Die Blinde



Neunzehntes Kapitel - Fernere Folgen des Raubanfalls

Ueber das, was während meines Pariser Aufenthalts vorging, kann ich mich sehr kurz fassen.

Unter den vielerlei Einzelheiten, die sich in meiner Erinnerung an die Befreiung meines guten Papa knüpfen, brauche ich nur bei einer einzigen länger zu verweilen.

Mit Papa sah die Sache diesmal sehr schlimm aus. Der ehrwürdige Liebhaber war so weit gegangen, Alles aufzubieten, um sich wieder zu verjüngen, hatte sich neue Zähne, eine neue Perrücke, einen neuen Teint und eine neue Gestalt, das Letztere vermittelst des Ankaufs einer neuen Schnürbrust angeschafft. Ich muß gestehen, daß ich ihn kaum erkannte, so fabelhaft und unnatürlich jung sah er aus. Vergebens bot ich Alles auf, meinen früheren Einfluß auf ihn geltend zu machen. Er umarmte mich mit der rührendsten Zärtlichkeit; er gab den edelsten Gefühlen gegen mich Ausdruck; aber in Betreff seiner beabsichtigten Heirath war er unerschütterlich. Das Leben erschien ihm nur unter einer Bedingung erträglich. Die Geliebte oder der Tod — so lautete das Losungswort dieses alten Vulcans.

Was die Sache noch hoffnungsloser erscheinen ließ, war der Umstand, daß die Geliebte frech genug war, sofort ihre Trumpfkarte auszuspielen.

Ich will gegen die Person gerecht sein: Sie verschanzte sich in einer durchaus unangreifbaren Position; sie autorisirte uns, die Partie, wenn wir könnten, rückgängig zu machen. »Ich verweise Sie an Ihren Vater; ich bitte Sie, sich es gesagt sein zu lassen, daß ich ihn nicht zu heirathen wünsche, wenn seine Töchter dagegen etwas einzuwenden haben. Er braucht nur zu sagen: »Entbinde mich meines Worts«, und er soll auf der Stelle frei sein.« Gegen ein solches Vertheidigungssystem war nichts zu machen, wir wußten so gut wie sie, daß unser bethörter Vater das entscheidende Wort nicht sprechen würde. Unsere einzige Chance war, keine Kosten zu scheuen, um Nachforschungen über das frühere Leben dieser Dame anzustellen und so unwiderlegliche Beweise gegen sie vorzubringen, daß selbst die thörichte Verblendung eines Greises dieselben nicht für Lügen werde erklären konnte.

Wir gaben Geld aus, wir stellten Nachforschungen an, wir schafften uns die nöthigen Beweise. Damit vergingen vierzehn Tage, nach Verlauf welcher Zeit wir das nöthige Material in Händen hatten, um unserem guten Papa die Augen zu öffnen. Im Laufe dieser Untersuchung kam ich mit vielen sonderbaren Leuten in Berührung, unter Anderen mit einem Manne, der mich bei seinem ersten Anblick durch etwas er schreckte, das mir bei aller meiner Erfahrung noch nie vorgekommen war. Die Gesichtsfarbe des Mannes war nämlich keine der gewöhnlichen Nuancen menschlicher Hautfarbe, sondern bot den widerlichen, ich möchte fast sagen, teuflischen Anblick eines fahlen Schwarzblau. Der Mann erwies sich als ein höchst freundlicher, intelligenter und dienstfertiger Mensch; als ich aber zum ersten Male seiner ansichtig wurde, erschrak ich dermaßen über seine furchtbare Gesichtsfarbe, daß ich einen Schrei des Entsetzens nicht unter drücken konnte. Er nahm nicht nur meine unabsichtliche Rücksichtslosigkeit in der nachsichtigsten Weise auf, sondern erklärte mir, wie er zu dieser sonderbaren Gesichtsfarbe gekommen sei; so daß ich ganz à mon aise mit ihm wurde, noch bevor ich auf die delicate Untersuchung, welche uns zusammengeführt hatte, näher einging.

»Ich bitte um Verzeihung, daß ich Sie auf meine Entstellung nicht habe vorbereiten lassen, bevor ich ins Zimmer trat«, sagte der unglückliche Mensch. »Es giebt in allen Ländern der Erde Menschen von einer der meinigen ähnlichen Gesichtsfarbe, und ich vermuthete daher, daß Sie in Ihrem Leben schon ähnlichen Individuen begegnet wären. Die blaue Farbe meiner Haut ist die Wirkung innerlich genommenen Höllensteins. Höllenstein ist nämlich die einzige Medicin, durch welche Menschen von einem sonst unheilbaren Leiden befreit werden können. Wer mit diesem Leiden behaftet ist, hat nur die Wahl, es zu behalten oder sich die schrecklichen Folgen dieser Kur gefallen zu lassen.«

Er sagte mir nicht, worin sein Leiden bestanden habe, und ich mochte ihn, wie ich wohl kaum zu bemerken brauche, nicht weiter darnach fragen. Ich gewöhnte mich bei längerem Verkehr mit ihm an seine Entstellung und würde meinen blauen Mann ohne Zweifel über andere Dinge, welche mein Interesse in höherem Grade in Anspruch nahmen, vergessen haben, wäre nicht meine Aufmerksamkeit unerwarteter Weise auf die Wirkungen des Höllensteins als Medizin bei einer späteren Gelegenheit und unter für mich sehr überraschenden Umständen wieder gelenkt worden. Nachdem ich Papa vom Rande des vielleicht zwanzigsten Abgrundes, an welchem er in seinem Leben gestanden, gerettet hatte, mußte ich noch einige Tage bleiben, um ihn mit der Bitterkeit einer ihm wider seinen Willen zu Theil gewordenen Befreiung auszusöhnen. Wer es nicht mit angesehen hat, würde es nicht glauben, wie er litt; er knirschte mit seinen kostspieligen Zähnen, er riß sich seine vortrefflich gemachten Haare aus; er würde in seiner leidenschaftlichen Aufregung ohne Zweifel auch seine Schnürbrust gesprengt haben, wenn ich ihm dieselbe nicht fortgenommen und zum halben Preise wieder verkauft und so wenigstens neben den großen Verlusten einen kleinen Profit aus unserer Calamität erzielt hätte. Was man auch beginne, in dieser elenden Welt dreht sich Alles um Geld, einerlei, ob man für die Freiheit des Volkes sterbe oder ob man seinen Papa aus den Schlingen der Liebe befreie. Giebt es keine Abhilfe dagegen? Laßt mich Euch ein Wort ins Ohr flüstern: »Wartet nur bis zur nächsten Revolution!«

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In der Zeit meiner Abwesenheit hatte ich natürlich mit Lucilla correspondirt. Ihre Briefe waren sehr traurig und sehr kurz und schilderten den Zustand der Dinge in Dimchurch als sehr betrübend. Die schrecklichen epileptischen Zufälle hatten sich bei Oscar in immer kürzeren Zwischenräumen und mit immer größerer Heftigkeit wiederholt. Sobald ich wieder an meine Rückreise nach England denken konnte, schrieb ich an Lucilla, um sie durch die Aussicht auf meine Rückkehr aufzuheitern. Zwei Tage vor meiner Abreise von Paris erhielt ich noch einen Brief von ihr. Ich war schwach genug, mich fast vor der Eröffnung des Briefes zu ängstigen. Der Umstand, daß sie mir in einem Augenblicke schrieb, wo sie wußte, daß wir uns so bald wiedersehen würden, berechtigte mich zu der Vermuthung, daß sie mir etwas sehr Bedeutsames; mitzutheilen haben würde. Eine böse Ahnung sagte mir, daß der Brief die schlimmsten Nachrichten enthalten werde; ich mußte all’ meinen Muth zusammennehmen, den Brief zu erbrechen. O, was für Thoren sind wir doch! Auf einen Fall, wo sich unsere Ahnungen als begründet erweisen, kommen hundert Fälle, in denen sie uns irre geleitet haben. Statt mich zu betrüben, entzückte mich der Brief. Unsere traurigen Aussichten fingen endlich an, sich aufzuhellen; Lucilla schrieb in ihren großen kindischen Lettern: »Theuerste Freundin und Schwester, ich kann mit der Mittheilung einer guten Nachricht nicht warten, bis wir uns wiedersehen. Wir haben den Brightoner Arzt abgeschafft und statt dessen einen Londoner Arzt angenommen. Wenn man gescheute Leute braucht, muß man sich nach London wenden; der neue Arzt hatte Oscar kaum gesehen und einen Augenblick nachgedacht, als er auch schon mit sich im Reinen war; er hat eine eigene Art, Oscar’s Fall zu behandeln und garantiert uns seine Heilung von den schrecklichen Zufällen. Da haben Sie meine Neuigkeit! Kommen Sie wieder und lassen Sie uns vor Freude tanzen! Wie unrecht hatte ich, an unserer Zukunft zu zweifeln Nie, nie will ich wieder zwei feln. Dies ist der längste Brief, den ich je geschrieben habe. Ihre Sie liebende Lucilla.«

Diesem Briefe folgte ein von Oscar’s Hand geschriebenes Postscriptum: Dasselbe lautete:

»Lucilla hat Ihnen gesagt, daß ich endlich wieder etwas Hoffnung schöpfen darf; von den was ich hier schreibe, weiß Lucilla nichts; es ist nur für Sie allein bestimmt. Benutzen Sie die erste sich darbietende Gelegenheit, mich in Browndown aufzusuchen, ohne daß Lucilla etwas davon erfährt. Ich habe Sie um eine große Gefälligkeit zu bitten, mein Glück hängt davon ab, daß sie mir dieselbe gewähren. Sie sollen erfahren, um was es sich handelt, wenn wir uns sehen Oscar.«

Dieses Postscriptum intriguirte mich; sein Inhalt stimmte nicht mit dem unbedingten Vertrauen, welches Oscar« soweit ich es hatte beobachten können, in Lucilla zu setzen pflegte. Es widersprach allen meinen Erfahrungen von Oscar’s Charakter, nach welchen ich ihn als das Gegentheil eines zurückhaltenden, versteckten Menschen kennen gelernt hatte. Die Verheimlichung seines Namens bei seiner ersten Begegnung mit uns war lediglich durch seinen Abscheu davor, als der Held des Criminalprocesses erkannt zu werden, veranlaßt worden. In allen gewöhnlichen Lebensverhältnissen war er von seinem durchaus offenen und fast zu rückhaltslosen Wesen. Daß er ein Geheimniß vor Lucilla haben konnte, welches er mir anvertrauen wollte, war mir völlig unbegreiflich. Meine Neugierde wurde dadurch auf’s Höchste gereizt, und mein Verlangen, nach England zurückzukehren, nur noch gesteigert.

Ich machte es möglich, meine Arrangements so zu treffen, daß ich meinem Vater und meinen Schwestern am Abend des dreiundzwanzigsten December Lebewohl sagen konnte. In der Frühe des vierundzwanzigsten verließ ich Paris und traf noch zeitig genug in Dimchurch ein, um den Festlichkeiten des Wethnachtsabends noch theilweise beiwohnen zu können. Es war ein Uhr vorüber, als mir Lucilla endlich erlaubte, mich von meiner Reise im Bette auszuruhen. Jetzt war sie wieder das muntere leichtherzige Geschöpf unserer glücklichen Tage und sie hatte mir so viel zu erzählen, daß selbst ihr Vater mit seinem Redefluß nicht durchgedrungen sein würde. Am nächsten Morgen hatte sie aber für die zu große Aufregung des Abends zu büßen; als ich in ihr Zimmer trat, fand ich sie von nervösen Kopfschmerzen geplagt und unfähig, zur gewöhnlichen Zeit aufzustehen. Sie proponirte mir aus freien Stücken, allein nach Browndown zu gehen, um Oscar nach meiner Rückkehr zu begrüßen. Ich lasse mir selbst nur die einfachste Gerechtigkeit widerfahren, wenn ich sage, daß ich mich durch diese Aufforderung Lucilla’s sehr erleichtert fühlte. Hätte sie sehen können, so würde ich mein Gewissen überhaupt nicht beschwert gefühlt haben, aber ich empfand eine tiefe Scheu davor, mein armes blindes Mädchen auch nur in der geringsten Kleinigkeit zu täuschen.

So ging ich denn mit Lucilla's Willen und allein zu Oscar. Ich fand ihn reizbar und aufgeregt und in der Stimmung, bei der geringsten Veranlassung in einen seiner leidenschaftlichen Paroxismen zu verfallen. Lucilla’s Geliebter zeigte in seinem Wesen nicht die leiseste Spur von Heiterkeit, die sich bei ihr wieder eingestellt hatte.

»Hat sie Ihnen irgend etwas über den neuen Doctor gesagt?« das waren die ersten Worte, die er an mich richtete.

»Sie hat mir gesagt, daß sie das vollste Vertrauen in ihn hat«, antwortete ich. »Sie ist fest überzeugt, daß er das Versprechen, Sie zu heilen, halten wird.«

»War sie gar nicht neugierig«l zu erfahren, wie er mich heilen will?«

»Nicht im aller mindesten. Es genügt ihr, daß Sie geheilt werden. Das Uebrige überläßt sie dem Doctor.«

Diese Antwort schien ihn zu erleichtern; er seufzte und lehnte sich in seinen Stuhl zurück. »Das ist schön«, sagte er vor sich hin, »das freut mich.«

»Ist die Behandlungsweise des Doctors ein Geheimniß?« fragte ich.

»Sie muß für Lucilla ein Geheimniß bleiben«, sagte er sehr ernst. »Wenn sie versuchen sollte, sich darüber zu unterrichten, so muß sie wenigstens für jetzt auf jede Weise daran verhindert werden. Niemand hat Einfluß über sie außer Ihnen. Ich rechne auf Ihre Unterstützung.«

»Ist das die Gefälligkeit, um die Sie mich bitten wollten?«

»Ja.«

»Wollen Sie mir das Geheimniß der ärztlichen Behandlung anvertrauen?«

»Gewiß, wie kann ich erwarten, daß Sie mir helfen werden, wenn Sie nichts wissen wie triftige Gründe dafür vorhanden sind, Lueilla im Dunkel zu lassen.«

Er betonte die beiden Worte »triftige Gründe« sehr scharf. Ich sing an, mich etwas unbehaglich zu fühlen. Ich hatte mir Lucilla's Blindheit noch nie, auch bei der geringfügigsten Veranlassung, zu Nutze gemacht. Und jetzt stand mir der Verlobte Lucilla's mit dem Verlangen gegenüber, sie über etwas im Dunkeln zu lassen.

»Ist die Behandlung des neuen Doctors gefährlich?« fragte ich.

»Durchaus nicht.«

»Ist sie denn nicht so sicher, wie er Lucilla glauben gemacht hat?«

»Vollkommen sicher.«

»Wußten die anderen Aerzte nichts von dieser Behandlung?«

»Allerdings.«

»Warum wandten sie denn dieselbe nicht an?«

»Weil sie sich scheuten.«

»Scheuten? Worin besteht denn die Behandlung?«

»In dem Einnehmen von Medicin.«

»Verschiedener Medicinen oder einer?«

»Einer.«

»Wie heißt denn die Medicin?«

»Höllenstein.«

Ich sprang auf, sah Oscar an und sank auf meinen Stuhl zurück. Ich erinnerte mich sofort des Eindrucks, den die Erscheinung des blauen Mannes zuerst auf mich hervorgebracht hatte. Man wird sich erinnern, daß dieser, als er mir die Wirkung der Medizin er klärte, das Leiden, gegen welches er dieselbe gebraucht, nicht genannt hatte. Es war Oscar vorbehalten geblieben, mich durch seinen eigenen Fall darüber aufzuklären. Ich war so entsetzt, daß ich sprachlos dasaß. Bei Oscars feinem Gefühl hatte ich nicht nöthig, mich deutlich zu erklären; mein Gesicht sagte ihm, was in mir vorging.

»Sie haben schon einmal jemand gesehen, der, Höllenstein genommen hat?« rief er aus.

»Haben Sie schon einmal einen solchen Menschen gesehen?« fragte ich.

»Ich kenne den Preis, um den ich geheilt werden kann«, erwiderte er ruhig.

Seine Ruhe machte mich stutzig. »Wie lange nehmen Sie schon diese schreckliche Medizin?« fragte ich

»Seit etwas länger als einer Woche «

»Ich bemerke noch keine Veränderung an Ihnen.«

»Der Doctor sagt mir, es werden noch viele Wochen vergehen, ehe sich die geringste Veränderung bemerklich macht.«

Bei diesen Worten schöpfte ich einen Augenblick Hoffnung. »Sie können sich also noch anders besinnen«, sagte ich. »Um des Himmels willen, überlegen Sie sich die Sache noch einmal, ehe es zu spät ist!«

Ein bitteres Lächeln umspielte seine Lippen. »So schwach auch mein Charakter sonst sein mag«, antwortete er, »dieses Mal steht mein Entschluß fest.«

Ich als Frau konnte den Gedanken nicht ertragen, Oscars schönen Teint verdorben zu sehen.

»Sind Sie bei Sinnen?« platzte ich heraus. »Wollen Sie mich wirklich glauben machen, daß Sie sich wohlüberlegter Weise entschlossen haben, sich für jeden, dem Sie unter die Augen treten, zu einem Gegenstande des Entsetzen zu machen?«.

»Die einzige Person, an deren Meinung mir etwas liegt«, erwiderte er, »wird mich nie sehen.«

Endlich begriff ich ihn; das war also die Erwägung, die ihn mit diesem Heilmittel ausgesöhnt hatte. Ich brauche wohl kaum zu sagen, daß mir bei der Wendung, die unsere Unterhaltung jetzt nahm, Lucilla’s Abscheu vor Leuten mit dunkler Hautfarbe und dunklen Farben jeder Art wieder einfiel. Hatte sie sich auch gegen ihn zu diesem Abscheu bekannt, wie sie es gegen mich gethan hatte? Nein! Ich erinnerte mich, daß sie mich ausdrücklich gebeten hatte, ihm von dieser Abneigung nichts mitzutheilen. Im Anfang seiner Bekanntschaft mit ihm hatte sie ihn gefragt, wem von seinen Eltern er am ähnlichsten wäre. Das veranlaßte ihn, ihr zu erzählen, daß sein Vater von dunkler Hautfarbe gewesen sei; sofort hatte Lucilla sich in ihrer Delicatesse das gesagt sein lassen. »Er spricht mit großer Zärtlichkeit von seinem verstorbenen Vater«, sagte sie zu mir, »es möchte ihn verletzen, wenn er von der Antipathie erführe, die ich gegen dunkle Menschen habe. Lassen Sie uns nicht vor ihm davon reden.« Wie die Sachen jetzt standen, hatte ich auf der Zunge, ihn darauf aufmerksam zu machen, daß Lucilla durch Andere von seiner Entstellung hören würde, und ihn vor den Folgen einer solchen Mittheilung zu warnen. Bei näherer Erwägung schien es mir jedoch gerathener, damit noch ein wenig zu warten und ihn zuvor über seine Motive zu sondiren.

»Ehe Sie mir sagen, in welcher Weise ich Ihnen helfen soll«, sagte ich, »muß ich noch eins von Ihnen erfahren. Haben Sie Ihren Entschluß in dieser ernsten Angelegenheit ganz allein gefaßt? Haben Sie sich bei niemand Raths erholt?«

»Ich brauche keinen Rath«, antwortete er scharf. »Mein Fall läßt mir keine Wahl. Selbst ein so nervöser und unentschlossener Mensch wie ich, kann in solchem Falle nicht zaudern.«

»Haben die Aerzte gesagt, daß Ihnen keine Wahl blieb?« fragte ich.

»Die Aerzte scheuten sich, mir dies zu sagen; ich mußte sie zu dem Bekenntniß zwingen. Ich sagte: »Ich mache es Ihnen zu einer Ehrenpflicht, mir auf eine einfache Frage eine einfache Antwort zu geben. Habe ich irgend eine sichere Aussicht, von meinen Zufällen geheilt zu werden.« Daran antworteten sie mir: »Bei, Ihrer Jugend glauben wir darauf hoffen zu dürfen.« Ich drang weiter in sie. »Können Sie einen Zeitpunkt bestimmen, bis zu welchem ich sicher darauf rechnen kann, von meinem Leiden befreit zu sein?« Das vermochte keiner von ihnen. Alles was sie sagen konnten, war: »Unsere Erfahrung berechtigt uns zu der Annahme, daß Sie geheilt werden, aber nicht dazu, irgend einen Zeitpunkt Ihrer Heilung vorauszubestimmen.« »So kann es also Jahre dauern, bevor ich davon befreit werde?« Sie versuchten der Unterhaltung eine andere Wendung zu geben. Dabei beruhigte ich mich aber nicht, sondern sagte: »Sagen Sie mir gerade heraus, muß man auf eine solche Möglichkeit in meinem Falle gefaßt sein?« Der Arzt von Dimchurch sah den Londoner Arzt an und dieser sagte: »Wenn Sie es durch aus zu wissen verlangen, man muß allerdings auf eine solche Möglichkeit gefaßt sein.« Und nun vergegenwärtigen Sie sich die Aussicht, welche mir diese Antwort eröffnete Tag für Tag, Woche für Woche, Monat für Monat fortwährend in Gefahr zu sein, jeden Augenblick in Krämpfen zu Boden zu fallen. Ist das nicht ein elendes Leben?«

Was konnte ich ihm antworten? Was konnte ich sagen?

Er fuhr fort:

»Und dazu nehmen Sie noch, daß ich verlobt bin; kein Mann ist wohl je bitterer enttäuscht worden als ich. Mein Lebensglück winkt mir ganz nahe und ich darf es nicht genießen. Nicht nur meine Gesundheit ist erschüttert, sondern auch meine Aussichten für das Leben sind zerstört. Das Mädchen, das ich liebe, ist mir versagt, so lange ich mit meinem jetzigen Leiden behaftet bin. Vergegenwärtigen Sie sich das und dann stellen Sie sich vor, daß ein Mann an diesem Tische mit Papier, Feder und Tinte vor Ihnen sitzt, der nur ein paar Worte zu kritzeln braucht, damit Sie Ihre Kur sofort beginnen können. Wenn Sie in wenigen Monaten von den schrecklichen Zufällen befreit und mit dem Mädchen, das Sie lieben, verheirathet sein könnten und wenn der einzige Preis, den Sie für das Vertauschen dieser himmlischen Zukunft mit einer höllischen Gegenwart zu bezahlen hätten, darin bestände, daß Sie sich für den Rest des Lebens eine Entstellung des Gesichts gefallen lassen müßten, welche die Ihnen theuerste Person niemals sehen würde, würden Sie zaudern? Ich frage Sie, würden Sie an meiner Stelle in dem Augenblick, wo der Doctor die Feder zur Hand nahm, das Reeept zu schreiben, gesagt haben: Nein?«

Ich schwieg noch immer. Mein Eigensinn, Frauen sind ja nun einmal halsstarrig, sträubte sich dagegen, es zuzugeben, selbst als mein Gewissen mir sagte, er habe Recht.

Er sprang in derselben fieberhaften Erregung auf, mit der er mir, wie ich mich nur zu gut erinnerte damals in Browndown gesagt hatte, wer er wirklich sei .

»Würden Sie nein gesagt haben?« wiederholte er, indem er sich mit hochrothem erhitztem Gesicht über mich beugte, wie er sich bei jener ersten Gelegenheit über mich gebeugt hatte, als er mir seinen Namen ins Ohr flüsterte »Würden Sie«, wiederholte er lauter und lauter, »würden Sie nein gesagt haben?«

Bei der dritten Wiederholung dieser Worte fingen seine Gesichtszüge an, sich in der schrecklichem mir so wohlbekannten Weise zu verzerren. Die rechte Seite des Körpers verzog sich krampfhaft; er fiel zu Boden. Guter Gott! Wer hätte einem so sehr zu seinem Gunsten redenden Argumente gegenüber erklären mögen, daß er Unrecht habe? Wer würde nicht bereitwillig zugegeben haben, daß jede Entstellung durch welche sich die Befreiung von einem solchen Zustande erkaufen ließe, willkommen sein müßte!

Der Diener kam hereingestürzt und half mir die Möbel in eine sichere Entfernung von dem Unglückichen rücken. »Das wird bald ein Ende haben, Madame«, sagte der Mann, als er meine Aufregung bemerkte, um mich zu beruhigen. »In ein bis zwei Monaten, sagt der Doctor, werde die Medizin ihre Wirkung thun.« Ich konnte kein Wort sagen, ich konnte mir nur bittere Vorwürfe darüber machen, daß ich ihn durch meinen Widerspruch aufgeregt und so vielleicht den abscheulichen Zufall, der ihn nun zum zweiten Male in meiner Gegenwart ergriff, herbeigeführt habe.

Der Anfall dauerte dieses Mal nur kurze Zeit. Hatte die Arznei vielleicht schon angefangen ihre Wirkung zu thun? Nach Verlauf von zwanzig Minuten war er im Stande, sich wieder auf seinen Stuhl zu setzen und weiter mit mir zu reden.

»Sie meinen, Sie würden sich über meinen Anblick entsetzen, wenn ich ein blaues Gesicht hätte«, sagte er mit einem matten Lächeln, »und entsetzen Sie sich nicht über meinen Anblick, wenn ich in Krämpfen vor Ihnen auf dem Boden liege?«

Ich bat ihn flehentlich, nicht mehr davon zu reden.

»Gott weiß es«, sagte ich, »Sie haben meine Verstocktheit überwunden. Lassen Sie uns versuchen, jetzt nur an Ihre Aussicht auf vollständige Heilung zu denken, Was wünschen Sie, daß ich thun soll?«

»Sie haben sehr viel Einfluß aus Lucilla«, sagte er. »Wenn sie künftig in der Unterhaltung mit Ihnen ein Verlangen äußern sollte, etwas Näheres über die Wirkung der Medizin zu erfahren, gehen Sie nicht darauf ein; lassen Sie sie nicht mehr davon erfahren, als sie jetzt weiß.«

»Und warum das?«

»Warum! Wenn sie weiß, was sie wissen, so wird sie auch entsetzt sein wie Sie. Sie wird dann sofort zu mir kommen und wird es, wie Sie es getan haben versuchen mich zu überreden die Kur aufzugeben.«

Es war unmöglich, der Richtigkeit dieser Annahme zu widersprechen.

»Ich liebe sie so sehr«, fuhr er fort, »daß ich ihr nichts versagen kann. Sie würde mich schließlich überreden, die Sache aufzugeben. Kaum aber hätte sie mich verlassen würde ich meine Schwäche bereuen und die Kur wieder anfangen. Daraus würde für mich, dessen Kräfte schon so erschöpft sind, ein fortwährender Kampf entstehen. Halten Sie es nun, nach dem was Sie eben gesehen haben, für wünschenswerth, daß ich mich dem aussetze?«

Es wäre eine nutzlose Grausamkeit gewesen, ihm dazu zu rathen und ich konnte nichts thun, als ihn in seinem Entschluß befestigen. Zugleich aber flehte ich ihn an, eins nicht zu vergessen.

»Wir dürfen nicht hoffen«, sagte ich, »sie über Ihre Veränderung, sobald dieselbe eingetroffen sein wird, lange zu täuschen; früher oder später würde ihr doch jemand das Geheimniß verrathen.«

»Ich wünsche auch nur, daß ihr meine Entstellung, so lange sie noch im Werden ist, verborgen bleibe«, antwortete er. »Sobald die Sache unabänderlich ist, werde ich es ihr selbst mittheilen. Sie ist so glücklich in ihrer Hoffnung auf meine Wiederherstellung, welchen Nutzen kann es haben sie zum Voraus über den Preis aufzuklären den ich für meine Befreiung zu zahlen habe. Meine häßliche Hautfarbe wird meinen armen Engel nicht erschrecken. Was die anderen Leute betrifft, so werde ich mich ihnen nicht aufdrängen. Es ist mein innigster Wunsch, ganz einsam zu leben. Die wenigen Menschen in meiner Umgebung werden sich bald mit meinem Gesicht ausgesöhnt haben. Lucilla wird ihnen mit ihrem Beispiele vorangehen. Sie wird sich nicht lange über eine Veränderung meines Aeußeren quälen, die sie weder mit dem Gefühl noch mit dem Auge wahrnehmen kann.«

Hätte ich ihn hier über Lucilla’s eingewurzeltes Vorurtheil und über die Schwierigkeit aufklären sollen, die es vielleicht haben würde, sie mit dem Gedanken an sein verändertes Aussehen auszusöhnen? Allerdings hätte ich es wohl gesollt. Ich war gewiß zu tadeln daß ich davor zurückschreckte, einem Manne, der schon so viel gelitten hatte, neue Sorgen und neuen Kummer zu bereiten. Die einfache Wahrheit ist, daß ich es nicht vermochte. Würdet Ihr es an meiner Stelle gethan haben? Wenn Ihr diese Frage mit »Ja« beantworten könnt, so hoffe ich zu Gott, daß ich nie etwas mit Euch zu thun haben werde.

Unsere Zusammenkunft endete damit, daß ich Oscar verließ, nachdem ich ihm mein Wort geben hatte, Lucilla nichts von dem Preise wissen zu lassen, um welchen Oscar sich entschlossen hatte, seine Heilung zu erkaufen.


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