Fräulein Minna und der Reitknecht



I.

Ich höre, dass die „anstößige Geschichte meiner Aufführung“ auf dem Balle allgemein verbreitet wurde und dass die öffentliche Meinung (unter den Damen) im ganzen Saale dafür hielt, dass ich mich entehrt hätte.

Aber in diesem Chore allgemeiner Verdammung gab es doch eine abweichende Stimme. Sie, gnädige Frau, sprachen mit dem ganzen Gewichte Ihres ausgezeichneten Rufes und Ihres hohen Ranges. Sie sagten: „Die junge Dame, die der Gegenstand tadelnder Bemerkungen ist, ist mir persönlich fremd. Wenn ich also mich einzumischen wage, so geschieht es nur, um Sie daran zu erinnern, dass jede Sache ihre zwei Seiten hat. Darf ich fragen, ob Sie gewartet haben, ein Urteil zu fällen, bis Sie gehört haben, was die Angeschuldigte zu ihrer eigenen Verteidigung zu sagen hat?“

Diese gerechten und edlen Worte brachten, wenn ich recht unterrichtet bin, eine Totenstille hervor. Nicht eine der Frauen, die mich verdammt hatten, hatte meine Verteidigung gehört. Nicht eine wagte, Ihnen zu antworten.

Wie ich in der Meinung von Leuten, wie diese, stehe, ist mir vollkommen gleichgültig. Mein einziges Bestreben ist, zu zeigen, dass ich Ihres rücksichtsvollen Eintretens für meine Person nicht ganz unwürdig bin. Wollen Sie mir die Ehre erweisen, zu lesen, was ich in diesen Blättern für mich selbst zu sagen habe.

Ich will so schnell wie möglich über die Verhältnisse meiner Familie hinweggehen und es aus Gründen der Dankbarkeit und Ehre unterlassen, in meiner Erzählung Zunamen zu nennen.

Mein Vater war der zweite Sohn eines englischen Edelmanns. Eine deutsche Dame war seine erste Frau und meine Mutter. Nachdem er Witwer geworden war, heiratete er zum zweitenmal; die zweite Frau war eine Amerikanerin von Geburt. Sie fasste die Abneigung einer Stiefmutter gegen mich – welche ich, wie ich gestehen muss, einigermaßen wenigstens verdiente.

Als das neuvermählte Paar nach den Vereinigten Staaten ging, ließ es mich nach meinem eigenen Wunsche in England zurück, um dort unter dem Schutze meines Oheims, eines Generals zu leben. Die Ehe dieses guten Mannes war kinderlos geblieben und seine Frau (Frau Claudia) war, vielleicht aus diesem Grunde, ebenso bereitwillig, wie ihr Gatte, mich in der Eigenschaft einer Adoptivtochter bei sich aufzunehmen. Ich darf hier noch hinzufügen, dass ich den Taufnamen meiner deutschen Mutter Wilhelmina führe. Alle meine Freunde pflegten zu der Zeit, da ich noch Freunde hatte, in Minna abzukürzen. Erweisen Sie mir die Freundschaft, mich auch Minna zu nennen.

Wollen Sie nach diesen wenigen einleitenden Worten sich gedulden, wenn ich versuche, Sie mit meinem Oheim und meiner Tante besser bekannt zu machen, und wenn ich auf Umstände anspiele, die mit meinem neuen Leben verbunden sind und die, wie ich fürchte, meinen Charakter zum Schlimmeren veränderten?



Kapiteltrenner

II.

Wenn ich an die väterliche Güte des guten Generals gegen mich denke, so bin ich in der Tat in Verlegenheit, so über ihn zu schreiben, wie es die Gerechtigkeit erfordert. Um die Wahrheit zu gestehen – die Tränen treten mir in die Augen und die Zeilen verschwimmen so wirr ineinander, dass ich sie selbst nicht lesen kann. Was meine Beziehungen zu meiner Tante betrifft, so ist es nur die Wahrheit, wenn ich sage, dass sie ihre Pflichten gegen mich ohne die geringste Anmaßung und in der liebenswürdigsten Weise erfüllte.

In einem Alter von nahezu fünfzig Jahren war Frau Claudia noch immer eine bewunderte Frau, obgleich sie den einen Reiz, der sie vor meiner Zeit auszeichnete – den Reiz einer vollendet schönen Gestalt – verloren hatte. Mit schönem Haar und ausdrucksvollen Augen war sie sonst eine einfache Frau. Ihre anspruchslose Gewandtheit und ihre bezaubernden Manieren waren ohne Zweifel die Eigenschaften, welche sie überall beliebt machten. Wir stritten niemals miteinander. Nicht dass ich immer liebenswürdig gewesen wäre, nein, deshalb nicht, sondern weil meine Tante dies nicht geduldet haben würde. Sie behandlete mich, wie sie ihren Gatten behandelte, mit vollendetem Takte. Mit gewissen gelegentlichen Zurechtweisungen leitete sie den General in unbeschränkter Weise. Die Eigenheiten seines Charakters machten ihn zu einem Manne, der sich von einer gewandten Frau leicht beherrschen ließ. Obwohl sie seiner Meinung dem Anscheine nach zustimmte, brachte es Frau Claudia am Ende doch gewöhnlich fertig, ihren eigenen Weg zu gehen. Ausgenommen wenn er in seinem Klub war, glücklich in seinem Klatsch, bei seinem guten Mittagsmahl und seinem Whist, lebte mein vortrefflicher Oheim unter einem Despotismus, aber in der glücklichen Täuschung, dass er Herr in seinem Hause sei.

So glücklich und angenehm mein Leben auch im Äußeren erschien, so hatte es für ein junges Mädchen doch auch seine düstere Seite.

Im gewöhnlichen Verlaufe unseres Lebens, demjenigen reicher Leute im höheren Stande, gab es nichts, was die Entwicklung besserer Fähigkeiten, die in mir vorhanden sein mochten, fördern konnte. So aufrichtig ich auch meinen Oheim liebte und bewunderte, so konnte er doch weder seinem Alter, noch seinem Charakter nach der erwähnte Vertraute meiner geheimsten Gedanken, der Freund meines innersten Herzens sein, der mir zeigen konnte, wie am besten und am meisten Vorteil aus meinem Leben zu ziehen sei. Unter Freunden und Verehrern in Menge hatte ich nicht einen gefunden, der diese Stellung zu mir hätte behaupten können. Mitten in der Gesellschaft war ich, ohne es zu wissen, ein einsames Wesen.

Wie ich mich erinnere, so waren die Stunden die glücklichsten, in welchen in Zuflucht zur Musik und zu meinen Büchern nahm. Außerhalb des Hauses war das Reiten meine einzige immer willkommene und immer neue Zerstreuung. Ohne falsche Bescheidenheit darf ich erwähnen, dass ich sowohl Liebhaber als auch Bewunderer hatte, aber nicht einer von ihnen machte einen Eindruck auf mein Herz.

In allem, was sich auf mein zarteres Gefühl, wie es genannt wird, bezog, war ich ein verschlossenes Wesen. Der Einfluss, den Männer auf Frauen haben, nur weil sie Männer sind, war mir wirklich und wahrhaftig ein Geheimnis. Ich schämte mich meiner eigenen Kälte – ich versuchte, ja ich versuchte es ehrlich, anderen Mädchen nachzuahmen, und mein Herz in der Gegenwart des einen auserwählten Mannes schlagen zu fühlen. Es war unmöglich. Wenn ein Mann mir die Hand drückte, fühlte ich es in meinen Ringen, nicht in meinem Herzen.

Nachdem ich diese Geständnisse gemacht habe, bin ich mit der Vergangenheit fertig und kann nun die Ereignisse erzählen, von denen meine Freundinnen behauptet haben, dass sie eine „anstößige Geschichte“ bildeten.



Kapiteltrenner

III.

Während der Saison waren wir in London. Eines Morgens ritt ich mit meinem Oheim wie gewöhnlich nach Hyde Park hinaus.

Der General hatte beim Heere in einem Reiterregiment gedient und sich so ausgezeichnet, dass seine Verdienste seine schnelle Beförderung zu den höheren Stellen seines Berufs rechtfertigten. Auf der Jagd war er als einer der verwegensten und tüchtigsten Reiter der Umgegend bekannt. Es machte ihm immer Vergnügen, junge und mutige Pferde zu reiten und dieser Gewohnheit blieb er auch in seinem späteren Leben treu, als er den aktiven Dienst bereits verlassen hatte. Niemals war ihm ein Unfall zugestoßen, der erwähnenswert gewesen wäre, bis an jenem unglücklichen Morgen, an dem er mit mir hinausritt.

Sein Pferd, ein feuriger Fuchs, ging mit ihm durch nach jener Gegend der Parkpromenade, die Row genannt wird. In der Absicht, von anderen Reitern fern zu bleiben, gab er seinem Durchgänger die Sporen nach dem Geländer zu, welches den Korso von dem grasreichen Gehege an seiner Seite trennte. Das erschreckte Tier bog beim Anlauf zur Seite ab und schleuderte seinen Reiter gegen einen Baum.

Mein Oheim war furchtbar erschüttert und auch verletzt, aber seine kräftige Konstitution führte zuletzt seine Wiederherstellung herbei, und es blieb nur das eine Bein gelähmt, ein Leide, das sich indessen als unheilbar erweisen sollte.

Die Ärzte vereinigten sich, als sie ihren Patienten entließen, in der Ermahnung, dass er bei seinem Alter doch ja keine widerspenstigen Pferde mehr reite, sondern stets seines geschwächten Beines eingedenk sei. „Ein ruhiges Pferdchen, Herr General“, brachten sie alle in Vorschlag. Mein Oheim war empfindlich gedemütigt und verletzt. „Wenn ich für nichts mehr als für ein ruhiges Pferdchen tauglich bin“, sagte er bitter, „so will ich lieber gar nicht mehr reiten.“ Er hielt Wort. Niemand sah den General jemals wieder zu Pferde.

Da meine Tante keine Reiterin war, so hätte ich unter diesen traurigen Umständen offenbar keine andere Wahl gehabt, als das Reiten ebenfalls aufzugeben. Aber mein gütiger Oheim war nicht der Mann, mich seinem eigenen Missgeschicke zu opfern. Sein Reitknecht war einer seiner Burschen beim Reiterregiment gewesen – ein sonderbarer, mürrischer, alter Mann und durchaus keine Persönlichkeit, eine junge Dame zu begleiten, die ihre Reitübungen allein machte. „Wir müssen einen aufgeweckten Burschen auftreiben, auf den man sich verlassen kann“, sagte der General. „Ich werde im Klub nachfragen.“

Eine Woche später suchte eine Schar von Bewerbern, die von Freunden empfohlen worden waren, um die zu besetzende Stelle nach.

Der General fand aber unüberwindliche Bedenken bei jedem von ihnen. „Ich will euch sagen, was ich getan habe“, erklärte er eines Tages mit der Miene eines Mannes, dem eine große Entdeckung gelungen ist, „ich habe in den Zeitungen annonciert.“ Frau Claudia blickte mit dem ihr eigenen sanften Lächeln von ihrer Stickerei auf. „Ich habe es nicht gern, wegen eines Dieners zu annoncieren“, sagte sie. „Du bist einem Fremden preisgegeben und weißt nicht, ob du nicht einen Trunkenbold oder einen Dieb in den Dienst nimmst.“

„Oder ob du nicht von einem schlechten Charakter betrogen wirst“, fügte ich von meiner Seite hinzu. Ich wagte es selten, bei häuslichen Beratungen meine Meinung unaufgefordert zu sagen, - aber die Annahme eines neuen Reitknechtes war eine Sache, an der ich ein starkes persönliches Interesse hatte. In einem gewissen Sinne sollte er ja mein Diener sein.

„Ich bin euch beiden sehr verbunden für den Wink, dass ich so leicht zu täuschen bin“, bemerkte spöttisch der General. „Unglücklicherweise ist das Unheil geschehen. Drei Männer haben meine Annonce schon beantwortet. Ich erwarte sie morgen hier, um sie für die Stelle zu prüfen.“

Frau Claudia sah wieder von ihrer Stickerei auf. „Bist du willens, dies selbst zu tun?“ fragte sie sanft. „Ich dachte, der Verwalter -“

„Ich habe mich bisher für einen besseren Beurteiler eines Reitknechtes gehalten als meinen Verwalter“, fiel ihr der General in die Rede. „Bekümmert euch indessen nicht; ich will nach dem Winke, den ihr mir gegeben habt, nicht auf meine eigene Verantwortlichkeit allein handeln. Du und Minna sollt beide mir euren schätzbaren Beistand gewähren und ermitteln, ob sie Diebe und Trunkenbolde, oder ob sie es nicht sind, ehe ich noch selbst den geringsten Argwohn hege.“



Kapiteltrenner

IV.

Wir vermuteten natürlich, dass der General scherze. Nein. Dies war eine von jenen seltenen Gelegenheiten, bei denen Frau Claudias Takt – der in Sachen von Wichtigkeit unfehlbar war – in einer Kleinigkeit versagte. Der Stolz meines Oheims war an einer empfindlichen Stelle berührt worden und er war entschlossen, uns dies fühlen zu lassen. Am nächsten Morgen kam uns eine höfliche Aufforderung zu, in der Bibliothek zur Besichtigung der Bewerber anwesend zu sein. Meine Tante, die zwar immer mit ihrem Lächeln bereit, aber selten versucht war, laut aufzulachen, lachte diesmal doch recht herzlich. „Es ist wirklich zu lächerlich“, sagte sie. Indessen verfolgte sie doch ihre gewohnte Politik, zuerst immer nachzugeben. Wir gingen zusammen zur Bibliothek. Die drei Bewerber wurden in der Reihenfolge vorgelassen, in der sie sich zur Probe angemeldet hatten. Zwei von ihnen trugen das unvertilgbare Kennzeichen des Wirtshauses so deutlich in ihrem gemeinen Gesicht, dass ich selbst es sehen konnte. Mein Oheim bat uns spöttisch, ihn mit unserer Meinung zu beehren. Frau Claudia antwortete mit ihrem süßesten Lächeln: „Verzeihe, General – wir sind hier, um zu lernen.“ Die Worte waren nichts, aber die Art und Weise, in der sie gesprochen wurden, war vorzüglich. Nur wenige Männer hätten dieser feinen Beeinflussung widerstehen können – und der General war keiner von diesen wenigen. Er strich seinen Schnurrbart und kehrte zu seinem Weiberregiment zurück. Die beiden Bewerber wurden entlassen.

Der Eintritt des dritten und letzten Mannes aber überraschte mich vollständig.

Wenn der kurze Rock und die engen Hosen des Fremden seinen Beruf nicht verraten hätten, so würde ich es für ausgemacht gehalten haben, dass irgend ein Irrtum vorliege und dass wir mit dem Besuche eines uns unbekannten Herrn beehrt würden. Seine Gesichtsfarbe hielt die Mitte zwischen hell und dunkel; er hatte offenblickende, blaue Augen; er war ruhig und klug, wenn dem äußeren Scheine zu trauen war, gewandt in seinen Bewegungen, höflich in seinem Benehmen, aber vollkommen frei von Unterwürfigkeit. „Höre einmal!“ platzte der General heraus, sich vertraulich an meine Tante wendend, „der sieht aus, als wenn er passte; meinst du nicht auch?“

Die Erscheinung des jungen Mannes schien auf Frau Claudia dieselbe Wirkung wie auf mich gemacht zu haben, aber sie überwand ihr erstes Gefühl der Überraschung eher als ich. „Du weißt es am besten“, antwortete sie mit der Miene einer Frau, die nicht gern sich damit quälen will, ein bestimmtes Urteil abzugeben.

„Treten Sie näher, junger Mann“, sagte der General. Der Bewerber verließ seinen Platz an der Tür, verneigte sich und blieb am unteren Ende des Tisches stehen, während mein Oheim am Kopfende und meine Tante und ich selbst an beiden Seiten desselben saßen. Die unvermeidlichen Fragen begannen.

„Wie ist Ihr Name?“

„Michael Bloomfield.“

„Ihr Alter?“

„Sechsundzwanzig Jahre.“

Das mangelnde Interesse meiner Tante an diesm Vorgang äußerte sich in einem schwachen Seufzer. Sie lehnte sich mit Ergebung in ihren Stuhl zurück.

Der General fuhr in seinen fragen fort: „Welche Erfahrung haben Sie bereits in Ihrem Dienst?“

„Ich begann meine Lehrzeit, gnädiger Herr, ehe ich noch zwölf Jahre alt war.“

„Ja! Ja! Ich meine, in welchen Familien Sie bereits gedient haben.“

„In zwei Familien, gnädiger Herr.“

„Wie lange sind Sie in Ihren beiden Stellungen gewesen?“

„Vier Jahre in der ersten und drei Jahre in der zweiten.“

Der Blick des Generals drückte angenehme Überraschung aus. „Sieben Jahre in nur zwei Stellungen, das ist ein gutes Zeichen“, erwiderte er. „Was haben Sie für Zeugnisse?“

Der Reitknecht legte zwei Papiere auf den Tisch.

„Ich nehme keine geschriebenen Zeugnisse“, sagte der General.

„Bitte, gnädiger Herr, lesen Sie meine Papiere“, entgegnete der Reitknecht.

Mein Oheim blickte scharf nach ihm über den Tisch. Der Reitknecht hielt den Blick unter ehrerbietiger, aber unerschütterlicher Gemütsruhe aus. Der General ergriff die Papiere und schien, als er sie las, abermals einen günstigen Eindruck zu erhalten. „Persönliche Auskünfte in jedem Fall, wenn nötig, zur Ergänzung der angelegentlichen Empfehlung von seinen beiden Dienstherren“, belehrte er meine Tante. „Schreibe die Adresse ab, Minna. Sehr befriedigend muss ich sagen. Meinst du nicht auch?“ fuhr er fort, sich wieder an meine Tante wendend.

Frau Claudia antwortete mit einer artigen Verneigung des Kopfes. Der General fuhr in seinen Fragen fort. Sie bezogen sich auf die Behandlung der Pferde und wurden zu seiner vollständigen Zufriedenheit beantwortet.

„Michael Bloomfield, Sie kennen Ihr Geschäft“, sagte er, „und Sie haben ein gutes Zeugnis. Lassen Sie mir Ihre Adresse. Wenn ich persönliche Erkundigungen eingezogen habe, sollen Sie weiter von mir hören.“

Der Reitknecht nahm eine unbeschriebene Karte aus der Tasche und schrieb Namen und Adresse darauf. Ich blickte über meines Oheims Schulter, als er die Karte empfing. Eine neue Überraschung! Die Handschrift war einfach untadelhaft – die Zeilen bildeten eine vollständig gerade Linie und jeder Buchstabe war von vollendeter Form. Als dieser Mann, der uns beinahe in Verlegenheit setzte, seine bescheidene Verbeugung machte und sich zurückzog, rief ihn der General, von einem plötzlichen Gedanken erfasst, von der Tür wieder zurück.

„Noch etwas“, sagte mein Oheim. „Was Freunde und Gesellschafter anlangt – ich betrachte es meinen Bediensteten gegenüber als Pflicht, ihnen zu erlauben, dass sie zuweilen ihre Verwandten sehen; dagegen erwarte ich, dass sie sich ihrerseits gewissen Bedingungen fügen -“

„Verzeihung, gnädiger Herr“, fiel der Reitknecht ein, „ich werde Ihnen deshalb keinen Verdruss bereiten, ich habe keine Verwandten.“

„Keine Brüder oder Schwestern?“ fragte der General.

„Keine, gnädiger Herr!“

„Mutter und Vater beide tot?“

„Ich weiß es nicht, gnädiger Herr.“

„Sie wissen es nicht? Was soll das heißen?“

„Ich sage Ihnen die reine Wahrheit, gnädiger Herr. Ich erfuhr niemals, wer mein Vater und meine Mutter waren und erwarte auch nicht, es jetzt zu erfahren.“

Mit bitterer Fassung sagte er diese Worte, die einen schmerzlichen Eindruck auf mich machten. Frau Claudia war weit davon entfernt, zu fühlen, was ich fühlte. Ihr schwaches Interesse an der Anstellung des Mannes schien völlig erschöpft zu sein. Sie erhob sich in ihrer ruhigen, anmutigen Weise und blickte zum Fenster hinaus in den Hof und nach dem Springbrunnen, nach dem Haushunde in der Hütte und nach dem Blumenkästchen in dem Fenster des Kutschers.

Unterdessen blieb der Reitknecht in der Nähe des Tisches und wartete ehrerbietig auf seine Entlassung. Der General sprach zum erstenmal scharf. Ich konnte sehen, dass mein guter Oheim den harten Ton, mit dem er flüchtig seine Eltern erwähnte, bemerkt und darüber so wie ich nachgedacht hatte.

„Noch ein Wort, ehe Sie gehen“, sagte er. „Wenn ich Sie nicht gefühlvoller gegen meine Pferde gestimmt finde, als Sie es gegen Vater und Mutter zu sein scheinen, so werden Sie nicht lange in meinem Dienste bleiben. Sie mögen mir gesagt haben, dass Sie niemals erfahren hätten, wer Ihre Eltern seien, aber sprechen Sie nicht so, als wenn Ihnen nichts daran liege, es zu erfahren.“

„Darf ich mir die Freiheit nehmen, ein Wort zu meiner Verteidigung zu sagen, gnädiger Herr?“

Er stellte die Frage sehr ruhig, aber zu gleicher Zeit so entschieden, dass er selbst meine Tante überraschte. Sie blickte vom Fenster aus um sich, drehte sich alsdann wieder um und streckte die Hand nach dem Vorhange aus, indem sie nach meiner Vermutung beabsichtigte, ihn in anderer Weise zu ordnen. Der Reitknecht fuhr fort:

„Darf ich fragen, gnädiger Herr, warum ich mich um einen Vater und eine Mutter kümmern soll, die mich verließen? - Geben Sie acht, was Sie tun wollen, gnädige Frau!“ rief er, plötzlich meine Tante anredend. „Da ist eine Katze in den Falten dieses Vorhanges; die könnte Sie erschrecken.“

Er hatte kaum die Worte gesprochen, als des Hausherrn große, gestreifte Katze, die in einer Schleifenfalte des Vorhanges ihre Mittagsruhe hielt, heraussprang und nach der Tür lief.

Frau Claudia war, wie natürlich, ein wenig in Verlegenheit bei der Wahrnehmung des Mannes, dass ein Tier vollständig in dem Vorhange verborgen sei. Sie schien der Meinung zu sein, dass jemand, der nur Reitknecht sei, sich unschicklich benommen habe, als er es wagte, sie in Verlegenheit zu setzen. Gerade so wie ihr Gemahl sprach sie nun auch schärfer mit Michael.

„Sahen Sie die Katze?“ fragte sie.

„Nein, gnädige Frau.“

„Wie konnten Sie dann wissen, dass das Tier im Vorhange war?“

Zum erstenmal, seitdem er das Zimmer betreten hatte, schien Michael ein wenig in Verlegenheit zu sein. „Es ist eine Art Anmaßung von einem Manne in meiner Stellung, einer nervösen Schwäche unterworfen zu sein“, antwortete er. „Ich bin einer von denjenigen (Sie wissen ja, gnädige Frau, die Schwäche ist nicht selten), die durch ihre eigenen unangenehmen Empfindungen wissen, wenn eine Katze im Zimmer ist. Es geht bei mir noch ein wenig weiter. Die 'Antipathie', wie die Vornehmen es nennen, sagt mir sogar, in welchem Teile des Zimmers die Katze ist.“

Meine Tante wandte sich zu ihrem Gemahl, ohne dass sie zu verbergen suchte, dass sie keinerlei Interesse an den Antipathien des Reitknechtes habe.

„Bist du mit dem Manne noch nicht fertig?“ fragte sie.

Der General entließ den Reitknecht. „Sie sollen innerhalb drei Tagen von mir hören. Guten Morgen!“

Michael Bloomfield schien das unfreundliche Benehmen meiner Tante bemerkt zu haben. Ehe er das Zimmer verließ, warf er ihr einen feinen aufmerksamen, scharfen Blick zu.



Kapiteltrenner

V.

„Du gedenkst wohl nicht den Mann anzunehmen?“ sagte frau Claudia, als die Tür sich schloss.

„Warum nicht?“ fragte mein Oheim.

„Ich habe eine Abneigung gegen ihn gefasst.“

Diese kurze Antwort widersprach so vollständig dem Charakter meiner Tante, dass der General sie freundlich bei der Hand nahm und sagte:

„Ich fürchte, dass du nicht wohl bist.“

Sie zog gereizt ihre Hand zurück.

„Ich fühle mich nicht wohl, aber es hat nichts zu sagen.“

„Es hat etwas zu sagen, Claudia. Was kann ich für dich tun?“

„Schreibe dem Manne“ - sie unterbrach sich und lächelte verächtlich. „Denke dir einen Reitknecht, der Widerwillen gegen Katzen hat!“ sagte sie, sich an mich wendend. „Ich weiß nicht, was du darüber denkst, Minna. Aber ich selbst habe ein ernstes Bedenken gegen Dienstboten, die sich über ihre Stellung im Leben erheben.“

„Schreibe“, wiederholte sie, sich an ihren Gemahl wendend, „und sage ihm, dass er sich um eine andere Stelle umsehen möge.“

„Welches Bedenken kann ich ihm gegenüber geltend machen?“ fragte der General verlegen.

„Guter Himmel! Kannst du keine Entschuldigung finden? Sage ihm doch, dass er zu jung sei.“

Mein Oheim blickte in bedeutsamem Schweigen nach mir – schritt langsam zum Schreibtische – und warf einen Blick auf seine Frau in der schwachen Hoffnung, dass sie noch ihre Meinung ändern möchte. Ihre Augen begegneten sich – und sie schien die Herrschaft über ihr Gemüt wiederzuerlangen. Sie legte schmeichelnd die Hand auf die Schulter des Generals.

„Ich erinnere mich der Zeit“, sagte sie sanft, „da eine Laune von mir dir ein Befehl war. Ach, ich war damals noch jünger!“

Durchaus bezeichnend für ihn. Er küsste zuerst die Hand seiner Frau und alsdann schrieb den Brief. Meine Tante belohnte ihn mit einem Blicke und verließ die Bibliothek.

„Was zum Henker ist mit ihr los?“ sagte mein Oheim zu mir, als wir allein waren. „Missfällt dir der Mann auch?“

„Gewiss nicht. Soweit ich es beurteilen kann, scheint er mir gerade der Mann zu sein, den wir brauchen.“

„Und er versteht sich gründlich auf die Behandlung von Pferden, meine Liebe. Was mag nur deine Tante gegen ihn einzuwenden haben?“

Als diese Worte über seine Lippen kamen, öffnete Frau Claudia die Tür der Bibliothek.

„Ich schäme mich über mich selbst“, sagte sie zärtlich. „in meinem Alter habe ich mich noch wie ein verwöhntes Kind betragen. Wie gut bist du gegen mich! Lass mich versuchen, mein schlechtes Verhalten wieder gut zu machen. Willst du mir erlauben?“

Damit ergriff sie den Brief des Generals, ohne auf eine Erlaubnis zu warten, zerriss ihn, freundlich lächelnd, in Stücke, und warf die Fetzen in den Papierkorb. „Als wenn du es nicht besser verstündest als ich!“ sagte sie, indem sie ihn auf die Stirn küsste. „Nimm den Mann doch ja in Dienst.“

Sie verließ das Zimmer zum zweiten Mal. Zum zweiten Mal blickte mein Oheim in vollständiger Fassungslosigkeit nach mir – und ich nach ihm in derselben Stimmung. Der Ton der Frühstücksglocke brachte uns beiden die gleiche Erleichterung. Nicht ein Wort wurde mehr von dem neuen Reitknechte gesprochen. Seine Zeugnisse wurden durch die eingeholte Auskunft bestätigt, und nach drei Tagen trat er in den Dienst des Generals ein.



Kapiteltrenner

VI.

Immer besorgt um das, was meine Wohlfahrt anging, wie geringfügig es auch immer sein mochte, vertraute mich mein Oheim dem neuen Reitknechte nicht allein an, als er zuerst in unseren Dienst trat. Zwei alte Freunde des Generals begleiteten mich auf sein besonderes Ersuchen und berichteten, dass der Mann durchaus geeignet und verrtauenswürdig sei. Hiernach ritt Michael allein mit mir aus, da den mir befreundeten jungen Damen selten darum zu tun war, mich zu begleiten, wenn ich den Park mit den stillen Landstraßen im Norden und Westen von London vertauschte. War es unrecht onv mir, mit ihm auf diesen Ausflügen zu plaudern? Es hieße sicherlich einen Menschen wie das Vieh behandeln, wenn ich niemals die geringste Notiz von ihm genommen hätte – zumal da sein Verhalten ausnahmslos ehrerbietig gegen mich war. Nicht ein einziges Mal nahm er sich durch Worte oder durch Blicke in der Stellung etwas heraus, die meine Gunst ihn einnehmen ließ.

Muss ich erröten, wenn ich bekenne, dass er mich interessierte, obgleich er nur ein Reitknecht war?

Zunächst lag etwas Romanhaftes gerade in dem unbeschriebenen Blatte seiner Lebensgeschichte.

Er war in seiner Kindheit in den Stallungen eines vornehmen Mannes zurückgelassen worden, der in Kent, in der Nähe der Landstraße zwischen Gravesend und Rochester lebte. Am selben Tage war der Stalljunge einer Frau begegnet, die, von dem Hunde verfolgt, eben aus dem Hofe eilte. Sie war eine Fremde und nicht gut gekleidet. Während der Stalljunge sie in Schutz nahm, indem er den Hund an die Hütte anband, war sie rasch genug, um sich der Verfolgung zu entziehen.

Es ergab sich bei der Untersuchung, dass der Anzug des Kindes aus der feinsten Leinwand gefertigt war. Es war in einen schönen Schal warm eingehüllt, der ausländisches Fabrikat zu sein schien, welches allen Anwesenden, selbst dem Herrn und der Frau vom Hause, ganz unbekannt war. In den Falten des Schals fand man einen offenen Brief ohne Datum und Unterschrift und ohne Adresse, welche die Frau vermutlich vergessen hatte.

Gleichwie der Schal, so war auch das Papier ein ausländisches Fabrikat. Die Handschrift zeigte einen scharf ausgeprägten Charakter, und die Schreibart des Briefes ließ deutlich die Fehler einer Person wahrnehmen, die die englische Sprache nicht genügend kannte. Nachdem in dem Briefe die für den Lebensunterhalt des Kindes bereitgestellten Mittel erwähnt worden waren, meldete er, dass der Schendende die Torheit begangen hatte, die Summe von hundert Pfund in einer Banknote beizufügen, „um die Kosten zu bestreiten.“ In einer Nachschrift wurde sodann noch Verabredung für eine nach sechs Monaten an der östlichen Seite von London Bridge stattfindende Zusammenkunft getroffen. Des Stalljungen Beschreibung von der Frau, die an ihm vorübergegangen war, zeigte, dass diese der geringsten Klasse angehörte. Einer solchen Person würden hundert Pfund schon ein Vermögen sein. Sie hätte ohne Zweifel das Kind preisgegeben und mit dem Gelde sich aus dem Staube gemacht. Niemals wurde eine Spur von ihr entdeckt.

An dem für die Zusammenkunft verabredeten Tage bewachte die Polizei die östliche Seite von London Bridge, jedoch ohne irgendein Ergebnis.

Durch die Güte des Herrn, in dessen Stall der Knabe aufgefunden worden war, verlebte dieser die ersten zehn Jahre seines Lebens unter Obhut einer milden Stiftung. Man gab ihm den Namen eines der kleinen Insassen, welcher gestorben war, und sandte ihn dann in fremden Dienst hinaus, ehe er noch elf Jahre alt war. Er wurde streng behandelt und lief weg; er warnderte zu einigen Rennställen in der Nähe von Newmarket, fesselte die Aufmerksamkeit des Stallmeisters zu seinen Gunsten, wurde zu den anderen Burschen in Dienst genommen und fand an der Beschäftigung Gefallen. Als er zum Manne herangewachsen war, hatte er als Reitknecht in einzelnen Familien gedient. Dies war die Geschichte der sechsundzwanzig Lebensjahre Michaels.

Aber es lag auch etwas in dem Manne selbst, das die Aufmerksamkeit auf ihn zog und an ihn denken ließ, auch wenn man ihn nicht sah.

Ich will damit sagen, dass er eine Kraft in sich hatte, sein Geschick zu ertragen, wie sie sehr selten bei dienenden Menschen seines Standes gefunden wird. Ich erinnere mich, dass ich den General „bei einer der regelmäßig vorgenommenen Stallvisitationen“ begleitete. Er war so wohl befriedigt, dass er seine Untersuchungen auch auf das eigene Zimmer des Reitknechtes auszudehnen erklärte.

„Wenn Sie nichts dagegen einzuwenden haben, Michael?“ fügte er in seiner gewohnten Rücksichtsnahme auf das Ehrgefühl seiner Bediensteten hinzu. Michael verfärbte sich ein wenig; er blickte nach mir. „Ich fürchte, die jugne Dame wird mein Zimmer nicht ganz so nett finden, wie dies sein sollte“, sagte er, als er uns die Tür öffnete.

Die einzige Unordnung in dem Zimmer des Burschen war aber zu unserer Überraschung durch seine Bücher und Papiere hervorgebracht.

Wohlfeile Ausgaben englischer Dichter, Übersetzungen lateinischer und griechischer Klassiker, Lehrbücher zuer Erlernung des Französischen und des Deutschen „ohne Lehrer“, sorgfältig geschriebene „Übungen“ in dieser Kunst waren rings um die Studierlampe in der Mitte des Tisches ausgebreitet, was deutlich für seine nächtlichen Studien sprach. „Ei, was bedeutet das alles?“ rief der General. „Haben Sie die Absicht, Michael, uns zu verlassen und eine Schule zu errichten?“

Michael antwortete mit trauriger, unterwürfiger Stimme: „Ich versuche mich noch weiter auszubilden, gnädiger Herr, obgleich ich zuweilen Mut und Hoffnung verliere.“

„Worauf Hoffnung?“ fragte mein Oheim. „Sind Sie nicht zufrieden, Diener zu sein? Müssen Sie in der Welt emporkommen, wie man zu sagen pflegt?“

Der Reitknecht erschrak ein wenig bei dieser unerwarteten Frage. „Wenn ich Verwandte hätte, die sich auf dem schweren Lebenswege um mich kümmerten und mir hülfen“, sagte er, „so könnte ich, gnädiger Herr, zufrieden sein, zu bleiben, was ich bin; aber so, wie es jetzt ist, habe ich niemand, an den ich denken könnte, außer mir selbst – und ich bin töricht genug, zuweilen über mich hinauszublicken.“

Bis dahin hatte ich Schweigen beobachtet, aber ich konnte mich nicht länger enthalten, ihm ein Wort der Ermutigung zu sagen, da sein Geständnis so wehmütig und geduldig gemacht worden war. „Sie sprechen zu strenge von sich selbst“, sagte ich; „die besten und größten Männer haben gleich wie Sie damit angefangen, über sich hinauszublicken.“

Für einen Augenblick begegneten sich unsere Blicke. Ich bewunderte den armen, verlassenen Burschen, der so bescheiden und rechtschaffen versuchte, sich auszubilden – und ich machte mir nichts daraus, dies zu verbergen. Er blickte zuerst von mir weg; irgendeine unterdrückte Gemütsbewegung ließ ihn tödlich erblassen. War ich die Ursache davon? Ich fühlte mich erzittern, als sich mir diese kühne Frage aufdrängte. Der General lenkte mit einem scharfen Blicke nach mir das Gespräch – nach meiner Meinung nicht sehr zartfühlend – auf das Missgeschick bei Michaels Geburt hin.

„Ich habe gehört, dass Sie in Ihrer Kindheit von einer unbekannten Frau im Stiche gelassen worden sind“, sagte er. „Was ist aus den Sachen geworden, in die Sie eingehüllt waren, und aus dem Briefe, der bei Ihnen gefunden wurde? Diese Gegenstände könnten jetzt zu einer Entdeckung führen.“ Der Bursche lächelte.

„Der letzte Herr, bei dem ich diente, dachte gerade so wie Sie, gnädiger Herr. Er war so gütig, an den Herrn zu schreiben, dem zuerst die Sorge um mich oblag – und daraufhin wurden mir die Sache geschickt.“

Er ergriff eine unverschlossene Ledertasche, die sich öffnete, wenn man einen Messinknopf berührte, und zeigte uns den Schal, das Leinenzeug, von der Zeit arg mitgenommen, und den Brief. Wir waren betroffen, als wir den Schal erblickten. Mein Oheim, der im Orient gedient hatte, meinte, er sähe wie eine sehr seltene Art persischer Arbeit aus. Wir besichtigten mit Interesse den Brief und die feine Wäsche. Als Michael, während wir ihm die Gegenstände zurückgaben, ruhig bemerkte: „Sie enthalten das Geheimnis, wie Sie sehen“, konnten wir nur einander ansehen und gestehen, dass weiter nichts zu sagen sei.



Kapiteltrenner

VII.

In der darauffolgenden Nacht floh mich der Schlaf und ich dachte über das Erlebte nach. Dabei machte ich die Entdeckung, dass eine große Veränderung mit mir vorgegangen sei. Ich fühlte mich wie neugeboren.

Noch niemals war mein Leben der Freude so zugänglich gewesen wie jetzt. Ich war mir einer köstlichen Sinnesfreudigkeit bewusst. Die einfachsten Dinge ergötzten mich; ich war bereit, gegen jedermann freundlich zu sein und alles zu bewundern. Selbst das gewöhnliche Schauspiel meines Ausreitens in den Park enthüllte Schönheiten, die ich vorher niemals wahrgenommen hatte. Der Zauber der Musik rührte mich zu Tränen. Ich war vollständig in meine Hunde und meine Vögel verliebt – und was meine Zofe betraf, so verwirrte ich diese durch Geschenke und gab ihr Ausgehtage, noch ehe sie um solche bitten konnte. In körperlicher Hinsicht fühlte ich außerordentlich erhöhte Kraft und Tätigkeit. Dem lieben alten General gegenüber war ich ein Wildfang und küsste wirklich eines Morgens Frau Claudia, anstatt mich, wie gewöhnlich, von ihr küssen zu lassen. Meine Freundinnen gewahrten diese Äußerungen von Fröhlichkeit und Leben bei mir – und wollten gern wissen, wodurch dies hervorgebracht worden sei. Ich kann aufrichtig sagen, dass ich es auch gerne wissen mochte! Erst in jener schlaflosen Nacht, die unserm Besuche in Michaels Zimmer folgte, gelangte ich zu einem klaren Verständnis meiner selbst. Der nächste Morgen vervollständigte die Aufklärung. Ich unternahm meinen gewöhnlichen Spazierritt. Als ich in den Sattel stieg und Michael mir hierbei behilflich war, überströmte mich ein Gefühl des Glückes wie Feuersglut, und ich wusste nun, wer mich von dem Augenblick an in ein neues Wesen umgewandelt hatte.

Das erste Gefühl der Verwirrung, das mich überwältigte, zu beschreiben, wäre ich unfähig, auch wenn ich geübter im Schreiben wäre.

Ich zog meinen Schleier nieder und ritt in einer Art Verzückung weiter. Zu meinem Glücke lag unser Wohnhaus am Park, und ich hatte nur über die Landstraße zu reiten. Im anderen Fall würde mir, wenn ich durch die Straßen geritten wäre, ohne Zweifel ein Unfall zugestoßen sein. An diesem Tage wusste ich nicht, wohin ich ritt. Das Pferd ging ruhig seinen eigenen Weg – und der Reitknecht folgte mir.

Der Reitknecht! Gibt es ein menschliches Wesen, das von gehässigem, unchristlichen Ahnenstolze so frei ist, wie ein Weib, das zum erstenmal im Leben von ganzem Herzen und von ganzer Seele liebt? Ich sage nur die Wahrheit – in welch ungünstiges Licht dies mich auch stellen mag – wenn ich offen gestehe, dass meine Verwirrung nur eine Folge der Entdeckung meiner Liebe war. Aber ich schämte mich nicht, dass ich Michael liebte. Dem Manne hatte ich mein Herz gegeben; was lag an seiner zufälligen Stellung? Wenn ein anderer Zufall seine Tasche mit Geld füllte und einen Titel vor seinen Namen setzte, würde er in Sprache, Sitte und Talent ein vornehmer, seines Reichtums und seines Ranges würdiger Mann sein.

Selbst die so natürliche Besorgnis, was meine Verwandten und Freundinnen sagen möchten, wenn sie mein Geheimnis erführen, schien mir ein so unwürdiges Gefühl zu sein, dass ich herumblickte und ihm zurief, mit mir zu sprechen, und dass ich Fragen über ihn selbst an ihn richtete, die ihn zwangen, beinahe an meiner Seite zu sein. Ach, wie freute mich die Ehrerbietung und das feine Benehmen, als er mir antwortete! Er wagte es kaum, die Augen zu mir zu erheben, wenn ich nach ihm blickte. In das von mir selbst geschaffene Paradies versunken, ritt ich langsam weiter und wurde erst gewahr, dass Freundinnen an mir vorübergeritten waren und mich erkannt hatten, als ich sah, dass Michael den Hut lüftete. Ich blickte um mich und gewahrte die Damen, die beim Vorüberreiten höhnisch lächelten. Dieser eine Umstand weckte mich aus meinem Traume. Ich ließ Michael wieder auf seinen gewöhnlichen Platz zurückgehen und beschleunigte den Gang meines Pferdes; ärgerlich über mich, ärgerlich über die Welt überhaupt – änderte ich dann plötzlich meine Stimmung, und ich war töricht und kindisch genug, mich dem Weinen nahe zu fühlen. Wie lange diese wechselnden Stimmungen währten, weiß ich nicht. Bei der Rückkunft nach Hause, ließ ich mein Pferd in den Stall laufen, ohne darauf zu warten, dass Michael mir helfe, und eilte ohne Abschiedsgruß ins Haus.



Kapiteltrenner

VIII.

Nachdem ich mein Reitkleid abgelegt und meine heiße Stirne angefeuchtet und mit Kölnischem Wasser benetzt hatte, ging ich in das Damenzimmerhinunter. Das Klavier in demselben war mein Lieblingsinstrument – und ich hatte den Einfall, zu versuchen, was Musik tun könnte, um mich zu beruhigen.

Als ich vor dem Klavier saß, hörte ich das Öffnen der Tür des Frühstückszimmers, das von mir nur durch einen gehängten Bogengang getrennt war, und zugleich Frau Claudias Stimme, welche fragte, ob Michael zum Stall zurückgekehrt sei.

Als der Diener dies bejahte, befahl sie, ihn sogleich zu ihr zu schicken. Ohne Zweifel musste ich entweder das Zimmer verlassen oder meiner Tante von meiner Anwesenheit Kenntnis geben. Ich tat weder das eine noch das andere. Ihre erste Abneigung gegen Michael hatte allem Anschein nach aufgehört. Sie hatte wirklich ein- und das andere Gelegenheit genommen, freundlich mit ihm zu sprechen. Ich glaubte aber, dass dies nur von einer augenblicklichen Laune komme. Auch ließ der Ton ihrer Stimme bei dieser Gelegenheit vermuten, dass sie irgend einen boshaften Plan im Auge hatte, als sie nach Michael schickte. Ich wusste, dass es meiner unwürdig war – und doch wartete ich absichtlich, um zu hören, was zwischen ihnen vorgehe.

Frau Claudia begann.

„Sie sind heute mit Fräulein Minna ausgeritten?“

„Ja, gnädige Frau.“

„Wenden Sie sich gegen das Licht. Ich wünsche die Leute zu sehen, wenn ich mit ihnen spreche. Sie wurden von einigen meiner Freundinnen beobachtet; Ihr Verhalten gab zu Bemerkungen Anlass. Kennen Sie die Obliegenheiten eines Reitknechts Damen gegenüber?“

„Ich habe hierin eine siebenjährige Erfahrung, gnädige Frau.“

„Ihr Pflicht ist es, in einer bestimmten Entfernung hinter Ihrer Herrin zu reiten. Hat Ihre Erfahrung Sie dies gelehrt?“

„Ja, gnädige Frau.“

„Sie ritten aber nicht hinter Fräulein Minna – Ihr Pferd war beinahe an der Seite Ihrer Herrin. Leugnen Sie dies?“

„Nein, gnädige Frau.“

„Sie benahmen sich mit der größten Unschicklichkeit, denn Sie wurden gesehen, wie Sie mit Fräulein Minna plauderten. Leugnen Sie dies?“

„Nein, gnädige Frau.“

„Verlassen Sie das Zimmer. Nein! Kommen Sie her. Haben Sie irgendeine Entschuldigung vorzubringen?“

„Keine, gnädige Frau.“

„Ihre Unverschämtheit ist unerträglich! Ich werde mit meinem Gemahl sprechen.“

Das Geräusch einer sich schließenden Tür folgte diesen Worten.

Ich wusste nun, was das Lächeln auf den falschen Gesichtern dieser Freundinnen zu bedeuten hatte, die mir im Park begegnet waren. Ein gewöhnlicher Mann würde an Michaels Stelle meine eigene Aufmunterung als ausreichende Entschuldigung vorgebracht haben. Er aber hatte mit dem angeborenen Zartgefühl und der Verschwiegenheit des gebildeten Mannes die ganze Schuld auf sich genommen. Unwillig und beschämt ging ich nach dem Frühstückszimmer, fest entschlossen, ihn augenblicklich zu rechtfertigen.

Als ich den Vorhang beiseite zog, wurdeich durch einen Laut erschreckt, der von einer schluchzenden Frau herzurühren schien. Ich blickte vorsichtig hinein. Frau Claudia lag auf dem Sofa ausgestreckt, verbarg ihr Gesicht mit den Händen und vergoss leidenschaftlich Tränen.

Ich zog mich in großer Verwirrung zurück. Die außergewöhnlichen Widersprüche in dem Benehmen meiner Tante waren noch nicht zu Ende. Später am Tage ging ich zu meinem Oheim, entschlossen, Michael bei ihm zu rechtfertigen und ihm anheimzustellen, mit Frau Claudia zu sprechen. Der General war sehr missmutig; er schüttelte bedenklich den Kopf, als ich Michaels Namen erwähnte. „Ich möchte behaupten, dass der Mann es nicht böse gemeint hat, aber der Vorfall hat die Aufmerksamkeit anderer auf sich gezogen. Ich kann dich nicht zu einem Gegenstande des Skandals werden lassen, Minna. Meine Frau betrachtet es als eine Ehrensache – Michael muss gehen.“

„Du willst doch nicht sagen, dass sie darauf bestanden hat, Michael wegzuschicken?“

Ehe er mir antworten konnte, erschien ein Bedienter mit einer Meldung. „Gnädige Frau wünscht Sie zu sehen, mein Herr.“

Der General erhob sich sofort. Meine Neugier hatte jetzt alle Zurückhaltung aufgegeben. Ich war wirklich unfein genug, zu fragen, ob ich mit ihm gehen dürfe! Er starrte mich mit großen Augen an. Ich bestand auf meinem Verlangen; ich sagte, ich wünschte persönlich Frau Claudia zu sehen. Die feine Lebensart meines Oheims, die alles ziemlich genau nahm, widerstand mir noch immer. „Deine Tante könnte mich unter vier Augen zu sprechen wünschen“, entgegnete er. „Warte einen Augenblick, ich will dich dann rufen lassen.“

Ich war unfähig zu warten: meine Hartnäckigkeit hatte etwas Überraschendes. Ich glaube, der bloße Gedanke, dass Michael seine Stelle durch meine Schuld verlieren könnte, brachte mich zur Verzweiflung. „Ich will dich nicht belästigen, nochmals nach mir zu schicken“, beharrte ich, „ich will sogleich mit dir bis zur Tür gehen und dort hören, ob ich hineinkommen darf.“ Der Bediente war noch anwesend und hielt die Tür offen. Der General gab nach. Ich hielt mich so dicht hinter ihm, dass meine Tante mich sah, als ihr Gemahl das Zimmer betrat. „Komm herein, Minna“, sagte sie mit Wort und Blick der bezaubernden Frau Claudia, der Alletags-Tante. War dies die Frau, welche ich vor kaum einer Stunde auf dem Sofa ihr Herz ausweinen sah?

„Nach abermaliger Überlegung“, fuhr sie fort, sich an den General wendend, „finde ich, dass ich ein wenig voreilig gewesen bin. Verzeihe mir, dass ich dich deshalb nochmals belästige – hast du schon mit Michael gesprochen? Noch nicht? Nun, dann wollen wir Milde walten lassen und sein übles Verhalten für diesmal übersehen.“

Mein Oheim fühlte augenscheinlich eine große Erleichterung. Ich ergriff die Gelegenheit, meine Beichte abzulegen und die ganze Schuld auf mich zu nehmen. Frau Claudia unterbrach mich mit der vollendeten Liebenswürdigkeit, über die sie verfügte.

„Mein gutes Kind, mache dir keinen Kummer! Mache keine Berge aus Maulwurfshügeln!“ Sie streichelte mir mit zwei vollen, weißen Fingern, die sich tödlich kalt anfühlten, die Wange. „Ich überlegte auch nicht immer, Minna, als ich in deinem Alter war. Zudem ist deine Neugier auf ganz natürliche Weise in Betreff eines Dieners erregt, der – wie soll ich ihn doch nennen? - ein Fremdling ist.“

Sie machte eine Pause und heftete aufmerksam ihre Augen auf mich. „Was erzählte er dir?“ fragte sie. „Ist es eine recht romantische Geschichte?“

Der General fing an, sich in seinem Stuhle unruhig hin und her zu bewegen. Wenn ich meine Aufmerksamkeit auf ihn gerichtet hätte, so würde ich in seinem Gesicht eine Mahnung zu schweigen gefunden haben. Aber mein Interesse wurde in diesem Augenblicke von meiner Tante in Anspruch genommen. Von ihrem freundlichen Entgegenkommen ermutigt, argwöhnte ich nicht nur nicht die Falle, die sie mir gestellt hatte – ich war sogar bei meiner Liebe zu Michael töricht genug, zu glauben, dass ich ihn in ihrer Achtung erhöhen könnte, wenn ich ihr seine Geschichte genau so erzählte, wie ich sie schon in diesen Blättern mitgeteilt habe. Ich sprach mit Erregung. Wird man es glauben? Ihre Gemütsstimmung änderte sich wiederum. Sie geriet auf einmal, zum erstenmal in ihrem Leben, in vollen Zorn gegen mich.

„Lügen!“ rief sie. „Offenbare, unverschämte Lügen, erfunden, um an deine Teilnahme zu appellieren. Wie darfst du dich unterstehen, sie zu wiederholen? General! Wenn Minna dies nicht selbst herbeigeführt hätte, so würde die Unverschämtheit dieses Mannes es rechtfertigen, ihn augenblicklich zu entlassen. Denkst du nicht gerade so?“

Des Generals Sinn für ehrliches Vorgehen trieb ihn für diesmal dazu, sich seiner Frau offen zu widersetzen.

„Du bist ganz im Irrtum“, sagte er. „Minna und ich, wir beide haben den Schal und den Brief in unseren Händen – gehabt und – was gab es noch außerdem? - ach ja, das Leinenzeug sogar, in welches das Kind eingewickelt war.“

Was bei diesen Worten imstande war, Frau Claudias Zorn in seiner vollen Heftigkeit zu bändigen, das zu verstehen war ich ganz außer stande. Wenn ihr Gatte ihr eine Pistole an den Kopf gesetzt hätte, so hätte er sie kaum nachdrücklicher zum Schweigen bringen können. Sie schien über ihren Wutausbruch nicht erschreckt oder beschämt zu sein – sie saß untätig und sprachlos da, die Augen auf den General gerichtet und die Hände im Schoß gefaltet. Nachdem mein Oheim einen Augenblick gewartet hatte, da er, wie ich, gern wissen wollte, was dies bedeute, erhob er sich mit seiner gewohnten Ergebung und verließ sie. Ich folgte ihm. Er war ungewöhnlich still und nachdenklich; nicht ein Wort wurde zwischen uns gesprochen. Ich gewahrte nachher, dass der arme Mann zu fürchten anfing, der Verstand seiner Frau müsse in irgendeiner Weise angegriffen sein, und dass er an eine Beratung mit dem Arzte dachte, der uns in Fällen der Not beistand.

Was mich betrifft, so war ich entweder zu beschränkt, oder zu harmlos, eine bestimmte Ahnung von der Wahrheit bis jetzt zu haben. Als ich nach dem Frühstück allein im Gewächshause war, kam mein Zimmermädchen zu mir und fragte mich im Auftrage Michaels, ob ich irgendwelche Befehle für ihn am Nachmittage hätte. Ich hielt dies für ein wenig sonderbar; aber es fiel mir dann ein, dass er für sich selbst vielleicht einige Stunden nötig haben könnte.

Ich erkundigte mich daher, und zu meinem Erstaunen meldete mir das Mädchen, dass Michael für Frau Claudia selbst einen Gang zum Buchhändler machen solle, um ihm einen Brief zu übergeben und die Bücher mitzubringen, welche sie bestellt habe. Es waren drei müßige Lakaien im Hause, deren Aufgabe es war, derartige Dienste zu verrichten; warum nahm sie den Reitknecht von seiner Arbeit weg? Diese Frage erfüllte so vollständig meinen Sinn, dass ich wirklich Mut genug hatte, zu meiner Tante zu gehen. Ich sagte ihr, dass ich beabsichtigt hätte, diesen Nachmittag in meinem Ponywagen auszufahren, und ich fragte, ob sie etwas dagegen einzuwenden hätte, dass wegen ihrer Bücher an Michaels Stelle einer der drei Diener im Hause geschickt werde.

Sie empfing mich mit einem seltsamen harten Blick und antwortete mit eigensinniger, selbstbewusster Fassung: „Ich wünsche, dass Michael geht.“ Keine Erklärung folgte. Es mochte mit Recht geschehen oder nicht, es mochte mir angenehm oder nicht angenehm sein, sie wünschte, dass Michael gehe.

Ich bat um Entschuldigung, dass ich mich eingemischt hätte, und erwiderte, dass ich den Plan, an diesem Tage auszufahren, aufgeben würde. Sie machte keine weitere Bemerkung. Ich verließ das Zimmer, fest entschlossen, ihr aufzulauern. Mein Vorhaben war nicht zu rechtfertigen; es war ohne Zweifel gemein und ungeziemend. Ich wurde aber von einer inneren Gewalt fortgezogen, der zu widerstehen ich nicht einmal versuchen konnte. Ich versichere, ich bin von Natur wirklich kein gemeiner Charakter.

Zuerst dachte ich daran, mit Michael zu sprechen; nicht aus irgendeinem besonderen Beweggrunde, sondern einfach deshalb, weil ich mich zu ihm als zu dem Führer und Helfer hingezogen fühlte, auf den mein Herz in dieser Entscheidungsstunde meines Lebens vertraute. Ein wenig Überlegung machte mir indessen klar, dass ich gesehen werden konnte, wenn ich mit ihm spräche, und ihm so Nachteil bringen könnte. Während ich noch unschlüssig war, kam mir der Gedanke, dass der Beweggrund meiner Tante für Michaels Sendung der sein könnte, ihn zu entfernen.

Aus dem Hause? Nein. Sein Platz war nicht im Hause. Aus dem Stalle? Im nächsten Augenblicke blitzte der Gedanke in meinem Kopfe auf, die Stalltür zu beobachten.

Die besten Schlafzimmer, einschließlich meines Zimmers, waren alle auf der Vorderseite des Hauses. Ich ging daher in meiner Zofe Zimmer hinauf, welches auf den Hof ging, schnell mit einer Entschuldigung zur Hand, wenn sie dort anwesend sein sollte. Sie war nicht dort. Ich stellte mich an das Fenster, von wo aus ich einen ungehinderten Blick auf den gegenüberliegenden Stall hatte. Es verstrich einige Zeit – wie lange kann ich nicht sagen. Ich war zu sehr erregt, um nach der Uhr zu sehen. Alles, was ich weiß, ist, dass ich meine Tante erblickte! Sie schritt über den Hof, nachdem sie sich vergewissert hatte, dass niemand sie bemerkte, und trat in den Stall durch die Tür, die zu dem von Michael bewohnten Teil des Gebäudes führte. In diesem Augenblicke sah ich nach meiner Uhr.

Vierzig Minuten vergingen, ehe ich sie wiedererblickte. Und da zeigte sie sich, anstatt wieder in der Tür zu erscheinen, an dem Fenster in Michaels Zimmer und stieß es weit auf. Ich verbarg mich gerade noch zeitig genug hinter dem Fenstervorhange, um einer Entdeckung zu entgehen, als sie nach dem Hause aufblickte. Bald erschien sie, zurückeilend, wieder im Hofe. Ich wartete eine Weile, indem ich versuchte, mich zu beruhigen, im Falle ich jemand auf der Treppe begegnen sollte. Zu dieser Zeit war wenig Gefahr für eine solche Begegnung vorhanden. Der General war in seinem Klub und die Dienstboten bei ihrem Tee. Ich erreichte mein Zimmer, ohne von jemand gesehen zu werden, und schloss mich ein. Was hatte meine Tante vierzig Minuten lang in Michaels Zimmer getan? Und warum hatte sie das Fenster geöffnet?

Ich verschone den Leser mit meinen Betrachtungen über diese verwirrenden Fragen. Ein Kopfweh, das sich zur rechten Zeit einstellte, ersparte mir die Pein des Zusammentreffens mit Frau Claudia am Mittagstisch. Ich verbrachte eine elende, schlaflose Nacht; ich war mir bewusst, dass ich gleichsam blindlings den Weg zu einem schrecklichen Geheimnis gefunden hatte, das Einfluss auf mein zukünftiges Leben haben konnte; aber ich wusste nicht, das ich denken oder zunächst tun sollte.

Selbst jetzt schreckte ich unwillkürlich davor zurück, mit meinem Oheim zu sprechen. Dies war nicht zu verwundern. Aber es war mir auch bange, mit Michael zu sprechen – und das verwirrte und beunruhigte mich. Rücksicht auf Frau Claudia war gewiss nicht der Grund, der mich nach dem, was ich gesehen hatte, Stillschweigen beobachten ließ.

Am nächsten Morgen rechtfertigte mein bleiches Gesicht vollkommen die Behauptung, dass ich noch unwohl sei.

Meine Tante, die immer ihrer Mutterpflicht gegen mich genügte, kam selbst, um sich nach meinem Befinden zu erkundigen, ehe ich noch mein Zimmer verlassen hatte. So sicher war sie, dass sie am vorhergehenden Tag nicht beobachtet worden sei – oder so wunderbar war ihre Gewalt der Selbstbeherrschung – dass sie mir wirklich anriet, vor dem Frühstück auszureiten und zu versuchen, was frische Luft und Bewegung mir helfen könnten! Da ich fühlte, dass ich dazu kommen müsste, mit Michael zu sprechen, wurde es mir klar, dass dies der einzig sichere Weg sein würde, ihn insgeheim um Rat zu fragen. Ich nahm daher ihren Vorschlag an, und bekam mit ihren vollen, weißen Fingern noch ein freundliches Pätschchen auf die Wange. Bei deren Berührung empfand ich keine Kälte mehr; die Finger hatten ihre gewöhnliche Lebenswärme wieder angenommen, die gnädige Frau ihre Gemütsruhe wiedererlangt.



Kapiteltrenner

IX.

Ich verließ das Haus zu meinem gewöhnlichen Morgenritte. Michael war nicht in seiner gewöhnlichen Stimmung. Mit einiger Mühe brachte ich ihn dazu, mir den Grund zu sagen. Er hatte sich entschlossen, den General zu benachrichtigen, dass er seine Stelle bei ihm aufgeben wolle. Sobald ich mich einigermaßen gesammelt hatte, fragte ich ihn, was vorgefallen sei, um diesen unbegreiflichen Schritt von seiner Seite zu rechtfertigen. Er überreichte mir schweigend einen Brief. Derselbe war von dem Dienstherrn geschrieben, bei dem Michael gedient hatte, ehe er zu uns kam, und er meldete, dass ihm eine Stelle als Sekretär in dem Hause eines vornehmen Mannes angetragen werde, „der an seinen lobenswerten Bemühungen für die Verbesserung seiner Stellung herzlichen Anteil nehme.“

Was es mich kostete, wenigstens den äußeren Schein von Gemütsruhe zu bewahren, als ich ihm den Brief zurückgab, schäme ich mich, zu sagen. Ich sprach mit ihm mit einer gewissen Bitterkeit. „Ihre lange gehegten Wünsche werden damit erfüllt“, erwiderte ich; „ich wundere mich nicht, dass Sie sich danach sehnen, Ihre jetzige Stelle zu verlassen.“ Er lenkte sein Pferd zurück und wiederholte meine Worte. „Dass ich mich danach sehne, meine Stelle zu verlassen? Es bricht mir das Herz, wenn ich Sie verlasse.“ Ich war rücksichtslos genug, zu fragen, warum. Er senkte den Kopf. „Ich wage nicht, es Ihnen zu sagen“, erwiderte er. Ich ging weiter von einer Unklugheit zur anderen. „Um was sind Sie besorgt?“ fragte ich. Er blickte plötzlich nach mir auf. Seine Augen antworteten: „Um Sie.“

Ist es möglich, die Torheit einer liebenden Frau zu ergründen? Kann ein verständiger Mensch sich die ungeheure Wichtigkeit vorstellen, welche auch das Unbedeutendste in ihrem armen schwachen Gemüte erhält? Ich war nach diesem einen Blicke vollkommen befriedigt – ja vollkommen glücklich. Ich ritt während einiger Minuten munter weiter – da kam mir der vergessene Vorfall im Stalle in das Gedächtnis zurück. Ich nahm wieder den gewöhnlichen Schritt und winkte Michael heran, mit mir zu sprechen.

„Frau Claudias Buchhändler wohnt in der Altstadt, nicht wahr?“ fing ich an. - „Ja, Fräulein!“

„Gingen Sie hin und zurück zu Fuß?“

„Ja.“

„Sie müssen sich ermüdet gefühlt haben, als Sie zurückgekehrt waren?“

„Ich erinnere mich dessen kaum, als ich zurückkehrte – es wurde mir aber eine Überraschung zuteil.“

„Darf ich fragen, was dies war?“

„Gewiss, Fräulein. Erinnern Sie sich meiner schwarzen Tasche?“

„Sehr wohl!“

„Als ich aus der Altstadt zurückkehrte, fand ich die Tasche offen und die Sachen, welche ich in ihr aufbewahrte, - den Schal, das Leinenzeug und den Brief -“

„Verschwunden?“

„Verschwunden.“

Mein Herz pochte auf das heftigste und drohte mir zu zerspringen. Es war mir unmöglich, ein Worte weiter zu sagen. Ich hielt mein Pferd an und heftete meine Augen auf Michael. Er war bestürzt und fragte, ob ich mich unwohl fühle. Ich konnte ihm nur ein Zeichen geben, dass ich darauf warte, mehr von ihm zu hören.

„Ich glaube“, fuhr er fort, „dass irgendjemand die Sachen in meiner Abwesenheit verbrannte und das Fenster öffnete, um zu verhüten, dass durch den Geruch irgendein Verdacht erregt werde. Ich bin sicher, dass ich das Fenster schloss, ehe ich mein Zimmer verließ. Als ich es bei meiner Rückkehr wieder schloss, hatte die frische Luft den Brandgeruch noch nicht ganz entfernt; und, was mehr sagen will, ich fand einen Haufen Asche auf dem Roste des Kamins. Was die Person betrifft, welche mir diesen Schaden zugefügt hat, und warum es geschehen ist, so sind dies Geheimnisse, die ich nicht ergründen kann – ich bitte um Verzeihung, Fräulein, ich bin sicher, dass Sie nicht wohl sind. Darf ich Ihnen raten, nach Hause zurückzukehren?“

Ich nahm seinen Rat an und kehrte zurück.

In dem Widerstreite von Erstaunen und Entsetzen, die mein Gemüt erfüllten, konnte ich doch noch fühlen, dass bei all dem ein schwacher Triumph sich in mir regte, als ich sah, wie beunruhigt und besorgt er um mich war. Nichts wurde weiter zwischen uns auf dem Rückwege gesprochen. Von der schrecklichen Entdeckung, die ich soeben gemacht hatte, ergriffen, war ich still und hilflos. Meine adlig geborene, vornehm erzogene, untadelhafte Tante stand nun entlarvt als eins der schuldbeladenen Wesen vor mir, die eine Geburt verheimlicht und ein unmündiges Kind verlassen hatten. Eine ältere Frau wie ich hätte schwer vermocht werden können, in einer Lage wie der meinigen ihre Besonnenheit zu bewahren. Ein natürliches Gefühl, nicht der Verstand, half mir in meiner schlimmen Lage. Dieses unwillkürliche Gefühl fesselte mich in untätigem, ja einfältigem Schweigen, als ich nach Hause zurückgekehrt war. „Wir wollen morgen darüber reden“, das war alles, was ich zu Michael sagen konnte, als er mich artig vom Pferde hob.

Ich entschuldigte mein Nichterscheinen beim Frühstück und zog die Vorhänge in meinem Wohnzimmer nieder, damit mein Gesicht mich nicht verriet, wenn Frau Claudias Mutterpflicht sie heraufführte, um sich nach meinem Befinden zu erkundigen. Die nämliche Entschuldigung half in beiden Fällen – mein Spazierritt hatte es nicht vermocht, mich von meinem Kopfweh zu befreien. Der kurze Besuch meiner Tante führte zu einem Ergebnis, das erwähnt zu werden verdient. Das unbeschreibliche Entsetzen, das ich ihr gegenüber fühlte, nötigte mir die Überzeugung auf, dass wir beide nicht länger unter einem Dache wohnen könnten. Während ich noch versuchte, diese Wahl mit der nötigen Ruhe ins Auge zu fassen, erschien mein Oheim selbst und zeigte einige Besorgnis über mein anhaltendes Unwohlsein. Ich würde sicherlich laut geweint haben, als der gute, liebe Alte mich bedauerte, wenn er nicht Nachrichten mitgebracht hätte, die alle meine Gedanken auf mich und meine Tante zurückleiteten. Michael hatte dem General seinen Brief gezeigt und ihm Kenntnis von seinem beabsichtigten Weggang gegeben. Frau Claudia war zu dieser Zeit gerade anwesend. Zum Erstaunen ihres Gatten mischte sie sich plötzlich ein, indem sie Michael selbst ersuchte, sich anders zu besinnen und in seiner Stelle zu bleiben.

„Ich würde dich nicht mit dieser unangenehmen Sache belästigt haben, Minna“, sagte mein Oheim, „wenn Michael mir nicht gesagt hätte, dass du von den Umständen unterrichtet seiest, unter welchen er es für seine Pflicht hält, uns zu verlassen. Nach der Einmischung deiner Tante, die mir übrigens ganz unbegreiflich ist, weiß der Mann kaum noch, was er tun soll. Da er dein Reitknecht ist, so bittet er mich, zu fragen, ob es eine Unschicklichkeit sei, wenn er die bestehende Schwierigkeit deiner Entscheidung überlasse. Ich melde dir sein Anliegen, Minna, aber ich rate dir ernstlich, irgendwelche Verantwortlichkeit abzulehnen.“

Ich antwortete mechanisch, indem ich den Rat meines Oheims annahm, während meine Gedanken sich völlig mit dieser letzten der zahlreichen außergewöhnlichen Handlungen beschäftigten, die Frau Claudia seit Michaels Eintritt begangen hatte. Es gibt – außer in Büchern und Schauspielen – Grenzen für die Unschuld eines jungen, unverheirateten Frauenzimmers. Nach dem, was ich soeben gehört hatte, waren die Zweifel, welche mich bis dahin beunruhigt hatten, vollständig aufgeklärt.

Ich sagte zu mir selbst: „Sie hat doch noch etwas menschliches Gefühl übrig. Wenn ihr Sohn fortgeht, weiß sie, dass sie sich niemals wieder begegnen werden.“

Von dem Augenblick an, da mein Inneres zur Klarheit gekommen war, erlangte ich die Herrschaft über meinen Verstand und Mut wieder, wie ich sie von Natur besaß. Von diesem Augenblick an wird man finden, dass ich, mit Recht oder Unrecht, meinen Weg mir vorgezeichnet sah und ihn einschlug.

Wenn ich sage, dass ich dem General von ganzem Herzen zugetan war, so bekenne ich damit, dass ich im gewöhnlichen Sinne dankbar sein konnte. Ich saß auf seinem Knie, legte meine Wange an die seine und dankte ihm für die Güte, die er mir in langen, langen Jahren erwiesen hatte. Er unterbrach mich in seiner einfachen, edlen Weise. „Ei, Minna, du redest ja, als ob du im Begriff wärst, uns zu verlassen!“ Ich fuhr in die Höhe und ging zum Fenster, indem ich es öffnete und mich über die Hitze beklagte; so verbarg ich vor ihm meine Verwirrung, dass er unbewusst ein Ereignis vorausgesehen hatte, das allerdings eintreten musste. Als ich zu meinem Stuhl zurückkehrte, trug mein Oheim zu meiner Beruhigung bei, indem er noch einmal auf seine Frau zu sprechen kam. Er fürchtete, dass ihre Gesundheit in irgendeiner Weise erschüttert sei. Zu der Zeit, wo sie sich zuerst begegneten, hatte sie ein Nervenleiden, welches von einem „Unfall“ herrührte, der in späteren Tagen von keinem von beiden jemals wieder erwähnt wurde. Sie mochte vielleicht wieder an irgendeiner anderen nervösen Störung leiden und er dachte ernstlich daran, sie zu überreden, ärztlichen Beistand zu benutzen.

Unter gewöhnlichen Umständen würde eine unbestimmte Erwähnung eines „Unfalls“ ein besonderes Interesse bei mir nicht erregt haben. Aber mein Geist war jetzt in einem Zustande krankhaften Argwohns. Ich hatte nicht gehört, wie lange mein Oheim und meine Tante verheiratet waren, aber ich erinnere mich, dass Michael von seinen sechsundzwanzig Jahren gesprochen hatte. Da ich diese Umstände noch im Gedächtnis hatte, so kam mir der Gedanke, dass ich klug und in Michaels Interesse handeln würde, wenn ich den General überredete, noch weiter von jener Zeit zu sprechen, wo er dem Weibe begegnet war, ads ein böses Geschick ihm zur Frau bestimmt hatte. Nichts als die Fürsorge für den geliebten Mann würde mich dazu gebracht haben, für mein Geheimnis die Mitteilungen zu benutzen, die mein Oheim mir in harmloser Absicht anvertrauen möchte. So wie die Sache lag, hoffte ich, dass die angewendeten Mittel in diesem Falle durch den Ausgang der Sache einst ihre Rechtfertigung erhalten würden. Ich denke, dass jeder meiner Leser mir zustimmen wird.

Ich fand die Aufgabe leichter, als ich vermutet hatte, das Gespräch wieder auf die Tage zurückzulenken, wo der General seine Frau zum ersten Mal gesehen hatte. Er war stolz auf die Umstände, unter welchen er seine Frau gewonnen hatte. Ach, wie tat mir das Herz für ihn weh, als ich seine Augen glänzen und sein hübsches, männliches Gesicht sich röten sah!

Folgendes ist das Wesentliche seiner Mitteilungen. Ich berichte kurz, weil es mir noch immer schmerzlich ist, es zu erzählen.

Mein Oheim war seiner Frau in dem Landhause ihres Vaters begegnet. Sie war damals wieder in der Gesellschaft erschienen, nachdem sie eine Zeitlang in England, teils auf dem Kontinente in Zurückgezogenheit gelebt hatte. Vor dieser Zeit war sie verlobt gewesen und wollte einen französischen Offizier heiraten, der durch Geburt und diplomatische Dienste im Orient gleich ausgezeichnet war. Wenige Wochen vor dem Hochzeitstage ertrank er bei dem Schiffbruche seiner Yacht. Dies war der Unfall, auf den mein Oheim sich bezogen hatte.

Frau Claudias Gemüt war so ernstlich von dem furchtbaren Ereignis ergriffen, dass die Ärzte für die Folgen nicht einstehen wollten, wenn sie nicht sogleich in die strengste Zurückgezogenheit versetzt werde. Ihre Mutter und eine französische, ihr treu ergebene Zofe waren die einzigen Personen, die als zuverlässig die junge Dame sehen durften, bis Zeit und Pflege sie einigermaßen beruhigt hatten. Die Rückkehr zu ihren Freunden und Bewunderern nach der notwendigen Abschließung war natürlicherweise die Veranlassung zu aufrichtiger Freude unter den Gästen, die in dem Hause ihres Vaters versammelt waren. Das Interesse meines Oheims an der Dame ging bald in Liebe über. Sie waren einander im Range gleich, und passten auch im Alter recht wohl zusammen.

Die Eltern machten keine Schwierigkeiten; aber sie verhehlten auch ihrem Gaste nicht, dass das Missgeschick, das ihre Tochter befallen habe, ihr höchstwahrscheinlich die Neigung benehme, seine Bewerbung, oder auch die irgendeines anderen Mannes günstig aufzunehmen. Zu ihrer Überraschung ergab es sich, dass sie unrecht hatten. Die junge Dame war von der Einfachheit und dem Zartgefühl gerührt, womit ihr Liebhaber seine Bewerbung betrieb. Sie hatte unter weltlich gesinnten Leuten gelebt. Dies war aber ein Mann, dessen Liebe sie für aufrichtig halten konnte. Sie heirateten sich. Waren keine ungewöhnlichen Umstände eingetreten? Hatte sich nichts zugetragen, was der General vergessen hatte? Nichts.



Kapiteltrenner

X.

Es ist gewiss nicht nötig, dass ich hier unterbreche, um die einfachen Folgerungen aus den eben erzählten Ereignissen zu ziehen.

Jeder, der sich erinnert, dass der Schal, in den das Kind eingewickelt war, aus jenen östlichen Gegenden stammte, die mit dem diplomatischen Berufe des französischen Edelmannes in Verbindung standen – ferner, dass die Fehler in der Abfassung des Briefes, der bei dem Kinde vorgefunden wurde, vermutlich von dem französischen Dienstmädchen gemacht worden waren – jeder, der diesen Spuren folgt, kann den Weg zur Wahrheit finden, wie ich ihn fand.

Wenn ich einen Augenblick an die Hoffnungen zurückdenke, die ich mir gebildet hatte, Michael in etwas dienen zu können, so habe ich nur zu sagen, dass diese auf einmal vernichtet wurden, als ich von dem durch Ertrinken eingetretenen Tode des Mannes hörte, der aller Wahrscheinlichkeit nach sein Vater war. Auch die Aussichten erschienen ungünstig, wenn ich an die erbärmliche Mutter dachte. Dass sie in ihrer Stellung ihren Sohn offen anerkennen würde, war vielleicht von keiner Frau zu erwarten. Hatte sie aber Mut genug, oder, besser gesagt, Herz genug, ihn in der Stille anzuerkennen?

Ich rief mir einige der augenscheinlichen Launen und Widersprüche in Frau Claudias Benehmen an jenem denkwürdigen Tage ins Gedächtnis zurück, da Michael sich vorstellte, um die erledigte Stelle anzunehmen. Man möge mit mir auf den Bericht darüber zurückblicken, was sie bei dieser Gelegenheit tat und sprach, und man prüfe diese Aufzeichnung in dem Lichte der nunmehrigen Kenntnis der Tatsachen: man wird sehen, dass die Ähnlichkeit mit seinem Vater großen Eindruck auf sie gemacht haben musste, als er das Zimmer betrat, und dass die Angabe seines Alters mit den Jahren ihres Sohnes genau übereinstimmte. Ruft man sich ferner ihre Handlungen ins Gedächtnis zurück, welche folgten, als sie von ihren ersten erfolgreichen Anstrengungen, sich zu beherrschen, erschöpft war – das Zurückweichen nach dem Fenster, um ihr Gesicht zu verbergen, den Griff nach dem Vorhange, als ihre Kräfte sie verließen, ihr barsches Benehmen, unter welchem sie ihre Gemütsbewegung verbarg, als sie mit ihm zu sprechen versuchte; die wiederholten Widersprüche und das Schwanken in dem nun folgenden Verhalten – alles die Wirkung des Widerstreites der mütterlichen Natur, die sich verzweifelt bis zum äußersten wehrte – und nun sage man, ob ich ihr unrecht tat, wenn ich sie für unfähig hielt, es irgendwie zu einer Entdeckung kommen zu lassen, als sie an die Mutterliebe erinnert wurde.

Es blieb also nur noch an Michael zu denken übrig. Ich erinnere mich, wie er von den unbekannten Eltern sprach; er erwartete weder sie zu ermitteln, noch kümmerte er sich um deren Entdeckung. Ich konnte es noch immer nicht mit meinem Gewissen vereinbaren, die Möglichkeit einer bei ihm eintretenden Gemütserregung als eine hinreichende Rechtfertigung anzusehen, ihm eine Entdeckung vorzuenthalten, die ihn so nahe anging. Es schien wenigstens meine Pflicht zu sein, mich mit dem wahren Zustand seiner Gefühle bekannt zu machen, ehe ich mich entschied, die Last des Schweigens mit mir ins Grab zu nehmen.

Was ich in dieser ernsten Lage zu tun für meine Pflicht hielt, das entschloss ich mich sogleich zu tun.

Zudem will ich ehrlich bekennen, dass ich mich einsam und trostlos fühlte, niedergedrückt durch die bedenkliche Lage, in die ich versetzt war, aber in Sehnsucht nach der Erleichterung, die es mir gewährte, wenn ich nur den Klang von Michaels Stimme hörte. Ich schickte mein Mädchen zu ihm und ließ ihm sagen, dass ich ihn sogleich zu sprechen wünschte. Die Entscheidung schwebte schon über meinem Haupte, und diese eine Handlung führte sie herbei.



Kapiteltrenner

XI.

Er trat ein und wartete bescheiden an der Tür.

Nachdem ich ihn einen Stuhl hatte nehmen lassen, sagte ich ihm, dass ich von seinem Anliegen Kenntnis erhalten hätte, dass ich mich aber nach dem Rate meines Oheims der Einmischung in die Frage enthalten müsste, ob er seine Stelle aufgeben solle oder nicht. Nachdem ich so einen Grund, ihn kommen zu lassen, vorgeschützt hatte, spielte ich zunächst auf den Verlust an, den er erlitten hatte, und fragte ihn, ob er diejenige Person ausfindig zu machen hoffe, die sein Zimmer in seiner Abwesenheit betreten habe. Als er dies verneinte, sprach ich von den ernsten Folgen, die die Vernichtung jener Gegenstände für ihn haben werde. „Die letzte Hoffnung, Ihre Eltern zu ermitteln“, sagte ich, „ist grausam zerstört worden.“ Er lächelte betrübt. „Sie wissen schon, gnädiges Fräulein, dass ich niemals hoffte, sie zu ermitteln.“

Ich wagte mich ein wenig dem Ziele näher, das ich im Auge hatte. „Denken Sie niemals an Ihre Mutter?“ fragte ich. „Bei ihrem Alter könnte sie noch am Leben sein. Können Sie alle Hoffnung aufgeben, sie noch zu finden, ohne dass es Ihrem Herzen Schmerzen bereitet?“

„Wenn ich ihr darin unrecht getan hätte, dass ich glaubte, sie hätte mich verlassen“, antwortete er, „so ist das Herzweh nur ein armseliges Mittel, die Gewissensbisse kundzugeben, die ich fühlen würde.“

Ich wagte mich noch näher. „Selbst wenn Sie recht hätten“, fing ich wieder an - „selbst wenn jene Sie verlassen hätte-“ Er unterbrach mich mit ernster Miene. „Ich würde nicht einmal die Straße überschreiten, um sie zu sehen“, sagte er. „Eine Frau, die ihr Kind verlässt, ist ein Ungeheuer. Verzeihen Sie mir, gnädiges Fräulein, dass ich so spreche! Wenn ich gute Mütter und ihre Kinder sehe, macht es mich wahnsinnig, wenn ich daran denke, wie meine Kindheit gewesen ist.“

Als ich diese Worte hörte und ihn aufmerksam betrachtete, während er sprach, konnte ich sehen, dass mein Stillschweigen eine Barmherzigkeit für ihn, nicht aber ein Verbrechen sein würde. Ich beeilte mich, von etwas anderem zu reden. „Wenn Sie sich entschließen, uns zu verlassen“, fragte ich, „wann werden Sie dann gehen?“

Seine Augen nahmen augenblicklich einen sanfteren Ausdruck an. Immer mehr verschwand die Farbe aus seinem Gesicht, als er mir antwortete.

„Der General sagte mir freundlich, als ich vom Aufgeben meiner Stelle sprach“ - hier stockte seine Stimme und er machte eine Pause, um ihr wieder die nötige Sicherheit zu geben. „Der Herr sagte“, fuhr er fort, „dass ich meinen neuen Dienstherrn nicht warten zu lassen brauche, indem ich noch den üblichen Monat hier bliebe, vorausgesetzt – vorausgesetzt, dass Sie bereit wären, mich von meinem Dienste zu entbinden.“

Bis jetzt war es mir gelungen, mich zu beherrschen. Bei dieser Antwort aber fühlte ich meine Standhaftigkeit wanken. Ich sah, wie er litt; ich sah, wie mannhaft er kämpfte, dies zu verbergen.

„Ich bin nicht bereit“, sagte ich, „es tut mir leid – sehr, sehr leid, Sie zu verlieren. Aber ich will etwas tun, was zu Ihrem Besten dient. Mehr kann ich nicht sagen.“

Er erhob sich plötzlich, als wenn er das Zimmer verlassen wollte, bemeisterte aber seine Aufregung und stand einen Augenblick schweigend da, indem er nach mir hinsah – alsdann blickte er wieder weg und sprach seine Abschiedsworte.

„Wenn es mir in meiner neuen Stellung glückt, Fräulein Miina – wenn ich mich zu besseren Verhältnissen emporringe – ist es – ist es zu viel gewagt, zu fragen, ob ich eines Tages – vielleicht wenn Sie allein ausreiten – ob ich mit Ihnen sprechen dürfte – nur um zu fragen, ob Sie sich wohl befinden und glücklich sind-“

Er konnte nicht weiter sprechen. Ich sah Tränen in seinen Augen; ich sah ihn von krampfhaften Atemzügen erschüttert, die sich aus dem Manne in den seltenen Augenblicken herauspressen, wenn er weint. Und dann selbst unterdrückte er sie. Er verneigte sich gegen mich, als wenn er nur mein Diener wäre und als wenn er zu tief unter mir stünde, meine Hand zu ergreifen, selbst in diesem Augenblicke! Ich hätte alles andere ertragen können; ich glaube, dass ich mich unter allen anderen Umständen noch bezwungen hätte. Es ist aber jetzt wenig daran gelegen; mein Geständnis muss erfolgen, was man auch immer von mir denken möge. Ich flog wie ein wahnsinniges Geschöpf auf ihn zu – ich schlang meine Arme um seinen Hals – ich rief: „O Michael, wissen Sie denn nicht, dass ich Sie liebe?“ Und dann legte ich meinen Kopf an seine Brust und hielt ihn fest und sprach nichts mehr.

In diesem Augenblicke des Schweigens wurde die Tür des Zimmers geöffnet. Ich erschrak und blickte auf. Frau Claudia stand auf der Schwelle.

Ich sah ihr am Gesicht an, dass sie gelauscht hatte – sie musste ihm gefolgt sein, als er auf dem Wege zu meinem Zimmer war. Diese Überzeugung stärkte mich. Ich nahm seine Hand in die meinige und stellte mich an seine Seite, indem ich darauf wartete, dass sie zuerst spreche. Sie blickte nach Michael, nicht nach mir. Sie tat einige Schritte vorwärts und sprach ihn an: „Es ist möglich, dass Sie noch Gefühl für Anstand haben. Verlassen Sie das Zimmer!“

Diese wohlüberlegte Beleidigung war alles, was ich brauchte, um mich vollständig zur Herrin meiner selbst zu machen. Ich sagte Michael, er solle einen Augenblickw warten, und öffnete mein Schreibpult. Ich schrieb auf ein Couvert die Adresse einer treuen alten Dienerin in London, die meine Mutter in ihren letzten Stunden gepflegt hatte. Ich gab sie Michael. „Sprechen Sie morgen früh dort vor“, sagte ich. „Ich werde Sie erwarten.“ Er blickte nach Frau Claudia, offenbar nicht gewillt, mich mit ihr allein zu lassen. „Fürhcten Sie nichts“, sagte ich, „ich bin alt genug, um selbst auf meiner Hut zu sein. Ich habe dieser Dame nur ein Wort zu sagen, ehe ich das Haus verlasse.“ Damit nahm ich seinen Arm, ging mit ihm zur Tür und sagte ihm beinahe ebenso ruhig den Abschiedsgruß, als wenn wir schon Mann und Frau gewesen wären.

Frau Claudias Augen folgten mir, als ich die Tür wieder schloss, und blickten dann durch das Zimmer nach einer zweiten Tür, die in mein Schlafzimmer führte. Dann trat sie plötzlich auf mich zu, gerade als ich im Begriff war, mein Zimmer zu betreten, und legte ihre Hand auf meinen Arm.

„Was bedeutet deine Miene?“ - sie richtete die Frage ebenso sehr an sich selbst wie an mich – indem sie die Augen aufmerksam forschend auf die meinigen richtete.

„Du sollst es sofort erfahren“, antwortete ich. „Lass mich nur erst meinen Hut und meinen Mantel nehmen.“

„Hast du vor, das Haus zu verlassen?“

„Ja, das will ich.“

Sie zog die Schelle. Ich kleidete mich ruhig an, um auszugehen. - Der Diener erschien, als ich in das Wohnzimmer zurückkehrte.

„Sagen Sie Ihrem Herrn, dass ich ihn augenblicklich zu sehen wünsche“, sagte Frau Claudia.

„Der Herr ist ausgegangen, gnädige Frau.“

„In seinen Klub?“

„Ich glaube, gnädige Frau.“

„Ich werde Sie mt einem Brief zu ihm schicken. Kommen Sie zurück, wenn ich wieder schelle.“ Sie wandte sich zu mir, als der Diener sich entfernt hatte. „Weigerst du dich wirklich, hier zu bleiben, bis der General zurückkehrt?“

„Ich werde glücklich sein, den General zu sehen, wenn du meine Adresse in den Brief an ihn einschließen willst.“

Indem ich dies erwiderte, schrieb ich meine Adresse zum zweitenmal. Als ich sie ihr gab, erkannte Frau Claudia sehr wohl, dass ich mich in ein achtbares Haus begab. Die Frau, die es innehatte, hatte mich gepflegt, als ich noch ein Kind war.

„Noch eine letzte Frage“, sagte sie. „Soll ich dem General sagen, dass du die Absicht hast, deinen Reitknecht zu heiraten?“

Der Ton ihrer Worte reizte mich zu einer Antwort, die ich schon in dem Augenblicke bedauerte, als sie über meine Lippen kam.

„Du kannst es einfacher ausdrücken, wenn du willst“, erwiderte ich. „Du kannst dem General sagen, dass ich die Absicht habe, deinen Sohn zu heiraten.“

Sie war in der Nähe der Tür und im Begriff, mich zu verlassen. Bei meinen Worten wandte sie sich mit einem geisterhaften, entsetzten Blicke um – griff mit den Händen um sich, als wenn sie in der Dunkelheit nach etwas fassen wollte, und fiel zu Boden.

Ich forderte augenblicklich Hilfe. Die weiblichen Dienstboten trugen sie zu meinem Bett. Während diese sie wieder zu sich selbst brachten, schrieb ich einige Zeilen, worin ich der elenden Frau mitteilte, wie ich ihr Geheimnis entdeckt hatte.

„Die Ruhe deines Gatten“, fügte ich hinzu, „ist mir ebenso teuer als meine eigene. Was deinen Sohn betrifft, so weißt du, was er von der Mutter denkt, die ihn verlassen hat. Dein Geheimnis ist sicher bei mir aufbewahrt – sicher vor deinem Gatten, sicher vor deinem Sohne bis an das Ende meines Lebens.“

Ich versiegelte diese Zeilen und gab sie ihr, als sie wieder zu sich selbst gekommen war. Niemals erhielt ich von ihr eine Antwort. Auch sah ich sie nie mehr seit dieser Zeit. Sie weiß, dass sie sich auf mich verlassen kann.

Und was sagte mein guter Oheim, als wir uns demnächst begegneten? Ich möchte lieber berichten, was er tat, als er von meiner beabsichtigten Heirat hörte und seine ersten Gefühle von Ärger und Überraschung bezwungen hatte. Er willigte ein, uns an unserem Hochzeitstage zu empfangen und übergab meinem Gatten die Mittel, die uns beiden eine unabhängige Lebensstellung gewährten. Aber er hatte doch seine Besorgnis. Er wehrte es ab, als ich ihm zu danken versuchte.

„Kommt nach einem Jahr wieder“, sagte er. „Ich will auf den Dank warten, bis die Erfahrung in eurem ehelichen Leben mir sagt, dass ich diesen Dank verdient habe.“

Das Jahr ging vorüber, und der General empfing den Ausdruck meienr aufrichtigen Dankbarkeit. Er lächelte und küsste mich; aber es lag doch etwas in seinem Gesicht, das mir andeutete, dass er noch nicht ganz befriedigt war.

„Glaubst du, dass ich aufrichtig gesprochen habe?“ fragte ich.

„Ich glaube es fest“, antwortete er – und dann hielt er inne.

Eine klügere Frau hätte den Wink verstanden und den Gegenstand fallen lassen. Meine Torheit bestand darauf, noch eine Frage zu stellen:

„Sage mir, Oheim: habe ich nicht bewiesen, dass ich recht hatte, als ich meinen Reitknecht heiratete?“

„Nein, meine Teure. Du hast nur bewiesen, dass du ein Glückskind bist!“



ENDE



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