Das Eismeer



Kapitel Vier

Es war nicht einfach, Mrs. Crayford in der Menge zu finden. Hier suchend, und dort suchend, wurde Frank eines Fremden gewahr, der seinerseits nach jemanden Ausschau zu halten schien. Er war ein dunkler, kräftig gebauter Mann, mit schweren Augenbrauen, gekleidet in eine schäbige, alte Marineoffiziersuniform. Sein Auftreten – auffallend entschlossen und gefaßt – war unverkennbar das Auftreten eines Gentleman. Er schlängelte sich langsam durch die Menge; bei jeder Lady, an der er vorbeiging, anhaltend, um sie anzusehen, und um dann mit einem finsteren Blick wieder wegzuschauen. Nach und nach näherte er sich dem Wintergarten – betrat ihn, nach einem Moment des Nachdenkens – entdeckte den Schimmer eines weißen Kleides in der Ferne, durch die Büsche und Blumen hindurch – ging vor, um einen näheren Blick auf die Lady zu bekommen – und stürzte mit einem Aufschrei der Freude zu Clara.

Sie sprang auf ihre Füße. Sprachlos stand sie vor ihm, bewegungslos, zu Stein erstarrt. Ihre ganze Lebendigkeit war in ihren Augen – die Augen, welche ihr mitteilten, daß sie auf Richard Wardour schaute.

Er war der erste, der sprach.

„ Es tut mir leid, daß ich dich erschreckt habe, mein Liebling. Ich vergaß alles außer dem Glück, dich wiederzusehen. Wir haben unseren Liegeplatz erst vor zwei Stunden erreicht. Ich brauchte einige Zeit, um mich nach dir zu erkundigen, und einige Zeit, um meine Eintrittskarte zu bekommen, als sie mir mitteilten, daß du auf dem Ball seiest. Gratuliere mir, Clara! Ich bin befördert worden. Ich bin zurückgekehrt, um dich zu meiner Ehefrau zu machen.“

Eine flüchtige Veränderung glitt über das blanke Entsetzen ihres Gesichts. Ihre Gesichtsfarbe nahm schwach zu, ihre Lippen bewegten sich. Abrupt stellte sie ihm eine Frage.

„ Hast du meinen Brief bekommen?“

Er stutzte. „Ein Brief von dir? Ich habe ihn nie erhalten.“

Die kurze Belebung in ihrem Gesicht erstarb wieder. Sie zog sich von ihm zurück und sank auf einen Stuhl. Er ging zu ihr, überrascht und alarmiert. Sie zuckte auf ihrem Stuhl zusammen – zuckte zusammen, als ob sie Angst vor ihm hätte.

„ Clara, du hast mir nicht einmal die Hand gegeben! Was bedeutet das?“

Er hielt inne; wartend, und sie beobachtend. Sie antwortete nicht. Ein Blitz des feurigen Temperaments in ihm loderte auf in seinen Augen. Er wiederholte seine letzten Worte in einem lauteren und härteren Tonfall:

„ Was bedeutet das?“

Diesmal antwortete sie. Sein Ton hatte sie verletzt – sein Ton hatte ihren sinkenden Mut wieder wachgerufen.

„ Es bedeutet, Mr. Wardour, daß Sie von Anfang an im Irrtum waren.“

„ Wie war ich im Irrtum?“

„ Sie standen unter einem falschen Eindruck, und Sie haben mir keine Gelegenheit gegeben, Sie zu berichtigen.“

„ Inwiefern lag ich falsch?“

„ Sie sind zu übereilt und sich zu gewiß gewesen in bezug auf sich selbst und auf mich. Sie haben mich vollkommen mißverstanden. Ich bin betrübt, Sie unglücklich zu machen, doch um Ihretwillen muß ich offen sprechen. Ich bin für immer Ihre Freundin, Mr. Wardour. Ihre Ehefrau kann ich niemals sein.“

Er wiederholte unbewußt die letzten Worte. Er schien zu zweifeln, ob er sie richtig verstanden hatte.

„ Du kannst niemals meine Frau sein?“

„ Niemals!“

„ Warum?“

Es kam keine Antwort. Sie war nicht fähig, ihm eine Lüge zu erzählen. Sie schämte sich, ihm die Wahrheit zu erzählen.

Er beugte sich über sie, und bemächtigte sich plötzlich ihrer Hand. Ihre Hand fest haltend, beugte er sich ein wenig tiefer; in ihrem Gesicht nach den Anzeichen suchend, die ihm antworten könnten. Sein eigenes Gesicht verdüsterte sich langsam, während er auf sie schaute. Er begann, sie zu verdächtigen; und er bestätigte es in seinen nächsten Worten:

„ Irgend etwas hat dich mir gegenüber verändert, Clara. Jemand hat dich gegen mich beeinflußt. Ist es – du zwingst mich, die Frage zu stellen – ist es ein anderer Mann?“

„ Sie haben kein Recht, mich das zu fragen.“

Er fuhr fort, ohne wahrzunehmen, was sie zu ihm gesagt hatte.

„ Ist dieser andere Mann zwischen dich und mich gekommen? Was mich betrifft, so spreche ich klar und deutlich. Sprich du deinerseits klar und deutlich.“

„ Ich habe gesprochen. Ich habe nichts weiteres zu sagen.“

eine Pause trat ein. Sie sah das warnende Licht, welches von dem Feuer in ihm kündete, immer heller in seinen Augen lodern. Sie spürte, wie sich sein Griff auf ihrer Hand verstärkte. Zum letzten Mal wandte er sich an sie.

„ Denk nach“, sagte er, „denk nach, bevor es zu spät ist. Dein Schweigen wird dir nichts nützen. Wenn du darauf bestehst, mir nicht zu antworten, werde ich dein Schweigen als Geständnis nehmen. Hörst du mich?“

„ Ich höre Sie.“

„ Clara Burnham! Mit mir ist nicht zu spaßen. Clara Burnham! Ich bestehe auf der Wahrheit. Bist du mir gegenüber unehrlich?“

Sie verübelte ihm diese forschende Frage mit dem scharfen Sinn einer Frau für die Beleidigung, die sich daraus ergab, daß er ihr von Angesicht zu Angesicht mißtraute.

„ Mr. Wardour! Sie vergessen sich, wenn Sie mir auf diese Art Rechenschaft abfordern. Ich habe Sie niemals ermutigt. Ich habe Ihnen niemals ein Versprechen oder eine feste Zusage gegeben—“

Er unterbrach sie hitzig, ehe sie mehr sagen konnte.

„ Du hast dich verlobt in meiner Abwesenheit. Deine Worte gestehen es; deine Blicke gestehen es! Du hast dich mit einem anderen Mann verlobt!“

„ Den Fall gesetzt, daß ich mich verlobt hätte , welches Recht haben Sie, sich darüber zu beschweren?“ antwortete sie entschlossen. „Welches Recht haben Sie, mein Handeln zu überwachen?…“

Die nächsten Worte erstarben ihr auf den Lippen. Er ließ plötzlich ihre Hand fallen. Eine auffällige Veränderung erschien in dem Ausdruck seiner Augen – eine Veränderung, die ihr von den schrecklichen Leidenschaften berichtete, die sie in ihm entfesselt hatte. Sie las, las verschwommen, etwas in seinem Gesicht, das sie zum Zittern brachte – nicht um sich selbst, sondern um Frank.

Nach und nach schwand die dunkle Farbe aus seinem Gesicht. Seine feste Stimme senkte sich plötzlich zu einem tiefen und leisen Ton, als er die Abschiedsworte sprach.

„ Sagen Sie nichts mehr, Miß Burnham – Sie haben genug gesagt. Ich habe meine Antwort; ich bin entlassen.“ Er hielt inne, trat dicht zu ihr heran und legte seine Hand auf ihren Arm.

„ Möglicherweise kommt der Zeitpunkt“, sagte er, „da ich dir vergeben werde. Doch der Mann, der dich mir geraubt hat, wird den Tag bereuen, als du und er euch zum ersten Mal begegnet seid.“

Er wandte sich um und verließ sie.

Wenige Minuten später wurde Mrs. Crayford, die den Wintergarten betrat, von einem der Diener auf dem Ball empfangen. Der Mann hielt an, als ob er wünschte, mit ihr zu sprechen.

„ Was möchten Sie?“ fragte sie.

„ Ich bitte um Verzeihung, Ma’am. Haben Sie zufällig ein Riechfläschchen bei sich? Da ist eine junge Lady im Wintergarten, die ohnmächtig geworden ist.“


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