Zwei Schicksalswege

Zwanzigstes Kapitel

Die grüne Flagge

»Welch eine Gabe haben Sie in Worten zu malen, Mr. Germaine, nach Ihrer Beschreibung habe ich ein deutliches Bild von Frau van Brandt.«

»Und gefällt Ihnen das Bild, Miss Dunroß?«

»Darf ich so aufrichtig sein, wie immer?«

»Gewiss!«

»Nun denn, ehrlich gesagt, gefällt mir Ihre Frau van Brandt nicht!«

Im Verlauf von zehn Tagen hatte ich Miss Dunroß schon so weit in mein Vertrauen gezogen!

Wodurch hatte sie mich bewogen, ihr die geheimnisvollen und heiligen Schmerzen meines Lebens anzuvertrauen, die bis jetzt nur das Ohr meiner Mutter vernommen hatte? So deutlich ich mich auch der schnellen, zarten Weise erinnere, in der sie mich mit ihrer herzgewinnenden Teilnahme bestrickte, so bleibt mir unklar, wie es ihr gelang, sich mir unbewusst so nah zu stellen, dass sie meine angeborene Zurückhaltung überwand, da ihr die wirksamste Macht, der Einfluss des Blickes, doch fehlte. Sobald das Licht in das Zimmer drang, war sie tief verschleiert und sonst waren die Vorhänge zugezogen. Der Schirm deckte das Feuer und ich konnte kaum die Umrisse ihres Gesichtes erkennen. Teilweise ist ihr Einfluss vielleicht durch die einfache, schwesterliche Art zu erklären, in der sie zu mir sprach und andernteils durch das unbeschreibliche Behagen, das mir ihre bloße Anwesenheit im Zimmer schon erregte. Ihr Vater hatte mir gesagt, dass sie Himmelsluft um sich verbreite, ich kann aus meiner Erfahrung nur sagen, dass ein Etwas sie umgab, das sich sanft und unwiderstehlich meines Willens bemächtigte und mich, wie ein Hündchen, ihr gehorchen machte. So getreu wie diesem Buche habe ich ihr alle Ereignisse, alle Leiden meines bisherigen Lebens anvertraut. Von der Liebesgeschichte meiner Knabenzeit mit allen ihren Einzelheiten bis zum Empfange der grünen Flagge, von den geheimnisvollen Prophezeiungen der Dame Dermody, dem gänzlichen Verschwinden der kleinen Mary und der Errettung der Frau van Brandt aus dem Flusse, bis zu der Erscheinung in dem Lusthause und unseren nachherigen Zusammenkünften in Edinburgh und London. Mit der vorschnellen anspruchsvollen Beurteilungsart der Frauen fasste sie nun, während sie in dem dunkeln Zimmer bei mir saß, den Eindruck, den meine Erzählung gemacht hatte in die Worte zusammen, die ich vorhin schon niederschrieb: »Mir gefällt Ihre Frau van Brandt nicht.«

»Warum nicht?« fragte ich.

Sie antwortete sofort: »Weil Sie niemand Anderes als Mary lieben dürfen!«

»Aber seit ich ein Knabe von dreizehn Jahren war, ist Mary für mich verloren.«

»Geduld und Sie werden sie wiederfinden, Mary ist geduldig und harrt Ihrer. Wie werden Sie von ihr beschämt über Ihre Liebe zu Frau van Brandt sein! Wenn Sie sie wiederfinden, dann werden Sie auf Ihre Trennung von Frau van Brandt als auf das glücklichste Ereignis in Ihrem Leben zurücksehen. - Ich werde das Ende nicht erleben, aber Sie werden die Bestätigung meiner Worte erleben.«

Teils stutzte ich über ihre vollkommen grundlose Überzeugung, dass ich Mary noch einmal wiederfinden würde und halb belächelte ich sie.

»Sie scheinen die Ansicht der Dame Dermody zu teilen,« sagte ich, »dass unsere beiden Schicksale in eins zusammenfließen müssen. Wie lange es auch sein mag und welche Ereignisse auch dazwischen liegen, so glauben Sie immer, dass unsere Vereinigung nur eine Zeitfrage ist und nichts weiter?«

»Das glaube ich fest.«

»Ohne einen anderen Grund, als dass Sie nicht wünschten, dass ich Frau van Brandt heirate?«

Sie war sich sehr wohl bewusst, dass dieses ihr hauptsächlicher Grund war und gab nach Frauenart der Abhandlung darüber eine andere Wendung.

»Warum nennen Sie sie Frau van Brandts?« fragte sie. »Frau van Brandt ist ja die Namensschwester Ihrer ersten Liebe, warum nennen Sie sie nicht auch Mary, wenn sie Ihnen so teuer ist?«

Der Grund, den ich dafür hatte, war eines Mannes von Geist und Verstand so unwürdig., dass ich mich schämte ihn anzuführen, aber als sie mein Zögern bemerkte, bestand sie auf einer Antwort, bis ich ihr mein demütigendes Bekenntnis machte.

»Der Mann, um dessentwillen ich sie aufgeben musste,« sagte ich, »nannte sie Mary. Deshalb ist mir der Name verleidet, denn ich hasse ihn mit aller Kraft der Eifersucht. Seit seine Lippen diesen Namen aussprachen, hat er jeden Reiz für mich verloren.«

Statt dass sie mich auslachte, wie ich vorausgesetzt hatte, erhob sie plötzlich den Kopf, als wollte sie mich trotz der Dunkelheit scharf ansehen.

»Wie sehr müssen Sie diese Frau lieben,« sagte sie. »Träumen Sie jetzt auch noch von ihr?«

»Jetzt niemals.«

»Hoffen Sie ihre Erscheinung einmal wiederzusehen?«

»Vielleicht, wenn eine Zeit tiefer Not über sie hereinbricht und sie keinen anderen Freund zum Helfer hat, als mich.«

»Sahen Sie je eine Erscheinung Ihrer kleinen Mary?«

»Niemals!«

»Aber Sie hatten sie doch einmal im Traum gesehen, wie Dame Dermody vorausgesagt hatte?«

»Ja, als Knabe.«

»Und später erschien in Ihren Träumen nicht Mary, sondern Frau van Brandt, sie war im Geiste bei Ihnen, wenn sie auch leiblich weit entfernt war? Die arme Dame Dermody, wenn sie je gedacht hätte, dass ihre Prophezeiungen durch eine falsche Person erfüllt werden würden!"

Das war also das Resultat, zu dem sie unbegreiflicherweise durch ihre Fragen gekommen war! Hätte sie, anstatt mich durch ihre nächste Frage wieder ganz von der rechten Fährte abzubringen, nur noch etwas weiter geforscht, so hätte sie mir unwillkürlich den Gedanken mitteilen müssen, der in ihr selbst unbewusst aufkeimte, dass möglicherweise Mary, meine erste Liebe, und Frau van Brandt ein und dieselbe Person waren.

»Wenn Sie nun Ihrer kleinen Mary jetzt wieder begegneten,« fuhr sie fort, »wie dächten Sie sie zu finden. Sagen Sie mir das, welch eine Art von Frau glauben Sie, dass sie geworden ist?«

Ich konnte kaum das Lachen verbergen. »Wie soll ich das nach so langer Zeit wissen?« erwiderte ich.

»Denken Sie einmal nach!« sagte sie.

Ich versuchte mir das Bild der kleinen, zarten Mary vorzuführen, wie sie noch in meiner Erinnerung vor mir stand und von der bekannten Person auf die unbekannte schließend, entwarf ich daraus das Bild einer schlankem zarten Frau, die den möglichst denkbaren Gegensatz zu Frau van Brandt bildete.

Meine sichtliche Überzeugung von dem Gegensatz, der aus dem Vergleich zwischen Beiden entstand, veranlasste Miss Dunroß den halb erwachten Gedanken an die Identität der Beiden völlig aufzugeben.

Wir hatten uns nun gegenseitig irre geführt, indem wir Beide die spätere Entwickelung zu vollkommener Gesundheit, Kraft und Schönheit nicht in Betracht zogen, die Zeit und Umstände an der kindlichen Mary aus meiner Jugendzeit hervorgebracht haben konnten. Wieder war ich um eines Haares Breite an der Enthüllung der Wahrheit vorbeigegangen.

»Ich liebe das Bild Ihrer kleinen Mary unendlich mehr, als das der Frau van Brandt,« sagte Miss Dunroß, »weil es ganz dem entspricht, was ich von einer wirklich anziehenden Frau denke. Wie Sie sich so um den Verlust dieser anderen Person grämen können, begreife ich nicht, ich hasse diese aufgeregten Frauen. Sie glauben nicht wie warm ich mich für Mary interessiere, erzählen Sie mir mehr von ihr. Wo haben Sie die geschenkte Handarbeit, an der das arme, kleine Ding so fleißig für Sie gestickt hat? Lassen Sie mich die grüne Flagge sehen!«

Sie setzte unbedingt voraus, dass ich die grüne Flagge bei mir trug und ich war um die Antwort ein wenig verlegen.

»Ich bedaure, dass ich das nicht kann, da die Flagge irgendwo in meinem Hause in Pertshire aufbewahrt ist.«

»Wie, die haben Sie nicht bei sich?« rief sie aus, »Sie lassen ihr Andenken irgendwo herumliegen? Ja, Mr. Germaine, dann haben Sie Mary in der Tat vergessen. Eine Frau hätte an Ihrer Stelle lieber ihr Leben gelassen, als dass sie sich von dem einzigen Andenken getrennt hätte, das sie aus der Zeit ihrer ersten Liebe besaß!«

Der außergewöhnliche Ernst, ich möchte fast sagen, die Erregung, in der sie sprach, setzte mich in Erstaunen.

»Aber liebe Miss Dunroß,« beruhigte ich sie, »die Flagge ist ja nicht verloren.«

»Hoffentlich nicht,« warf sie schnell ein, »denn wenn Sie die grüne Flagge verlieren, verlieren Sie die letzte Reliquie von Mary und wenn mich mein Glaube nicht täuscht, mehr als das.«

»Was glauben Sie denn?«

»Wenn ich es Ihnen sagte, fürchte ich, dass sie mich auslachen würden. Ich glaube jetzt, dass Sie ein harter Mann sind - ich habe mich doch zuerst in Ihren Zügen getäuscht.«

»Sie tun mir wahrlich Unrecht. Ich beschwöre Sie, antworten Sie mir so ehrlich wie immer, was verliere ich, wenn ich die letzte Reliquie von Mary verliere?«

»Sie verlieren die einzige Hoffnung, die ich für Sie hege,« antwortete sie ernst, »die Hoffnung, dass Sie Mary wiederfinden und einst mit ihr vereint sein werden. In der letzten Nacht dachte ich, statt zu schlafen, an Ihre reizende Liebesgeschichte an den Ufern des klaren, englischen Sees und je mehr ich nachdachte, je fester wurzelte in mir die Überzeugung, dass die grüne Flagge des armen Kindes, das unschuldige Bindeglied zwischen Ihrer Beider Zukunft ist. Das Glück Ihres Lebens haftet an dem unscheinbaren Andenken! Weshalb ich das glaube, kann ich Ihnen nicht erklären, es mag das mit zu meinen Exzentrizitäten gehören - wie meine Katzenaufführungen bei den Klängen meiner Harfe. Wäre aber unsere Freundschaft, statt dieser wenigen Tage, schon Jahre alt, so würde ich Ihnen keine Ruhe lassen. Ich würde Sie mit aller Beharrlichkeit einer Frau bitten, anflehen, beschwören, dass Sie Marys Andenken nie von sich ließen, sondern es zu Ihrem stehenden Begleiter machten wie das Bild Ihrer Mutter, das Sie dort in der Kapsel immer an Ihrer Uhrkette tragen. Mit der Flagge weilt auch Marys Einfluss bei Ihnen, Marys Liebe ist durch dieses teure, alte Band an Sie geknüpft und Sie werden Mary nach Jahren der Trennung wiedersehen!«

Der Gedanke war an sich schön und poetisch, dem Einflusse des Ernstes aber, mit dem er ausgesprochen wurde, hätte sich eine viele verhärtetere Natur, als die meine, nicht entziehen können. Ich gestehe, dass ich mich meiner Vernachlässigung der grünen Flagge wahrhaft schämte, was diese Worte bewirkt hatten, war aber viel tiefer gehend.

»So wie ich nach Hause zurückkehre, will ich sie suchen«, sagte ich, »und will sie in Zukunft sorgsamer behüten.«

»Ich verlange mehr als das,« versetzte sie. Wenn Sie die Flagge nicht bei sich tragen können, so muss sie Sie doch immer begleiten, wohin Sie auch gehen mögen. Als man Ihr Gepäck vom Schiffe hieher brachte, waren Sie besonders besorgt um Ihre Briefmappe, die dort auf dem Tische liegt. Enthält sie irgend etwas besonders Wertvolles?«

»Sie enthält mein Geld und andere Sachen, die mir sehr wert sind, als die Briefe meiner Mutter zum Beispiel und einige Familienandenken, die ich sehr ungern verlieren würde, auch die Mappe selbst ist mir besonders lieb, weil sie seit vielen Jahren meine treue Reisebegleiterin gewesen ist.«

Miss Dunroß stand auf und kam dicht an den Stuhl, auf dem ich saß.

»So lassen Sie Marys Flagge auch Ihre treue Reisebegleiterin sein,« sagte sie. »Sie haben meiner Dienste als Ihre Pflegerin viel zu dankbar erwähnt, belohnen Sie mich jetzt über mein Verdienst, indem Sie den abergläubischen Wunsch einer einsamen Träumerin erfüllen. Versprechen Sie mir, dass die grüne Flagge einen Platz zwischen den anderen Schätzen in Ihrer Mappe finden soll.«

Ich brauche wohl nicht zu sagen, dass ich ihr das Zugeständnis machte und ihr versprach, die grüne Flagge mit mir zu führen. Zum ersten Male seit wir uns kannten, legte sie ihre kleine abgezehrte Hand auf die meine und drückte sie einen Augenblick lang. Ehe ich sie wieder losließ, zog ich sie an meine Lippen und küsste sie im Gefühl meiner Dankbarkeit. Sie erschrak - zitterte und verließ still und eilig das Zimmer.


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