Herz und Wissen
Capitel II.
Wohl nicht einer unter zehntausend, wenn er zufällig einem Freunde auf der Straße begegnet, denkt daran, welche Reihenfolge geringfügiger Umstände sie beide zur nämlichen Zeit gerade nach der nämlichen Stelle geführt hat, und deshalb merkt auch nicht der Zehntausendste, daß er bei aller Realität unseres Lebens mitten in der Romantik steht.
Seit dem Augenblicke, da der junge Arzt die Thür hinter sich geschlossen hatte, befand er sich auf dem Wege zu einer künftigen Patientin, die ihm persönlich noch eine Fremde war. Er kam nicht nach dem Collegium und schiffte sich nie auf der Yacht seines Freundes ein und zwar infolge einer Reihe trivialer Umstände, wie sie jedem, der einen Ausgang unternimmt, täglich zustoßen können.
Er hatte eben die nächste Straße erreicht, als ein Wagen an ihn heranfuhr, aus dem das heitere, wohlwollende, von einem buschigen Backenbarte eingerahmte Gesicht eines befreundeten Collegen sah, der ihn in herzlichem Tone fragte, ob er alle Vorbereitungen für seine lange Ferientour vollendet habe. Nachdem Ovid die Frage bejaht hatte, fragte er seinerseits:
»Wie geht es unserm Patienten, Sir Richard?«
»Ganz außer Gefahr»
»Und was sagen die anderen Doctoren jetzt?«
Sir Richard lachte. »Sie sagen, ich hätte Glück gehabt«
»Also sind sie noch nicht überzeugt?«
»Nicht im mindesten. Wer hätte auch je Thoren überzeugt! Doch um auf etwas Anderes zu kommen: ist Ihre Mutter mit Ihren neuen Plänen ausgesöhnt?«
»Das ist schwer zu sagen; sie befindet sich in einem Zustande unbeschreiblicher Aufregung, da das Testament ihres Bruders in Italien gefunden ist und dessen Tochter jeden Augenblick in England ankommen kann.«
»Unverheirathet?« fragte Sir Richard lächelnd.
»Ich weiß nicht.«
»Reich?«
»Glauben Sie, meine Mutter würde so aufgeregt sein, wenn das nicht der Fall wäre?«
»Ah, ja, Ihrer Mutter geht es wie Kent in »König Lear« —— sie ist zu alt zum Lernen. Ist sie noch immer so hinter Spitzen her? Ich komme eben von einer früheren Patientin von mir, für die ich ein freundschaftliches Interesse empfinde«, fuhr er fort, eine Karte aus dem Wagenfenster reichend. »Dieselbe zieht sich auf meinen Rath vom Geschäfte zurück und hat mich unter allen Sterblichen gebeten, ihr behilflich zu sein, einige wundervolle »Reste« loszuwerden. Empfehlen Sie mich Ihrer Frau Mutter —— das wäre etwas für sie. Noch eins, Ovid; haben Sie es mit der Rückkehr zur Arbeit nicht gar zu eilig; Sie haben Zeit genug. Sehen Sie sich hier meinen weisen Köter an; von dem können Sie lernen müßig und glücklich zu sein.«
Damit verabschiedete er sich. »Wer ist der stattliche junge Mann?« fragte der mit im Wagen sitzende Bekannte des großen Arztes, den dieser, da ihr Weg eine Strecke derselbe war, zum Mitfahren eingeladen hatte.
»Der einzige Sohn eines vor vielen Jahren verstorbenen Verwandten von mir«, entgegnete Sir Richard. »Vergessen Sie diese Begegnung nicht.«
»Warum, wenn ich fragen darf?«
»Er steht noch nicht in der Blüthezeit des Lebens und ist bereits eine ansehnliche Strecke auf dem Wege, einer der vorzüglichsten Männer seiner Zeit zu werden. Von Haus aus vermögend, hat er gearbeitet wie wenige Aerzte, die sich durch ihren Beruf ihr Brod verdienen müssen. Das Geld kommt von seinem verstorbenen Vater; seine Mutter hat sich zum zweiten Male mit einem trägen, harmlosen und einfältigen alten Burschen, Namens Gallilee verheirathet, dessen einzig anziehendes die funfzigtausend Pfund sind, die er zusammen gehandelt hat. Aus dieser Ehe sind zwei kleine.Töchter. Mit einem solchen Stiefvater und einer Mutter, die, unter uns gesagt, ihren mehr als reichlichen Antheil an dem Tand und den Nichtigkeiten dieser Welt nimmt, hält kein Familieneinfluß meinen Freund Ovid ab, sich ganz seinem Berufe zu weihen. Sie werden einwenden, daß er heirathen könne. Nun, wenn er eine gute Frau bekommt, so wird das nur günstig für ihn sein; aber er ist, soweit ich ihn kenne, nicht der Mann danach —— sogar ein groß Theil kälter gegen das weibliche Geschlecht als ich, der ich dem Alter nach sein Vater sein könnte. Doch, um wieder auf seine Aussichten zu kommen —— Sie hörten, daß er mich nach einem Patienten fragte?«
»Ja.«
»Nun, sehen Sie, bei dem klopfte der Tod ganz energisch an, als ich Ovid zu einer Consultation mit mir und noch zwei Aerzten berief, die von mir abwichen. Es handelte sich um einen jener seltenen Fälle, in welchem meines Erachtens nach die alte Praxis des Aderlassens das einzig Richtige war. Auf meinen besonderen Wunsch erfuhr er nicht, daß dies gerade der streitige Punkt zwischen uns war. Er nahm sich Zeit zu untersuchen und nachzudenken und erkannte die Chance, den Patienten durch den Gebrauch der Lanzette möglichenfalls retten zu können, so klar wie ich mit meiner vierzigjährigen Erfahrung hinter mir! Ein junger Mann mit einer solchen Fähigkeit, die entfernte Ursache der Krankheit zu entdecken, und mit einer derartigen Ueberlegenheit über die Fesseln des Hergebrachten in der Behandlung hat keine nur gewöhnliche Carriere vor sich. Ich sehe gegenwärtig nichts, was ihm hindernd im Wege stände —— nicht einmal ein Weib! Doch, fügte Sir Richard mit erläuterndem Blinzeln des einen Auges hinzu, »sollte ein Unterrock am Horizonte erscheinen, so werde ich mich hüten, den Wetterpropheten zu machen. Eine Prophezeihung aber riskiere ich: Wenn seine Mutter von der erwähnten Spitze kaufen sollte, so weiß ich, wer dabei den besten Handel machen wird.«
Die Bedingungen, unter welchen der alte Herr gewillt war, den Propheten zu spielen, traten nun allerdings nie ein, denn Ovid meinte, daß er als guter Sohn seiner Mutter vor dem Aufbruche zu seiner langen Reise ein Präsent machen müßte, und er ging deshalb sofort selbst hin und kaufte einige von den Spitzen für sie, bei welchem Geschäfte er jedenfalls nicht der Profitierende war.
Nach diesem Abstecher brachte ihn der kürzeste nach seinem Ziele führende Weg in eine Nebenstraße nahe dem Frucht- und Blumenmarkte von Covent-Garden; in derselben herrschte aber ein so unerträglich übler Geruch, daß er sich vor demselben eiligst in den Duft der Blumen und Früchte des Marktplatzes rettete, der ja auch nicht außerhalb des directen Weges nach Lincoln’s Inn-Fields lag. Und dort, um den Desinfectionsproceß vollständig zu machen. kaufte er sich ein Körbchen Erdbeeren.
Warum mußte nun gerade ein armes, zerlumptes kleines Mädchen, das einen großen Säugling trug, die köstlichen Früchte, die er aß, mit so sehnsüchtigen Augen betrachten, daß er als gutherziger Mann keine andere Alternative hatte, als ihr die Erdbeeren zu schenken? Warum mußten unmittelbar darauf zwei Spielgefährten der Kleinen erscheinen, um sie nach der benachbarten Straße zu holen, wo ein Hanswurstkasten aufgestellt wurde? Und warum empfand er plötzlich die Besorgniß, daß die beiden Jungen der armen Kleinen, mit dem ihr an Größe wenig nachstehenden dicken Baby auf den Armen die Erdbeeren wegnehmen könnten? Wenn die Nerven überangestrengt sind, wird man eben leicht durch Geringfügigkeiten beunruhigt, und ganz des Collegiums vergessend, folgte er müßig den Kleinen, um zu sehen, was kommen würde, und so eine neue Quelle des Vergnügens in sich entdeckend.
In der benachbarten Straße angekommen sah er, daß die Hanstwurst-Vorstellung wegen Mangels an zahlendem Publikum ein Ende gefunden hatte —— was ja auch manch anderer weit anspruchsvollerer Vorstellung widerfahren kann. Er wartete in einiger Entfernung, um die Kinder zu beobachten, aber er hatte den Jungen mit seinen Zweifeln Unrecht gethan, denn dieselben baten die Kleine nur: »Laß uns mal schmecken«, und die Freigebige belohnte ihre Artigkeit dadurch, daß sie in einer ruhigen Ecke ihren Schatz, ehrlich mit ihnen theilte.
Wer hätte unter diesen Umständen —— Geizhälse oder Millionäre natürlich ausgenommen —— zu seinen Geschäften zurückkehren können, ohne durch ein Geschenk von einigen Pfennigen die Ausübung der socialen Tugenden zu ermuthigen? Ovid war nicht der Mann danach.
Als er die Börse, in welcher er immer etwas kleine Münze für kleine Almosen bei sich zu führen pflegte, wieder in die Brusttasche steckte, berührte er mit der Hand etwas, das sich wie ein Couvert anfühlte; er nahm es aus der Tasche, sah es mit einem Ausdruck von Verdruß und Ueberraschung an und wandte sich noch einmal von dem directen Wege nach Lincoln’s Inn-Fields ab.
Das Couvert enthielt nämlich sein letztes Recept, das er, um vorher die Pharmacopoea zu consultiren, zu Hause geschrieben und dann dem betreffenden Patienten hatte senden wollen, was er dann aber über dem absorbierenden Interesse der Vorbereitungen zu seiner Reise zu thun vergessen hatte. Um dies unglückliche Vorkommnis ohne weiteren Verzug wieder gut zu machen, blieb ihm nichts übrig, als nochmals die sich selbst gegebenen Vorschriften zu übertreten und noch einmal —— nur der Sühne wegen —— einen Krankenbesuch zu machen.
Der Patient wohnte in der Nähe des British-Museum, Ovid suchte ihn also auf, entschuldigte sich, gab ihm Verhaltungsmaßregeln und schlug dann wieder die Richtung nach dem College zu ein. Wie er so an dem von einer Mauer eingefaßten Garten des Museums vorüberging, wandte er den Blick dorthin —— und hielt inne. Was ihn diesmal aufhielt, war nichts als ein Baum, dessen helle Blätter in dem schwachen Sommerwinde zitterten; aber auf seinem Gesichte ging eine auffallende Veränderung vor sich.
Wer ihn einen Augenblick vorher gesehen, wie er mit einem Lächeln um die Lippen an die Umstände gedacht, die ihn vom Verfolge seines Weges abgehalten, und sich humoristisch angehaucht gefragt hatte, was ihm nun zunächst noch widerfahren möchte, hätte ihn jedenfalls für einen glücklichen Mann halten müssen. Wer ihn aber jetzt gesehen, hätte gerade das Gegentheil angenommen. Den Kopf gesenkt, sich nur mechanisch bewegend, ging er über die Straße, hob dann die Augen zu dem Baume auf, blieb in der Nähe desselben stehen und sah ihn an.
Hunderte von Meilen von London entfernt, hatte dieser Mann, der später so kalt gegen die Frauen war, unter einem solchen Baume in seiner Jugendzeit einen kindlichen Liebestraum mit einer holden kleinen Cousine geträumt, die nun längst zu den Todten zählte. Er vergaß der Gegenwart mit ihren Interessen und Sorgen; aber allmählich fühlte sein wundes Herz einen beruhigenden Einfluß, der auf geheimnißvolle Weise von den zitternden Blättern auszugehen schien.
Langsam ging er die Straße hinauf, noch unbewußt der Außenwelt, in den alten Szenen lebend und die alten Gedanken denkend. Und wo hätte er in London einen ruhigeren und zum Träumen bei Tageslichte geeigneteren Ort finden können, als den mit stillen grünen Anlagen versehenen District nord- und ostwärts vom British-Museum? In einer der Anlagen blieb er stehen. Lebte seine Consine noch, so hätte er vielleicht seine eigenen Kinder auf einem solchen Platze spielen sehen können.
Lustig sangen die Vögel in den Bäumen; ein Bursche, der einem Koch Fische ablieferte, und zwei Mädchen, die an einem Fenster Blumen begossen, waren die einzigen lebenden Wesen in seiner Nähe, als er sich aufraffte und sich umsah.
Noch nicht im College? Die Frage erregte ihn nicht, es war nur, als ob ein Schatten an seinem Geiste vorüberzöge. In einem Zustande des Halbwachens wandte er sich ohne einen Wunsch oder Zweck um und sah gleichgültig zurück.
Zwei in Trauer gekleidete Frauen, die näher kommend sich als eine alte Frau und ein junges Mädchen herausstellten, kamen ziemlich eilig auf ihn zu. Als er, um sie vorbeizulassen zur Seite trat, sahen sie ihn mit der gleichgültigen Neugier Fremder an; die Augen des Mädchens begegneten den seinen; es war nur ein Augenblick, aber der Blick bannte ihn für’s Leben.
Sie ging schnell weiter, von der zufälligen Begegnung eben sowenig berührt als die Alte an ihrer Seite; aber wie von magnetischer Kraft angezogen, folgte ihnen Ovid, ohne zu denken, ja, ohne überhaupt eines Gedankens fähig zu sein. Nie vorher hatte er das gethan, was er jetzt that, er war buchstäblich außer sich selbst —— er sah sie vor sich und außer ihnen nichts.
Als sie in eine Nebenstraße einbogen und in eine Concerthalle, die hier zu einem Nachmittagsconcerte geöffnet war, eintraten, folgte er ihnen auch hierhin und trat gleichfalls ein.
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