Fräulein Morris und der Fremde



I.

Als ich ihn zum ersten Mal sah, hatte er sich in eine der öden an der Südküste Englands gelegenen Städte verirrt, nach Sandwich. Soll ich Sandwich beschreiben? Ich denke nicht. Die Wahrheit zu gestehen, Beschreibungen von Orten, wie hübsch sie auch gehalten sein mögen, haben immer etwas mehr oder weniger Langweiliges, und ich hasse das natürlich, da ich ein Weib bin. Aber vielleicht wird doch aus meinem Berichte über die Unterhaltung, die wir miteinander hatten, als wir uns zum ersten Mal als Fremde in der Straße begegneten, so eine Art Beschreibung von Sandwich gleichsam herauströpfeln.

Ärgerlich redete er mich an: »Ich habe mich verirrt.«

»Leuten, die die Stadt nicht kennen, passiert dies oft« bemerkte ich.

Er fuhr fort: »Welches ist der Weg zum Gasthofe zur Lilie?«

Um diesen zu erreichen, musste er zuerst auf demselben Wege wieder zurückgehen, alsdann links sich wenden, dann so lange weiter gehen, bis er zwei sich kreuzende Straßen fand, dann die Straße zur Rechten einschlagen, sich dann umsehen nach einer zweiten links abbiegenden Straße und dann dieser veränderten Richtung folgen, bis er Ställe roch – dort war der Gasthof. Ich erklärte ihm dies in der deutlichsten Weise und war bei keinem einzigen Worte im Zweifel.

»Wie zum Teufel soll ich das alles im Gedächtnis behalten?« rief er.

Das war ungezogen. Wir sind natürlich sehr ungehalten über einen Mann, der sich uns gegenüber ungezogen benimmt. Aber ob wir ihm mit Verachtung den Rücken wenden, oder ob wir barmherzig sind und ihm eine Lektion über Höflichkeit geben, das hängt ganz von dem Manne ab. Er kann ein Bär sein, aber er kann doch auch seine versöhnenden Eigenschaften haben. Jener hatte solche. Ob er schön oder hässlich war, jung oder alt, gut oder schlecht gekleidet, das kann ich nicht mit Bestimmtheit sagen. Aber mit Bestimmtheit kann ich von seinen persönlichen Vorzügen sprechen, die auf ihn aufmerksam werden ließen. So zum Beispiel war der Ton seiner Stimme überzeugend. (Las man jemals eine unserer Geschichten, in der wir es unterließen, bei der Stimme unseres Helden zu verweilen?) Dann auch war sein Haar leidlich lang.(Kennt man eine Frau, die einen Mann mit kurzgeschnittenem Kopfhaare leiden mag?) Überdies war er von hoher Statur. (Es muss schon eine sehr hochgewachsene Frau sein, die sich zu einem kleinen Manne hingezogen fühlt.) Endlich war der Schelm, obgleich seine Augen in Form und Farbe nur mäßig hübsch sich präsentierten, doch auf eine unerklärliche Weise in den Besitz sehr schöner Augenwimpern gekommen.

Sie waren sogar schöner als die meinigen. Ich schreibe in völligem Ernste. Es gibt eine Frau, die über die gewöhnliche Schwäche der Eitelkeit erhaben ist – und sie hält eben die Feder in der Hand.

Ich gab also meinem verirrten Fremden eine Lektion über Höflichkeit und kleidete sie in eine verfängliche Form. Ich fragte ihn, ob er es gerne sehe, dass ich ihm den Weg zum Gasthofe zeige. Er war noch darüber verdrießlich, dass er sich verirrt hatte, und antwortete, wie ich dies vorausgesehen hatte, schwerfällig: »Ja!«

»Als Sie noch ein Knabe waren und etwas wünschten« fragte ich, »lehrte Sie da Ihre Mutter nicht sagen 'Bitte'?« Er errötete wirklich.

»Sie tat dies« gab er zu, »und sie lehrte mich auch sagen: 'Ich bitte um Verzeihung', wenn ich ungezogen war. Ich will daher jetzt sagen: Ich bitte um Verzeihung.«

Diese sonderbare Entschuldigung bestärkte mich in meinem Glauben an seine versöhnenden Eigenschaften. Ich führte ihn den Weg zum Gasthofe. Schweigend folgte er mir. Aber keine Frau, welche sich selbst achtet, kann das Schweigen ertragen, wenn sie in der Gesellschaft eines Mannes sich befindet. Ich brachte ihn zum Sprechen.

»Kommen Sie von Ramsgate zu uns?« fing ich an. Er nickte nur. »Wir halten hier nicht viel von Ramsgate« fuhr ich fort. »Es gibt nicht ein altes Bauwerk in diesem Orte. Und Ramsgates erster Oberbürgermeister wurde erst kürzlich gewählt!«

Dieser Gesichtspunkt schien ihm neu zu sein. Er machte keinen Versuch, ihn zu bestreiten; er blickte nur umher und sagte:

»Sandwich ist ein düsterer Ort, Fräulein!« Er machte so rasche Fortschritte in der Höflichkeit, dass ich ihn durch ein Lächeln ermutigte. Als zur Bürgerschaft von Sandwich gehörig darf ich sagen, dass wir es als ein Kompliment betrachten, wenn uns gesagt wird, dass unsere Stadt ein melancholischer Ort ist. Und warum nicht? Melancholie ist verbunden mit Würde und Würde mit dem Alter. Und wir sind ja alt. Ich lehre meine Zöglinge unter anderem Logik – das war eine Probe davon. Was auch immer Gegenteiliges gesagt werden möge, Frauen haben ein vernünftiges Urteil. Sie können auch phantasieren, und ich muss zugeben, dass ich dies eben tue. Erwähnte ich anfangs, dass ich Erzieherin war? Wenn nicht, so muss die Anspielung auf meine Zöglinge recht unvermittelt hierher geraten sein. Ich bitte um Entschuldigung und kehre zu meinem verirrten Fremden zurück.

»Gibt es in ganz Sandwich so etwas wie eine gerade Straße?« fragte er.

»Nicht eine gerade Straße im ganzen Städtchen.«

»Irgend welchen Handel, Fräulein?«

»So wenig wie möglich – und dieser ist im Verfall.«

»Kurzum, ein verkommener Ort?«

»Vollständig verkommen.«

Mein Ausdruck schien ihn in Erstaunen zu setzen. »Sie sprechen, als wenn Sie stolz darauf wären, dass Sandwich verkommen ist« sagte er.

Ich billigte gebührend seine Bemerkung, denn sie war sehr verständig. Wir freuen uns unseres Verfalles: er bildet unsere besondere Auszeichnung. Fortschritt und Gedeihen sonst überall, hier Verfall und Auflösung. Als notwendige Folge hiervon bringen wir unseren besonderen Eindruck hervor und wir lieben es, originell zu sein. Das Meer verließ uns vor langer Zeit: einst bespülte es unsere Mauern, jetzt ist es zwei Meilen von uns weg – wir vermissen das Meer nicht. Wir hatten zuweilen, der Himmel allein weiß, vor wie vielen Jahrhunderten, fünfundneunzig Schiffe in unserem Hafen; jetzt haben wir ein oder zwei kleine Küstenfahrzeuge, die die Hälfte ihrer Zeit in dem Schlamme eines kleinen Flusses liegen – wir vermissen unseren Hafen nicht. Aber ein Haus in der Stadt ist kühn genug, die Ankunft Wohnung suchender Fremden zu erwarten, und kündigt an, dass möblierte Zimmer zu vermieten seien. Welch ein passender Gegensatz zu unserem modernen Nachbar Ramsgate! Unser vornehmer Marktplatz veröffentlicht die von der Gemeindebehörde erlassenen Verordnungen, und jede Woche gibt es weniger Leute, die sie beobachten. Wie passend! Betrachten Sie unser einziges Magazin am Flusse – mit dem gewöhnlich unbenutzten Kranen, den meistens mit Brettern verschalten Fenstern und vielleicht mit einem einzigen Manne an der Tür, der sich nach Arbeit umsieht, die, wie sein Verstand ihm sagt, unmöglich kommen kann.Welch ein heilsamer Protest gegen die sonstige alles zerstörende Hast und Überanstrengung, die die Kräfte der Station zerrüttet haben. »Fern sei von mir und meinen Freunden« (um einen beredten Ausdruck Doktor Johnsons zu gebrauchen) »solch kühle Begeisterung, die uns ungerührt und gleichgültig« über die Brücke führt, auf der Sie Sandwich betreten und Brückengeld zahlen, wenn Sie zu Wagen kommen.

»Der Mann« (auch nach Doktor Johnson) »ist wenig zu beneiden« der sich in unsere labyrinthischen Straßen verirren kann und nicht fühlte, dass er die willkommenen Grenzen des Fortschritts erreicht und einen Hafen der Ruhe in diesem Zeitalter der Hast gefunden hat.

Ich phantasiere wieder. Man dulde die unüberlegte Begeisterung einer Bewohnerin Sandwichs, die die Jahre der Besonnenheit erst an ihrem letzten Geburtstage erreicht hat. Wir werden mit Sandwich bald fertig sein; denn wir sind ganz nahe dem Gasthofstore.

»Sie können jetzt nicht mehr irre gehen, mein Herr« sagte ich.

»Guten Morgen.«

Er blickte unter seinen schönen Augenwimpern hervor und sah auf mich herab (habe ich erwähnt, dass ich eine kleine Frau bin?) und er fragte in seiner überzeugenden Art: »Müssen wir wirklich Lebewohl sagen?«

Ich verbeugte mich.

»Würden Sie mir erlauben, Sie sicher nach Hause zu bringen?« warf er ein.

Ein anderer Mann würde mich gekränkt haben. Dieser Mann errötete wie ein Knabe und blickte auf das Pflaster, anstatt mich anzusehen. Unterdessen hatte ich meinen Entschluss gefasst. Er war zweifellos nicht bloß ein gebildeter Herr, er war auch ein schüchterner Mann. Sein unbeholfenes Benehmen und seine sonderbaren Äußerungen waren, wie ich mir dachte, teils Anstrengungen, seine Schüchternheit zu verbergen, teils Hilfsmittel, durch die er die eigene Empfindung davon zu verscheuchten suchte. Ich beantwortete seinen kühnen Vorschlag freundlich und mit einem Scherze. »Sie würden nur nochmals den Weg verfehlen« sagte ich; »und ich müsste Sie zum zweiten Mal nach dem Gasthofe zurückbringen.« Unnütze Wortverschwendung! Mein halsstarriger Fremder machte nun einen neuen Vorschlag.

»Ich habe hier das Frühstück bestellt« sagte er, »und ich bin ganz allein.«

Er hielt verlegen inne und nahm eine Miene an, als wenn er eher erwarte, von mir eine Ohrfeige zu bekommen. »Ich werde an meinem nächsten Geburtstage vierzig Jahre alt sein« fuhr er fort, »ich bin alt genug, Ihr Vater zu sein.« Ich brach beinahe in lautes Lachen aus und schritt über die Straße meiner Wohnung zu. Er folgte mir. »Wir könnten ja die Wirtin einladen, uns Gesellschaft zu leisten« sagte er und bot dafür das Bild eines überstürzten Mannes, den das Bewusstsein seiner eigenen Unvorsichtigkeit erschreckt hat. »Könnten Sie mir nicht die Ehre erweisen, mit mir zu frühstücken, wenn wir die Wirtin bei uns hätten?« fragte er.

Das war doch ein wenig zu viel. »Davon kann gar keine Rede sein, mein Herr – und Sie sollten dies wissen« sagte ich mit strenger Miene.

Zögernd streckte er mir die Hand entgegen. »Wollen Sie mir nicht einmal die Hand reichen?« fragte er in kläglichem Tone. Wenn wir einem Manne in der geziemendsten Weise einen Tadel ausgesprochen haben, was ist es für eine Verkehrtheit, ihn schon eine Minute nachher schwächlich zu bemitleiden? Ich war töricht genug, diese mir vollständig fremden Manne die Hand zu reichen. Und nachdem ich dies getan, zeigte ich vollendes, dass mir jede Würde mangele, indem ich weglief. Unsere armen kleinen Straßen mit ihren Krümmungen entzogen mich bald seinen Blicken.

Als ich im Hause meines Herrn die Türschelle zog, fuhr mir ein Gedanke durch den Kopf, der auch für jemand von einer geordneteren Gemütsverfassung beunruhigend gewesen sein mochte.

»Angenommen, der Fremde würde nach Sandwich zurückkehren.«



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II

Ehe noch geraume Zeit verstrichen war, hatte ich mit meiner eigenen Not zu kämpfen, die den wunderlichen Fremden eine Zeitlang aus meinem Sinne verdrängte.

Unglücklicherweise bildete diese Not einen Teil meiner Erzählung, und mein früheres Leben ist mit ihr aufs engste verbunden. Mit Rücksicht auf das, was nachfolgt, möchte ich daher einige Worte über die Zeit meines Lebens sagen, in der ich noch nicht Erzieherin war.

Ich bin die verwaiste Tochter eines Krämers in Sandwich. Als mein Vater starb, hinterließ er seiner Witwe und seinem Kinde einen ehrlichen Namen und ein kleines Einkommen von achtzig Pfund jährlich. Wir führten das Ladengeschäft weiter; aber wir gewannen dabei weder noch verloren wir etwas. Um die Wahrheit zu sagen, es war niemand da, der unser armseliges kleines Geschäft kaufen wollte. Ich war damals dreizehn Jahre alt und bereits imstande, meiner Mutter zu helfen, deren Gesundheit zu der Zeit zu schwinden begann. Niemals werde ich einen hellen Sommertag vergessen, an dem ich einen neuen Kunden unseren Laden betreten sah. Er war ein ältlicher Herr und schien überrascht zu sein, ein so junges Mädchen wie mich mit der Führung des Geschäfts betraut zu finden und, was mehr ist, zu sehen, dass es zu dieser Führung auch befähigt war. Ich beantwortete seine Fragen in einer Weise, die ihm zu gefallen schien. Er merkte bald, dass meine Erziehung, abgesehen von meiner Geschäftskenntnis, außerordentlich vernachlässigt war, und fragte, ob er meine Mutter sehen könne. Diese ruhte auf einem Sofa im hinteren Zimmer und empfing ihn dort. Als er wieder herauskam, streichelte er mir die Wange. »Ich habe Gefallen an Ihnen gefunden« sagte er, »und werde vielleicht wieder zurückkommen.« Er kam wieder zurück. Meine Mutter hatte ihn zur Auskunft über unseren Ruf in hiesiger Stadt an den Pfarrer verwiesen und er hatten von ihm alles erfahren, was dieser über uns wusste. Unsere einzigen Verwandten waren nach Australien ausgewandert, und es ging ihnen dort nicht gut. Der Tod meiner Mutter musste mich daher, soweit Verwandte in Betracht kamen, buchstäblich allein in der Welt lassen.

»Geben Sie diesem Mädchen eine vorzügliche Erziehung« sagte unser ältlicher Kunde, als er im hinteren Zimmer am Teetische bei uns saß, »und es wird sein Ziel erreichen. Wenn Sie es in die Schule schicken wollen, werteste Frau, so will ich die Kosten seiner Ausbildung übernehmen.« Meine arme Mutter fing an zu weinen, als sie daran dachte, dass wir uns trennen müssten. Der alte Herr sagte: »Überlegen Sie es sich« und stand auf, um wegzugehen. Er gab mir seine Karte, als ich ihm die Ladentür öffnete. »Wenn Sie in Not geraten« flüsterte er mir zu, so dass meine Mutter ihn nicht hören konnte, »so seien Sie ein verständiges Kind und schreiben oder sagen Sie es mir.« Ich sah auf die Karte. Unser gutherziger Kunde war kein geringerer als Herr Gervasius von Damian von Garrum Park in Sussex, welcher auch in unserer Grafschaft begütert war. Er war ohne Zweifel durch den Pfarrer über den wahren Zustand der Gesundheit meiner Mutter besser als ich unterrichtet.

Vier Monate nach dem denkwürdigen Tage, da der angesehene Mann den Tee bei uns nahm, war die Zeit für mich gekommen, allein in der Welt zu stehen. Ich habe nicht den Mut, bei dieser Zeit zu verweilen, meine Stimmung verdüstert sich, selbst nach so langer Zeit noch, wenn ich an mich in jenen Tagen denke. Der gute Pfarrer unterstützte mich – ich schrieb an Herrn Gervasius von Damian.

Seit der Zeit unserer Begegnung war auch in seinem Leben eine Veränderung eingetreten.

Herr von Damian hatten zum zweiten Male geheiratet und hatte, was in seinem Alter vielleicht noch törichter war, eine junge Frau genommen. Es wurde gesagt, dass sie schwindsüchtig und zugleich sehr eifersüchtiger Natur sei. Das einzige Kind ihres Gatten aus erster Ehe, sein Sohn und Erbe, war über die zweite Heirat seines Vaters so erbittert, dass er das Haus verließ. Da der Grundbesitz als Erblehn dem Sohne gehörte, so konnte Herr von Damian sein Urteil über seines Sohnes Betragen nur in der Weise fällen, dass er in einem neuen Testament sein ganzes Vermögen in barem Gelde seiner jungen Frau vermachte.

Diese Einzelheiten erfuhr ich von dem Verwalter, der eigens abgeschickt worden war, mich in Sandwich zu besuchen.

»Herr von Damian gibt niemals ein Versprechen, das er nicht auch hält« sagte mir dieser Herr. »Ich habe die Weisung, Sie in eine vorzügliche Mädchenschule in der Nähe von London zu bringen und alle notwendigen Anordnungen zu treffen, damit Sie dort bis zur Vollendung ihres achtzehnten Lebensjahres verbleiben können. Irgendwelche schriftlichen Mitteilungen wollen Sie in Zukunft gefälligst durch die Hand des Pfarrers von Sandwich gehen lassen. Die schwankende Gesundheit der Frau von Damian macht es nur zu wahrscheinlich, dass sie und ihr Gemahl sich meistens in einem milderen Klima als dem von England aufhalten werden.«

»Ich bin angewiesen, Ihnen dies mitzuteilen und Ihnen von Herrn von Damian beste Wünsche zu überbringen.«

Auf den Rat des Pfarrers fügte ich mich in die Lage, die mir in so unangenehm förmlicher Weise angeboten wurde, da ich – mit vollem Recht, wie ich nachher erfuhr – vermuten konnte, dass ich diese Anordnung, die mich von meinem Wohltäter persönlich trennte, Frau von Damian zu verdanken hatte.

Die Güte ihres Gemahls und meine Dankbarkeit, die sich auf dem neutralen Boden von Garrum Park begegneten, waren für diese Dame die Ursache zu ehelichem Misstrauen geworden. Abscheulich! Abscheulich! Ich ließ einen aufrichtig dankbaren Brief zurück, der an Herrn von Damian befördert werden sollte, und kam, vom dem Verwalter begleitet, zur Schule, als ich gerade vierzehn Jahre alt war.

Ich weiß, dass ich töricht bin. Es tut nichts. Ich besitze ein wenig Stolz in mir, obgleich ich nur die Tochter eines kleinen Krämers bin. Mein neues Leben hatte seine Versuchungen, aber mein Stolz hielt mich aufrecht.

Während der vier Jahre, die ich in der Schule blieb, mochte das Wohlergehen meiner geringen Person wohl dem Pfarrer und zuweilen selbst dem Verwalter Veranlassung zur Nachfrage geben, niemals aber Herrn von Damian selbst. Die Winter brachte er ja ohne Zweifel im Auslande zu, aber im Sommer waren er und seine Frau doch wieder zu Hause. Man fühlte jedoch nicht einmal so viel Mitleid mit meiner verlassenen Lage, dass man mich ersucht hätte, für einen oder zwei Tage in den Ferien der Gast des Hausmeisters zu Garrum Park zu sein. (Weiter hatte ich nichts erwartet.) Mein Stolz hatte dies bitter empfunden. Aber mein Stolz sagte zu mir: »Übe Gerechtigkeit gegen dich selbst!« Ich arbeitete so fleißig, und meine Aufführung war so tadellos, dass die Vorsteherin der Schule an Herrn von Damian schrieb, wie vollständig ich der Güte würdig sei, die er mir erwiesen habe. Keine Antwort traf ein. (O, Frau von Damian!) Kein Wechsel änderte mein eintöniges Leben – ausgenommen, wenn eine befreundete Mitschülerin mich zuweilen für einige Tage in den Ferien mit sich nach Hause nahm. Es schadete nichts! Mein Stolz hielt mich aufrecht. Als das letzte halbe Jahr herankam, begann ich die wichtige Frage meiner Zukunft in ernstliche Erwägung zu ziehen.

Ohne Zweifel hätte ich von meinen achtzig Pfund jährlich leben können, aber was für ein einsames, dürftiges Dasein versprach dies zu werden, wenn mich nicht jemand heiratete, und wo, sage man mir gütigst, sollte ich diesen finden? Meine Ausbildung befähigte mich vollständig zur Erzieherin.

Warum sollte ich nicht mein Glück versuchen und auf diese Weise ein wenig von der Welt sehen? Selbst wenn ich unter übelgeartete Leute geriet, konnte ich mich ja wieder von ihnen frei machen und zu dem kleinen Einkommen meine Zuflucht nehmen. Als der Pfarrer nach London kam, stattete er auch mir einen Besuch ab. Er billigte nicht allein mein Vorhaben, sondern bot mir auch die Gelegenheit, es auszuführen Eine vortreffliche Familie, die sich unlängst in Sandwich niedergelassen hatte, bedurfte einer Erzieherin. Der Hausherr war Teilhaber eines Geschäftes — dessen nähere Beschaffenheit zu erwähnen wird nicht nötig sein — und dieses hatte außerhalb Londons Zweigniederlassungen.

Auch zu Sandwich war eine solche neue Niederlassung als geschäftlicher Versuch unter besonderen Umständen gegründet und der erwähnte Teilhaber zu dessen Beaufsichtigung bestimmt worden.

Der Gedanke, in meinen Heimatsort zurückzukehren, gefiel mir — so langweilig der Ort auch anderen erschien.Ich nahm die Stelle an.

Als des Verwalters üblicher halbjährlicher Brief bald nachher eintraf, in dem er mich fragte, was ich beim Abgang von der Schule zu tun gedächte und wie er mich hierbei namens des Herrn von Damian unterstützen könne, da durchdrang mich ein köstliches Gefühl von Kopf zu Fuß, wenn ich an meine Unabhängigkeit dachte.

Es war nicht Undankbarkeit gegen meinen Wohltäter, es war nur ein kleiner, stiller Triumph über Frau von Damian.

O, meine Mitschwestern, könnt ihr mich nicht verstehen und mir vergeben?

So kehrte ich nach Sandwich zurück und blieb dort während dreier Jahre bei den gütigsten, wohlwollendsten Menschen, die jemals gelebt haben. Unter ihrem Dache weilte ich noch, als ich dem verirrten Fremden in der Straße begegnete.

Ach! das Ende jenes rührigen, angenehmen Lebens war nahe. Als ich mit dem seltsamen Fremden leichthin über den verfallenden Handel der Stadt sprach, da ahnte ich nicht, dass auch das Geschäft meines Herrn in Verfall geriet. Die Spekulation erwies sich als fehlgeschlagen, und alle seine

Ersparnisse waren von ihr verschlungen worden. Er konnte nicht länger in Sandwich bleiben und war nicht mehr imstande, eine Erzieherin zu halten. Seine Frau teilte mir die traurige Nachricht mit.

Ich hatte die Kinder so liebgewonnen, dass ich ihr vorschlug, auf mein Gehalt zu verzichten. Ihr Gemahl lehnte es aber ab, mein Anerbieten auch nur in Erwägung zu ziehen. Es war wieder einmal die alte Geschichte von den armen Menschenkindern. Wir weinten, wir küssten uns und schieden voneinander. Was sollte ich tun? An Herrn von Damian schreiben?

Ich hatte schon bald nach meiner Rückkehr nach Sandwich geschrieben und handelte dabei den getroffenen Anordnungen zuwider, indem ich mich an Herrn von Damian direkt wandte. Ich drückte meine dankbaren Gefühle für seine Großmut mir, einem armen Mädchen gegenüber aus, das keinerlei Familienansprüche an ihn habe, und ich versprach, diejenige Vergeltung zu üben, die allein in meiner Macht stehe, zu versuchen, mich der mir erwiesenen Teilnahme würdig zu erweisen. Dieser Brief war ohne jeden Hintergedanken geschrieben worden. Mein neues Leben als Erzieherin war ein so glückliches, dass das niedrige Gefühl der Bitterkeit gegen Frau von Damian entschwunden war.

Es war für mich eine Erleichterung, an diese Veränderung zum Besseren zu denken, als der Sekretär in Garrum Park mich benachrichtigte, dass er meinen Brief Herrn von Damian, der sich mit seiner kranken Gemahlin zu Madeira aufhalte, übersandt habe. Die Frau siechte langsam, aber ohne Rettung dahin. Ehe noch ein Jahr vorüber war, war Herr von Damian zum zweiten Mal Witwer geworden, ohne ein Kind zu haben, das ihn in seinem Verluste hätte trösten können. Es kam keine Antwort auf mein Dankschreiben. Es wäre allerdings unbillig von mir gewesen. wenn ich erwartet hätte, dass der verwitwete Gatte in seinem Kummer und seiner Einsamkeit noch an mich hätte denken sollen.

Konnte ich unter diesen Umständen ihm nochmals in meiner eigenen unbedeutenden Sache schreiben? Ich glaubte und glaube noch, dass das geringste Zartgefühl mir dies verbot. Die einzige andere Möglichkeit war, mich an die immer bereiten Freunde des geringeren, hilflosen Publikums zu wenden. Ich annoncierte in den Zeitungen. Der Stil einer der Offerten machte einen so günstigen Eindruck auf mich, dass ich meine Zeugnisse einsandte. Die nächste Post brachte mein schriftliches Engagement und das Anerbieten eines Gehaltes, das mein Einkommen verdoppelte.

Die Geschichte der Vergangenheit ist erzählt und wir können nun ohne Unterbrechung weitergehen.



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III

Der Wohnort meines jetzigen Herrn lag im nördlichen England. Da ich London zu passieren hatte, richtete ich es so ein, dass ich mich mehrere Tage in der Stadt aufhalten konnte, um mir einige notwendige Ersatzstücke für meine Garderobe zu beschaffen. Eine alte Dienerin des Pfarrers, die in der Vorstadt ein Logierhaus innehatte, nahm mich freundlich auf und leitete in der wichtigen Eigenschaft einer Damenschneiderin meine Auswahl. Am zweiten Morgen nach meiner Ankunft wurde mir durch die Post ein Brief überbracht, der aus dem Pfarrhause an mich abgesandt worden war. Man kann sich mein Erstaunen vorstellen, wenn ich sage, dass Herr Gervasius von Damian selbst den Brief geschrieben hatte.

Der Brief war in seinem Londoner Hause geschrieben worden, und ich wurde in ihm kurzer Hand gebeten, zum Besuche bei ihm aus einem Grunde vorzusprechen, den ich aus seinem eignen Munde hören solle. Er vermutete natürlich, dass ich noch in Sandwich verweile, und ersuchte mich in einer Nachschrift, meine Reise als auf seine Kosten ausgeführt zu betrachten.

Ich begab mich noch an demselben Tage zu seiner Wohnung. Als ich im Hausflur meinen Namen angab, trat ein Herr heraus und redete mich ohne weitere Umstände an.

»Herr von Damian glaubt« sagte er, »dass er sterben werde. Bestärken Sie ihn nicht in diesem Gedanken. Er kann noch ein und das andere Jahr leben, wenn seine Freunde ihn nur bereden wollen, dass er die Hoffnung nicht sinken lässt.«

Mit diesen Worten verließ er mich, und der Diener teilte mir mit, dass es der Arzt gewesen sei.

Die Veränderung in dem Zustande meines Wohltäters, seitdem ich ihn zuletzt gesehen hatte, erschreckte und betrübte mich außerordentlich Er lag zurückgelehnt in einem großen Sessel und trug einen abscheulichen schwarzen Schlafrock. Er war jämmerlich abgezehrt und sah bedrückt und erschöpft aus. Ich glaube nicht, dass ich ihn wiedererkannt hätte, wenn wir uns zufällig begegnet wären.

Er winkte mir, auf einem kleinen Stuhle an seiner Seite Platz zu nehmen.

»Ich wünschte Sie zu sehen« sagte er ruhig, »ehe ich sterbe. Sie müssen mich mit vollem Recht für nachlässig und unfreundlich gehalten haben. Mein liebes Kind, Sie sind nicht vergessen worden. Wenn Jahre vergangen sind, ohne dass wir uns gesehen haben, so ist dies nicht meine Schuld allein gewesen —«

Er hielt inne. Ein schmerzlicher Zug ging über sein armes, abgezehrtes Gesicht; er dachte augenscheinlich an die junge Frau, die er verloren hatte.

Ich wiederholte warm und aufrichtig, was ich ihm schon schriftlich gesagt hatte: »Ich verdanke alles, gnädiger Herr, Ihrer väterlichen Güte.« Als ich dies sagte, wagte ich mich ein wenig näher, ergriff seine welke, weiße Hand, die über die Lehne seines Stuhles hing, und brachte sie ehrerbietig an meine Lippen. Er entzog mir sanft seine Hand und stieß dabei einen Seufzer aus. Vielleicht hatte sie diese Hand zuweilen geküsst.

»Nun erzählen Sie mir etwas von Ihnen selbst« sagte er. Ich erzählte ihm von meiner neuen Stellung und in welcher Weise ich sie erlangt hatte. Er hörte mir mit sichtbarem Interesse zu.

»Ich täuschte mich nicht« sagte er, »als ich damals im Laden für Sie eingenommen wurde. Ich bewundere Ihr selbständiges Auftreten; es ist der rechte Mut bei einem Mädchen, wie Sie es sind. Aber Sie müssen mich etwas mehr für Sie tun lassen — eine kleine Gefälligkeit, durch welche Sie sich meiner erinnern, wenn ich nicht mehr sein werde. Was soll es sein?«

»Machen Sie, dass es wieder besser mit Ihnen wird, gnädiger Herr, und erlauben Sie mir, dass ich zuweilen an Sie schreibe« antwortete ich; »mehr wünsche ich wirklich nichts.«

»Sie werden aber doch wenigstens ein kleines Geschenk von mir annehmen?« Mit diesen Worten nahm er aus der Brusttasche seines Schlafrockes ein emailliertes Kreuz, das an einer goldenen Kette hing. »Denken Sie zuweilen an mich« sagte er, als er die Kette mir um den Hals legte. Er zog mich sanft an sich und küsste mir die Stirn. Es war zu viel für mich. »Weinen Sie nicht, mein teures Kind« sagte er, »erinnern Sie mich nicht an ein anderes trauriges junges Gesicht –«

Er hielt noch einmal inne, und noch einmal dachte er an die tote Frau. Ich zog meinen Schleier nieder und eilte aus dem Zimmer.



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IV

Am nächsten Tage war ich auf dem Wege nach dem Norden. Die Geschichte meines Lebens hellt sich wieder auf – aber wir wollen Herrn Gervasius von Damian nicht vergessen.

Ich bitte um die Erlaubnis, einige Leute von Stand hier einzuführen: Frau Fosdyke von Carsham Hall; Witwe des Generals Fosdyke; sodann den jungen Herrn Friedrich, Fräulein Helene und Fräulein Eva, die Zöglinge der neuen Erzieherin, und endlich zwei Damen und drei Herren, die als Gäste im Hause verweilten. Besonnen und würdig, schön und gebildet — das war der Eindruck, den ich von Frau Fosdyke empfing, als sie von ihren Kindern zu mir sprach und mir ihre Ansichten über Erziehung mitteilte. Da ich diese Ansichten vorher schon von andern gehört hatte, so tat ich zwar, als wenn ich ihr zuhörte, bildete mir aber insgeheim meine Meinung über das Schulzimmer. Es war groß, hoch und vollkommen seinem Zweck entsprechend ausgestattet; es hatte ein großes Fenster und einen Balkon, die auf die Gartenterrasse und den dahinter liegenden Park hinausgingen — nach meiner geringen Erfahrung ein wundervolles Schulzimmer. Eine der beiden Türen, die es besaß, stand offen und zeigte mir ein liebliches, kleines Schlafgemach mit hellbraunen Tapeten und mit Möbeln aus Ahornholz, das für mich bestimmt war. Hier zeigten sich Reichtum und Freigebigkeit in jener wohltuenden Verbindung, die ein Geringbegüterter so selten wahrzunehmen Gelegenheit hat.

Ich beherrschte mein anfängliches Gefühl der Verwirrung gerade zur rechten Zeit, um Frau Fosdyke über Lesen und Deklamieren Rede zu stehen, geringer geachtete Fertigkeiten, die, wie man erwarten konnte, eine gute Erzieherin wohl beizubringen verstand.

»So lange die Organe noch jung und biegsam sind« bemerkte die Dame, »erachte ich es von großer Wichtigkeit, die Kinder in der Kunst zu üben, laut, mit entsprechender Betonung und mit richtigem Nachdruck zu lesen. In dieser Weise geübt, werden sie, erwachsen, einen günstigen Eindruck auf andere selbst in der gewöhnlichen Unterhaltung hervorbringen. Poesie, dem Gedächtnisse eingeprägt und dann vorgetragen, ist ein wertvolles Mittel zu diesem Zwecke. Darf ich hoffen, dass Ihre Studien Sie befähigt haben, meine Absichten auszuführen?«

Etwas förmlich im Ausdruck, aber in höflicher und freundlicher Weise benahm ich Frau Fosdyke ihre Besorgnis, indem ich ihr mitteilte, dass wir in der Schule einen Lehrer der Beredsamkeit gehabt hätten. Und dann wurde mir überlassen, die Bekanntschaft mit meinen drei Zöglingen zu vervollständigen.

Es waren dies ganz verständige Kinder, der Knabe, wie gewöhnlich, etwas schwerfälliger als die Mädchen. Ich tat — mit mancher traurigen Erinnerung an die weit teureren Zöglinge, die ich verlassen hatte — mein Bestes, sie dazu zu bringen, dass sie mich gern hatten und mir vertrauten; und es gelang mir bald, ihr Zutrauen vollständig zu gewinnen. Eine Woche nach meiner Ankunft in Carsham Hall begannen wir, uns gegenseitig zu verstehen. Der erste Tag der Woche wurde nach den von Frau Fosdyke erhaltenen Anweisungen für das Deklamieren von Dichtungen bestimmt. Ich war mit den Mädchen fertig und hatte in Fritzchens rednerischem Interesse Shakespeares Julius Cäsar gerade in Angriff genommen (entweiht sollte ich vielleicht sagen).

Die Hälfte von Markus Antonius herrlicher Rede an der Leiche Cäsars hatte Fritz auswendig gelernt, und es war nun meine Pflicht, ihn so gut als dies bei meiner geringen Fähigkeit möglich war, zu lehren, wie er dies aussprechen sollte. Der Morgen war warm, und wir hatten unser großes Fenster offen; der köstliche Wohlgeruch der Blumen unten im Garten erfüllte das Zimmer Ich trug laut die ersten acht Zeilen vor und hielt dann inne, da ich fühlte, dass ich von dem Knaben für den Anfang nicht zu viel fordern dürfe. »Nun Fritzchen« sagte ich, »versuche, ob du die Verse so sprechen kannst, wie ich sie gesprochen habe.«

»Tue so was durchaus nicht, Fritzchen« sagte eine Stimme aus dem Garten, »es ist alles falsch gesprochen.«

Wer war dieser unverschämte Mensch? Unzweifelhaft ein Mann — und es lag seltsamerweise in seiner Stimme etwas, was mir nicht ganz fremd war. Die Mädchen fingen an zu kichern. Ihr Bruder war deutlicher »O« sagte Fritz, »es ist nur der Herr Sax.«

Das einzig richtige Verhalten, das ich beobachten konnte, war, die Unterbrechung nicht zu beachten. »Fahre fort« sagte ich. Fritz sagte die Zeilen wie ein lieber, guter Knabe her, indem er meine Betonung sich so gut zu eigen machte, wie es von ihm nur erwartet werden konnte.

»Armer Teufel« hörte ich wieder die Stimme mit ihrem aufdringlichen Mitleid für meinen aufmerksamen Zögling aus dem Garten rufen. Durch einen Blick gebot ich den Mädchen Schweigen — und äußerte dann, ohne vom Stuhle aufzustehen, meine Meinung über das unpassende Benehmen des Herrn Sax in deutlichen, entschiedenen Worten. »Ich werde genötigt sein, das Fenster zu schließen, wenn so etwas wieder vorkommen sollte.« Nachdem ich dies gesagt hatte, wartete ich auf eine Entschuldigung Die einzige Entschuldigung war Stillschweigen Es genügte mir, den richtigen Eindruck hervorgebracht zu haben, und ich fuhr in meiner Deklamation fort:

»Hier mit des Brutus Willen und der andern

(Denn Brutus ist ein ehrenwerter Mann, Das sind sie alle, alle ehrenwert)

Komm' ich, bei Cäsars Leichenzug zu reden.

Er war mein Freund, war mir gerecht und treu —«

»O guter Gott, ich kann das nicht aushalten! Warum sprechen Sie nicht die letzte Zeile richtig aus? Hören Sie mich!«

Würde ist eine schätzbare Eigenschaft, besonders bei einer Erzieherin. Aber es gibt Grenzen selbst für die aufs äußerste geübte Geduld. Ich eilte auf den Balkon und sah dort auf der Gartenterrasse, eine Zigarre rauchend, meinen in den Straßen Sandwichs verirrten Fremden!

Er erkannte mich seinerseits in dem Augenblicke wieder, als ich auf dem Balkon erschien. »O Gott!« rief er im Tone des Entsetzens und stürzte von der Terrasse, als wenn meine Augen wütende, ihn verfolgende Stiere gewesen wären. Nun ist es, fürchte ich, nutzlos, mich im Notfalle für eine besonnene Person auszugeben. Eine andere Frau hätte sich vielleicht beherrscht, ich aber brach in lautes Lachen aus, und Fritz und die Mädchen taten dasselbe. Es war klar, dass es jetzt nutzlos sein würde, das Erziehungsgeschäft fortzusetzen.

Ich machte daher mein Buch zu und erlaubte den Kindern — nein, ich will die Wahrheit sagen, ich ermunterte sie — von Herrn Sax zu plaudern.

Sie schienen nur das zu wissen, was Herr Sax ihnen selbst erzählt hatte. Vater, Mutter, Brüder und Schwestern waren alle im Laufe der Zeit gestorben. Er war das sechste und jüngste der Kinder und war demzufolge »Sextus« genannt worden, das lateinische Wort für »der sechste« wie Fritz hier einschaltete. Er wurde auch — hier kamen die Mädchen zum Worte — auf den Wunsch seiner Mutter — »Cyril«« genannt, da »Sextus« ein so scheußlicher Name sei. Und welchen von seinen Vornamen gebrauchte er? Man würde nicht fragen, wenn man ihn kennte! »Sextus« natürlich, weil es der hässlichste ist. Sextus Sax? Es ist nicht der romantische Name, den man gern hat, wenn man ein Weib ist. Aber ich habe kein Recht, empfindlich zu sein. Mein eigener Name (ist es möglich, dass ich ihn in diesen Blättern noch nicht erwähnt habe?) ist ja auch nur Ännchen Morris. Man verachte mich nicht — und kehre mit mir wieder zu Herrn Sax zurück. Ist er verheiratet? Das älteste Mädchen glaubte es nicht. Sie hatte gehört, dass ihre Mama zu einer Dame sagte: »Er stammt aus einer alten deutschen Familie, liebe X., und ist trotz seiner Eigenheiten ein vortrefflicher Mann, aber so arm, dass er kaum zum Leben genug hat. Und doch platzt er mit der Wahrheit heraus, wenn die Leute ihn fragen, als wenn er zwanzigtausend Pfund jährlich zu verzehren hätte!«

»Deine Mama kennt ihn also genau?« »Ich sollte es denken, und wir kennen ihn auch. Er kommt oft hierher. Man sagt, dass er kein guter Gesellschafter für erwachsene Leute sei. Wir halten ihn für einen lustigen Burschen. Er versteht sich auf das Puppenspiel und ist der beste Partner beim Bockspringen in ganz England.«

So weit waren wir in dem Lobe des Sextus Sax gekommen, als eins von den Dienstmädchen mit einem Billet für mich hereinkam. Sie lächelte geheimnisvoll und sagte: »Ich soll auf Antwort warten, Fräulein.«

Ich öffnete das Billet und las folgende Zeilen:

»Ich schäme mich so sehr, dass ich nicht wage, meine Entschuldigung persönlich vorzubringen Wollen Sie diese schriftlich annehmen? Auf mein Ehrenwort, niemand sagte mir, als ich gestern hierher kam, dass Sie im Hause seien. Ich hörte Ihre Deklamation und — können Sie meine Dummheit entschuldigen? — ich dachte, es sei ein für das Theater schwärmendes Stubenmädchen, das sich mit den Kindern unterhalte. Darf ich Sie begleiten, wenn Sie mit den Kleinen Ihren gewöhnlichen Spaziergang machen? Ein Wort genügt. Ja oder nein?

Ihr reumütiger

S. S.«

In meiner Stellung war nur eine Antwort möglich. Erzieherinnen dürfen kein Stelldichein mit fremden Herren verabreden — selbst wenn die Kinder als Zeugen anwesend sind. Ich antwortete mit nein. Beanspruche ich zu viel für meine Bereitwilligkeit, Beleidigungen zu vergeben, wenn ich hinzufüge, dass ich es vorgezogen hätte, ja zu sagen?

Wir speisten früh zu Mittag und waren bereit, unseren gewöhnlichen Spaziergang zu machen. Diese Blätter sollen ein aufrichtiges Geständnis enthalten. Ich will daher bekennen, dass ich hoffte, Herr Sax würde meine Weigerung begreifen und Frau Fosdyke um die Erlaubnis bitten, uns begleiten zu dürfen.

Als wir ein wenig zögerten, wie wir die Treppe hinabgingen, hörte ich ihn im Hausflur, als er gerade mit Frau Fosdyke sprach. Was sagte er? Unser lieber Fritz hatte gerade im rechten Augenblick Schwierigkeiten mit einem seiner Schuhriemen. Ich konnte ihm helfen und dabei lauschen – aber das, was ich hörte, täuschte mich bitter in meinen Erwartungen. Herr Sax war erzürnt auf mich.

»Sie brauchen mich der neuen Erzieherin nicht vorzustellen« hörte ich ihn sagen. »Wir sind uns bei einer früheren Gelegenheit bereits begegnet, und ich habe auf sie einen ungünstigen Eindruck gemacht. Ich bitte Sie, bei Fräulein Morris nicht von mir zu sprechen.«

Ehe noch Frau Fosdyke ein Wort erwidern konnte, verwandelte sich unser Fritz aus einem lieben Knaben plötzlich in einen abscheulichen Kobold. »Ich sage Ihnen, Herr Sax« rief er aus »Fräulein Morris macht sich gar nichts aus Ihnen, sie lacht nur über Sie.«

Die Antwort darauf war das plötzliche Schließen einer Tür. Herr Sax hatte sich vor mir in eins der Zimmer des Erdgeschosses geflüchtet. Ich war so ärgerlich, dass ich beinahe geweint hätte.

Als wir unten in den Hausflur kamen, fanden wir Frau Fosdyke, die ihren Sommerhut trug, und eine der beiden Damen, die im Hause wohnten — die Unverheiratete — wie sie ihr an der Tür des Damenzimmers etwas zuflüsterte. Die Dame — Fräulein Melbury — sah mit einer gewissen Neugier nach mir, die ich durchaus nicht verstehen konnte, und wandte sich dann plötzlich dem anderen Ende des Hausflurs zu.

»Ich will mit Ihnen und den Kindern spazieren gehen« sagte Frau Fosdyke zu mir. »Fritz, du kannst auf deinem Dreirad fahren, wenn du Lust hast.« Sie wandte sich dann zu den Mädchen. »Liebe Kinder, es ist kühl unter den Bäumen. Ihr könnt die Sprungseile mitnehmen.«

Sie hatte mir offenbar etwas Besonderes zu sagen und das Nötige angeordnet, um die Kinder von uns weg und außer Hörweite zu halten. Fritz legte seinen Weg auf seinem dreirädrigen Stahlross zurück, die Mädchen folgten ihm, indem sie lustige Sprünge machten.

Frau Fosdyke leitete ihre Geschäfte mit einer Bemerkung ein, die mich unter den gegenwärtigen Verhältnissen am meisten in Verlegenheit setzen musste. »Ich finde, dass Sie mit Herrn Sax bereits bekannt sind« begann sie, »und ich bin überrascht, zu hören, dass er Ihnen missfällt.«

Sie lächelte vergnügt, als wenn die vermeintliche Abneigung gegen Herrn Sax sie ein wenig belustigte.

Welches die »herrschende Leidenschaft« bei Männern sein möge, erlaube ich mir nicht zu untersuchen, aber mein eignes Geschlecht zu kennen, das darf ich wohl behaupten. Die herrschende Leidenschaft bei Frauen ist der Dünkel. Der lächerlichen Meinung von meiner eignen Wichtigkeit war irgendwie zu nahe getreten worden Ich nahm dabei die Miene der stolzesten Gleichgültigkeit an. »Ich bin wirklich nicht imstande, gnädige Frau« sagte ich, »von irgendwelchem Eindruck, den etwa Herr Sax auf mich hervorgebracht haben möchte, Rechenschaft zu geben. Wir begegneten uns ganz zufällig, und ich weiß gar nichts von ihm.«

Frau Fosdyke schaute mich listig an und schien mehr als je belustigt zu sein.

»Er ist ein sehr sonderbarer Mann« gab sie zu,» »aber ich kann Ihnen sagen, dass unter diesem seltsamen Äußern ein edles Gemüt verborgen ist. Indessen« fuhr sie fort, »vergesse ich, dass er mir verboten hat, in Ihrer Gegenwart von ihm zu sprechen. Wenn sich die Gelegenheit bietet, werde ich den geeigneten Weg einschlagen, Sie beide zu lehren, sich gegenseitig zu verstehen. Sie werden mir beide dankbar sein, wenn mir dies gelingt. Indessen gibt es noch eine dritte Person, die sehr enttäuscht sein wird zu hören, dass Sie nichts von Herrn Sax zu sagen wissen.«

»Darf ich fragen, gnädige Frau, wer diese Person ist?«

»Können Sie ein Geheimnis bewahren, Fräulein Morris? Natürlich können Sie dies! Es ist Fräulein Melbury.«

(Fräulein Melbury war eine Brünette. Wenn auch nicht aus dem Grunde, weil ich selbst eine Blondine bin — denn ich glaube, über so engherzige Ansichten erhaben zu sein — so ist es nichtsdestoweniger richtig, dass ich keine Verehrerin brünetter Frauen bin.)

»Sie hörte Herrn Sax zu mir sagen, dass Sie besondere Abneigung gegen ihn hätten« fuhr Frau Fosdyke fort. »Und gerade als Sie in dem Hausflur erschienen, bat sie mich, ausfindig zu machen, welchen Grund Sie dafür hätten. Meine eigene Meinung über Herrn Sax, muss ich Ihnen sagen, befriedigt sie nicht; ich bin eine alte Freundin von ihm und stelle ihn natürlich nach meiner eignen ihm günstigen Beurteilung dar.

Fräulein Melbury ist begierig, mit seinen Fehlern bekannt gemacht zu werden, — und sie erwartet, dass Sie ein wertvoller Zeuge gegen ihn sind.«

Bis jetzt waren wir weiter gegangen. Nun aber blieben wir wie auf Verabredung stehen und sahen einander an.

Bei meinem seitherigen Verkehre mit Frau Fosdyke hatte ich nur mehr das zurückhaltende und Förmliche ihres Charakters kennengelernt. Ohne meinen Erfolg gewahr zu werden, hatte ich das Herz der Mutter gewonnen, indem ich die Zuneigung ihrer Kinder gewann. Nun schwand erst ihre Zurückhaltung und der schalkhafte Sinn der vornehmen Dame zeigte sich, während ich innerlich begierig war, zu erfahren, welcher Art wohl das außerordentliche Interesse sein möchte, das Fräulein Melbury Herrn Sax entgegenbrachte.

Da Frau Fosdyke meine Gedanken mit Leichtigkeit erriet, so befriedigte sie meine Neugier, ohne sich durch eine ausdrückliche Antwort bloßzustellen. Ihre großen grauen Augen glänzten, als sie auf meinem Antlitz ruhten, und sie summte die Melodie des alten französischen Liedes »es ist die Liebe, die Liebe, die Liebe!« Da ist nichts zu verheimlichen — etwas in dieser Enthüllung machte mich außerordentlich ärgerlich. Ärgerlich über Fräulein Melbury? oder über Herrn Sax? oder über mich selbst? Ich glaube, ich muss ärgerlich über mich selbst gewesen sein.

Da Frau Fosdyke fand, dass ich dazu meinerseits nichts zu sagen hatte, so sah sie auf ihre Uhr und erinnerte sich ihrer häuslichen Verpflichtungen. Zu meiner großen Erleichterung hatte unsere Unterhaltung ein Ende.

»Ich habe heute Tischgesellschaft« sagte sie, »und ich habe die Haushälterin noch nicht gesehen. Machen Sie sich schön, Fräulein Morris, und kommen Sie nach dem Mittagstisch zu uns in den Salon.«



Kapiteltrenner

V

Ich hatte meine beste Kleidung angelegt und mir im ganzen früheren Leben nie so viele Mühe wie diesmal mit meiner Frisur gegeben. Hoffentlich wird niemand so töricht sein zu glauben, dass ich dies wegen Herrn Sax getan hätte. Wie konnte ich mich denn um einen Mann kümmern, der mir kaum etwas anderes als ein Fremder war. Nein! Die Person, derentwegen ich mich herausputzte, war Fräulein Melbury.

Sie warf mir, als ich mich bescheiden in die Ecke setzte, einen Blick zu, der mich reichlich für die Zeit entschädigte, die ich auf meine Toilette verwendet hatte. Die Herren traten ein. Ich blickte aus reiner Neugier unter meinem Fächer hervor nach Herrn Sax. Er war durch den Gesellschaftsanzug sehr zu seinem Vorteil verändert. Als er meiner in der Ecke gewahr wurde, schien er zweifelhaft zu sein, ob er sich mir nähern solle oder nicht. Ich erinnerte mich unserer ersten seltsamen Begegnung und konnte nicht umhin, darüber in Gedanken zu lächeln. Glaubte er vielleicht, dass ich ihn zum Nähertreten ermuntern wolle? Ehe ich mir diese Frage beantworten konnte, nahm er den leeren Platz neben mir auf dem Sofa ein. Bei jedem anderen Manne würde dies nach dem am Morgen zwischen uns Vorgefallenen ein recht keckes Benehmen gewesen sein. Er aber sah so peinlich verlegen aus, dass es eine Art Christenpflicht für mich wurde, Mitleid mit ihm zu haben. »Wollen Sie mir nicht die Hand reichen?« sagte er, gerade so, wie er es in Sandwich getan hatte. Ich blickte unter meinem Fächer hervor nach Fräulein Melbury und nahm wahr, dass sie nach uns herübersah. Ich reichte Herrn Sax die Hand.

»Was für eine Empfindung haben Sie « fragte er, »wenn Sie einem Manne die Hand reichen, den Sie hassen?«

»Ich kann es Ihnen wirklich nicht sagen« erwiderte ich in treuherziger Weise, »denn ich habe so so etwas nie getan.«

»Sie wollten in Sandwich nicht mit mir frühstücken« erklärte er, »und wollen mir nun auch nach der demütigsten Entschuldigung meinerseits das nicht verzeihen, was ich diesen Morgen tat. Soll ich unter diesen Umständen glauben, dass ich nicht ein besonderer Gegenstand Ihres Widerwillens bin? Ich wünsche, ich wäre Ihnen nie begegnet! In meinem Alter kränkt es einen Mann, wenn er unfreundlich behandelt wird und dies nicht verdient hat. Ich darf wohl sagen, Sie verstehen das nicht.«

»O ja, ich verstehe dies. Ich hörte auch, was Sie von mir zu Frau Fosdyke sagten und ich hörte Sie die Tür zuschlagen, als Sie mir aus dem Wege gingen.« Er nahm diese Antwort anscheinend mit großer Befriedigung entgegen.

»Sie lauschten also? wirklich? Ich bin froh, dies zu hören.«

»Warum?«

»Es zeigt mir, dass Sie am Ende doch einiges Interesse an mir nehmen.«

Während dieses ziemlich wertlosen Gespräches, das ich nur erwähne, weil es zeigt, dass ich keinen Groll hegte, blickte Fräulein Melbury nach uns wie der Basilisk der Alten. Sie gestand zu, über die Dreißig hinaus zu sein, und sie hatte etwas Geld — aber dies war doch sicherlich kein Grund, weshalb sie eine arme Erzieherin anstarren sollte. Bestand vielleicht schon ein zärtliches Einverständnis zwischen ihr und Herrn Sax? Sie reizte mich zu dem Versuche, dies herauszubringen, besonders da die letzten Worte, die er gesprochen hatte, mir die Gelegenheit dazu boten.

»Ich kann beweisen, dass ich ein aufrichtiges Interesse für Sie hege« begann ich wieder. »Ich kann Ihnen zugunsten einer Dame entsagen, welche einen weit besseren Anspruch auf Ihre Aufmerksamkeit hat als ich. Sie vernachlässigen diese Dame wirklich in unverantwortlicher Weise.«

Er war augenscheinlich in Verlegenheit und starrte mich in einer Weise an, die deutlich verriet, dass bis jetzt seine Zuneigung der Dame wirklich zugewendet war. Es war natürlich unmöglich, Namen zu nennen, und ich gab daher meinen Augen nur die rechte Richtung. Er blickte in der gleichen Richtung — und seine Verlegenheit verriet sich selbst trotz seines Bestrebens, sie zu verbergen. Er errötete und schien gekränkt und überrascht zu sein. Fräulein Melbury konnte dies nicht länger ertragen. Sie erhob sich, nahm ein Lied vom Musikpulte und näherte sich uns.

»Ich will etwas singen,« sagte sie, indem sie ihm das Musikstück überreichte »Bitte, Herr Sax, wenden Sie mir das Blatt um.« Ich glaube, er zögerte — aber ich bin nicht sicher, ob ich ihn richtig beobachtete. Es ist wenig daran gelegen. Ob zögernd oder nicht, er folgte ihr nach dem Klavier.

Fräulein Melbury sang und beherrschte dabei mit vollkommener Sicherheit ihre umfangreiche Stimme. Ein Herr, der in meiner Nähe saß, sagte, sie gehöre auf die Bühne. Ich dachte auch so. Denn so groß auch unser Empfangszimmer war, für sie war es nicht ausreichend. Gleich darauf sang der Herr. Er hatte gar keine Stimme, aber sein Gesang war so lieblich und von einem so echten Gefühle durchdrungen! Ich wandte ihm das Blatt um. Eine liebe, alte Dame, die in der Nähe des Klaviers saß, fing eine Unterhaltung mit mir an und sprach von den berühmten Sängern aus dem Anfange des gegenwärtigen Jahrhunderts.

Herr Sax, auf den fortwährend Fräulein Melburys Auge gerichtet war, wanderte umher. Ich war von den Anekdoten meiner ehrwürdigen Freundin so entzückt, dass ich ihm keine Beachtung schenken konnte.

Später, als die Tischgesellschaft sich auflöste und wir uns zur Nachtruhe begeben wollten, wanderte er noch immer umher und bot mir schließlich eine Schlafzimmerkerze an. Ich händigte sie sogleich an Fräulein Melbury aus.

Es war wirklich ein sehr genussreicher Abend.



Kapiteltrenner

VI

Am nächsten Morgen wurden wir durch das ungewöhnliche Benehmen eines unserer Gäste beunruhigt. Herr Sax hatte Carsham Hall mit dem ersten Zuge verlassen und niemand wusste warum. Die Frauen sind — so sagen wenigstens die Philosophen — von Natur mit schweren Bürden belastet. Haben jene gelehrten Leute dabei auch die Bürde der Hysterie im Auge gehabt? Wenn das der Fall ist, dann stimme ich von ganzem Herzen ihnen bei. Es ist indessen in meinem Falle kaum der Mühe wert, davon zu sprechen, — ein ganz natürliches Leiden, das in der Einsamkeit des Zimmers zum Ausdruck kommt, mit Wasser und Eau de Cologne behandelt wird und dann, wenn ich in mein Erziehungsgeschäft vertieft bin, wieder völlig vergessen ist. Mein Lieblingszögling Fritz war früher als wir übrigen außer Bett gewesen und hatte im Obstgarten die frische Morgenluft genossen. Er hatte Herrn Sax gesehen und ihn gefragt, wann er wieder zurückkomme. Und Herr Sax hatte gesagt: »Ich werde nächsten Monat wieder zurück sein.« (O liebes Fritzchen!)

Mittlerweile hatten wir in unserem Schulzimmer die Aussicht auf eine langweilige Zeit im leeren Hause. Denn die übrigen Gäste mussten am Ende der Woche weggehen, da ihre Hauswirtin genötigt war, einigen alten Freundinnen in Schottland einen Besuch abzustatten.

Obwohl ich während der nächsten drei oder vier Tage mit Frau Fosdyke oft allein war, so sagte sie doch niemals ein Wort von Herrn Sax. Ein oder zwei Mal aber ertappte ich sie dabei, wie sie mit ihrem bedeutungsvollen Lächeln nach mir blickte, das mir unerträglich war. Fräulein Melbury wurde ebenfalls unangenehm, aber in anderer Weise. Wenn wir uns zufällig auf der Treppe begegneten, schossen rasche Blicke voll Hass und Vernichtung aus ihren schwarzen Augen.

Glaubten diese beiden Damen etwa —?

Doch nein; ich enthielt mich damals, diese Frage zu vollenden; und ich enthalte mich auch jetzt, dies hier zu tun.

Das Ende der Woche kam heran, und ich und die Kinder wurden zu Carsham Hall allein gelassen.

Ich benutzte die Mußestunden, die mir zur Verfügung standen, um an Herrn von Damian zu schreiben, und erkundigte mich ehrerbietigst nach seinem Befinden, indem ich ihn zugleich benachrichtigte, dass ich in der Erlangung einer neuen Stelle wieder sehr glücklich gewesen sei. Mit wendender Post erhielt ich die Antwort. Begierig öffnete ich sie, und schon die ersten Zeilen benachrichtigten mich von Herrn von Damians Tode.

Der Brief entfiel meiner Hand, und ich blickte unwillkürlich nach meinem kleinen Emailkreuz. Es ist mir nicht gegeben zu sagen, was ich fühlte. Man denke an alles, was ich ihm zu verdanken hatte, und erinnere sich, wie traurig mein Schicksal in der Welt war. Ich gab den Kindern frei; es war ja nur die Wahrheit, wenn ich ihnen sagte, dass mir nicht wohl sei.

Wie lange es dauerte, bis ich daran dachte, dass ich nur die ersten Zeilen des Briefes gelesen hatte, vermag ich nicht zu sagen. Als ich ihn wieder aufhob, war ich überrascht zu sehen, dass das Schreiben zwei Seiten umfasste. Kaum hatte ich einen Augenblick weiter gelesen, als mir schwindlig wurde. Als ich die drei ersten Sätze gelesen hatte, befiel mich eine schreckliche Furcht, dass ich nicht recht bei Sinnen sein möchte. Hier sind sie, um zu zeigen, dass ich nicht übertreibe:

»Das Testament unseres verstorbenen Klienten ist noch nicht eröffnet, aber mit Zustimmung der Testamentsvollstrecker setze ich Sie vertraulich davon in Kenntnis, dass Sie an diesem Testament ein ganz besonderes Interesse haben. Herr von Damian vermacht Ihnen bedingungslos sein ganzes bewegliches Vermögen, das sich auf die Summe von siebzigtausend Pfund beläuft.«

Wenn der Brief damit geendet hätte, so könnte ich mir wirklich nicht denken, welche Torheiten ich nicht begangen haben möchte. Aber der Schreiber des Briefes, einer der Anwälte des Herrn von Damian, hatte mir aus eigenem Antriebe noch etwas mehr zu sagen. Die Art und Weise, wie er es sagte, erregte mich augenblicklich. Ich kann und will die einzelnen Worte hier nicht wiederholen Es ist gerade genug, ihren empörenden Inhalt wiederzugeben. Die Absicht des Mannes war augenscheinlich die, mich merken zu lassen, dass er das Testament missbillige. Insofern will ich mich nicht über ihn beklagen — er hatte ohne Zweifel seinen Grund für die gute Meinung, die er hegte. Aber indem er »über diesen außerordentlichen Beweis von Interesse seitens des Testators einem der Familie gänzlich fremden Frauenzimmer gegenüber« seine Verwunderung ausdrückte, ließ er zugleich den Verdacht gegen einen von mir aus Herrn von Damian geübten Einfluss durchblicken, in so schändlicher Weise, dass ich mich dabei nicht aufzuhalten vermag. Die Ausdrucksweise war, wie ich hinzufügen will, schlau berechnet; denn ich selbst konnte sehen, dass sie mehr als eine Auslegung zuließ, und dass ich mich ins Unrecht setzte, wenn ich sie offen tadelte.

Aber die Absicht war klar, und sie zeigte sich, zum Teil wenigstens, schon in folgenden Sätzen:

»Der jetzige Herr von Damian ist, wie Sie ohne Zweifel wissen, durch das Testament seines Vaters nicht ernstlich berührt. Er ist bereits auf das reichlichste versorgt, da er den gesamten Grundbesitz als Erblehn übernimmt. Auch von alten Freunden, die vergessen worden sind, will ich nicht reden; aber es ist auch ein sehr naher Verwandter des verstorbenen Herrn von Damian übergangen worden. Falls dieser das Testament anfechten sollte, werden Sie natürlich wieder von uns hören, und Sie werden uns dann an Ihren Rechtsbeistand verweisen.«

Das Schreiben endigte mit einer Entschuldigung: die Mitteilung habe sich durch die Schwierigkeit verzögert, meine Adresse zu ermitteln.

Und was tat ich? An den Herrn Pfarrer schreiben oder an Frau Fosdyke? Nein, das nicht.

Anfangs war ich zu unwillig, um darüber nachzudenken, was ich tun sollte. Die Post ging erst abends spät ab; und der Kopf schmerzte mich, als wenn er zerspringen wollte. Ich hatte reichlich Muße, auszuruhen und mich zu sammeln. Als ich meine Ruhe wiedererlangt hatte, fühlte ich mich imstande, meinen Entschluss zu fassen, ohne dass ich jemand um Hilfe ansprach.

Selbst wenn ich freundlich behandelt worden wäre, so würde ich doch sicherlich das Geld nicht angenommen haben, wenn noch ein Verwandter lebte, der einen Anspruch auf dieses hatte. Was brauchte ich ein großes Vermögen! Um mir vielleicht einen Gatten zu kaufen? Nein, nein! Nach allem was ich gehört, hatte der große Lordkanzler ganz recht, wenn er sagte, dass eine Frau, die Geld zu eigener Verfügung hätte, »sechs Wochen nach der Hochzeit entweder durch Küsse oder durch Fußtritte um dieses gebracht würde.«

Die einzige Schwierigkeit, die mir entgegenstand, war nicht die, mein Vermächtnis aufzugeben, sondern meine Antwort mit der genügenden Schärfe und zu gleicher Zeit mit der gebührenden Rücksicht auf meine Selbstachtung zu geben.

Hier folgt sie:

»Mein Herr!

Ich will Sie nicht damit belästigen, dass ich versuche, meine Betrübnis auszudrücken, da ich von dem Ableben des Herrn von Damian höre. Sie würden sich wahrscheinlich auch darüber Ihre eigene Meinung bilden, und ich habe kein Verlangen, von Ihrer nicht sehr beneidenswerten Menschenkenntnis zum zweiten Mal beurteilt zu werden. Was das Vermächtnis betrifft, so fühle ich zwar die aufrichtigste Dankbarkeit gegen meinen edlen Wohltäter, aber ich lehne es trotzdem ab, sein Geld anzunehmen. Ich bitte Sie, mir diejenige Urkunde zur Unterzeichnung zu übersenden, die ich nötig habe, um die Erbschaft dem in Ihrem Schreiben erwähnten Verwandten des Herrn von Damian abzutreten. Die einzige Bedingung, auf der ich bestehe, ist die, dass mir von der Person, zu deren Gunsten ich verzichte, keinerlei Dank bezeugt werde. Selbst angenommen, dass meinen Beweggründen in diesem Falle Gerechtigkeit widerfährt, so wünsche ich doch nicht, zum Gegenstande von Kundgebungen der Erkenntlichkeit nur um deswillen gemacht zu werden, weil ich meine Schuldigkeit getan habe.«

So endigte mein Schreiben. Ich mag unrecht haben, aber ich nenne das ein scharfes Schreiben. Pünktlich kam mit der Post eine förmliche Empfangsbescheinigung an. Ich wurde ersucht, so lange mit der Urkunde zu warten, bis das Testament eröffnet worden sei, und man benachrichtigte mich, dass mein Name inzwischen streng geheim gehalten werden solle. Bei dieser Gelegenheit zeigten sich die Testamentsvollstrecker beinahe ebenso unverschämt wie der Anwalt.

Sie erachteten es als ihre Pflicht, mir Zeit zu geben, um nochmals über eine Entscheidung nachzudenken, die augenscheinlich unter dem Impulse des Augenblicks getroffen worden wäre. Ach, wie hart sind doch die Männer — wenigstens einige von ihnen! Verdrießlich schloss ich den Empfangsschein ein und entschied mich dafür, nicht mehr an ihn zu denken, bis die Zeit käme, in der ich mein Vermächtnis los würde. Ich küsste das kleine Andenken des armen Herrn von Damian. Während ich es noch betrachtete, kamen die guten Kinder unaufgefordert herein, um zu fragen, wie es mir gehe. Ich war genötigt, den Fenstervorhang in meinem Zimmer herab zu lassen, damit sie die Tränen in meinen Augen nicht sähen. Zum ersten Mal seit dem Tode meiner Mutter fühlte ich Herzweh. Vielleicht ließen mich die Kinder an die glücklichere Zeit denken, da ich selbst noch ein Kind war.



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VII

Das Testament war eröffnet worden, und ich wurde benachrichtigt, dass die verlangte Urkunde in Vorbereitung sei, als Frau Fosdyke von ihrem Besuche in Schottland zurückkehrte.

Sie meinte, ich sehe sehr bleich und erschöpft aus.

»Die Zeit scheint mir gekommen zu sein,« sagte sie, »wo ich besser täte, Sie und Herrn Sax dazu zu bringen, sich gegenseitig zu verstehen. Haben Sie reuig über Ihr eigenes übles Benehmen nachgedacht?«

Die Schamröte trat mir ins Gesicht.

Ich hatte in der Tat über meine Aufführung Herrn Sax gegenüber nachgedacht, und ich schämte mich ihrer auch aufrichtig.

Frau Fosdyke fuhr, halb im Scherz, halb im Ernste, fort:

»Befragen Sie nur Ihr eigenes Schicklichkeitsgefühl! War der arme Mann zu tadeln, dass er nicht roh genug war, nein zu sagen, wenn eine Dame ihn bat, ihr das Blatt beim Vortrage umzuwenden? Konnte er es verhindern, wenn dieselbe Dame darauf aus war, mit ihm zu kokettieren? Er lief am nächsten Morgen vor ihr fort. Verdienten Sie, dass man Ihnen sagt, warum er uns verließ? Sicherlich nicht — nach der keifenden Weise, in der Sie Fräulein Melbury die Schlafzimmerkerze überreichten. Sie törichtes Mädchen! Glauben Sie, ich sähe nicht, dass Sie in ihn verliebt sind? Dem Himmel sei Dank, dass er zu arm ist, Sie zu heiraten und Sie von meinen Kindern jemals wegzunehmen. Das würde eine lange Verlobung geben, selbst wenn er großmütig genug ist, Ihnen zu verzeihen. Soll ich Fräulein Melbury bitten, mit ihm zurückzukommen?«

Sie hatte zuletzt Mitleid mit mir und setzte sich nieder, um an Herrn Sax zu schreiben. Seine Antwort, die von einem etwa zwanzig Meilen entfernt gelegenen Landhause datiert war, benachrichtigte sie, dass er in drei Tagen wieder in Carsham Hall sein werde.

Am dritten Tage kam das amtliche Schriftstück, das ich unterzeichnen sollte, mit der Post an. Es war an einem Sonntagmorgen, und ich war allein in meinem Schulzimmer.

Als mir der Rechtsanwalt schrieb, hatte er nur auf »einen überlebenden Angehörigen des Herrn von Damian, der sehr nahe mit ihm verwandt sei« angespielt. Die Urkunde sprach sich deutlicher aus. Sie bezeichnete den Anverwandten als einen Neffen des Herrn von Damian, als den Sohn seiner Schwester. Der Name folgte: es war Sextus Cyril Sax.

Ich habe auf drei verschiedenen Blättern versucht, die Wirkung zu beschreiben, welche diese Wahrnehmung auf mich hervorbrachte — und ich habe sie, eins nach dem andern, wieder zerrissen. Wenn ich nur daran denke, scheint schon mein Gemüt rettungslos in die Überraschung und Bestürzung jener Zeit zurückzusinken. Nach allem, was zwischen uns vorgefallen war, — war nun dieser Mann selbst auf dem Wege nach unserem Hause! Was würde er von mir denken, wenn er meinen Namen unter der Urkunde sah? Was um Gottes willen sollte ich tun?

Wie lange ich, die Urkunde im Schoße, bestürzt da saß, weiß ich nicht. Es klopfte jemand an der Tür des Schulzimmers, blickte herein, sagte etwas und ging wieder weg. Alsdann gab es eine Pause. Und dann wurde die Tür wieder geöffnet Eine Hand legte sich sanft auf meine Schulter. Ich blickte auf — und sah Frau Fosdyke, die mich in der größten Besorgnis fragte, was mir fehle. Der Ton ihrer Stimme brachte mich zum Sprechen. Ich konnte an nichts als an Herrn Sax denken; ich konnte nur sagen: »Ist er gekommen?«

»Ja, und er wartet darauf, Sie zu sehen.«

Indem sie in dieser Weise antwortete, blickte sie nach dem Aktenstück auf meinem Schoße. In meiner höchsten Hilflosigkeit handelte ich zuletzt wie ein verständiges Geschöpf. Ich erzählte Frau Fosdyke alles, was ich hier erzählt habe. Sie verharrte sprachlos auf ihrem Platze, bis ich zu Ende war. Dann war es ihr erstes, mich in die Arme zuschließen und mir einen Kuss zu geben. Nachdem sie mich so wieder aufgemuntert hatte, sprach sie zunächst von dem armen Herrn von Damian·

»Wir handelten alle sehr töricht« erklärte sie, »als wir ihn unnötigerweise durch unseren Einspruch gegen seine Wiederverehelichung kränkten. Ich meine Sie nicht — ich meine seinen Sohn, seinen Neffen und mich selbst. Wenn seine zweite Ehe ihn glücklich machte, was ging uns die Ungleichheit der Jahre zwischen ihm und seiner Frau an?

Ich kann Ihnen sagen, Sextus war der erste von uns, der bedauerte, was er getan hatte. Wäre es nicht die einfältige Besorgnis gewesen, eines eigennützigen Beweggrundes beschuldigt zu werden, so würde Herr von Damian gefunden haben, dass in dem Sohne seiner Schwester doch viel Tüchtiges stecke.«

Frau Fosdyke ergriff plötzlich eine Abschrift des Testamentes, die ich bis jetzt nicht einmal bemerkt hatte.

»Sehen Sie, was der gute alte Mann von Ihnen sagt« fuhr sie fort, indem sie auf die betreffenden Worte zeigte.

Ich konnte sie nicht lesen, und sie war genötigt, sie mir vorzulesen »Ich überlasse mein Barvermögen der einzigen noch lebenden Person, die des Wenigen, was ich für sie getan habe, mehr als würdig gewesen ist, und deren einfacher, uneigennütziger Natur ich, wie ich weiß, vertrauen kann.«

Ich drückte Frau Fosdyke die Hand, aber ich war nicht imstande zu sprechen. Sie ergriff zunächst das entworfene Aktenstück.

»Üben Sie Gerechtigkeit gegen sich selbst, und zeigen Sie sich über lächerliche Bedenken erhaben« sagte sie. »Sextus ist so eingenommen für Sie, dass er wohl des Opfers wert erscheint, das Sie ihm bringen wollen. Unterzeichnen Sie — und ich werde dann als Zeugin unterzeichnen.«

Ich zögerte.

»Was wird er von mir denken?« sagte ich.

»Unterzeichnen Sie!« wiederholte Frau Fosdyke, »und wir werden dann sehen.«

Ich gehorchte. Sie bat um den Brief des Rechtsanwalts. Ich gab ihr ihn so, dass die Zeilen, die des Mannes gemeine Verdächtigung enthielten, zusammengefaltet und nur die Worte darüber sichtbar waren, des Inhalts, dass ich auf mein Vermächtnis verzichtet hatte, obwohl ich nicht einmal wusste, ob die beschenkte Person ein Mann oder eine Frau war. Sie nahm dies mit dem kurzen Entwurf meines eigenen Briefes und dem unterzeichneten Verzicht — und öffnete die Tür.

»Bitte, kommen Sie bald zurück und sagen Sie mir das weitere!« bat ich.

Sie lächelte, nickte und ging hinaus.

Ach, welch eine lange Zeit verging, ehe ich das lang erwartete Klopfen an der Tür hörte! »Herein!« rief ich ungeduldig.

Frau Fosdyke hatte mich getäuscht. Statt ihrer war Herr Sax eingetreten. Er schloss die Tür. Wir beide waren allein.

Herr Sax war totenbleich; seine Augen hatten, als sie auf mir ruhten, einen wilden Ausdruck der Bestürzung angenommen. Mit eisig kalten Fingern ergriff er meine Hand und zog sie schweigend an seine Lippen. Der Anblick seiner Erregung ermutigte mich – warum weiß ich bis heute nicht, wenn sie nicht etwa an mein Mitleid appellierte. Ich war kühn genug, nach ihm aufzublicken. Schweigend legte er die Briefe auf den Tisch — und das unterzeichnete Aktenstück daneben. Als ich das sah, wurde ich noch kühner. Ich brach zuerst das Schweigen.

»Sicherlich weisen Sie das Vermächtnis nicht zurück?« fragte ich. Er antwortete mir: »Ich danke Ihnen von ganzem Herzen; ich bewundere Sie mehr, als Worte dies vermögen, aber ich kann es nicht annehmen.«

»Warum nicht?«

»Das Vermögen gehört Ihnen« sagte er freundlich. »Bedenken Sie, wie arm ich bin, und fühlen Sie mit mir, wenn ich nichts weiter sage.«

Sein Kopf sank auf seine Brust. Er streckte die eine Hand aus und flehte mich schweigend an, ihn zu verstehen. Ich konnte dies nicht länger ertragen. Ich vergaß jede Rücksicht, die eine Frau in meiner Lage hätte nehmen müssen, und die verzweifelten Worte entschlüpften mir, ehe ich sie zurückdrängen konnte:

»Sie wollen mein Vermächtnis für sich allein nicht annehmen?«

»Nein.«

»Wollen Sie mich mit annehmen?«

An jenem Abend ließ Frau Fosdyke ihrer guten Laune noch in anderer Weise die Zügel schießen. Sie überreichte mir einen Kalender. »Nach allem, meine Liebe« bemerkte sie, »haben Sie nicht nötig, sich zu schämen, zuerst gesprochen zu haben. Sie haben nur von dem alten Vorrechte unseres Geschlechtes Gebrauch gemacht. Wir haben heuer ein Schaltjahr.« .



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