Nightons Keive
Eine Wanderung von etwas mehr als einer halben Meile brachte uns zum Eingang eines Tals, das auf beiden Seiten durch hohe, gemächlich abfallende Hügel begrenzt war, mit einem kleinen Bach, der durch deren Mitte lief, welcher von dem Wasserfall gespeist wurde, nach dem wir auf der Suche waren. Wir folgten nun einem Fußweg einige hundert Yards, an einer Mühle vorbei, und als wir das Tal hinaufschauten, sahen wir eine dichte Vegetation, die es bis in die entferntesten Winkel ausfüllte und weder die geringste Spur eines Pfades noch den kleinsten Flecken Boden, ob nah oder fern, übrigließ.
Es schien, als wäre sämtliches Laubwerk, das auf den cornischen Heidemooren wachsen sollte, mutwillig an diesem Platz innerhalb der Grenzen eines cornischen Tals zusammengestopft worden. Gräser, Farne, Sträucher, Büsche und junge Bäume blühten hier miteinander, fest ineinander kreuz und quer verflochten, in siegestrunkener Sicherheit vor jedem Eingriff einer Hippe oder einer Axt. Man gewinnt jeden Schritt seines Weges durch diesen kleinen Wald aus Gestrüpp durch die Arbeit seiner Arme und dem Gewicht seines Körpers. Sich verwickelnde Zweige und Dornenbüsche drücken gegen einen von vorne und hinten, treffen sich über dem Kopf, schlagen die Kappe ab, klatschen einem ins Gesicht, wickeln sich um die Füße und zerreißen die Hemdärmel; so behindern sie einen in jeder denkbaren Weise und in jeder denkbaren Richtung, als würden sie eine lebende widerstreitende Macht besitzen, die von irgendeinem bösen Geist aus der Sagenwelt ins Leben gerufen wurde, um sterbliche Füße davon abzuhalten, in das Tal einzudringen. Ob man einen Zickzackkurs oder einen geraden Weg einschlägt, ob man nach oben oder unten geht, es ist immer dasselbe – man muß sich seinen Weg durch die Ansammlung von Gebüschen hindurchzwängen, hindurchdrücken und hindurchdrängeln, gerade so, wie man es durch eine Ansammlung von Menschen tun würde – oder man steht still, umgeben von Blättern, wie ein „Jack-in-the-Green“ und wartet auf die sehr geringe Möglichkeit, daß jemand vorbeikommt, um einem herauszuhelfen.
Nachdem wir unseren Weg unaufhörlich durch diese Hindernisse eine volle halbe Stunde lang hindurchkämpften und darauf achteten, unseren einzigen Führer – das Geräusch fließenden Wassers - immer in Hörweite zu behalten, kamen wir endlich zu einer kleinen offenen Stelle im Strauchwerk, überquerten den Bach an dieser Stelle und fanden am entgegengesetzten Ufer einen schwach zu erkennenden Weg, der einmal ein Fußpfad gewesen sein könnte. Wir folgten ihm so gut wir konnten und als wir den steiler werdenden Weg hinaufstiegen, hörten wir bald das Rauschen des Wasserfalls. Aber der Versuch, ihn zu sehen, war kein leichtes Unterfangen. Die Bäume, Sträucher und wilden Gräser wuchsen hier dichter als bisher und dehnten sich in vollkommenen Blätterhimmeln so nah über die ausladenden Ufer des Baches aus, wie wenn sie diese ganz vor Blicken verstecken wollten. Wir hörten das eintönige, ewige Prasseln des Wassers dicht an unseren Ohren und doch versuchten wir vergeblich, nur einen flüchtigen Blick auf den Wasserfall zu erhaschen. Das Mißgeschick führte uns hoch und runter, rundherum, vorwärts und wieder rückwärts durch einen Irrgarten aus überwachsenem Gestrüpp, welches einen australischen Siedler verwirrt haben könnte; und noch immer hielt sich die Nymphe des Wasserfalls schüchtern vor unseren Augen verborgen. Unsere Ohren sagten uns, daß das unsichtbare Ziel, nach welchem wir suchten, von sehr unbedeutender Höhe war; unsere Geduld verflog; unsere Zeit schwand dahin – kurz, um die Wahrheit zu gestehen, wie ich sie an anderer Stelle auf diesen Seiten gestanden habe, lasse man mich zugeben, daß wir beide in einem vernünftigen Entschluß übereinstimmten, unsere Bequemlichkeit zu Rate zogen, und den Versuch, Nightons Kieve zu entdecken, aufgaben!
Jedoch verschafften uns unsere Wanderungen, obwohl sie nutzlos genug in der einen Richtung waren, diesen ausgleichenden Vorteil in einer anderen; sie führten uns zufällig zu dem genauen Ort der Legende, von der wir wußten, daß sie mit diesem Teil des Tals verbunden war und die uns tatsächlich zuerst dazu bewegt hatte, es zu besuchen.
Wir standen vor den feuchten, verwitterten Steinwänden einer einsamen Hütte, die auf einem Flecken von teilweise lichtem Wald nahe dem Waldrand gebaut war. Lange dunkle Gräser wuchsen um das Innere des zerstörten kleinen Gebäudes herum; in jeder Richtung gedeihten zusehends Fäulnis und Verfall an dem einsamen Ort. Sein Anblick würde die Neugier eher vermindern als sie zu vergößern, außer in Bezug auf die geheimnisvolleGeschichte, die mit ihm verbunden ist und ihm einen Reiz und Zauber gibt, der für diesen Ort außergewöhnlich ist.
Vor vielen Jahren, als dieses trostlose Bauwerk eine hübsche behagliche Hütte war, wurde es von zwei Damen bewohnt, von deren Vorgeschichte und sogar von deren Namen die Leute im Gebiet überhaupt nichts wußten. Eines Tages wurden sie zufällig gefunden, wie sie in ihrer einsamen Behausung lebten, als noch niemand wußte, daß sie sie überhaupt betreten hatten oder daß die Behausung überhaupt existierte. Beide schienen gleich alt zu sein und beide waren unerbittlich schweigsam. Die eine wurde nie ohne die andere gesehen; wenn sie je ihr Haus verließen, verließen sie es nur, um in den am wenigsten besuchten Teilen des Waldes zu wandern; sie hatten keinen Diener und empfingen nie einen Besucher; keine lebende Seele außer ihnen selbst betrat je die Tür ihrer Hütte. Sie beschafften sich ihr Essen und andere Notwendigkeiten von den Leuten im nächsten Dorf, bezahlten für alles, was sie bekamen, wenn es geliefert wurde, und weder stellten sie noch antworteten sie auf eine einzige unnötige Frage. Ihr Benehmen war sanftmütig, aber ernst und betrübt zugleich. Die Leute, die ihnen ihre Haushaltseinkäufe brachten, fühlten sich in ihrer Gegenwart eingeschüchtert und unbehaglich, ohne zu wissen warum; und waren immer erleichtert, wenn sie ihre Besorgungen abgeliefert hatten und wieder von der Hütte und aus dem Wald gesund zurückgekommen waren.
Allmählich, als Monat um Monat verging, und das Geheimnis, das über dem zurückgezogenen Paar hing, immer noch nicht aufgeklärt war, verbreiteten sich abergläubische Gedanken in der Nachbarschaft. So harmlos das Benehmen der Damen auch immer zu sein schien, war doch etwas so grauenvolles und erschreckendes an der unheimlichen Abgeschiedenheit und der Verschwiegenheit über ihr Leben, daß die Leute begannen, einen undeutlichen Argwohn zu empfinden, entsetzliche erfundene Gerüchte über sie zu flüstern, über alte Geistergeschichten und falsche Anschuldigungen zu tratschen, die nie richtig bis zum Ende durchgesprochen wurden, wann immer die Einwohnerinnen der Hütte erwähnt wurden. Zuletzt wurden sie insgeheim von den skrupellosesten unter den Dorfbewohnern, die heftige Neugier mit einer makabren Tapferkeit und Entschlossenheit ausgestattet hatte, beobachtet. Selbst dieses Verfahren brachte keine wie auch immer gearteten Ergebnisse, aber nährten mehr das Geheimnis als daß diesem der Boden entzogen wurde.
Die erfahrensten Lauscher, die an ihrer Tür gehorcht hatten, brachten trotz ihrer Mühen keine Neuigkeiten. Einige erklärten, daß, wenn sich die Damen miteinander unterhielten, sie mit einer so leisen Stimme sprachen, daß es unmöglich war, ein Wort, das sie sagten, herauszuhören. Andere mit einem fantasievolleren Naturell widersprachen im Gegenteil, daß ihre Stimmen völlig vernehmbar waren, aber daß die Sprache, die sie sprachen, eine gewisse geheimnisvolle oder teuflische eigene Sprache sei, unverständlich für jeden außer für sie. Ein oder zwei erfahrene und wagemutige Spione hatten es sogar verstanden, sie unbemerkt durch das Fenster zu beobachten; aber hatten nichts Ungewöhnliches gesehen, nichts Übernatürliches – kurz: nichts, außer dem Schauspiel von zwei ruhig und still an ihrem Kamin sitzenden Damen.
So verging die Zeit, bis eines Tages in der Nachbarschaft allgemeine Aufregung ausgelöst wurde durch das Gerücht, daß eine der Damen tot war. Die Dorfältesten begaben sich sofort zu der Hütte, begleitet von einem langen Zug von eifrigen Anhängern; und stellten fest, daß der Bericht wahr gewesen war. Die überlebende Dame saß am Bett ihrer Gefährtin und weinte über dem Leichnam. Sie sprach kein Wort; sie blickte nie zu den Dorfbewohnern auf, als sie eintraten. Frage um Frage wurde an sie gestellt, ohne ihr eine Antwort zu entlocken; freundliche Worte waren nutzlos – sogar Drohungen erwiesen sich als ebenso wirkungslos; die Dame verharrte immer noch weinend über dem Leichnam und sagte immer noch nichts. Allmählich begann ihre unerbittliche Stille, die Besucher der Hütte anzustecken. Einige Momente lang war in dem Zimmer nichts zu hören als das Rauschen des Wasserfalls ganz in der Nähe, und das Singen der Vögel im umgebenden Wald. Bitterlich wie die Dame weinte, beobachtete nun jeder zum ersten Mal, daß sie still weinte, daß sie niemals schluchzte, niemals seufzte unter dem Druck ihres Kummers.
Die abergläubischen Leute begannen sich gegenseitig dazu zu drängen, den Ort zu verlassen. Es wurde beschlossen, daß der Leichnam weggebracht und beerdigt werden sollte; und daß danach ein neuer Versuch unternommen werden sollte, die Überlebende des geheimnisvollen Paares dazu zu bewegen, ihr unerbittliches Schweigen aufzugeben. Es wurde erwartet, daß sie einige Zeichen gemacht haben würde oder einige Worte gesprochen haben würde, als sie den Körper vom Bett nahmen, auf dem er lag; aber sogar dieses Verfahren erzeugte keine sichtbare Wirkung. Als die Dorfbewohner die Unterkunft mit ihrer toten Bürde verließen, verließ sie der letzte, der hinausging, in ihrer Einsamkeit, noch immer sprachlos, noch immer weinend, wie sie sie zuerst gefunden hatten.
Tage vergingen, und sie sandte keine Nachricht zu irgendjemandem. Wochen verflossen und die Faulenzer, die um die Waldpfade herum warteten, von denen sie wußten, daß sie es gewohnt war, dort mit ihrer Gefährtin spazierenzugehen, sahen sie nie, so geduldig auf sie wartend, wie sie nur konnten. Nachdem sie den Wald heimgesucht hatten, fuhren sie bald damit fort, um die Hütte herumzustreunen und verstohlen in das Fenster zu schauen. Sie sahen sie auf demselben Sessel sitzend, den sie immer eingenommen hatte, mit einem leeren Stuhl ihr gegenüber; ihre Gestalt dahingeschwunden, ihr Gesicht schon blass vom unaufhörlichen Weinen. Es war ein bedrückender Anblick für alle, die ihn erblickten – eine Vorstellung von Kummer und Einsamkeit, die ihre Herzen schwer machte.
Keiner wußte, was zu tun war; die gutherzigsten Leute zögerten, die hartherzigsten Leute scheuten davor zurück, sie zu stören. Während sie noch immer unschlüssig waren, war das Ende nahe. Eines Morgens berichtete ein nach Hause kommendes kleines Mädchen, das durch das Hüttenfenster geschaut hatte, um ihre älteren Geschwister nachzuahmen, daß sie die Dame auf ihrem gewohnten Platz sitzen gesehen hatte, aber daß eine ihrer Hände seltsam über die Armlehne ihres Stuhls hing und daß sie sich nie bewegte, um ihr Taschentuch aufzuheben, das auf dem Boden neben ihr lag. Bei dieser unheilvollen Erzählung beraumten die Dorfbewohner eine Versammlung ein und begaben sich sofort zu der einsamen Hütte im Wald.
Sie klopften und riefen an der Tür – es wurde ihnen nicht geöffnet. Sie hoben den Riegel und traten ein. Sie saß immer noch in ihrem Stuhl; ihr Kopf ruhte auf einer ihrer Hände; die andere hing herunter, wie das kleine Mädchen erzählt hatte. Auch das Taschentuch lag auf dem Boden und war naß von Tränen. Schlief sie? Sie gingen um sie herum, um sie von vorne zu betrachten. Ihre Augen waren weit offen; ihre herabhängende Hand, fast bis auf die bloßen Knochen abgemagert, war bei Berührung kalt, wie das Wasser des Tals an einem Wintertag. Sie war auf ihrem gewohnten Platz gestorben; geheimnisvoll und einsam war sie gestorben - so wie sie gelebt hatte.
Sie begruben sie, wo sie ihre Gefährtin begraben hatten. Keine Spur der wahren Lebensgeschichte von der einen oder der anderen ist seit dieser Zeit bis heute entdeckt worden.
Dies ist die Geschichte, die für uns mit der Hütte im Tal von Nightons Keive verbunden war. Es mag nur Einbildung sein; aber die fleckigen, nicht mehr überdachten Wände, die feuchten, verklebten Gräser und die Reptilien, die in den Ruinen herumkrabbelten, gaben dem Ort ein finsteres und unheilvolles Aussehen. Auch die Luft schien hier gerade jetzt ungewöhnlich ruhig und schwer zu sein – als der Abend nahe war und die Nebel in den Wald stiegen. Die Schatten der Bäume wurden größer; die rauschende Musik des Wasserfalls wurde trostloser; die völlige Stille aller Dinge um uns herum wurde ermüdend für unsere Ohren. Gehen wir wieder weiter zu einem hellen weiten Ort, wo der Boden uns zurückführt zu freudvolleren Einöden an der Küste.
Übersetzung
Die obige Geschichte ist wie die Geschichte über die Ratten von Looe aus dem Reiseführer Rambles beyond Railways entnommen. Der Wasserfall Nightons Keive (oder St. Nectans Glen, wie er heute genannt wird), fällt zuerst in eine Kuhle (cornisch: Keive) und ergießt sich dann durch eine Öffnung in den Bach, der vom Wasserfall aus durch das Tal fließt. Vor mehreren hundert Jahren müssen noch zwei weitere Kuhlen über der jetzigen noch verbleibenden bestanden haben, die aber im Laufe der Zeit weggebrochen sind. Dem Wasserfall werden heilende mystische Kräfte (nicht zuletzt durch die Verbindung zum heiligen Nectan, einem Heiligen, von dem im Westen von England viele Geschichten existieren) nachgesagt. An dem Tag, als ich dort war, waren die Wände um den Wasserfall herum bedeckt mit Mitbringseln jeglicher Art (Stoffherzen, Karten, bemalte Steine usw.). Interessant ist übrigens auch, daß Charles Dickens ein Bild von Daniel Maclise besessen hat, welches den Wasserfall Nightons Keive zusammen mit der Schwägerin von Dickens' Frau zeigt. Das Bild Girl at the waterfall hängt nun im Dickens House Museum in London. Möglicherweise hatte Wilkie Collins auch hier bei Charles Dickens doch noch die Gelegenheit, den Wasserfall zu betrachten.
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