben, während Sie es durch Verschweigen der Wahrheit sich hätten sichern können – drittens weil Sie nicht das Kind der Komödiantin sind – viertens weil Sie es nehmen müssen, denn wenn Sie es jetzt nicht nehmen, so vermache ich es Ihnen in meinem Testament. Leben Sie wohl. Kommen Sie nicht etwa, um mich zu besuchen, schreiben Sie mir auch keine Danksagungsbriefe, laden Sie mich nicht ein, zu Ihnen aufs Land zu kommen, loben Sie nicht meine Großmut und vor allen Dingen hüten Sie sich, wieder etwas mit Shrowl zu tun zu haben.

            Andrew Treverton.“

Das Erste, was Rosamunde, nachdem sie und ihr Gatte sich ein wenig von ihrem Erstaunen erholt hatten, tat, war, daß sie der Weisung, die ihr verbot, einen Danksagungsbrief an Mr. Treverton zu schreiben, ungehorsam ward. Der Bote, den man mit diesem Briefe nach Bayswater sendete, kam ohne Antwort zurück und meldete bloß, ein unsichtbarer Mann mit einer heisern, rauhen Stimme habe ihm zugerufen, den Brief über die Gartenmauer zu werfen und sich dann schleunigst wieder zu entfernen, wenn er nicht den Schädel eingeschlagen haben wollte.

Mr. Nixon, welchen Leonard sofort von dem Vorgefallenen benachrichtigte, erbot sich freiwillig, noch denselben Abend nach Bayswater zu gehen und einen Versuch zu machen, ob er mit Mr. Treverton im Auftrage des jungen Ehepaares sprechen könnte.

Er fand Timon von London zugänglicher als er gedacht. Der Menschenfeind war wenigstens für diesmal auf guter Laune. Diese außerordentliche Veränderung war durch das Gefühl von Befriedigung hervorgerufen worden, welches er darüber empfand, daß er soeben Shrowl den Abschied gegeben, und zwar aus dem Grunde, weil sein Herr, nachdem er die Torheit begangen, Mistreß Frankland ihre vierzigtausend Pfund zurückzugeben, keine passende Gesellschaft mehr für ihn sei.

„Ich sagte ihm“, sagte Mr. Treverton, bei der Erinnerung an den Abschied zwischen seinem Diener und ihm wieder in sich hineinkichernd, „ich sagte ihm, ich könnte nach dem, was ich getan, unmöglich erwarten, daß ich seinen fortgesetzten Beifall erwürbe und daß es mir deshalb nicht einfallen könne, ihn unter diesen Umständen länger auf seinem Posten zurückzuhalten. Ich bat ihn, meine Handlungsweise so schonend und nachsichtig als möglich zu beurteilen, besonders da die erste Ursache, welche dazu geführt, der Umstand sei, daß er den Plan des Schlosses Porthgenna kopiert, wodurch Mistreß Frankland zu der Entdeckung in dem Myrtenzimmer geführt worden. Ich wünschte ihm Glück, eine Belohnung von fünf Pfund dafür bekommen zu haben, daß er die Ursache zur Rückgabe eines Vermögens von vierzigtausend Pfund geworden, und dekomplimentierte ihn dann mit einer höflichen Demut, die ihn halb wahnsinnig machte, zum Hause hinaus. Wir haben in der Zeit unseres Beisammenseins so manche Lanze miteinander gebrochen; bis auf den heutigen Tag gelang es mir nie, ihn aus dem Sattel zu heben, aber nun habe ich ihn endlich doch noch auf den Sand gesetzt.“

Obschon Mr. Treverton bereit war, von Shrowls Niederlage und Entlassung so lange zu sprechen als der Anwalt ihm zuhören wollte, so ließ er doch in Bezug auf Mistreß Frankland, als Mr. Nixon das Gespräch auf diese bringen wollte, durchaus nichts mit sich anfangen. Er wollte keine Botschaft anhören und ebensowenig irgend ein Versprechen in Bezug auf die Zukunft geben.

Über sich selbst und seine eigenen Projekte war ebenfalls weiter nichts aus ihm herauszubringen, als daß er die Absicht hatte, das Haus in Bayswater zu verkaufen und wieder auf Reisen zu gehen, um die menschliche Natur in verschiedenen Ländern nach einer Methode zu studieren, die er noch nicht versucht – nämlich mit dem Bemühen, nicht bloß das Schlechte, was in dem Menschen ist, sondern auch das Gute ausfindig zu machen. Er sagte, diese Idee wäre in ihm durch den Wunsch erweckt worden, zu ermitteln, ob Mr. und Mistreß Frankland vollkommen ausnahmsweise menschliche Wesen wären oder nicht. Gegenwärtig sei er geneigt zu glauben, daß sei es wären und daß seine Reisen wahrscheinlich zu keinem bemerkenswert genügenden Resultate führen würden.

Mr. Nixon bat ihn dringend, ihm eine freundliche Botschaft an seine Klienten aufzutragen, damit er diese davon zugleich mit der Nachricht von seiner beabsichtigten Abreise in Kenntnis setzen könnte.

Diese Bitte brachte jedoch weiter nichts hervor als ein sardonisches Kichern, auf welches dann eine am Gartentore an den Anwalt gerichtete Abschiedsrede folgte.

„Sagen Sie diesen beiden sonderbaren Menschen“, sagte Timon von London, „daß ich meine Reisen aus Überdruß vielleicht aufgebe, wenn sie es am wenigsten erwarten, und daß ich möglicherweise dann zu ihnen komme und mir sie noch einmal ansehe, um von dem beklagenswerten Schauspiel, welches die Menschheit im Allgemeinen bietet, wenigstens noch ein befriedigendes Gefühl zu haben, ehe ich sterbe.“


Vorheriges Kapitel
Nächstes Kapitel
Inhaltsverzeichnis für diese Geschichte