Herz und Wissen
Capitel XXX.
Wie gewöhnlich gab Mrs. Gallilee der Wirthschafterin ihre Anweisungen für den Tag. »Sollte noch etwas vergessen sein«, sagte sie am Schlusse, »so muß ich es Ihnen überlassen; denn ich wünsche, für die nächsten Stunden nicht gestört zu werden. «
Einige von ihren Briefen waren noch uneröffnet, andere mußten sofort beantwortet werden; aber die sonst so übergeschäftige Frau zeigte heute nicht den gewohnten Pflichteifer, sondern saß zum ersten Male müßig da und dachte.
Selbst ihre einbildungsfreie Natur begann am Rande des Aberglaubens zu zittern. Zweimal war ihr der Versuch mißlungen, sich in die beabsichtigte Heirath ihres Sohnes einzumischen; einmal, als sie den Musiklehrer hatte benutzen wollen, Ovid eifersüchtig zu machen, und das andere Mal, als sie geplant hatte, mit Hilfe der Eifersucht bei Carmina Mißtrauen gegen Ovid zu erwecken. Waren denn die Leute, die an eine Schickung glaubten, doch nicht so thöricht, wie sie bis jetzt geglaubt hatte? Doch wozu mit solchen Fragen die Zeit verschwenden? Was konnte sie zunächst thun?
Von dem unwiderstehlichen Instincte der Selbsterhaltung getrieben, nach Gründen suchend, um trotz alledem noch hoffnungsvoll in die Zukunft zu sehen, einerlei wie werthlos diese Gründe an sich selbst wären, stieg die gelehrte Mrs. Gallilee zu dem geistigen Niveau des unwissendsten Hausmädchens hinunter und überließ sich unbewußt dem Pöbelglauben an das Glück. Sie wollte es zum dritten Male versuchen!
Den vor ihr auf dem Tische liegenden Brief Benjulia"’s wieder aufnehmend, las sie ihn noch einmal, und dabei fiel ihr die seltsame Anspielung Ovids’s auf seinen Collegen am Tage seiner Abreise wieder ein. Hatte er nicht gewünscht, daß Carmina gerade Benjulia nicht sehen sollte? Und was hatte er auf die Frage nach seinen Gründen geantwortet? »Ich erachte Benjulia nicht als passenden Gesellschafter für ein junges Mädchen.«
Warum nicht? Viele Männer im reiferen Alter sind keine passenden Gesellschafter für junge Mädchen —— das sind aber entweder Männer, die junge Mädchen verachten, oder bewundern. Benjulia gehörte weder zu der einen, noch zu der anderen Klasse, denn die Mädchen waren ihm absolut gleichgültig —— mit der einzigen Ausnahme der zehnjährigen Zo. Wohl hundertmal war Mrs. Gallilee mit ihm in Gesellschaften zusammen gewesen, aber nie hatte sie ihn mit jungen Damen sprechen oder dieselben beachten sehen. Es lag also auf der Hand, daß Ovid’s Einwand eine plumpe Ausrede war.
Wie damals kam sie wieder auf den Gedanken, daß etwas dahinter stecken müßte; und ohne diesen Gedanken weiter zu verfolgen, klingelte sie und gab den Befehl, daß ihr Wagen um drei Uhr Nachmittags bereit sein sollte.
Die bloße, wenn auch noch so zweifelhafte, ja mehr als zweifelhafte Aussicht, etwas zu haben, was sich vielleicht gegen Carmina gebrauchen lassen könnte, gab Mrs. Gallilee ihr Gleichgewicht zurück, so daß sie wieder fähig war, ihre Correspondenz zu besorgen.
Der eine von den Briefen war von ihrer Schwester in Schottland und bezog sich unter anderem auch auf Carmina. »Warum willst Du das liebe Kind nicht zu uns kommen lassen?« fragte Lady Northlake. »Meine Töchter sehnen sich nach einer solchen Gesellschaft; und meine beiden Söhne werden Ovid um sie beneiden, sobald sie sie gesehen haben. Wenn Du wieder an meinen Neffen schreibst, so sage ihm, wie ganz ich es verstände, daß er sich gleich beim ersten Anblick in ein so holdes Wesen verliebt habe.«
Es mußte auf alle Fälle verhindert werden, daß Lady Northlake einen der ersten Plätze im Herzen Carmina’s einnähme, und sie in dem Gedanken an eine Heirath mit Ovid befestige; da war ja die Krankheit der letzteren eine passende Entschuldigung. Mrs. Gallilee fühlte beinahe eine fromme Neigung zum Dank gegen die Vorsehung, daß das Schloß ihrer Schwester im Hochlande am einen Ende Großbritanniens und ihre eigene Villa am anderen lag.
Allerdings dachte Mrs. Gallilee augenblicklich noch nicht daran, London zu verlassen; und sie konnte nicht daran denken, solange ihr Gemüth nicht von den schweren Sorgen, die jetzt darauf lasteten, befreit war, solange noch Ereignisse eintreten konnten —— sei es in Bezug auf ihre drohenden Gläubiger, oder die Heirath —— die ihre Berechnungen durchkreuzen und ihre Gegenwart in London im eigenen Interesse wichtig machen konnten. Auch Miß Minerva stand ihr wieder im Wege. Mitnehmen wollte sie dieselbe auf keinen Fall nach der Insel Wight, und gegen eine sofortige Entlassung —— die vielleicht das Gerathenste gewesen wäre sprachen auch zwei Gründe. Erstens konnte Carmina, wenn die Freundschaft zwischen beiden wirklich anhielt, mit der Entlassenen in heimlicher Verbindung bleiben; und zweitens konnte sich Mrs. Gallilee bei ihrem Grolle und ihren Prinzipien von Sparsamkeit nicht dazu verstehen, Miß Minerva ihr Salair auszuzahlen, ehe diese es sich verdient hatte. Nein! von welcher Seite sie die Sache auch ansehen mochte, es war das Gerathenste, in London abzuwarten, was kommen würde.
Eben hatte sie die Feder ergriffen, um den Anforderungen ihrer Correspondenz nachzukommen, als sie durch das Erscheinen eines Dieners in ihrem Boudoir gestört wurde.
»Nun, was heißt das? Hat Ihnen die Wirthschafterin nicht gesagt, daß ich nicht gestört werden wollte?«
»Verzeihen Sie, gnädige Frau. Der Herr ——«
»Was will der Herr?«
»Er möchte Sie sprechen, gnädige Frau.«
Dies war etwas so ganz Beispielloses in der Geschichte des Hauses, daß Mrs. Gallilee vor reinem Erstaunen die Briefe fortschob und sagte: »Führe ihn herein.«
Mr. Gallilee betrat das Zimmer seiner Frau mit denselben Gefühlen, wie er vor fünfzig Jahren das Arbeitszimmer seines Schullehrers betreten hatte, um eine Tracht Schläge zu bekommen —— denn damals war es noch nicht Sitte gewesen, die Knaben durch einen Appell an ihr Ehrgefühl zu bestrafen. Und bei seinem »Guten Morgen, liebe Frau«, trug sein Gesicht genau denselben Ausdruck wie damals bei seinem: »Bitte, bitte, Herr Lehrer, schenken Sie es mir noch einmal!«
»Nun«, fragte Mrs. Gallilee, »was wünschst Du?«
»Nur ein Wörtchen. Wie gut Du aussiehst, meine Liebe!«
Mrs Gallilee sah nach einer schlaflosen Nacht und der darauf folgenden Niederlage in Carmina’s Zimmer häßlich und alt aus und wußte das Und ihr unglücklicher Gatte erinnerte sie jetzt wieder daran. »Fahre fort!« antwortete sie streng.
Nachdem Mr. Gallilee sich die trockenen Lippen angefeuchtet hatte, sagte er: »Ich denke, ich nehme mir einen Stuhl, wenn Du erlaubst. Wie reizend!« bemerkte er dann, nachdem er sich —— natürlich in respectvoller Entfernung von seiner Frau —— niedergelassen hatte, sich wie ein zum ersten Male sich im Zimmer befindender Besucher in demselben umsehend. »Dieser Geschmack in der Farbe! Der Teppich ist jawohl nach Deinem eigenen Muster nicht wahr?«
»Willst Du nun endlich zum Zwecke kommen?«
»Mit Vergnügen, meine Liebe —— mit Vergnügen.
»Ich rieche wohl nach Tabak?«
»Darauf kommt mir nichts an.«
Dies war für Mr. Gallilee eine so angenehme Ueberraschung, daß er sie stehend genießen mußte. »Wie gütig! Aber wirklich, wie gütig!« und dabei näherte er sich ihr vertraulich. »Und weißt Du, meine Liebe, es war eine der merkwürdigsten Cigarren, die ich je geraucht habe.«
Mrs Gallilee legte die Feder nieder und sah ihn finster an; aber er wagte sich bei seiner grenzenlosen Verwirrung näher, den unheimlichen Zauber der Schlange in dem Ausdruck dieser schrecklichen Augenbrauen empfindend. »Wie gut Du aussiehst! Wie auffallend gut Du heute Morgen aussiehst!« Und dabei schielte er seine gelehrte Gattin an und —— klopfte sie aus die Schulter!
Mrs Gallilee war für den Augenblick wie versteinert. Wagte dieses dicke, schwache Geschöpf ihr jetzt mit ehelichen Liebkosungen zu kommen? Hatten seine sündigen Lippen schon so früh am Tage seinen Lieblingschampagner gekostet?
»Gallilee!«
»Ja, meine Liebe?«
»Setze Dich!«
Das geschah.
»Bist Du im Club gewesen?«
Mr. Gallilee stand wieder auf.
»Bleibe sitzen!«
Der Ehemann gehorchte. »Ich wollte Dir nur sagen, meine Liebe, daß ich Dich mit dem größten Vergnügen im Club umherführen will —— wenn Du das meinst.«
»Wenn Du nicht ein zu großer Idiot bis «, sagte Mrs. Gallilee, »dann merke Dir Folgendes! Entweder Du rückst mit dem heraus, was Du zu sagen hast, oder ——« damit erhob sie die Hand und ließ dieselbe auf den Tisch fallen, daß die Federn im Schreibzeuge klirrten —— »oder Du verläßt das Zimmer!«
Mr. Gallilee suchte in der Brusttasche seines Rockes, zog sein Cigarrenetui heraus, steckte es aber eiligst wieder ein, suchte weiter, brachte einen Brief zum Vorschein und sah erbarmungswürdig im Zimmer umher, um Jemanden zu suchen, an den er appellieren konnte. Aber es war Niemand da, und so appellierte er an sich selbst und flüsterte: »In was für eine Laune sie nur gerathen wird.«
»Was hast Du da?« fragte Mrs. Gallilee scharf. »Einen von den Briefen, die Du heute Morgen bekommen hast?«
»Wunderbares Weib!« sagte Mr. Gallilee, sie mit Bewunderung ansehend. »Nichts entgeht ihr! Erlaube mir, meine Liebe.«
Damit erhob er sich und reichte ihr den Brief, als ob er eine Petition überreichte. Sie riß ihm denselben aus der Hand, und er ging vorsichtig zu seinem Stuhle zurück, leise vor sich hin rufend »O Gott!«
Es war ein Brief von einem der Handwerker, den Mrs. Gallilee durch eine Abschlagszahlung hatte zufrieden stellen wollen, der sich aber gezwungen sah, an Mr. Gallilee, als an den Hausherrn (!) zu appellieren. Es sei ihm unmöglich, wie er mit der größten Hochachtung schrieb, eine Zahlung anzunehmen, die noch nicht den dritten Theil der ihm seit einem Jahre schuldigen Summe betrüge.
»Der Elende!« rief Mrs. Gallilee. »Ich werde ihm die Rechnung bezahlen, und ihn nie wieder beschäftigen!« Dann öffnete sie ihr Chequebuch und tauchte die Feder ein. Da ließ sich in zaghafter Stimme ein schwacher Protest vernehmen: »Bitte, nicht doch!«
In sprachlosem Erstaunen sah fie auf. Da stand er und starrte mit seinen runden Augen das Chequebuch an, während seine fetten Wangen vor Aufregung zitterten. »Du mußt das nicht thun«, sagte er, zum ersten und letzten Male seinen Muth zusammennehmend. »Gieb mir eine Minute, meine Liebe —— o meine Güte! eine Minute!«
Dann suchte er wieder in der Tasche und zog noch einen Brief hervor. Seine Augen schweiften nach der Thür; Schweißtropfen traten ihm auf die Stirn, und nachdem er den Brief auf den Tisch gelegt hatte, sah er seine Frau an und —— rannte aus dem Zimmer.
Mrs. Gallilee öffnete den Brief, neugierig, von welchem Geschäftsmanne derselbe käme. Aber nein, das waren gefürchtetere Gläubiger als Krämer und Schlächter. Er kam von den Banquiers, die darin mittheilten, daß »das Guthaben überschritten sei.«
War das möglich? Sie nahm ihr Notizbuch und das Blatt, auf welchem sie die Bilanz gezogen hatte —— sie hatte noch niemals einen Rechenfehler begangen. Und als sie Columne nach Columne die Ziffern revidierte, machte sie die demüthigende Entdeckung, daß sie sich zum ersten Male verrechnet hatte. Ihr in der Bank deponiertes Geld war verbraucht, ja mehr als daß und das nächste halbjährige Einkommen war erst zu Weihnachten fällig.
Miß Minerva’s Ansicht von dem, was ihre Beschäftigerin erwarte, bewies sich schon als richtig. Jene »anderen Hilfsquellen«, auf welche sie als auf unbekannte, in Betracht zu ziehende Möglichkeiten angespielt hatte, wurden einzig und allein durch Ovid repräsentiert, dem Mrs. Gallilee unverzüglich ein Geständniß gemacht haben würde, wenn er jetzt nicht in der canadischen Wildniß gewesen wäre. So aber blieb ihr weiter nichts übrig, als sofort zu der Bank zu gehen; und sie ließ durch den Bedienten sofort eine Droschke holen und fuhr zu den Banquiers.
Die Sache war bald zu ihrer Befriedigung geordnet, nur hatte Mr. Gallilee das letzte Wort zu sprechen. Denn mochte derselbe sich auch zu Hause nach Herzenslust seiner Autorität entäußern, außerhalb desselben, in Geschäftssachen war und blieb er der Herr. Er brauchte nur zu sagen, wie viel er zu leihen wünschte, und gewisse Papiere zu unterzeichnen, so war die Sache gethan, denn die Papiere, in denen er sein Vermögen angelegt hatte, boten ausgezeichnete Sicherheit.
Als Mrs. Gallilee, für den Augenblick von ihren pecuniären Sorgen befreit, wieder nach Hause kam, stand ihr Wagen vor der Thür.
Sie war nicht die Frau danach, leicht ihre Absichten zu ändern —— und die Fahrt aufs Land mußte ihr nach dem unruhigen Morgen gut thun. Da sie hörte, daß ihr Mann noch zu Hause sei, und ein unfehlbarer Instinct ihr sagte, wo er unter gegenwärtigen Umständen zu finden wäre, ging sie nach dem Rauchzimmer. Und als sie die Thür öffnete, saß er da, den Rock abgelegt, die Füße auf einem Stuhle, und rauchte behaglich eine Cigarre. »Bleibe heute Abend zu Hause«, sagte sie, und machte die Thür wieder zu, Mr. Gallilee zurücklassend, wie er vor Erstaunen an einem Mundvoll seines eigenen Cigarrenrauches beinah erstickte.
Ehe sie in den Wagen stieg, puderte sie sich das Gesicht noch ein wenig. Benjulia’s Laune war eben etwas Ungewisses, und es konnte vielleicht nöthig sein, ihn zu bezaubern.
Vorheriges Kapitel
Nächstes Kapitel
Inhaltsverzeichnis für diese Geschichte