Der Wahnsinnige

III

»Wenn ich nicht irre«, sagte er, »sind Sie in unserer Grafschaft geboren, und kennen daher vielleicht auch eine alte Prophezeiung in Betreff unserer Familie?«

»Ich habe allerdings eine solche gehört«, erwiderte ich, »allein die Worte, in denen sie ausgedrückt ist, sind mir unbekannt. Bezog sie sich nicht auf das Erlöschen Ihrer Familie, oder etwas Ähnliches?«

»Keine Nachforschungen«, fuhr er fort, »haben sie bis zur Zeit ihres Ursprungs verfolgen können. Unsere Familiennachrichten enthalten nichts darüber. Alle Dienstboten und Insassen haben sie von ihren Vätern und Großvätern gehört. Auch die Mönche , denen wir im Besitze der Abtei zur Zeit Heinrich des Achten folgten, müssen auf irgendeine Weise Kenntnis davon erlangt haben; denn ich selbst fand die aus alter Zeit herrührenden Verse, in denen sie ausgedrückt sind, auf dem leeren Blatte eines Klostermannskriptes geschrieben. Sie lauten folgendermaßen:

»Wenn ein Platz in Wincots Gruft

Leer steht und in freier Luft,

Grablos unterm weiten Himmel,

Wie im wilden Kriegsgetümmel

Das erschlagne Opfer liegt;

Wenn dem Herrn so vieler Seelen

Wen’ge Schaufeln Erde fehlen —-

Dann wird’s sein ein sich‘res Zeichen,

Dass vom Tageslicht muss weichen

Monktons altes, reiches Haus.

Welken bis zum letzten Erben

Wird es sinken, fallen, sterben

Und für immer löschen aus.«

»Die Prophezeiung ist, wie die alten Orakel, unbestimmt genug«, versetzte ich, als ich sah, dass er auf eine Erwiderung von mir wartete.

»Bestimmt oder unbestimmt, sie wird sich erfüllen«, antwortete er. »Ich bin jetzt der letzte Erbe — der Letzte in der älteren Linie unserer Familie, auf den sich die Prophezeiung bezieht; und der Platz für Stephan Monktons Leichnam in der Gruft von Wincot ist noch leer. Widersprechen Sie mir nicht, ich habe noch mehr zu sagen. Lange vorher, ehe wir zum Besitze der Abtei gelangten, als meine Vorfahren noch in dem ehemals nahe gelegenen Schlosse wohnten, dessen Ruinen jetzt sogar verschwunden sind, war unsere Familiengruft bereits unter der Kirche der Abtei.· Ob in jener frühen Zeit die Prophezeiung schon bekannt war und gefürchtet wurde, weiß ich zwar nicht, allein gewiss ist, dass alle Monktons, gleichviel, ob sie auf dem Schlosse, in der Abtei, oder auf der kleineren Besitzung in Schottland wohnten, ohne Rücksicht auf Gefahren und Kosten in der Gruft der Abtei beerdigt wurden. In jenen alten, kriegerischen Zeiten wurden selbst die Leichname meiner im Auslande gefallenen Vorfahren um jeden Preis, und oft nur gegen schweres Lösegeld und nach blutigen Kämpfen, wiedererlangt, um in Wincot beigesetzt zu werden. Dieser Aberglaube, wenn Sie die Sage so nennen wollen, ist bis auf den heutigen Tag nicht erloschen. Seit Jahrhunderten ist die Reihenfolge der Toten in unserer Gruft nie unterbrochen worden. Meines Oheims Platz ist der erste, welcher leer steht, und seine Geisterstimme ist es, die nach Ruhe schreit und mich verfolgt. So genau, als wenn ich es selbst gesehen hätte, weiß ich, dass sein Leichnam unbeerdigt auf der Stelle liegen geblieben ist, auf der er fiel.«

Ehe ich ein Wort entgegnen konnte, stand er langsam auf und deutete mit dem Finger nach der leeren Stelle, auf die seine Augen gerichtet waren.

»Ich weiß, was Sie sagen wollen«, rief er mit lautem, scharfem Tone. »Sie wollen mich fragen, wie ich so wahnsinnig sein könne, an eine alberne Prophezeiung zu glauben, die in einem unwissenden Zeitalter erdacht worden ist, um abergläubische Menschen zu erschrecken. Ich erwidere aber darauf« — und bei diesen Worten fiel seine Stimme bis zum Flüstern herab — »dass ich daran glaube, weil Stephan Monkton in diesem Augenblicke dort vor mir steht.«

Was es war — ob der Schrecken, den sein Gesicht ausdrückte und der sich mir mitteilte, oder die sich mir plötzlich aufdrängende Überzeugung von seinem Wahnsinn, woran ich bisher immer noch gezweifelt hatte — ich weiß es nicht, allein ich fühlte mich von einem kalten Schauer überlaufen und hatte nicht den Mut, nach der Stelle hinzublicken, auf die er noch immer deutete.

»Ich sehe dort«, fuhr er flüsternd wie vorher, fort, »die Gestalt eines finsteren, sonnverbrannten Mannes mit unbedecktem Kopfe. Die eine Hand hält eine Pistole und hängt an der Seite herab, während er mit der anderen ein blutiges Taschentuch vor den Mund hält. Der Todeskampf verzerrt seine Züge, allein ich erkenne sie dennoch als die des Mannes, der mich, als ich noch ein Kind war, zweimal dadurch erschreckte, dass er mich in seine Arme nahm. Ich fragte damals meine Wärterin, wer der schwarzbraune Mann sei, und erfuhr von ihr, dass es mein Oheim, Stephan Monkton, war. So deutlich, als wenn er noch lebte, sehe ich ihn an Ihrer Seite stehen, mit dem gebrochenen Blicke seiner großen, dunklen Augen; und so habe ich ihn seit dem Augenblicke seines Todes unaufhörlich gesehen. In der Heimat sowohl wie im Auslande, wachend oder schlafend, Nacht und Tag, steht er ortwährend vor mir!«

Seine flüsternde Stimme war fast unhörbar geworden, als er die letzten Worte sprach. Nach der Richtung und dem Ausdrucke seiner Augen zu schließen, musste ich vermuten, dass er mit der Erscheinung rede. Ich glaube, wenn ich sie selbst gesehen hätte, so würde ihr Anblick mir weniger schrecklich gewesen sein als der seinige. Meine Nerven waren heftig erschüttert, und ein geheimes Grauen vor ihm in seinem jetzigen Gemütszustande, beschlich mich, so dass ich unwillkürlich mehrere Schritte zurückwich.

Er bemerkte es augenblicklich.

»O gehen Sie nicht fort — bitte, gehen Sie nicht fort!« rief er. »Habe ich Sie erschreckt? Glauben Sie mir noch nicht? Oder blenden Sie vielleicht die Lichter? Ich bat Sie, im hellen Glanze derselben zu sitzen, nur deshalb, weil ich es nicht ertragen konnte, den düsteren Schein auf Sie fallen zu sehen, der im Halbdunkel stets das Phantom umgibt. Bitte — verlassen Sie mich nicht!«

Es lag bei diesen Worten eine so außerordentliche Rat- und Hilflosigkeit in seinen Zügen, dass ich mich von Mitleid ergriffen fühlte, und dadurch meine Fassung wieder gewann. Meinen vorigen Platz wieder einnehmend, erklärte ich, so lange bei ihm bleiben zu wollen, als er es wünsche.

»Dank, tausend Dank! Sie sind die Geduld und Güte selbst«, sagte er mit dem ihm gewöhnlich eigenen sanften Wesen, und kehrte auf seinen Sitz zurück. »Nachdem ich jetzt das erste Bekenntnis des mich nach allen Orten hin verfolgenden Elends überstanden habe, werde ich Ihnen alles Übrige, was ich noch zu sagen habe, ruhiger mitteilen können. Wie erwähnt, kam mein Oheim Stephan« — beim Aussprechen dieses Namens wandte er schnell den Kopf und blickte vor sich auf den Tisch — »zweimal nach der Abtei Wincot, und erschreckte mich bei beiden Gelegenheiten. Er nahm mich zwar nur auf seinen Arm und sprach mit mir — für ihn, ohne Zweifel, sehr freundlich — aber dessenungeachtet erschreckte er mich entsetzlich. Vielleicht war es nur seine große Gestalt, das dunkelbraune Gesicht und der dicke, schwarze Bart, was mich in Furcht setzte; vielleicht aber war es auch —- und das glaube ich eher — ein anderer sonderbarer Einfluss auf mich, den ich weder damals verstand, noch jetzt erklären kann. Wie dem auch sei, ich träumte noch lange von ihm, nachdem er schon fort war, und glaubte ihn immer, wenn ich mich allein im Dunkeln befand, hinter mir her schleichen zu hören. Die Dienstboten merkten dies bald und pflegten mich mit dem Oheim Stephan in Furcht zu jagen, wenn ich eigensinnig oder ungezogen war. Diese Furcht, dieser Abscheu blieb unverändert, auch als ich heran wuchs. Wenn meine Eltern seinen Namen erwähnten, horchte ich jedesmal, ohne zu wissen weshalb, mit der größten Spannung, und konnte mich des Gefühls nicht erwehren, dass ihm etwas Schreckliches zugestoßen sei, oder mir begegnen werde. Dieses Gefühl verfolgte mich unaufhörlich und wurde erst dann verdrängt, als ich mich nach dem Tode meiner Eltern in der Abtei allein befand. Dann trat an seine Stelle eine nicht zu bezähmende Neugierde, den Ursprung jener alten Prophezeiung über das Erlöschen unseres Geschlechtes zu ermitteln. Hören Sie, was ich sage?«

»Ich folge jedem Worte mit gespannter Aufmerksamkeit.«

»Sie müssen wissen, dass ich einige Bruchstücke jener Verse, welche die Prophezeiung enthalten, zuerst in einem alten Buche der Bibliothek fand. Auf der gegenüber stehenden Seite war ein roher alter Holzschnitt aufgeklebt, einen dunkelhaarigen Mann vorstellend, der, soweit meine Erinnerung reichte, die auffallendste Ähnlichkeit mit meinem Oheim Stephan hatte. Als ich meinen Vater, der damals schon seinem Tode nicht mehr fern war, darüber befragte, wusste er entweder nichts, oder wollte nichts wissen; und als ich später die Prophezeiung noch einmal gegen ihn zur Sprache brachte, wurde er verdrießlich und ging schnell auf einen andern Gegenstand über. Nicht besser erging es mir mit dem alten Kaplan Wenn ich ihn darum befragte, so sagte er, jener Holzschnitt sei mehrere Jahrhunderte vor der Geburt meines Oheims gemacht worden, und nannte die Prophezeiung Unsinn. In dem letzten Punkte pflegte ich ihm zu widersprechen, und fragte, weshalb wir Katholiken, welche glauben, dass die Macht, Wunder zu verrichten, auch jetzt noch bei gewissen besonders begünstigten Personen gefunden werde, nicht ebenso wohl an die Gabe der Prophezeiung glauben wollten. Er ließ sich jedoch nie auf einen Streit mit mir ein, sondern sagte mir, ich solle meine Zeit nicht mit solchen Torheiten verlieren, und meine Phantasie, die ohnedies zu lebhaft sei, lieber unterdrücken als noch mehr erregen. Ein solcher Rat diente natürlich nur dazu, meine Neugierde noch mehr anzuspornen. Ich beschloss, den ältesten und unbewohnten Teil der Abtei zu durchforschen und zu versuchen, ob ich nicht vielleicht in alten Chroniken oder Familiennachrichten einigen Aufschluss über jenen Holzschnitt und den Ursprung der Prophezeiung erlangen könne. Haben Sie jemals einen Tag in den seit langer Zeit unbewohnten Gemächern eines alten Hauses zugebracht?«

»Nie; denn eine solche Einsamkeit wäre durchaus nicht nach meinem Geschmacke.«

»Ach, welches Leben das war, als ich meine Nachforschungen begann! Ich möchte es noch einmal durchleben! Welche sonderbaren Entdeckungen ich machte! In welcher Richtung ich auch suchte, überall fand ich etwas, das mich weiter lockte. Schreckliche Bekenntnisse geheimer Verbrechen, haarsträubende Beweise von Schandtaten, die kein Auge je entdeckt als die meinigen, kamen jetzt an das Licht. Endlich fand ich das Buch, welches den Mönchen gehört hatte, mit der ganzen Prophezeiung. Dieser Erfolg spornte mich an, noch weiter in den Familiennachrichten zu forschen. Bisher hatte ich noch nichts entdeckt, was auf die Identität jenes geheimnisvollen Holzschnittes Bezug hatte; allein die sich mir unwillkürlich aufdrängende Überzeugung von der Ähnlichkeit desselben mit meinem Oheime Stephan sagte mir auch, dass letzterer in näherer Beziehung zu der Prophezeiung stehen und mehr darüber wissen müsse, als irgendein anderer. Ich konnte jedoch nicht in Korrespondenz mit ihm treten, weil mir sein Aufenthaltsort unbekannt war, und mich deshalb auch nicht davon überzeugen, inwieweit meine Idee richtig oder unrichtig sei, bis endlich der Tag kam, an dem meine Zweifel durch den schrecklichen, sichtbaren Beweis, der auch in diesem Augenblicke und in diesem Zimmer vor meinen Augen steht, für immer beseitigt wurden.«

Er schwieg einen Augenblick, und sah mich scharf und misstrauisch an, fragte, ob ich alles, was er bisher gesagt habe, glaube, und fuhr dann fort, nachdem ich, um ihn zu beruhigen, eine bejahende Versicherung gegeben hatte:

»An einem schönen Februarabend stand ich in einem der öden Zimmer des westlichen Turmes am Fenster und betrachtete den Untergang der Sonne. Ehe das Gestirn ganz verschwand, kam eine kaum zu beschreibende Empfindung über mich. Ich sah und hörte nichts mehr. Diese Bewusstlosigkeit trat ganz plötzlich ein, und doch war es keine Ohnmacht; denn ich sank nicht zu Boden, sondern blieb regungslos auf meinem Platze stehen. Ich möchte diesen Zustand fast, wenn es überhaupt möglich wäre, eine zeitweilige Trennung der Seele vom Körper nennen; allein, wie gesagt, er lässt sich nicht schildern. Nennen Sie ihn deshalb wie Sie wollen —- vielleicht Starrkrampf — genug, ich blieb in völliger Bewusstlosigkeit, geistig und körperlich tot, am Fenster stehen, bis die Sonne verschwunden war. Dann kam ich wieder zur Besinnung, und als ich meine Augen aufschlug, stand die Erscheinung Stephan Monktons mir gerade so gegenüber, wie sie in diesem Momente neben Ihnen vor mir steht.«

»Geschah dies, ehe Sie die Nachricht von dem in Italien stattgehabten Duell erhielten?«

»Vierzehn Tage vorher. Selbst als ich die Nachricht erhielt, wusste ich immer noch nicht, an welchem Tage das Duell stattgefunden hatte. Dies erfuhr ich erst durch das in jener französischen Zeitung veröffentlichte Dokument. Sie werden sich erinnern, dass es vom 22. Februar datiert, und dass in dem Nachtrage gesagt war, der Zweikampf habe drei Tage später stattgehabt. Als ich an jenem Abende das Phantom zum ersten Male sah, schrieb ich Tag und Monat nieder. Es war der 25. Februar.

Er schwieg wieder, erwartend, dass ich etwas sagen werde. Allein was konnte ich zu einer solchen Mitteilung sagen? Was sollte ich davon denken?

»Selbst während des ersten Schreckens beim Anblicke der Erscheinung«, fuhr er fort, »dachte ich an die Prophezeiung, und kam zu der Überzeugung, dass das Phantom mir meinen eigenen Tod verkünde. Dennoch beschloss ich, sobald ich mich etwas erholt hatte, die Wirklichkeit dessen, was ich zu sehen glaubte, genauer zu prüfen, und mir Gewissheit darüber zu verschaffen, ob ich von meiner erhitzten Phantasie getäuscht worden sei oder nicht. Ich verließ den Turm, aber das Phantom folgte mir; ich ließ den Empfangsaal glänzend erleuchten, allein auch dort stand die Erscheinung vor mir. Ich ging in den Park; sie war auch im hellen Lichte der Sterne sichtbar. Endlich verließ ich die Abtei und reiste mehrere Meilen weit an das Seeufer — aber der finstere Mann, mit dem vom Todeskampfe verzerrten Gesichte, war mein steter Begleiter. Nunmehr kämpfte ich gegen dieses Verhängnis nicht länger an, sondern kehrte nach der Abtei mit dem Entschlusse zurück, mich meinem Schicksale zu fügen. Aber auch das sollte nicht sein. Ich hegte eine Hoffnung, die mir teurer war als das Leben, und besaß einen Schatz, mehr wert als alles andere in der Welt. Der Gedanke an die Möglichkeit, ihn zu verlieren, erfüllte mich mit Schrecken. Aber das Phantom stand als ein warnendes Hindernis zwischen mir und ihm, und meine süßeste Hoffnung wurde eine Quelle des bittersten, unerträglichsten Elends für mich. Vielleicht haben Sie gehört, dass ich mit einer jungen Dame verlobt war?«

»O ja, häufig; auch bin ich selbst mit Miss Elmsly entfernt verwandt.«

»Sie können sich keine Vorstellung davon machen, welche Opfer sie mir gebracht hat — was ich seit Jahren für sie empfunden habe.«

Seine Stimme bebte, und Tränen traten ihm in die Augen. Nach einer Pause fuhr er fort:

»Ich getraue mir nicht davon zu sprechen; der Gedanke an die verflossenen schönen Stunden in der Abtei bricht mir fast das Herz. Lassen Sie mich zum Hauptgegenstande unseres Gespräches zurückkehren. Ich beobachtete gegen jedermann strenge Verschwiegenheit über die entsetzliche Erscheinung, welche mich fortwährend und überall verfolgte, denn ich kannte das in der Umgegend verbreitete lächerliche Gerücht, dass in meiner Familie ein erblicher Wahnsinn herrsche und auch auf mich übergegangen sei, und fürchtete deshalb, ihm durch Eröffnungen von meiner Seite noch mehr Nahrung zu geben. Obgleich das Phantom mir fortwährend gegenüber stand, und stets entweder an der Seite desjenigen, mit dem ich sprach, oder zwischen mir und ihm erschien, so wusste ich doch anderen den Gegenstand zu verbergen, auf den sich meine Blicke gezwungen richteten. Nur gegen Ada konnte ich meine Verschwiegenheit nicht bewahren. Der für unsere Verbindung festgesetzte Tag nahte heran.«

Er schwieg und begann von neuem zu beben. Ich wartete ruhig, bis er sich wieder gesammelt hatte und seine Rede fortsetzen konnte.

»Denken Sie sich«, sagte er, »was ich dabei gelitten haben muss, diese scheußliche Erscheinung immer vor mir zu sehen, selbst wenn ich mit meiner Braut sprach—ihr sanftes, engelgleiches Gesicht neben den verzerrten Zügen des Phantoms. Zuletzt konnte ich es nicht mehr ertragen, und entdeckte ihr das Geheimnis. Sie bat, flehte — ja, sie bestand darauf, alles zu wissen, und ich verschwieg daher nichts und überließ es ihr, das Verhältnis mit mir abzubrechen. Ich sprach die Abschiedsworte und dachte an den Tod — von meiner eigenen Hand. Sie mochte es ahnen und verließ seit jenem Augenblicke nicht mehr meine Seite, bis ihr sanfter Einfluss den finsteren Gedanken verdrängt hatte. Ohne sie lebte ich jetzt nicht mehr; ohne sie würde ich nie den Plan gefasst haben, der mich hierher geführt hat.«

»Wollen Sie damit sagen, dass Sie auf Miss Elmslys Veranlassung nach Neapel gekommen sind?« fragte ich erstaunt.

»Ihre Vorstellungen leiteten mich allerdings zu diesem Plan«, erwiderte er. »Solange ich glaubte, dass das Phantom mir nur als Verkünder des nahen Erlöschens meiner Familie und meines eigenen Todes erschienen sei, gewährte mir ihre Versicherung, dass keine Macht sie von mir trennen solle, und dass sie nur mir leben und alle Prüfungen mit mir ertragen wolle, keinen Trost, sondern erhöhte nur das Gefühl meines Elendes. Allein anders wurde es, als wir mehr über die Erscheinung sprachen — als sie mir zeigte, dass deren Sendung eher einen guten als bösen Zweck habe, und dass die Warnung mir zum Nutzen gereichen könne. Diese Vorstellung erweckte jene Idee in mir, aus der ich neue Lebenshoffnung schöpfte; der Gedanke drängte sich mir auf, dass höhere Mächte mir die Weisung zu diesem Unternehmen erteilten. In diesem Glauben lebe ich; ohne ihn würde ich sterben. Sie lachte nie darüber, sie nannte ihn nie Wahnsinn. Verstehen Sie mich recht! Die Erscheinung, die mich seitdem nie verlassen hat und in diesem Augenblicke an Ihrer Seite steht, warnt mich, dem Unglück, das meiner Familie droht, dadurch vorzubeugen, dass ich den unbeerdigten Leichnam aufsuche und in ein Grab lege. Irdische Liebe und irdische Rücksichten müssen vor einer solchen Weisung verstummen. Das Phantom wird mich nicht eher verlassen, als bis ich den Leichnam bestattet habe, der nach seiner Gruft schreit! Ehe dies nicht vollbracht ist, wage ich nicht zurückzukehren; ehe der leere Platz in der Gruft der Abtei nicht ausgefüllt ist, wage ich kein eheliches Band zu schließen.«

Seine Augen funkelten bei diesen Worten, die Stimme wurde klangvoller, und eine fast fanatische Begeisterung leuchtete aus seinen Zügen. So peinlich der Anblick dieses Zustandes für mich war, wagte ich doch nicht Gegenvorstellungen zu machen. Es wäre nutzlos gewesen, wenn ich mich der gewöhnlichen Redensarten von optischer Täuschung, erhitzter Phantasie und dergleichen hätte bedienen, oder ihm die in der Tat sonderbar zusammentreffenden Begebenheiten auf natürliche Weise erklären wollen. So kurz und vorübergehend er auch Miss Elmslys erwähnte, so hatte er doch genug gesagt, um mich erkennen zu lassen, dass die einzige Hoffnung des armen Mädchens, das ihn so treu und innig liebte, darin bestand, dass sie seinen Einbildungen nachgab. Wie beharrlich sie an dem Glauben festhielt, ihn heilen zu können! Mit welcher Entschlossenheit sie sich seinen krankhaften Hirngespinsten in der Hoffnung auf eine glückliche Zukunft opferte, die nimmer kommen sollte! So entfernt auch meine Bekanntschaft mit ihr war, so empfand ich doch tiefes Weh bei dem Gedanken an sie und ihre Lage.

»Man nennt mich ‚den verrückten Monkton‘!« rief er, plötzlich das Schweigen unterbrechend. »Hier sowohl wie in England, glaubt jeder, dass ich den Verstand verloren habe, ausgenommen Ada und Sie. Meine Braut hat mich bereits vom Tode errettet, und Sie werden das Werk vollenden. Ein dunkles Gefühl sagte mir dies, als ich Ihnen zum ersten Male in der Villa Reale hier begegnete. Lange kämpfte ich gegen den inneren Drang, Ihnen mein Geheimnis mitzuteilen; aber heut, als ich Sie auf dem Balle sah, konnte ich nicht länger widerstehen — das Phantom schien mich zu Ihnen hinzuziehen. Reden Sie jetzt ausführlicher über Ihren Plan, den Kampfplatz ausfindig zu machen. Wenn ich morgen abreise, um ihn selbst zu suchen — wohin soll ich mich zunächst wenden?«

Er hielt inne. Die Kräfte verließen ihn, und seine Gedanken schienen sich zu verwirren.

»Was muss ich tun? —- Ich kann mich nicht mehr besinnen. Sie wissen ja alles — wollen Sie mir nicht beistehen? Mein Elend hat mich unfähig gemacht, mir selbst zu helfen.«

Er schwieg von neuem, murmelte etwas von fehlgeschlagenen Plänen, wenn er allein an die Grenze gehe, und sprach unzusammenhängend von möglichen Hindernissen. Dann versuchte er den Namen »Ada« auszusprechen; aber noch ehe der erste Laut seine Lippen verlassen hatte, begann seine Stimme zu beben, und in Tränen ausbrechend wandte er sich geschwind um.

Das Gefühl des Mitleids verdrängte bei mir die Warnungen der Klugheit; ohne an die Verantwortlichkeit zu denken, welche ich übernahm, versprach ich ihm, alles zu tun, was er verlangte. Die wilde Freude in seinen Zügen, mit der er aufsprang und meine Hand ergriff, zeigte mir, dass ich weiser gehandelt hätte, wenn ich zurückhaltender gewesen wäre; allein jetzt war es zu spät, ich konnte mein Versprechen nicht widerrufen. Es blieb mir also nichts übrig als den Versuch zu machen, ihn einigermaßen zu beruhigen, um dann fortzugehen und die Sache reiflich bei mir überlegen zu können.

»Ja, ja », erwiderte er auf die wenigen Worte, welche ich zu diesem Zwecke sagte, »seien Sie nicht um mich besorgt. Nachdem Sie mir dieses Versprechen gegeben haben, können Sie sich darauf verlassen, dass ich unter allen Umständen ruhig und gefasst sein werde. Ich bin an die Erscheinung schon so lange gewöhnt, dass ich ihre Gegenwart kaum noch bemerke, ausgenommen bei gewissen Gelegenheiten. Überdies bewahre ich hier in diesem kleinen Pakete eine Medizin, welche jede Herzenskrankheit heilt. Es sind Adas Briefe. Ich lese sie, sobald das Gefühl meines Unglücks mir unerträglich wird. Jene halbe Stunde, ehe Sie kamen, benützte ich auch zu diesem Zwecke, um mich dadurch zu der Besprechung mit Ihnen zu stärken; und wenn Sie fort sind, werde ich dasselbe noch einmal tun. Also fürchten Sie nichts für mich. Ich weiß, dass mein Zweck mit Ihrer Hülfe erreicht werden wird, und wenn wir nach England zurückkehren, soll Ada Ihnen danken, wie Sie es verdienen. Lassen Sie die Narren in Neapel reden und sagen, ich sei verrückt, und kümmern Sie sich nicht darum. Das Geschwätz ist so abgeschmackt, dass es endlich von selbst aufhören wird.«

Ich verließ ihn mit der Zusage, am nächsten Tage zeitig wiederzukommen.

Als ich meinen Gasthof erreichte, fühlte ich, dass nach dem, was ich gesehen und gehört hatte, von Schlaf für diese Nacht keine Rede war. Ich zündete deshalb meine Pfeife an, und setzte mich an das offene Fenster, um unter dem Einflusse des sanften Mondlichtes ruhiger zu werden und zu überlegen, was zu tun sei. Das Erste, was mir klar wurde, war, dass von einer Zuziehung der Ärzte oder Verwandten Alfreds in England keine Rede sein konnte. Sein Verstand befand sich auf keinen Fall in einer solchen Störung, dass ich unter den obwaltenden Umständen berechtigt gewesen wäre, sein mir anvertrautes Geheimnis zu veröffentlichen. Ebenso unzweifelhaft war, dass, nach der ihm gemachten Zusage, alle Versuche von meiner Seite, ihn zur Aufgabe der beabsichtigten Nachforschungen zu bestimmen, vergeblich sein würden. Über diese beiden Punkte im Reinen, hatte ich keine andere Bedenklichkeit mehr als die Frage, ob ich überhaupt recht handelte, wenn ich meinen Beistand zur Ausführung des besprochenen Planes lieh.

Angenommen, er entdeckte wirklich mit meiner Hülfe Stephan Monktons Leichnam, und brachte ihn nach England zurück — war es wohlgetan von mir, die eheliche Verbindung, welche aller Wahrscheinlichkeit nach gleich darauf folgen würde, zu befördern — eine Verbindung, deren möglichste Verhinderung eigentlich die Pflicht eines jeden hätte sein müssen? Diese Betrachtung führte mich auf den Grad seines Wahnsinns, oder, um einen milderen Ausdruck zu gebrauchen, seiner Geistesstörung Es konnte kein Zweifel darüber herrschen, dass er in der Unterhaltung über gewöhnliche Gegenstände jeder Art einen völlig gesunden Verstand zeigte; sogar die ganze Erzählung dieses Abends hatte er in klarer, logischer Verbindung vorgetragen. Was die behauptete Erscheinung betraf, so lässt sich nur sagen, dass es zu allen Zeiten auch viele andere Leute gegeben hat, die geistig ebenso gesund wie ihre Mitmenschen waren, und sich doch von einem Phantome verfolgt glaubten, und sogar lange philosophische Abhandlungen darüber schrieben. Es schien mir klar zu sein, dass der Grund zu dieser eingebildeten Erscheinung in Alfreds Überzeugung von der Wahrheit jener alten Prophezeiung und in dem Glauben liege, dass er einen warnenden Fingerzeig von oben erhalten habe. Sein einsames Leben in der Abtei, in Verbindung mit reizbaren Nerven und einer in der Familie vielleicht erblichen Anlage zu geistigen Krankheiten, machte eine solche Selbsttäuschung sehr erklärlich.

War ein solcher Zustand heilbar? Miss Elmslys Handlungsweise, die ihn viel besser kannte als ich, ließ darauf schließen, dass sie an die Möglichkeit glaubte. War ich berechtigt, sie ohne weiteres eines Irrtums zu bezichtigen? Angenommen, ich weigerte mich, mit ihm an die Grenze zu gehen — war nicht mit Gewissheit anzunehmen, dass er sich allein dahin begeben und vielleicht großen Unfällen aussetzen werde, während ich, ein müßiger Mensch, in Neapel blieb und ihn seinem Schicksale überließ, nachdem ich selbst den Plan zu der Unternehmung entworfen und ihn ermuntert hatte, Vertrauen in mich zu setzen?

Gewisse Vorbereitungen zu unserer Abreise, die ich nach einer zweiten Zusammenkunft mit Alfred für nötig erachtete, verrieten den Plan den meisten unserer Bekannten in Neapel. Ihr Erstaunen war unbeschreiblich, und der Verdacht, dass ich fast ebenso wahnsinnig sei wie Monkton, sprach sich allgemein gegen mich aus. Manche versuchten sogar meinen Entschluss wankend zu machen, indem sie mir erzählten, was für ein verächtlicher Wüstling Stephan Monkton gewesen sei; allein alle Spöttereien machten eben so wenig Eindruck auf mich, als Gründe irgend einer Art. Mein Entschluss war gefasst, und ich beharrte dabei.

In zwei Tagen war alles in Bereitschaft. Ich bestellte den Wagen absichtlich einige Stunden früher als ursprünglich verabredet worden, um, mit Rücksicht auf meinen Freund, den uns bei der Abreise angedrohten Spöttereien zu entgehen; denn Letzterer befand sich in Folge der Vorbereitungen in einer Aufregung, die mir durchaus nicht lieb war. Kurz nach Sonnenaufgang also, als noch keine Seele auf den Straßen sichtbar war, verließen wir in aller Stille Neapel.

Jedermann wird mir glauben, wenn ich sage, dass meine Lage nicht zu beneiden war. Mit Furcht und Scheu blickte ich jedem kommenden Tage entgegen, als ich jetzt in der Gesellschaft des »armen, wahnsinnigen Monkton« die Reise antrat, um längs der römischen Grenze den Leichnam eines im Zweikampfe Gefallenen aufzusuchen.


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