Zwei Schicksalswege

Neuntes Kapitel

Natürlich und übernatürlich

Indem ich auf die Schrift in meinem Skizzenbuch wies, blickte ich meine Mutter an. Ich hatte mich nicht geirrt, sie hatte es ebenso gut beobachtet, wie ich. Sie wollte aber nicht zugeben, dass irgend etwas Aufregendes geschehen sei, - wenigstens deutete ich so ihren Gesichtsausdruck.

»Es hat Dir jemand einen Streich spielen wollen, George,« sagte sie.

Ich schwieg. Was sollte ich sagen. Meine arme Mutter war entschieden selbst eben so wenig von ihrer ungenügenden Erklärung befriedigt, wie ich. Der Wagen erwartete uns am Tor, so traten wir schweigend unsern Rückweg an.

Das Skizzenbuch lag offen auf meinen Knien, meine Augen waren darauf geheftet; im Geiste rief ich mir den Augenblick zurück, als die Erscheinung mir winkte in das Lusthaus einzutreten und dort zu mir sprach. Hielt ich ihre Worte und diese Schrift zusammen, so war es mir möglich einen Schluss daraus zu ziehen: die Frau, die ich vom Ertrinken errettet hatte, bedurfte meiner wiederum.

Und das war die Frau, eben dieselbe Frau, die ohne Säumen die erste Gelegenheit benutzt hatte, um das Haus zu verlassen, das uns beiden ein Obdach bot - ohne einen Augenblick zu verziehen, um erst dem Manne, der sie vom Tode errettet hatte, ein Wort des Dankes zu sagen. Vier Tage waren erst verstrichen, seit sie mich, scheinbar, auf Nimmerwiedersehn verlassen hatte und nun kehrte ihre geistige Erscheinung wie zu einem erprobten, treuen Freunde zu mir zurück, rief die Erinnerung an sich wieder selbst in mir wach und forderte mich auf zu ihr zu kommen; ja, um jede Täuschung meiner Phantasie zu vermeiden, hatte sie die Worte noch aufgeschrieben, die mich zu ihr beriefen: »wenn der Vollmond scheint an St. Antonios Brunnen.«

Was war in der Zwischenzeit vorgegangen? Was bedeutete diese übernatürliche Verbindung zwischen uns? Was hatte ich zunächst zu tun? Meine Mutter unterbrach mich in meinen Betrachtungen. Sie streckte die Hand aus und schloss das offene Buch auf meinen Knien, als wäre ihr der Anblick jener Schrift unerträglich.

»Warum sprichst Du Dich nicht aus, George,« sagte sie. »Warum behältst Du Deine Gedanken für Dicht?«

»Ich bin ganz verwirrt,« antwortete ich. »Mir fehlt jede Vermutung, jede Erklärung. All mein Denken richtet sich auf die eine Frage, was tue ich zunächst. Nur über den einen Punkt bin ich ganz sicher.« Ich berührte bei diesen Worten das Skizzenbuch. »Komm was da wolle, ich werde ihrem Wunsch, zu erscheinen, folgen.«

Meine Mutter sah mich an, als ob sie ihren Sinnen nicht recht traute. »Er spricht als wäre das Alles wirklich geschehen!« rief sie aus. »George! Du glaubst doch nicht, dass Du in der Tat jemand in dem Lusthause gesehn hast? Die Stelle war leer. Ich versichere Dich, als Du in das Lusthaus hinein zeigtest, war die Stelle leer. Du hast so lange an diese Frau gedacht, bis Du Dir einbildest sie wirklich gesehn zu haben.«

Ich öffnete das Skizzenbuch wieder. »Ich glaubte zu sehen, wie sie etwas auf diese Seite schrieb,« erwiderte ich. »Sieh her - und sage mir, ob ich irrte.« Meine Mutter weigerte sich hinzusehen. So entschieden sie auch darauf beharrte die Sache mit der Vernunft zu erklären, so sehr erschwerte die Schrift in dem Buche ihr das.

»Es ist kaum eine Woche her,« fuhr sie fort, »als ich Dich mit dem Tode ringend auf dem Bett in dem Gasthause liegend fand. Wie kannst Du bei Deinem Gesundheitszustande daran denken, ihrem Rufe zum Brunnen zu folgen? Dem Rufe eines geheimnisvollen Wesens, das in Deiner Einbildung lebt, auftaucht und verschwindet, und sichtbar geschriebene Worte zurücklässt! Es ist lächerlich, George; ich wundere mich, dass Du nicht selbst darüber lachst.«

Sie wollte mich durch ihr Beispiel zum Lachen reizen - mit tränenfeuchten Augen machte die arme Seele den vergeblichen Versuch. Ich bereute, dass ich mich so offen zu ihr ausgesprochen hatte.

»Nimm die Sache nicht zu ernst, Mutter,« sagte ich. »Vielleicht kann ich den Ort gar nicht auffinden. Ich hörte nie etwas von St. Antonios Brunnen; ich habe keinen Begriff wo er ist. Vorausgesetzt, dass ich ihn entdeckte - und vorausgesetzt, dass die Reise dahin angenehm ist, - würdest Du mich dann dahin begleiten?«

»Gott behütet« rief meine Mutter heftig aus. »Ich mag damit nichts zu tun haben, George, Du befindest Dich in einer Täuschung - ich will mit dem Doktor sprechen!«

»Jedenfalls, liebste Mutter! Mr. Mac Glue ist ein einsichtsvoller Mann. Wir wollen ihn zu Mittag einladen, da wir auf unserem Heimwege an seinem Hause vorüber kommen. Bis dahin lass uns die Sache nicht mehr berühren, erst wollen wir den Doktor sprechen.«

Ich sagte das leicht hin, meinte aber ganz ernstlich, was ich sagte. Mein Gemüt war tief beunruhigt; meine Nerven waren so erschüttert, dass das leiseste Geräusch auf dem Wege mich erschreckte. Vielleicht war mir wirklich die Anschauung eines Mannes, wie Mr. Mac Glue, der alle irdischen Angelegenheiten von demselben unwandelbar praktischen Standpunkte aus betrachtete, als eine Art moralischen Heilmittels von Nutzen.

* * *

Wir warteten bis der Nachtisch aufgetragen war und die Dienerschaft das Speisezimmer verlassen hatte. Dann erzählte ich meine Geschichte, wie ich sie hier erzählt habe, dem schottischen Doktor, dann öffnete ich das Skizzenbuch und zeigte ihm die Schrift, damit er sie selbst betrachten konnte.

Hatte ich eine falsche Seite aufgeschlagen?

Ich sprang auf und hielt das Buch dicht unter die Lampe, die über dem Esstisch hing. Nein: es war die richtige Seite, da war meine halbbeendete Zeichnung des Wasserfalles - aber wo waren die beiden geschriebenen Zeilen darunter?

Verschwunden!

Ich strengte meine Augen an, ich sah und sah und das leere weiße Papier starrte mir entgegen.

Ich legte das offene Blatt vor meine Mutter hin. »Du hast es doch ebenso deutlich gesehen, als ich,« sagte ich. »Täuschen mich meine eigenen Augen? Sieh die Seite hier unten an.«

Meine Mutter sank mit einem Schreckensruf in ihren Stuhl zurück.

»Verschwunden?« fragte ich.

»Verschwunden!«

Ich wendete mich zu dem Doktor und war erstaunt, als ich ihn ansah. Kein ungläubiges Lächeln erschien auf seinem Gesicht; keine Scherzworte kamen über seine Lippen. Er hörte uns aufmerksam zu, ernstlich gespannt mehr zu hören.

»Ich versichere Sie auf mein Ehrenwort,« sagte ich ihm, »dass ich die Erscheinung mit meinem Bleistift hier unten auf diese Seite schreiben sah. Ich versichere Sie, dass, als ich das Buch in die Hand nahm, ich diese Worte darauf geschrieben sah: »Wenn der volle Mond scheint, an St. Antonios Brunnen.« Nicht mehr als drei Stunden sind seitdem vergangen - und, sehen Sie selbst, kein Schimmer ist von der Schrift zurückgeblieben.«

»Es bleibt kein Schimmer von solcher Schrift,« wiederholte Mr. Mac Glue ruhig.

»Wenn Sie im Geringsten bezweifeln, was ich Ihnen sage,« fuhr ich fort, »so fragen Sie meine Mutter - sie wird bezeugen, dass sie die Schrift auch gesehen hat.«

»Ich bezweifle nicht, dass Sie beide die Schrift sahen,« erwiderte Mr. Mac Glue mit einer Ruhe, die mich in Erstaunen setzte.

»Können Sie das erklären?« fragte ich.

»Nun wohl,« sagte der undurchdringliche Doktor, »wenn ich meinen Verstand anstrenge, so glaube ich es zur Zufriedenheit gewisser Leute erklären zu können. Zum Beispiel könnte ich Ihnen erstens die natürlichste Erklärung, wie man es nennt, geben. Ich könnte sagen, dass Sie, nach meinem besten Wissen, in einer sehr erregten, nervösen Stimmung sind, und dass Sie, als Sie die vermeintliche Erscheinung sahen, eben nichts sahen, als Ihre eigene Vorstellung von einer abwesenden Frau - die, wie ich ernstlich befürchte, Sie bei der schwachen oder verliebten Seite erfasst hat. Ich will Sie nicht beleidigen, Mr. Germaine -«

»Ich nehme Ihnen nichts übel, Doktor, Aber, verzeihen Sie, wenn ich aufrichtig spreche, - diese natürliche Erklärung ist an mir verloren.«

»Ich bin gern bereit Sie zu entschuldigen,« antwortete Mr. Mac Glue, »besonders, da ich ganz Ihrer Ansicht bin. Ich glaube dieser Erklärung selber nicht.«

Dieser Ausspruch überraschte mich in hohem Grade!

»Woran glauben Sie denn?« fragte ich.

Mr. Mac Glue wollte sich nicht durch mich übereilen lassen.

»Geduld, Geduld,« sagte er. »So wollen wir es denn mit der übernatürlichen Erklärung versuchen. Vielleicht sagt die Ihrem jetzigen Gemütszustande mehr zu, als die Andere. Sehen wir voraus, dass Sie wirklich den Geist oder Doppelgänger einer lebenden Person gesehen haben. Nun wohl. Wenn Sie annehmen können, dass ein körperloser Geist in irdischen Gewändern - von Seide oder Merino, je nachdem, - erscheint, so ist es kein weiter Schritt bis zu der Annahme, dass derselbe Geist fähig ist einen irdischen Bleistift zu führen und in ein irdisches Buch irdische Worte zu schreiben. Ist nun der Geist, wie der Ihre es tat, verschwunden, so scheint es den Gesetzen des Übernatürlichen entsprechend, dass die Schrift seinem Beispiel folgt und auch verschwindet. Der Grund dieses Verschwindens, wenn Sie einen solchen suchen, mag darin liegen, dass der Geist es nicht liebt, einen Fremden, wie mich, in seine Geheimnisse eingeweiht zu sehen oder dass das Verschwinden eine feststehende Gewohnheit bei den Geistern und bei Allem, was zu ihnen gehört, ist. Vielleicht hat dieser Geist auch in den drei Stunden, was, da es der Geist einer Frau war, um so weniger wunderbar ist, seine Ansicht geändert und wünscht nicht mehr Sie »wenn der volle Mond scheint an St. Antonios Brunnen« zu sehen. Da haben Sie die übernatürliche Erklärung; aber, wenn ich meine Ansicht sagen soll, muss ich hinzufügen, dass diese Erklärung auch nicht eine Stecknadel wert ist.«

Mr. Mac Glues erhabene Gleichgültigkeit über die beiden Gesichtspunkte von der Sache störte mich.

»Aufrichtig gesagt, Doktor,« sagte ich, »halten Sie die Umstände, die ich Ihnen mitteilte, keiner ernsten Untersuchung wert.«

»Ich halte die Sache für eine ernste Untersuchung nicht angetan,« antwortete der Doktor. »Sehen Sie es in der Weise an und Sie haben das Richtige. Sehen Sie um sich. Hier sitzen wir drei Personen lebendig und froh um diesen behaglichen Tisch. Wenn, was Gott verhüte, Sie oder Mrs. Germaine, hier plötzlich tot umfielen, könnte ich, obgleich ich Arzt bin, ebensowenig erklären, welches Haupterfordernis des Lebens oder der Bewegung plötzlich gestockt hat, wie der Hund es könnte, der dort am Kamine schläft. Wenn ich mich darin finde, einem so undurchdringlichen Geheimnisse, wie dieses, das sich mir doch Tag für Tag, wo ich ein Geschöpf sterben oder zur Welt kommen sehe, aufdrängt, unwissend gegenüber zu sitzen - warum soll ich mich da nicht begnügen angesichts Ihrer Dame in dem Lusthause, zu gestehen, dass sie über meinem Begriffsvermögen steht und dass ich sie zu ergründen aufgebe!«

Bei diesen Worten mischte sich meine Mutter zum ersten Male in die Unterhaltung.

»Ach, mein Herr,« sagte sie, »wenn Sie meinen Sohn nur bewegen könnten Ihre vernünftige Ansicht zu teilen, wie glücklich würde ich sein! Wollen Sie es glauben - er hat ernstlich die Absicht nach St. Antonios Brunnen zu gehen, wenn er ihn auffindet!«

Diese Entdeckung überraschte Mr. Mac. Glue durchaus nicht.

»Nun, nun! Er will der Aufforderung des Geistes Folge leisten - nicht mehr! Wohlan! Wenn er seinem Entschlusse treu bleibt, kann ich ihm dabei von Nutzen sein. Ich kann ihm erzählen, was mit einem anderen Manne geschah, der so der Berufung eines Geistes folgte.«

Das war ein merkwürdiger Ausspruch. Meinte er wirklich, was er sagte?

»Scherzen Sie oder sprechen Sie im Ernst?" fragte ich.

»Ich scherze nie, mein Herr!« versetzte Mr. Mac Glue. »Kein Kranker traut einem Arzte, der scherzt. Zeigen Sie mir einen Mann aus meiner Berufsklasse, den selbst seine nächsten und liebsten Freunde je während seiner Geschäftsstunden in heiterer Laune gesehen hätten. Sie haben sich gewundert, wie ich vermute, dass ich Ihre Erzählung so kühl aufnahm. Das kommt aber natürlich daher, mein Herr, dass die Ihre nicht die erste Geschichte ist, die ich von einem Geiste und einem Bleistift hörte.

»Wollen Sie mir damit sagen,« fragte ich, »dass Sie noch jemand kennen, der gesehen hat, was ich sah?«

»Eben das wollte ich Ihnen sagen,« erwiderte der Doktor. »Der Mann war ein entfernter Vetter von meiner verstorbenen Frau, er führte den geachteten Namen Bruce und war Seemann. Erst werde ich noch ein Glas Sherry trinken, um mir die Kehle anzufeuchten, wie man im Volke sagt, und dann will ich beginnen. Also, Sie müssen wissen, dass Bruce in der Zeit, von der ich rede, auf einem Schiffe angestellt war und sich auf einer Reise von Liverpool nach Neu-Braunschweig befand. Eines Nachmittags war er mit dem Kapitän eifrig beschäftigt, die Sonne zu beobachten, Länge und Breite genau messend. Bruce sah aus seiner Kajüte durch die offene Tür in die gegenüberliegende Kajüte des Kapitäns. »Wie beurteilen Sie das, mein Herr?« sagte Bruce. Der Mann in der Kajüte des Kapitäns sah auf. Und was sah Bruce? Das Gesicht des Kapitäns? Keine Spur davon - das Gesicht eines völlig Fremden! Bruce springt auf, sein Herz schlug im Augenblick gewaltig, er sucht den Kapitän auf Deck und findet ihn wie gewöhnlich; seine Berechnungen waren beendet, und er hatte sich die Längen- und Breitenverhältnisse für diesen Tag ans dem Sinn geschlagen. »Dort unten ist jemand an Ihrem Pult, Herr,« sagt Bruce. »Er schreibt auf Ihre Tafel, aber er ist mir völlig fremd.« »Ein Fremder in meiner Kajüte?« ruft der Kapitän. »Unmöglich Mr. Bruce, das Schiff ist seit sechs Wochen aus dem Hafen. Wie sollte er an Bord gekommen sein?« Bruce weiß nicht wie, aber ihn verfolgt seine Geschichte. Der Kapitän geht fort und eilt wie ein Wirbelwind in seine Kajüte, findet aber niemand darin. Bruce selbst ist genötigt zuzugeben, dass der Platz leer ist. »Wüsste ich nicht, dass Sie ein nüchterner Mann wären, so würde ich Sie der Trunkenheit beschuldigen,« sagte der Kapitän. »So will ich Sie nur der Träumerei zeihen, aber tun Sie das nicht wieder, Mr. Bruce.« Bruce bleibt bei seiner Geschichte; Bruce schwört, dass er den Mann auf des Kapitäns Tafel schreiben sah. Der Kapitän besichtigt die Tafel. »Der Herr segne und behüte uns,« sagt er, »wahrhaftig, hier ist die Schrift!« Bruce sieht sie auch, so deutlich wie möglich, in folgenden Worten: »Steure nach Nord-West!« Das und nichts weiter. Ach, mein Himmel, Erzählen ist eine trockne Arbeit, Mr. Germaine! Mit Ihrer Erlaubnis trinke ich erst wieder einige Tropfen Sherry!«

»Nun wohl! Das ist feuriger alter Wein; sehen Sie nur diese öligen Tropfen am Glase herunterlaufen. Also, Sie begreifen, nach Nordwest zu steuern war dem Kapitän ganz aus dem Wege. Dessenungeachtet, da keine Lösung des Geheimnisses an dem Schiffe zu finden war und das Wetter günstig, beschloss der Kapitän noch so lange das Tageslicht währte die Richtung zu ändern und zu sehen, was dann kommen würde. Gegen drei Uhr nachmittags kam ein Eisberg, der ein gescheitertes Schiff mit sich führte, das fest mit dem Eise zusammengefroren war und dessen Passagiere und Bemannung vor Kälte und Erschöpfung dem Tode nah waren. Das war wunderbar genug, werden Sie sagen, aber es steckt noch mehr dahinter. Als Bruce einem der geretteten Passagiere auf das Schiff hinauf helfen will, erkennt er denselben Mann, dessen Geistererscheinung er in des Kapitäns Kajüte, an seinem Pulte schreibend, gesehen hatte! Und mehr noch - wenn Ihre Fähigkeit zu Erstaunen nicht bereits erschöpft ist - der Passagier erkennt das Schiff als dasselbe, das er an diesem Nachmittage im Traume gesehen hatte. Als er erwacht war, hatte er davon sogar mit einem Offizier an Bord des gescheiterten Schiffes gesprochen. »Wir werden heute noch gerettet werden«, hatte er gesagt, - und hatte genau die Spitze des Schiffes beschrieben, Stunden und aber Stunden bevor es in Sicht kam. Nun wissen Sie, Mr. Germaine, wie ein entfernter Vetter meiner Frau der Aufforderung eines Geistes folgte und was dadurch geschah.«1

Mit diesen Worten schloss der Doktor seine Geschichte, indem er sich wieder ein Glas Sherry eingoss. Ich war indes nicht befriedigt, ich wollte noch mehr wissen.

»Verschwand die Schrift auf der Tafel, wie die in meinem Buche,« fragte ich, »oder blieb sie darauf stehen?«

Mr. Mac Glues Antwort enttäuschte mich. Er hatte weder je gehört noch nachgefragt, ob die Schrift darauf geblieben war oder nicht. Er hatte mir Alles gesagt, was er wusste und hatte nur noch eines hinzuzufügen - und das war eine Bemerkung mit einer darangeknüpften Moral. »Es ist eine große Ähnlichkeit zwischen Ihrer Geschichte und der von Bruce vorhanden, Mr. Germaine. Der hauptsächlichste Unterschied, den ich finde, ist, dass durch die Aufforderung jenes Passagiers die ganze Bemannung eines Schiffes gerettet wurde - ob die Aufforderung der Dame zu ihrer Rettung beitragen wird - bezweifle ich.«

Ich durchdachte schweigend die seltsame Geschichte, die mir soeben erzählt worden war. Ein anderer Mann hatte gesehen, was ich sah, - hatte getan, was ich beabsichtigte! Meine Mutter beobachtete mit ernstlichem Missbehagen den lebhaften Eindruck, den Mr. Mac Glues Geschichte mir gemacht hatte.

»Ich wünschte Sie hätten Ihre Geschichte für sich behalten, Doktor,« sagte sie scharf.

»Darf ich fragen weshalb, Madame?«

»Sie haben meinen Sohn in seiner Absicht, nach St. Antonios Brunnen zu gehen, bestärkt.«

Mr. Mac Glue zog ruhig seinen Taschenkalender zu Rate, ehe er antwortete.

»Am Neunzehnten dieses Monats ist Vollmond, »sagte er, »da kann sich Mr. Germaine noch mehrere Tage ruhen, bevor er die Reise antritt. Wenn er in seinem eigenen, bequemen Wagen reist, - so kann ihm wie ich auch vom moralischen Standpunkte aus sein Unternehmen beurteilen mag, vom ärztlichen Standpunkte betrachtet nicht viel Schlimmes daraus erwachsen.«

»Wissen Sie wo St. Antonios Brunnen ist?« warf ich ein.

»Dann müsste ich Edinburgh sehr wenig kennen, wenn ich das nicht wüsste,« versetzte der Doktor.

»So ist der Brunnen also in Edinburgh?«

»Er ist kurz vor Edinburgh - sieht darauf herab, wenn Sie wollen. Sie verfolgen die alte Straße, die Canongate heißt, bis zu ihrem Ende, wenden sich zur Rechten; an dem berühmten Palast von Holyrood vorbei; Sie durchschreiten den Park und gehen über den Fahrweg, dann schlagen Sie den Weg hinauf zur Antonio-Kapelle, an der Seite des Hügels ein - und Sie sind am rechten Orte! Hinter der Kapelle ist ein hoher Felsen, an dessen Fuße Sie die Quelle, die man St. Antonios Brunnen nennt, finden werden. Beim Mondschein gilt die Aussicht von dort als schön - und man sagt mir, dass der Ort jetzt nicht mehr, wie vor alten Zeiten, nachts von schlechtem Gesindel heimgesucht ist.«

Meine Mutter erhob sich in steigendem Unwillen, um sich in das Empfangszimmer zurückzuziehen.

»Ich gestehe, Sie haben mich enttäuscht,« sagte sie zu Mr. Mac Glue. »Ich hätte Sie für den Letzten gehalten, der meinen Sohn zu einem unvorsichtigen Unternehmen anspornen würde.«

»Um Vergebung, Madame, Ihr Sohn bedarf des Anspornens nicht. Ich habe sehr wohl gesehen, dass sein Entschluss gefasst ist. Warum soll jemand, wie ich, ihn daran hindern? Verehrte Frau, wenn er Ihrem Rate nicht folgt, welche Hoffnung hätte ich, dass er dem meinen Gehör gäbe?«

Mac Glue begleitete diese verbindliche Äußerung mit einer ehrfurchtsvollen Verbeugung und öffnete meiner Mutter die Tür. Als wir allein bei unserem Wein saßen, befragte ich den Doktor, wie bald ich die Reise nach Edinburgh ohne Gefahr für meine Gesundheit antreten könnte. Wenn Sie die Strecke in zwei Tagen zurücklegen wollen, so können Sie, wenn Ihnen daran liegt, anfangs der nächsten Woche abreisen. Das Eine aber beherzigen Sie,« fuhr der vorsichtige Doktor fort, »was die betreffende Dame anbelangt, so wasche ich über die Folgen meine Hände in Unschuld - wenn ich auch gestehen muss, dass ich gespannt bin zu hören, was sich aus der Reise entwickelt.«


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