Gesetz und Frau



Drittes Kapitel.

Der Strand von Ramsgate.

Es gelang Eustace, mich zu beruhigen, aber ich kann gerade nicht sagen, daß es recht nachhaltig geschah.

Er erzählte mir, daß er über die Gegensätze seines vergangenen und gegenwärtigen Lebens nachgedacht. Bittere Erinnerungen aus verflossenen Jahren waren in seiner Seele aufgestiegen und hatten sie mit melancholischen Zweifeln erfüllt, ob er wohl im Staude sein würde, unser Zusammenleben glücklich zu gestalten. Er hatte sich gefragt, ob er mir nicht zu spät begegnet sei, ob er nicht schon ein Mann wäre, dessen Kraft die Enttäuschungen der Vergangenheit gebrochen? Diese und ähnliche Gedanken und Zweifel hatten seine Seele bedrückt und ihm die Augen mit Thränen gefüllt, mit Thränen, die er mich zu vergessen bat, und die er versprach, nie wieder vergießen zu wollen.

Ich vergab ihm, tröstete ihn und belebte ihn durch meine Unterhaltung; aber es kamen Momente über mich, welche die bittere Frage in meinem Innern laut werden ließen, ob ich wirklich in so hohem Grade das Vertrauen meines Gatten besäße wie er das meine.

Wir verließen den Zug in Ramsgate. Der beliebte Badeort war leer; die Saison eben vorüber. Unsere Pläne für die Hochzeitsreise schlossen auch eine Fahrt durch das mittelländische Meer in sich, zu welcher ein Freund von Eustace ihm eine Yacht leihen wollte. Wir liebten beide die See und fühlten den gemeinschaftlichen Wunsch, in Anbetracht der Verhältnisse, unter denen wir uns geheirathet hatten, der Neugier von Freunden und Bekannten zu entfliehen. Nachdem wir unsere Hochzeit ganz still in London gefeiert, hatten wir den Bootsmann der Yacht nach Ramsgate beordert, um uns dort abzuholen. In diesem Hafen konnten wir uns nach Beendigung der Saison weit unbemerkter einschiffen, als auf der großen Yachtstation der Insel Wight.

Drei Tage vergingen, Tage entzückender Einsamkeit, unaussprechlichen Glückes, die nimmer meinem Gedächtniß entschwinden und die ich immer wieder durchleben werde, bis mir der Tod mein Auge brechen wird.

Früh am Morgen des vierten Tages, kurz vor Sonnenaufgang ereignete sich etwas, das anscheinend geringfügig, dennoch von großer Wichtigkeit für mich wurde.

Ich erwachte plötzlich und auf unbegreifliche Weise aus einem tiefen, traumlosen Schlaf mit einem Gefühl nervöser Unbehaglichkeit, das ich nie zuvor empfunden hatte. In meinen Kinder- und Mädchenjahren war ich als tiefe Schläferin berühmt gewesen und hatte manchen Scherz deshalb hinnehmen müssen. Von dem Augenblicke an, wo sich mein Haupt aufs Kissen legte, bis zu dem Moment, an dem das Mädchen mich weckte, hatte ich garnicht gewußt, was Erwachen sei. —

Und nun wurde mein Schlaf gestört, ohne daß irgend ein Grund dafür anzugeben war. Ich versuchte wieder einzuschlafen Es war vergebens. Ich wurde von einer solchen Unruhe erfaßt, daß es mir nicht einmal möglich war, im Bett zu bleiben. Mein Gatte schlief tief und ruhig an meiner Seite. In der Befürchtung ihn zu stören, stand ich leise auf und schlüpfte in das Morgenkleid und die Pantoffeln. Ich trat ans Fenster. Die Sonne stieg gerade empor über der ruhigen graublauen See. Für wenige Minuten übte das majestätische Schauspiel einen beruhigenden Einfluß auf meine heftig erregten Nerven. Doch es währte nicht lange so ergriff mich die Ruhelosigkeit von Neuem. Ich ging langsam im Zimmer auf und nieder, bis die Monotonie der Bewegung mir widerstrebte. Ich nahm ein Buch und legte es wieder aus der Hand. Meine Gedanken wanderten; der Autor hatte nicht die Macht, sie zu fesseln. Ich stand wieder auf und blickte ans Eustace und bewunderte ihn und liebte ihn in seinem ruhigen Schlaf. Ich ging zum Fenster zurück, und des schönen Morgens überdrüssig, setzte ich mich vor den Spiegel und betrachtete mein Antlitz. Wie mich die wenigen Stunden des fehlenden Schlafes angegriffen hatten! Die Enge des Zimmers begann erdrückend auf mich zu wirken. Ich öffnete die Thür zu meines Mannes Ankleidezimmer und trat ein, um mir eine Veränderung zu machen.

Der erste Gegenstand, der mir in die Augen fiel, war sein Toilettenkasten, der offen auf dem Tische stand.

Ich beschäftigte mich damit, die Fläschchen, Töpfe, Bürsten, Kämme, Messer und Scheren auf der einen Seite, die Schreibmaterialien auf der andern, herauszunehmen. Ich roch an den Parfums und Pomaden und stäubte die Flaschen mit meinem Taschentuch ab. Nach und nach hatte ich das ganze Kästchen geleert. Es war mit blauem Sammet gefüttert. In einer Ecke bemerkte ich sein seidenes Bändchen. Indem ich es zwischen Daumen und Zeigefinger nahm und es aufwärts zog, entdeckte ich einen doppelten Boden, der ein geheimes Fach für Briefe und Papiere verschloß. In meiner nervösen Ungeduld gewährte es mir eine Zerstreuung, die Papiere herauszunehmen, gerade wie ich es mit den andern Sachen gemacht hatte.

Ich fand einige quittirte Rechnungen, welche mir kein Interesse abgewannen, Briefe, die ich ungelesen bei Seite legte, und unter dem Allen eine Photographie, das Bild nach unten, und etwas Geschriebenes auf der Rückseite.

Ich las es; es waren folgende Worte:

»Meinem lieben Sohne Eustace.«

Seine Mutter! Die Frau, welche so hartnäckig und mitleidslos unserer Verbindung sich widersetzt hatte!

Schnell drehte ich die Photographie um, in Erwartung, ein kaltes herzloses Antlitz zu schauen. Zu meinem Erstaunen erblickte ich Reste großer Schönheit, der Gesichtsausdruck, obgleich fest, war dennoch gewinnend, zärtlich und gütig.

Das graue Haar war in seltsamen kleinen Locken zu beiden Seiten der Stirn arrangirt, welche sich unter einer einfachen Haube hervorstahlen. In dem einen Mundwinkel bemerkte ich ein Zeichen, anscheinend ein Maal, welches die characteristische Eigenthümlichkeit des Antlitzes noch erhöhte. Ich prägte mir das Bild fest ins Gedächtniß. Diese Frau, welche meine Verwandten und mich beinahe beleidigt hatte, besaß ohne allen Zweifel so viel Anziehendes, daß unwillkürlich der Wunsch in mir aufstieg, sie näher kennen zu lernen.

Ich versank in tiefe Gedanken. Das Auffinden der Photographie beruhigte mich, wie mich bisher noch nichts beruhigt hatte.

Das Schlagen der Uhr unten in der Halle erinnerte mich an den Lauf der Zeit.

Ich legte alle Gegenstände, wie ich sie gefunden, in den Toilettenkasten zurück und begab mich wieder in das Schlafzimmer.

»Als ich meinen noch ruhig schlafenden Gatten anblickte, drängte sich mir die Frage auf: Was konnte diese gütige Mutter veranlaßt haben, uns auf eine so grausame Art trennen und unsere Verbindung hindern zu wollen? Sollte ich Eustace die Frage vorlegen, wenn er erwachte? Nein Es war zwischen uns ausgemacht worden, seiner Mutter nicht zu erwähnen, und außerdem hätte es ihn unangenehm berühren können, daß ich das geheime Fach seines Toilettenkästchens geöffnet.

Nach Beendigung des Frühstücks erhielten wir Nachricht von der Yacht. Das Fahrzeug war im Hafen angekommen, und der Steuermann erwartete die Befehle meines Gatten.

Eustace schien meine Begleitung nicht zu wünschen, weil die Vorbereitungen zur Reise kein Interesse für mich hätten. Er fragte mich, ob ich seine Rückkehr abwarten wollte. Der Tag war ausnehmend schön, und das Meer war in der Ebbe. Ich bat ihn Inn Erlaubniß, einen Spaziergang am Strande machen zu dürfen, und unsere Wirthin, die gerade im Zimmer war, erbot sich, mich zu begleiten wurde verabredet, daß wir in der Richtung nach Broadstairs gehen und daß wir uns ans dem Heimwege am Strande treffen wollten.

Nach einer kleinen halben Stunde war ich mit der Wirthin unterwegs.

Das landschaftliche Bild des schönen Herbstmorgens war bezaubernd. Die frische Brise, der klare Himmel, die wogende blaue See, die sonnbeglänzten Berge und der gelbe Sand zu ihren Füßen, das ruhige Dahingleiten bewimpelter Schiffe, das Alles war so entzückend, die Seele erfrischend, daß, wäre ich allein gewesen, ich hätte tanzen können wie ein kleines Kind. Der einzige Mißton, der meine Freude durchdrang, war die geschwätzige Zunge der Wirthin. Sie war ein offenes, gutmüthiges, leerköpfiges Weib, das in fortwährendem Sprechen blieb, ich mochte zuhören oder nicht, und das sich angewöhnt hatte, in jedem Satze mindestens einmal meinen Namen zu nennen.

Wir mochten eine halbe Stunde gegangen sein, als wir eine Dame einholten, welche vor uns am Meeresstrande hinging.

Gerade in dem Augenblick, wo wir ihr Vorbeigehen wollten, faßte sie nach ihrem Taschentuch und riß einen Brief mit heraus, der unbemerkt von ihr auf den Sand fiel. Ich hob ihn auf und bot ihn der Dame.

Als sie den Kopf wandte, um mir zu danken, stand ich wie angewurzelt. Das war das Original des photographischen Portraits aus meines Mannes Toilettenkästchen. Es war seine Mutter, die mir gegenüber stand. Ich erkannte die seltsamen kleinen grauen Locken, die gütig blickenden Augen, das Maal in ihrem Mundwinkel. Ein Irrthum war nicht möglich.

Die alte Dame hielt, wie es wohl natürlich war, meine Verwirrung für Befangenheit. Mit vollkommen feinem Takt begann sie eine Unterhaltung mit mir. In der nächsten Minute ging ich ruhig an der Seite der Frau, die mich als Mitglied ihrer Familie verworfen hatte, nicht wissend, ob ich es wagen dürfte, in Abwesenheit meines Gatten mich ihr vorzustellen.

Einen Augenblick darauf erledigte meine Wirthin die Frage, welche mich soeben beschäftigte. Ich äußerte die Ansicht, daß wir Broadstairs wohl schon nahe sein dürften.

»O nein, Mrs. Woodville!« rief die zungenfertige Wirthin, »wir sind noch ein ganzes Stück davon ab.«

Bei der Nennung des Namens blickte ich mit klopfendem Herzen auf die alte Dame. Zu meinem unaussprechlichen Erstaunen zeigte nicht die geringste Veränderung ihrer Züge, daß er sie überrascht. Die alte Mrs. Woodville sprach eben so ruhig und unbefangen mit der jungen Mrs. Woodville weiter, als wenn sie den Namen in ihrem ganzen Leben nicht gehört.

Mein Antlitz und Benehmen mußte etwas von der inneren Erregung verrathen haben, die mich beherrschte.

»Sie haben Sich zu sehr angestrengt,« sagte die Dame mit ihrem gütigen Ton. »Sie sehen bleich und ermüdet aus. Lassen Sie uns hier ein wenig niedersitzen.«

Ich folgte ihr zu einigen rohen Steinen, welche uns als Bank dienten.

Wenn es nach mir gegangen wäre, würde ich sofort eine Erklärung herbeigeführt haben. Der Gedanke an Eustace hielt mich aber von derselben zurück.

Während ich mich darüber beunruhigte, welche Gründe die alte Dame veranlassen möchten, mich nicht als ihre Schwiegertochter zu betrachten, begann sie wieder freundlich mit mir zu sprechen. Sie sagte, daß sie sich ebenfalls angegriffen fühle, daß sie eine schlechte Nacht am Bett einer nahen Verwandten zugebracht, die hier in Ramsgate wohne. Am gestrigen Tage hätte sie ein Telegramm zu der kranken Schwester gerufen. Gegen Morgen habe sich der Zustand aber gebessert, und der Arzt habe ihr die Versicherung begeben, daß das Schlimmste nicht mehr zu befürchten sei. Da hätte sie es für gut gehalten, einen kleinen Spaziergang am Wasser zu machen, um sich zu erfrischen. Ich hörte die Worte, ich verstand ihren Sinn, aber ich war noch zu verwirrt und eingeschüchtert, um die Unterhaltung fortsetzen zu können.

Die Wirthin brach zuerst wieder das Schweigen. »Dort kommt ein Gentleman,« sagte sie, nach der Richtung von Ramsgate deutend. »Die Damen werden nicht zu Fuß zurückkehren können. Wollen wir den Herrn nicht bitten, daß er von Broadstairs einen Wagen hierher schickt?«

Der Gentleman kam näher und näher.

Die Wirthin und ich erkannten ihn in demselben Moment.

Es war Eustace, der der Verabredung gemäß uns nachgegangen war.

»O, Mrs Woodville, sehen Sie doch, da kommt Mr. Woodville!« rief die Wirthin voller Freude.

Ich blickte noch einmal auf meine Schwiegermutter. Noch einmal machte der Name nicht den geringsten Eindruck auf sie. Ihr Auge war nicht so scharf als das unsere, sie hatte ihren Sohn noch nicht erkannt. Er aber hatte junge Augen wie wir und erkannte sofort seine Mutter. Für einen Moment stutzte er, als wenn der Blitz ihn getroffen. Dann schritt er langsam weiter, sein sonst rothes Antlitz bleich vor niedergekämpfter Erregung, die Augen fest auf seine Mutter gewandt »Du hier!« sagte er.

»Wie geht es Dir, Eustace?« entgegnete sie ruhig und sanft.

»Hast Du schon von Deiner Taute Krankheit gehört? Wußtest Du überhaupt, daß sie in Ramsgate sei?«

Er antwortete nicht.

Die Wirthin, aus den gehörten Worten ihre Schlüsse machend, blickte mit solchem Staunen von mir auf meine Schwiegermutter, daß selbst ihre Zunge gelähmt wurde. Ich wartete, die Augen auf meinen Gemahl gerichtet, was er beginnen würde. Wenn er jetzt gezögert hätte, mich anzuerkennen, würde vielleicht meine ganze Zukunft Meine andere Richtung bekommen haben — denn ich hätte ihn verachtet.

Er zögerte aber nicht. Er trat an meine Seite und nahm meine Hand- »Weißt Du, wer diese Dame ist?« fragte er seine Mutter.

Sie antwortete mit einem freundlichen Neigen des Kopfes gegen mich:

»Eine Dame, die ich am Strande traf, und die so gütig war, einen Brief aufzuheben, den ich hatte fallen lassen. Mich dünkt, ich hörte auch den Namen nennen; Mrs. Woodville, war es nicht so?«

Meines Gatten Finger umschlossen mit so krampfhaftem Druck meine Hand, daß es mich schmerzte. Er belehrte seine Mutter, zu seiner Ehre muß ich es ihm nachsagen, auch ohne einen Moment schurkischen Zögerns »Mutter,« sagte er vollkommen ruhig, »die Dame ist meine Frau.«

Die alte Lady, die bis jetzt ihren Platz behauptet hatte, erhob sich langsam und blickte ihren Sohn schweigend an. Der erste Ausdruck des Staunens wich aus ihren Zügen und verwandelte sich in einen schrecklichen Blick, welcher zugleich Zorn und so tiefe Verachtung ausdrückte, wie ich sie nie zuvor in eines Weibes Auge gesehen.

»Ich bemitleide Dein Weib!« sagte sie.

Mit diesen Worten winkte sie ihm mit der Hand, nicht näher zu treten, und ging dann allein weiter, wie sie allein gekommen.


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