Herz und Wissen



Capitel XVI.

Ich fürchte, ich habe Sie erschreckt«, sagte die Gouvernante, sorgfältig die Thür schließend.

»Ich war allerdings ein wenig erschrocken«, antwortete Carmina naiv wie ein Kind, »da ich dachte, daß es meine Tante wäre.«

»Sie haben geweint?«

»Ich konnte nicht anders, Miß Minerva.«

»Mrs. Gallilee war ganz abscheulich gegen Sie, und es nimmt mich nicht Wunder, daß Sie aufgebracht sind.«

»Nein, ich habe geweint, weil ich mich schäme«, erklärte Carmina, mild den Kopf schüttelnd. »Wie kann ich meine Tante wieder versöhnen? Soll ich sofort wieder zu ihr gehen und sie um Verzeihung bitten? Sie sind meine Freundin, Miß Minerva? Wollen Sie mir rathen?«

Dies wurde so reizend und unschuldig vorgebracht, daß sogar die Gouvernante gerührt war —— wenigstens für den Augenblick. »Soll ich Ihnen beweisen, daß ich Ihre Freundin bin?« meinte sie. »Dann rathe ich Ihnen, noch nicht zu Ihrer Tante zu gehen, und ich will Ihnen sagen warum. Mrs. Gallilee ist boshaft und eine Frau, die so leicht Nichts vergiebt; was ich am ersten würde fühlen müssen, wenn sie erführe, was ich Ihnen eben gesagt habe.«

»O, Miß Minerva! Sie glauben doch nicht, daß ich Ihr Vertrauen täuschen würde?«

»Nein, meine Freundin, das nicht. Ich habe mich vom ersten Augenblicke an zu Ihnen hingezogen gefühlt. Sie erwiderten das Gefühl nicht, sondern waren gegen mich eingenommen —— natürlich, denn ich bin häßlich und übellaunig, und wenn etwas Gutes» in mir ist, so zeigt es sich doch nicht an der Oberfläche Ja! ja! Ich glaube, Sie überwinden dies Vorurtheil und fangen an, mich zu verstehen. Sollte ich Ihnen Ihr Leben hier mit der Zeit ein wenig erträglicher machen können, ich würde mich zu glücklich schätzen.« Damit nahm sie mit ihren langen gelben Händen Carminas Kopf und küßte sie auf die Stirn.

Diese schlang ihre Arme um Miß Minerva’s Hals und weinte sich aus am Busen derjenigen, die sie täuschte. »Jetzt, da Teresa fort ist, habe ich Niemanden mehr«, klagte sie. »O, versuchen Sie, mir gut zu sein —— ich fühle mich so freundlos und verlassen!«

Miß Minerva rührte sich weder, noch sprach sie, sondern wartete, bis sich das junge Mädchen ausgeweint hatte. Ihre starren schwarzen Augenbrauen zogen sich zusammen, ihr blaßgelbes Gesicht nahm eine dunklere Färbung an —— sie befand sich in einem Zustande der Auflehnung gegen sich selbst. Dieser unschuldige Ausbruch von Zutrauen und Kummer hatte sich durch alle die verhärtenden Einflüsse des Lebens, durch die eisernen Brustwehren gegen das Gute, die das Böse um eine schlechte Natur errichtet, seinen Weg gebrochen und die giftige innere Finsterniß für eine Weile durch göttliches Licht gereinigt. Sie war vorher in Verfolg ihrer eigenen niedrigen Interessen eingetreten. Gleich derjenigen, in deren Lohn sie stand, wurde sie von Schulden gedrückt, und zwar von erbärmlichen Schulden für kostspielige Toilettenwasser, die ihren häßlichen Teint in Ovid’s Augen erträglicher machen sollten; für kostbare Handschuhe, die Ovid die Form ihrer Hand zeigen und zugleich deren Farbe verbergen sollten; für die kokettesten Schuhe aus feinstem Leder, die Ovid verführen sollten, ihr hohes Spann und ihre zarten Knöchel zu beachten, die einzigen Schönheiten, die sie dem einzigen Manne, dem sie gefallen wollte, zeigen konnte. Für den Augenblick nun hörten die dringenden Gläubiger auf zu drohen —— verlor Das, was sie während der Verlesung des Testamentes im Gewächshause gehört hatte, seinen versuchenden Einfluß. Sie blieb noch eine halbe Stunde —— und verließ das Zimmer, ohne einen Pfennig geborgt zu haben.

»Ist Ihnen jetzt leichter«? fragte sie, als Carmina ihrer Thränen Herr geworden.

»Ja, liebe Freundin.«

Ihre Augen trocknend, sah sie schüchtern die Gouvernante an. »Ich habe Sie wie eine Schwester behandelt; Sie halten mich doch nicht für zu familiär?«

»Ich wollte, ich wäre Ihre Schwester, das weiß Gott!«

Sowie ihr die Worte aber aus dem Munde waren, erschrak sie über ihre Wärme und fragte plötzlich: »Soll ich Ihnen sagen, was Sie mit Ihrer Tante thun sollen? Schreiben Sie ihr einige Zeilen.«

»Ja, ja! und Sie wollen mir dieselben besorgen.« Dabei hellten sich ihre Augen durch die Thränen hindurch auf, eine solche Erleichterung gab ihr der Rath; und in einer Minute war der Brief geschrieben: »Liebe Tante, ich habe mich sehr häßlich benommen und schäme mich dessen unendlich. Darf ich von Deiner Nachsicht erwarten, daß Du mir vergeben wirst? Ich will mich in Zukunft ernstlich bemühen, Deiner Güte würdiger zu werden, und bitte Dich aufrichtig um Verzeihung.« In athemloser Hast setzte sie ihren Namen darunter und sagte dann dringend. »Bitte, bringen Sie es ihr sofort!«

»Wenn ich es überbringe«, entgegnete Miß Minerva lächelnd, »werde ich Böses statt Gutes stiften, denn man wird mir vorwerfen, mich eingemischt zu haben. Geben Sie es einem Diener; aber jetzt noch nicht. Mrs. Gallilee überwindet einen Aerger nicht so leicht, als Sie zu denken scheinen. Lassen Sie sie erst in die Wissenschaft pfuschen« (dies wurde mit unbeschreiblicher Verachtung gesprochen). »Wenn sie sich erst mit irgend einem ekelhaften Geruche halb betäubt, oder wenn sie erst irgend ein unglückliches Insekt oder eine Pflanze secirt hat, ist sie vielleicht besser bei Laune. Also warten Sie.«

Carmina dachte an die glücklichen Tage daheim in Italien, als ihr Vater noch über ihre kindlichen Ausbrüche von Laune gelacht und die gute Teresa nur die Achseln gezuckt hatte. O, welch ein Wechsel! Sie zog ein Medaillon aus dem Busen, das sie an einer dünnen goldenen Kette um den Hals trug, öffnete es und küßte das Glas über zwei in demselben befindlichen Miniaturportraits. »Möchten Sie die Bilder gern sehen?« fragte sie die Gouvernante. »Das Bild meiner Mutter hat mein Vater mir gemalt und dann sein Bild, das er deshalb hat machen lassen, dazu gefügt. Ich öffne sie immer, wenn ich bete; es ist mir, wenn ich sie ansehe, manchmal fast, als ob ich sie leibhaftig wieder hätte. O, wenn jetzt nur mein Vater hier wäre, um mir rathen zu können!« Das Herz schwoll ihr, aber sie hielt die Thränen zurück: solche Selbstbeherrschung lernte die Arme schon! »Vielleicht«, fuhr sie fort, »sollte ich gar keinen Rath nöthig haben. Wenn ich wirklich Ovid überreden könnte fortzugehen, müßte ich es nach jenem Anfalle im zoologischen Garten thun —— und ich werde es thun!«

Diese Worte riefen in Miß Minerva die schlafende Eifersucht wieder wach; der gute Einfluß, welchen Carmina selbst hervorgebracht hatte, ließ nach; sie ging an’s Fenster und sah hinaus. Das plötzliche Schweigen ihrer neuen Freundin setzte Carmina in Verlegenheit und sie folgte derselben an’s Fenster.

»Haben Sie irgend etwas dagegen«, fragte sie.

»Nein«, gab Miß Minerva, ohne sich vom Fenster abzuwenden, kurz zur Antwort.

Carmina machte noch einen Versuch: »Außerdem muß ich doch auch die Wünsche meiner Tante berücksichtigen. Nach meinem häßlichen Benehmen ——«

»Natürlich! Das steht über jedem Zweifel«, fiel Miß Minerva, sich umdrehend scharf ein. Dann aber milderte sich ihr Ton etwas: »Sie sind jung, Carmina —— ich darf Sie ja wohl bei Ihrem Vornamen nennen —— Sie sind jung und einfältig. Sehen Sie mit diesen unschuldigen Augen wohl je unter die Oberfläche?«

»Ich verstehe Sie nicht recht.«

»Meinen Sie, daß Ihre Tante nur aus Besorgniß um Mr. Ovid’s Gesundheit dessen Fortgang von London wünschte? Kommt es Ihnen nicht in den Sinn, daß sie ihn von Ihnen fern halten will?« Und als Carmina in einer Verlegenheit die sie nicht zu verbergen vermochte, mit ihrem Medaillon spielte, fragte sie: »Tragen Sie Bedenken, mir zu vertrauen?«

Dieser Vorwurf öffnete dem jungen Mädchen sofort die Lippen.

»Nein, aber ich scheue mich, Ihnen zu sagen, wie albern ich bin «, antwortete sie. »Vielleicht fühle ich noch etwas Fremdes zwischen uns. Es kommt mir so formell vor, Sie Miß Minerva zu nennen, aber ich kenne Ihren Vornamen nicht. Wollen Sie ihn mir nicht sagen?«

»Ich heiße Frances, aber nennen Sie mich ja nicht "Fanny!« erwiderte Miß Minerva ziemlich herb und unwirsch.

»Warum nicht?«

»Weil es zu absurd klingt. Bei dem Namen Fanny denkt man sich ein kokettes tänzelndes Wesen, rund, "hübsch und voll Heiterkeit!« Sie trat vor den Spiegel und zeigte verächtlich auf ihr Bild. »Wie reimt sich das mit diesem da? Nennen Sie mich Frances; das unterscheidet sich von dem Mannsnamen nur durch ein e und ist hart wie ich. Nun, was mochten Sie mir denn nicht von selbst sagen?«

Carmina dämpfte ihre Stimme zu einem Flüstern. »Wozu mich fragen, was ich an meiner Tante finde, oder nicht finde? Ich fürchte, wir werden einander nie das sein, was wir uns sein sollten. Als sie sich damals im Concerte neben mich setzte und mich ansah ——« Hier hielt sie plötzlich inne und schaudertes bei der Erinnerung.

Miß Minerva munterte sie durch eine Gebärde auf fortzufahren, da das aber erfolglos war, bemerkte sie: »Man sagte, daß Sie infolge der Hitze ohnmächtig geworden seien«

»Ich fühlte keine Hitze, wohl aber ein Entsetzen mich überlaufen, und zwar ehe ich sie ansah —— nur als ich merkte, daß Jemand bei mir saß. Und als ich mich umwandte und unsere Augen sich begegneten, verlor ich vollständig das Bewußtsein, als ob ich todt gewesen Ware. Ich kann es Ihnen nicht anders beschreiben. Es war eine schreckliche Ueberraschung und ein schrecklicher Schmerz, als man mich wieder zu mir brachte. So klein und schwach ich auch aussehe, bin ich doch stärker, als man denkt, und war noch nie vorher ohnmächtig geworden. Mit meiner Tante ist seitdem für mich, wenn ich so sagen soll, schwer auszukommen. Habe ich etwas Gottloses an mir? Ich glaube, sie fühlt mir gegenüber gerade so. Ja; vielleicht ist es nur Einbildung, aber es ist trotzdem ebenso schlimm, als wenn es Wirklichkeit wäre. O, ja, Sie haben jedenfalls Recht —— sie will Ovid von mir fern halten!«

»Weil sie Sie nicht leiden möchte?« fragte Miß Minerva. »Ist das der einzige Grund, den Sie sich denken können?«

»Was für einen Grund könnte sie sonst haben?«

»Manche Leute sind gegen Heirathen zwischen Cousins und Cousinen —— und Sie sind seine Cousine. Ebenso sind manche gegen Heirathen unter Katholiken und Protestanten —— und Sie sind Katholikin, und ——« Doch nein, Miß Minerva konnte sich nicht direct auf ihn beziehen. »Möglich, das; noch irgend ein anderer Grund vorliegt«, schloß sie.

»Wissen Sie, was für einer etwa?« fragte Carmina.

»Nicht mehr als Sie« Und damit sprach sie allerdings die Wahrheit, denn da sie sich nach dem Anschlagen des Hundes vor einer Entdeckung hatte sichern müssen, hatte sie die letzten Clauseln des Testamentes nicht gehört.

»Können Sie sich auch nicht denken, was für ein Grund das wohl sein könnte?« fragte Carmina wieder.

»Mrs. Gallilee ist sehr ehrgeizig und wünscht vielleicht ihren Sohn, der selbst Vermögen besitzt, mit einer Dame von hohem Range zu verheirathen. Doch —— nein —— Geld ist bei ihr die Hauptsache, und das muß jedenfalls damit zu thun haben.«

»Aber wie?«

Miß Minerva schwieg einen Augenblick als ob sie erwarte, daß ihre junge Freundin fortfahren würde, da aber Carmina nichts weiter hinzufügte antwortete sie kalt: »Ich weiß nicht.«

Hier wurde ihre Unterhaltung durch das Erscheinen der Jungfer unterbrochen, durch welche Miß Maria die Gouvernante um Hilfe bei ihrer lateinischen Aufgabe bitten ließ. Beim Fortgehen fiel Miß Minerva’s Blick auf Carmina’s vorhin geschriebenen Brief, den die Jungfer ja jetzt abgeben konnte. »Ist Mrs. Gallilee zu Hause?« fragte sie, erhielt aber die Antwort, daß dieselbe eben ausgegangen sei. »Wahrscheinlich zu irgend einer Vorlesung«, bemerkte Miß Minerva gegen Carmina »Ihr Brief muß warten, bis sie zurückkommt.«

Als sich die Thür hinter der Gouvernante geschlossen hatte, brachte die zurückgebliebene Jungfer ein bis jetzt verborgen gehaltenes, zusammengefaltetes Blatt Papier zum Vorschein, das sie Carmina lächelnd überreichte.

»Von Mr. Ovid, Miß.«


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