Nicht aus noch ein



Dritter Act

Im Thal.

Es war um die Mitte des Monats Februar, als sich Vendale und Obenreizer auf den Weg machten. Der Winter war hart und das Wetter schlecht, so schlecht, daß unsere beiden Reisenden die großen Hotels in Straßburg leer fanden und die wenigen Menschen, welche in Geschäften Von England und Paris gekommen waren, um in das Innere der Schweiz zu gehen, sich anschickten wieder umzukehren. Viele von den Schweizer Bahnstrecken, über welche Touristen heut zu Tage leicht hin weggleiten, waren damals theilweise noch nicht im Gebrauch. Einige waren noch nicht angefangen, andre noch nicht vollendet. Auf bereits eröffneten befanden sich noch immer lange unfertige Strecken, auf denen im Winter die Verbindung stockte, andre wiesen schadhafte Stellen auf, die nicht sicher und nur bei hartem Frost, wieder andre, die nur bei schnellem Abthauen zu passieren waren. Der Abgang der Züge auf den letzterwähnten war in der jetzigen schlechten Jahreszeit nicht zu berechnen. Er hing vom Wetter ab oder unterblieb während der Monate, die für die gefährlichsten erachtet wurden, gänzlich. In Straßburg liefen mehr Geschichten in Bezug auf die Schwierigkeiten der Wege um, als es Reisende gab, die sie erzählen konnten. Viele dieser Geschichten waren so abenteuerlich wie der gleichen Geschichten zu sein pflegen, aber die an Wundern bescheidener auftraten, erhielten einen gewaltigen Nachdruck durch den Umstand daß die Leute wirklich umkehrten. Da indessen der Weg nach Basel offen stand, so blieb Vendale’s Entschluß vorwärts zu dringen unerschüttert. Obenreizers Entschluß war natürlich der Vendale’s, in der verzweifelten Lage, in welcher er sich befand. —— Er war verloren oder mußte den Beweis, den Vendale mit sich führte, vernichten und wenn er Vendale mit vernichten sollte.«

Die Gesinnungen, welche die beiden gemeinsam Reisenden gegeneinander hegten, waren folgende: Obenreizer, durch Vendale’s schnelles Handeln von der über ihm schwebenden Entdeckung umgarnt, gewahrte, wie durch Vendale’s Energie sich das Netz, mit jeder Stunde näher und näher um ihn spann. Er haßte seinen Verfolger mit der vollen Leidenschaft eines wüthenden, listigen und niedrigen Thieres. Er hatte immer instinctive Abneigung gegen ihn gefühlt, vielleicht wegen des alten Unterschiedes vom Edelmann und Bauer, vielleicht wegen Vendale’s offener Natur, vielleicht weil Vendale hübscher war, als er, vielleicht wegen Vendale’s Erfolges bei Marguerite, vielleicht wegen aller dieser Gründe zusammen, von denen die beiden letzten nicht die unerheblichsten waren. Jetzt sah er in ihm den Jäger, der ihn niederschießen wollte. Vendale, aus der andern Seite, rang großmüthig mit dem Gefühl des unbestimmten Mißtrauäns gegen Obenreizer, und empfand jetzt doppelt die Verpflichtung, es niederzukämpfen. Er erinnerte sich unaufhörlich daran: »Er ist Marguerites Vormund. Wir stehen in vollkommen gutem Einvernehmen miteinander; er ist auf seinen eigenen Vorschlag mein Begleiter und ihn können keine selbstsüchtigen Beweggründe antreiben, die unerfreuliche Reise mitzumachen.« Dieser günstigen Stimmung für Obenreizer wurde durch einen Zwischenfall noch mehr Vorschub geleistet, als die Reisenden nach einer Fahrt, die mehr als zweimal so lange gewährt hatte, wie im Durchschnitt ihre Dauer zu sein pflegte, in Basel eintrafen.

Sie hatten ihr Diner spät eingenommen und befanden sich in dem Zimmer eines Gasthauses welches unmittelbar über dem Rhein gelegen wert, der hoch angeschwollen unter dem Fenster vorbei schäumte. Vendale hatte sich auf ein Sopha ausgestreckt; Obenreizer ging im Zimmer auf und nieder. Jetzt stand er am Fenster still und betrachtete den Wiederschein der sich im dunkeln Wasser spiegelnden Lichter, von ungefähr denkend: »Wenn ich ihn hineinstürzen könnte!« Dann fuhr er fort im Hin- und Wiedergehen, mit fest auf den Boden gehefteten Augen:

»Wo soll ich ihn berauben, wenn ich kann? Wo soll ich ihn morden, wenn ich muß?« So, als Obenreizer das Zimmer durchmaß, rauschte der Fluß. Die Last, die den Sinnenden drückte, wuchs zuletzt so gewaltig, daß er es für gerathen, erachtete, seinem Gefährten etwas von derselben aufzubürden.

»Der Rhein rauscht heute Abend,« sagte er lächelnd, »wir der alte Wasserfall in meiner Heimath. Der Wasserfall, den meine Mutter Reisenden zeigte, ich habe Ihnen früher davon erzählt. Der Ton desselben wechselte mit dem Wetter, wie der Ton aller fallenden und fließenden Wasser. Als ich bei dem Uhrrnacher in der Lehre war, erinnere ich mich, daß er mir ganze Tagelang zuraunte: »Wer bist Du, armer Elender? Zu andern Zeiten, wenn sein Ton hohl war und der Sturm vom Paß herunter wehte, sprach er: »Zu! zu! zu! Schlag ihn! schlag ihn! schlag ihn! Wie meine Mutter: in der Wuth that —— wenn sie überhaupt meine Mutter war.«

»Wenn sie es war?« sagte Vendale, nach gerade sich aus seiner liegenden Stellung zu einer sitzenden aufrichtend. »Wenn sie es war? Warum sagen Sie »wenn?«

»Was weiß ich?«« erwiderte der Andere, nachlässig seine Hände hebend, um sie niederfallen zu lassen, wie sie wollten. »Was fragen Sie? Ich bin von so niederer Herkunft, daß ich für nichts gutsagen kann. Ich war sehr jung, während die ganze übrige Familie aus erwachsenen Männern und Frauen bestand. Auch meine sogenannten Eltern waren alt. In einem Fall wie der vorliegende ist Alles möglich.«

»Hegen Sie irgend einen Zweifel ——«

»Ich habe Ihnen schon früher gesagt, daß ich daran zweifle, daß meine Eltern überhaupt verheirathet waren,« erwiderte Obenreizer mit einer wegwerfenden Handbewegung, als wolle er den Gegenstand des Gespräches ebenfalls wegwerfen. »Aber ich bin geschaffen und stamme aus keiner feinen Familie. Was thut das zur Sache.«

»Sie sind wenigstens ein Schweizer,« sagte Vendale, das Hin- und Hergehen des Andern mit den Augen verfolgend.

»Kann ich es wissen?« erwiderte Obenreizer und hielt seine Schritte ein, um über die Schulter zurück zusehen. »Ich sage auch zu Ihnen, Sie sind wenigstens ein Engländer, aber können Sie es wissen?«

»Es ist mir von Kindheit an erzählt worden.«

»Ach, das ist auch bei mir der Fall.«

»Und,« fügte Vendale hinzu, den Gedanken verfolgend, den er nicht zurückdrängen konnte, »meine frühesten Erinnerungen leiten mich darauf.«

»Die meinigen auch —— wenn das genügt«

»Genügt es Ihnen nicht?«

»Es muß. In dieser kleinen Welt giebt es kein zweites solches Ding wie das Muß. Es muß. Nur zwei kurze Worte, aber stärker, als die längsten Beweise oder Vernunftgründe.«

»Sie und der arme Wilding sind in demselben Jahre geboren. Sie waren in einem Alter,« sagte Vendale ihm wieder gedankenvoll nachsehend, als er in seinem Auf- und Niedergehen fortfuhr:

»Ja, in einem Alter.«

Konnte Obenreizer der Mann sein, den sie suchten? War in dem Zusammenwirken von Thatsachen, war in der so oft angeführten Theorie über die Kleinheit der Welt noch ein feinerer Sinn verborgen, den er nicht geahnt hatte? War jener ihm mitgetheilte Schweizer Brief nur darum so unmittelbar nach den von Mrs. Goldstraw gemachten Enthüllungen in Betreff des adoptirten Knaben eingetroffen, weil Obenreizer dieser nun zum Mann erwachsene Knabe war? Warum sollte das nicht sein, in einer Welt, die noch so viel unerforschte Tiefen aufweist? Der Zufall oder das Schicksal —— nenne man es wie man will —— hatte Obenreizer und Vendale einander immer wieder zugeführt, hatte ihre Bekanntschaft vermittelt, hatte dieselbe in vertrauten Umgang verwandelt und hatte sie am heutigen Winterabend hier zusammen gebracht. Das war kaum weniger merkwürdig. Unter dem oben gedachten Licht betrachtet, schien es, als ob sie beide gemeinsam und ununterbrochen auf ein ihnen bekanntes Ziel hinarbeiteten.

Vendale’s aufgescheuchte Gedanken verstiegen sich hoch, während seine Augen dem Auf- und Niedergehen Obenreizers sinnend folgten; der Fluß aber rauschte immer in demselben Tone: »Wo soll ich ihn berauben, wenn ich kann? Wo soll ich ihn morden, wenn ich muß? Das Geheimniß des todten Freundes war nicht in Gefahr über Vendale’s Lippen zu kommen. Sein Freund war der Wucht, desselben erlegen und als dessen Nachfolger empfand er ebenfalls, wenn auch in anderer Weise, die Schwere des in ihn gesetzten Vertrauens und die Verpflichtung blieb ihm immer gegenwärtig, jeder Spur nachzuforschen, wie verworren sie auch sein möge. Er fragte sich, ob er wünschen würde, daß dieser Mann der richtige Wilding sei. Nein. Kämpfte er sein Mißtrauen auch so gut er konnte nieder, so war es ihm unmöglich. diesen Nachfolger an die Stelle des redlichen, offenen, kindlichen Wilding zusehen. Er fragte sich, ob er das Reichwerden des Mannes wünschen würde? Nein. Er hatte schon so genug Macht über Marguerite und Reichthum könnte ihm noch mehr verleihen. Würde er es wünschen, daß Margueritas Vormund in keiner verwandtschaftlichen Beziehung zu derselben stände? Nein. Aber das waren Betrachtungen, welche sich zwischen ihm und der Treue für den Verstorbenen drängten. Möge er auf seiner Hut sein, daß sie nichts anderes in seinem Sinn hinterlassen, als das Bewußtsein, daß er sie gedacht, und möge er der heiligen Pflicht, die er übernommen hat, eingedenk bleiben. Und das war er, denn er folgte dem Gefährten, der immer noch mit seinen Schritten das Zimmer durchmaß, mit freundlichen Augen. Er glaubte ihn im Nachdenken über die eigene dunkle Geburt versenkt und ahnte nicht, daß er über eines andern Menschen —— und welches Menschen —— gewaltsamen Tod nachgrübelte.

Der Weg von Basel nach Neuschatel erwies sich besser, als man ihn geschildert hatte. Das Wetter war günstig, Führer mit Pferden und Maulthieren trafen Abends nach dem Dunkelwerden ein und berichtetem daß sich ihnen keine weiteren Schwierigkeiten in den Weg gesteckt hätten als Prüfungen der Geduld. des Geschirrs der Räder, Achsen und Peitschenschnüre. Wagen und Pferde wurden sogleich gemiethet und ausbedungen, daß morgen früh vor dem Grauen des Tages aufgebrochen werden solle.

»Schließen Sie Ihre Thür in der Nacht zu?« fragte Obenreizer, der an dem Holzfeuer in Vendales Zimmer sich die Hände wärmte, ehe er sich zurückzog.

»Nein. Ich schlafe zu fest.«

»Schlafen Sie fest?« fragte Obenreizer, ihn bewundernd ansehend. »Welcher Segen!«

»Nichts weniger wie ein Segen für diejenigen im Hause,« entgegnete Vendale, »welche mich Morgens an meiner Schlafstubenthür herausklopfen sollen.«

»Ich schließe meine Thür auch nicht,« sagte Obenreizer. »Aber lassen Sie sich rathen von einem Schweizer, der Bescheid weiß: Wenn Sie in meinem Vaterlande reisen, thun Sie Ihre Papiere —— und natürlich auch Ihr Geld —— unter Ihr Kopfkissem Immer an denselben Platz.«

»Sie schmeicheln Ihren Landsleuten nicht,« lachte Vendale.

»Meine Landsleute,« sagte Obenreizer mit einer leichten Berührung der Ellenbogen seines Freundes zum Segenswunsch für die Nacht, »sind, vermuthe ich, wie die meisten Menschen und die meisten Menschen nehmen, was sie bekommen können. Adieu! Morgen früh um vier!«

Als sich Vendale allein befand, schob er die Holzscheite zusammen, schüttete die weiße Holzasche darüber, die auf dem Heerde lag und setzte sich, um seine Gedanken zu sammeln. Aber sie flutheten immer noch erregt von dem letzten Gegenstande des Gespräches hin und her und das Fluthen des Stromes trug dazu bei, sie noch mehr aufzuregen. Als er so saß und sann, floh ihn auch der letzte Rest von Müdigkeit, den er gehabt hatte. er fand es nutzlos sich niederzulegen und blieb angezogen am Feuer sitzen. Marguerite, Obenreizer, Wilding das Geschäft, was ihn herführte und tausend Hoffnungen und Zweifel, die nichts damit zu thun hatten, erfüllten seine Seele. Alles Andre schien Macht über ihn zu haben, nur der Schlummer nicht. Die entflohene Neigung zum Schlaf kehrte nicht wieder.

Er hatte lange Zeit in Gedanken vertieft am Heerde gesessen, als die Flamme des tief herabgebrannten Lichtes erlosch. Es hatte nichts zu sagen. Das Feuer leuchtete genug. Er änderte seine Stellung, stützte den Arm auf die Rücklehne des Sessels, legte sein Kinn darauf und dachte weiter.

Er saß zwischen Feuer und Bett und wie das Feuer flatterte im Spiel mit der vom schnell fließenden Strom bewegten Luft, so flatterte sein vergrößerter Schatten an der weißen Bettwand auf und nieder. Seine Stellung sah aus wie die eines Trauernden oder die eines über das Bett gebeugten Weinenden. Seine Augen verfolgten das Bild, bis ihn die unangenehme Einbildung faßte, daß es Wildings Schatten wäre und nicht der seine.

Eine kleine Veränderung in der Stellung mußte das Bild scheuchen. Er machte die Aenderung und das Trugbild seiner Phantasie verschwand. Er befand sich jetzt im Schatten eines kleinen Mauervorsprungs neben dem Feuer und hatte die Zimmerthür vor sich.

Sie war mit einer langen schweren eisernen Klinke versehen. Er bemerkte, wie die Klinke langsam und leise niedergedrückt wurde. Die Thür öffnete sich ein wenig und ging wieder zu, als ob sie nur der Wind bewegt habe, aber er sah deutlich, daß sie aufgeklinkt blieb.

Die Thür öffnete sich zum zweiten Mal ganz leise, bis sie weit genug aufstund, um Jemand einzulassen. Es hatte den Anschein, als ob sie vorsichtig von der andern Seite gehalten würde. Darauf trat die Gestalt eines Mannes herein, der sein Gesicht dem Bett zugewendet hatte und ruhig in der Thür stehen blieb, bis er halblaut, indem er einen Schritt vorwärts that »Vendale!« rief.

»Was nun?« antwortete dieser von seinem Sitz aufspringend. »Wer ist da?«

Es war Obenreizer. Es entfuhr ihm ein Schrei der Ueberraschung, als er Vendale unerwarteterweise aus einer andern Richtung auf sich zukommen sah. »Nicht zu Bett?« sagte er, ihn bei den Schultern ergreifend, als habe er die Absicht mit ihm zu ringen. »Dann ist etwas vorgefallen.«

»Was wollen Sie?« rief Vendale, sich von ihm losmachend. »Vor allen Dingen sagen Sie mir, ob Sie krank sind?«

»Krank? Nein.«

»Ich habe einen bösen Traum gehabt. Weshalb sind Sie auf und angezogen?«

»Mein guter Freund, ich könnte Sie eben so gut fragen: Weshalb sind Sie auf und ausgezogen?«

»Ich habe Ihnen schon gesagt warum? Ich habe einen bösen Traum gehabt. Ich versuchte weiter zu schlafen, aber es war mir unmöglich. Ich konnte mich nicht dabei beruhigen, liegen zu bleiben, ehe ich mich davon überzeugt hatte, daß Ihnen nichts fehle und doch konnte ich mich nicht entschließen, zu Ihnen zu gehen. Ich habe minutenlang an der Thür gezögert. Man kann leicht über einen Tratrm lachen. wenn man ihn nicht selbst geträumt hat. Wo haben Sie Ihr Licht?«

»Es ist niedergebrannt.«

»Ich habe ein ganzes in meinem Zimmer. Soll ich es holen?«

»Thun Sie es.«

Obenreizers Zimmer lag nahe dabei und er blieb nur wenige Sekunden weg. Er kam mit einem Licht in der Hand zurück, kniete nieder vor dem Kamin und zündete es an. Als er damit beschäftigt war, eine glühende Kohle zur Flamme anzublasem bemerkte Vendale, der ihm zusah daß seine Lippen weiß waren und seinem Willen nicht gehorchten.

»Ja,« sagte Obenreizer. »Es war ein böser Traum. Sehen Sie mich blos an.«

Er war baarfuß. Sein rothes Flanellhemde war am Hals zurückgeschlagen und die Aermel desselben bis über die Ellenbogen aufgestreift, das einzige Kleidungsstück, das er sonst noch trug, bestand aus eng anschließenden, bis an die Knöchel reichenden Unterbeinkleidern. Wildheit und Energie bekundete seine Haltung und seine Augen fuinkelten.

»Wenn wirklich ein Ringen mit einem Räuber hier stattgefunden hätte, wie ich träumte,« sagte Obenreizer, »so war ich dazu angethan, wie Sie sehen.«

»Und auch bewaffnet,« sagte Vendale, nach dem Gürtel seines Gefährten blickend.

»Ein Dolch, den ich immer auf der Reise trage,« entgegnete dieser nachlässig denselben mit seiner linken Hand halb aus der Scheide ziehend und wieder zurückstoßend.

»Tragen Sie keinen?«

»Nichts der Art.«

»Keine Pistolen?« fragte Obenreizer, sich nach dem Tisch umsehend und von dort nach dem unberührten Kopfkissen.

»Nichts dergleichen.«

»Was seid Ihr Engländer vertrauensvoll! Sie möchten gern schlafen?«

»Ich hätte die ganze Zeit über gern geschlafen, aber ich kann nicht.«

»Ich auch nicht, seitdem ich den Traum gehabt habe. Mein Feuer ist erloschen, wie Ihre Kerze. Soll ich bei Ihnen bleiben? Zwei Uhr! Vier wird so bald heran kommen, daß es der Mühe nicht mehr lohnt, zu Bett zu gehen.«

»Ich werde mir die Mühe gar nicht nehmen« sagte Vendale. »Es ist mir sehr willkommen, wenn Sie hier bleiben und mir Gesellschaft leisten.«

Obenreizer begab sich in sein Zimmer, um seine Kleider zu ordnen und kehrte bald in einem Mantel und Pantoffeln zurück. Die Gefährten setzten sich zu beiden Seiten des Kamines einander gegenüber. Vendale hatte das Feuer aus dem Holzkorb in seinem Zimmer wieder aufgefrischt und Obenreizer eine Korbflasche und einen Becher, die ihm zugehörten, aus den Tisch gesetzt.

»Gewöhnlicher Wirtshaus-Liqueur, es thut mir leid,« sagte er im Eingießen. »Er ist unterwegs gekauft und nicht so gut wie der in Cripple Cornet. Aber der Ihrige ist ausgetrunken. Um so schlimmer! Eine kalte Nacht, eine kalte Stunde der Nacht, ein kaltes Land und ein kaltes Haus. Es ist besser wie nichts. Versuchen Sie einmal.«

Vendale ergriff den Becher und versuchte.

»Wie schmeckt er Ihnen?«

»Er hat einen starken Nachgeschmack,« sagte Vendale, den Becher mit einem leichter Schauder zurückgebend. »Er behagt mir nicht.«

" »Sie haben Recht,« sagte Obenreizer kostend und die Lippen probierend. »Er hat einen starken Nachgeschmack. Ich mag ihn auch nicht. Puh! wie er brennt!« Er schleuderte den Rest in das Feuer.

Jeder der Männer stützte den Ellenbogen auf den Tisch, lehnte den Kopf in die Hand und sah in die lodern den Flammen. Obenreizer blieb still und wach, Vendale aber, nach eigenthümlichem nervösen Zucken und Aufschrecken und nachdem er einmal sogar aufgesprungen und wild um sich gesehen hatte, verfiel in seltsam verworrene Träumereien. Er trug seine Papiere in einem ledernen Etui in der Brusttasche seines zugeknüpften Reiserockes. Was er auch in der Lethargie, die ihn beherrschte träumen mochte, es rief ihn immer etwas, was mit den Papieren in Beziehung stehen mußte, aus der Traumwelt zurück, obgleich er nicht zum völligen Erwachen gelangte. Er und Marguerite waren auf den russischen Steppen (eine Person, die ihm dunkel blieb, gab der Stelle den Namen) von der Nacht überrascht worden. Und doch war ihm die Berührung seiner Brust von einer Hand und das leise Befühlen des Taschenbuches während er schlafend am Feuer saß, gegenwärtig. Er hatte Schiffbruch gelitten und befand sich in einem offenen Boot auf der See; er hatte alle seine Kleider eingebüßt und nichts sich zu bedecken, als ein altes Segel und doch warnte ihn eine schleichende Hand, welche alle Taschen an den Kleidern, die er gewöhnlich trug, Vergeblich nach Papieren durchsuchte, sich loszureißen von seinen Träumen. Er befand sich in dem alten Kellergewölbe in Cripple Corner. Dasselbe Bett stand darin, welches doch leibhaftig und wirklich in dem Gastzimmer zu Basel war, und Wilding (nicht todt, wie er bis jetzt geglaubt hatte, und er wunderte sich auch nicht darüber) stieß ihn an und flüsterte: »Sieh den Mann! Merkst Du es denn nicht, daß er ausgestanden ist und das Kopfkissen umwendet? Warum sollte er das Kopfkissen umwenden, wenn nicht, um das Papier zu suchen, das Du auf Deiner Brust trägst? Wache auf!« Und doch schlief er weiter und irrte in andere Träume hinüber.

Beobachtend und still mit dem Ellenbogen auf den Tisch und den Kopf in die Hand gestützt, sagte sein Gefährte endlich: »Vendale, wir werden gerufen. Es ist vier vorbei.«

Vendale öffnete seine Augen und sah auf das überschattete Antlitz Obenreizers, welches ihm halb zugewendet war.

»Sie sind in einen festen Schlaf verfallen,« sagte Letzterer. »Es ist die Ermüdung vom fortwährenden Reisen und von der Kälte.«

»Ich bin vollständig wach,« rief Vendale aufspringend, doch mit unsicherem Fuß. »Haben Sie gar nicht geschlafen?«

»Ich mag ein wenig geschlummert haben. aber mir ist, als ob ich geduldig das Feuer beobachtet hätte. Ob oder nicht, wir müssen uns waschen und frühstücken und aufbrechen. Vier vorbei, Vendale, vier vorbei!«

Die letzten Worte sagte er in erhobenem Ton, um den Angeredeten zu wecken, der bereits aufs Neue schlief. Auch bei seinen Vorbereitungen, die er für den Tag traf, und beim Frühstück verrichtete Vendale zeitweise Alles mechanisch, während er eigentlich träumend umherging. Erst als sich der dunkle kalte Tag zu Ende neigte, gewann er wieder bestimmtere Eindrücke von der Fahrt. Bis jetzt hatte er nur Schellengeläut, scharfes Wetter, gleitende Pferde, drohende Bergrücken, schwarze Wälder und das Anhalten bei einzelnen Häusern am Wege, um sich zu erfrischen (wo sie einmal durch den Kuhstall gehen mußten, um nach dem darüber liegenden Gastzimmer zu gelangen) dunkel an sich vorübergehen sehen. Ihm war wenig davon in’s Bewußtsein gedrungen, ausgenommen Obenreizers gedankenvolles Wesen, und daß dieser ihn den ganzen Tag über beobachtete.

Als es ihm gelang, seine Narrheit abzuschütteln, befand sich Obenreizers nicht an seiner Seite. Der Wagen hielt vor einem Haus am Wege. Die Pferde wurden gefüttert. Eine Reihe langer schmaler Karten, mit Fässern Wein beladen und von Pferden gezogen, die mit blauem Zeug an Halftern und Kopfgeschirren versehen waren, hielten zu gleichem Zweck hier an. Sie kamen aus der Gegend, nach welcher die Reisenden hinwollten, und Obenreizer, der jetzt nicht gedankenvoll, sondern freundlich und zuthunlich war, befand sich im Gespräch mit dem ersten Karrenführer.

Vendale streckte seine Glieder, das Blut cirkulirte wieder im Körper, und die Lethargie wich von ihm beim schnellen Auf- und Niedergehen in der scharfen Luft. Die Reihe Karten setzte sich in Bewegung: die Karrenführer grüßten Obenreizer alle, als sie an ihm vorüberkamen.

»Wer sind dies« fragte Vendale.

»Unser Kärrner, Leute aus dem Defresnier’schen Geschäft,« erwiderte Obenreizer. »Das waren unsre Weinfässer.« Er sang dabei vor sich hin und zündete sich eine Cigarre an.

»Ich bin heut eine trübselige Gesellschaft gewesen,« sagte Vendale. »Ich weiß selbst nicht, was mir fehlt.«

»Sie haben in der vorigen Nacht nicht geschlafen, da stellen sich öfter Wallungen nach dem Kopf ein, vorzüglich bei solcher Kälte sagte Obenreizer. »Ich habe das vielfältig erlebt. »Was das Schlimmste ist, wir werden unsere Reise umsonst gemacht haben, wie es scheint.«

»Wie so?«

»Das Haus ist in Mailand. Sie wissen. wir haben ein Weingeschäft in Neuschatel und ein Seidengeschäft in Mailand? Nun gut, da Seide plötzlich mächtig vorwärts geht und mehr als Wein, so wurde Defresnier nach MaiIand berufen. Rolland, der andre Compagnom ist seit Defresniers Abreise krank, und die Aerzte haben verboten, Jemand zu ihm zu lassen. In Neuschatel liegt ein Brief für Sie bereit, der Ihnen das Alles mittheilen soll. Ich weiß es von unserem ersten Spediteur, mit dem Sie mich haben sprechen sehen. Er war überrascht, mich hier zu treffen und sagte, er habe den Auftrag, Ihnen die Bestellung zu machen, wenn er Ihnen etwa begegnete. Was werden Sie thun? Wieder umkehren?«

»Weiterreisen,« sagte Vendale.

»Weiterreisen?«

»Ja, weiterreisen. Ueber die Alpen und hinunter nach Mailand.«

Obenreizer hielt im Rauchen ein, um Vendale anzusehen und rauchte dann, langsam fort. Er blickte den Weg hinauf und blickte den Weg hinab, er blickte auch die Steine am Wege an.«

»Mein Geschäft ist ein sehr ernstes,« sagte Vendale. »Mehrere der fehlenden Formulare können bereits zu einem ebenso schlechten oder noch schlimmeren Gebrauch benutzt sein, als dasjenige, welches sich in meiner Hand befindet; ich bin verpflichtet, keine Zeit zu verlieren, da ich dem Hause behilflich sein kann, den Dieb zu entdecken. Nichts soll mich vermögen, wieder umzukehren.«

»Nein?« rief Obenreizer, seine Cigarre aus dem Munde nehmend, um zu lächeln und dem Reisegefährten die Hand entgegenstreckend. »Dann soll auch mich nichts zum Umkehren vermögen. Hoho! Kutscher! Fördert Euch! Schnell! Wir wollen vorwärts!«

Sie fuhren die Nacht hindurch. Es war Schnee gefallen und theilweise hatte es gethaut. Man mußte hauptsächlich einen Fußweg benutzen und oft anhalten, damit die durchnäßten, sich sträubenden Pferde zu Athem kommen konnten. Eine Stunde nach Anbruch des Tages fuhren die Reisenden in das Thor des Gasthauses zu Neuschatel ein, nachdem sie achtundzwanzig Stunden gebraucht hatten, um etwa achtzig englische Meilen zurückzulegen.

Als sie sich eiligst erfrischt und ihre Kleider gewechselt hatten, gingen sie zusammen nach dem Geschäftslokal von Defresnier u. Co. Dort fanden sie den Brief vor, den ihnen der Weinspediteur angekündigt hatte, mit einer Einlage, welche die für die Entdeckung des Fälschers nöthigen Proben zum vergleichen der Handschrift enthielt. Vendales Entschluß vorwärts zu eilen ohne Aufenthalt stand bereits fest, es handelte sich einzig noch darum welchen Paß man wählen sollte, um die Alpen zu überschreiten? Was die beiden Pässe, den St. Goithard und den Simplon anbetraf, so gingen die Aussagen der Führer und Maulthiertreiber weit auseinander, beide Pässe aber waren noch viel zu entfernt, als daß den Reisenden frische Nachrichten darüber zukommen konnten. Ueberdies wußten sie wohl, daß ein Schneefall in kurzer Zeit die genaueste Beschreibung des Weges zu Schanden machen mußte. Aber da im Ganzen die Straße über den Simplon die gangbarste zu sein schien, so beschloß. Vendale dieselbe einzuschlagen. Obenreizer nahm keinen oder wenig Antheil an der Erörterung und gab kaum ein Wort dazu.

Nach Genf. Nach Lausanne. An dem ebnen Uferrand des Sees entlang nach Vevay. Durch das sich zwischen den Fuß der Berge hindurchwindende Thal in das Rhonethal hinein. Die Wagenräder rasselten den Tag hindurch die Nacht hindurch, wie die Räder einer großen Uhr, die die Stunden bezeichnet.

Es trat während der Fahrt kein Wechsel der Witterung ein. Alles war starr gefroren. Die Kette der Alpen hob sich Von einem dunkeln gelblichen Himmel ab. Die Reisenden sahen so viel Schnee auf nahen und fernen Berghöhen, daß ihnen die Reinheit des Sees, des Stromes und Wasserfalls und alle Dörfer farblos und schmutzig erschienen. Aber es fiel weder Schnee noch trat gar Schneetreiben auf ihrem Wege ein. Der dichtere oder leichtere weiße Nebel, der das Thal erfüllte und an Haare und Kleider Eiszapfen hängte, war die einzige wechselnde Erscheinung zwischen ihnen und dem dunklen Himmel. Und bei Tag und bei Nacht rasselten die Räder und rasselten einem von ihnen einen Refrain ins Ohr, der wesentlich verschieden von dem klang, den der Rhein gerauscht hatte: »Die Zeit ist vorbei ihn lebend zu berauben und ich muß ihn morden.«

Endlich gelangten sie in der kleinen armen Stadt Brieg am Fuße des Simplon an. Sie trafen in der Dunkelheit ein und konnten doch noch unterscheiden, wie zwerghaft der Mensch und sein Werk sich ausnehmen gegen die riesigen Berge, die darüber ragen. Hier mußten sie für die Nacht liegen bleiben. Hier gab es Wärme, Feuer, eine Lampe, ein Diner, Wein und viel Hin- und Herreden mit Führern und Maulthiertreibern. Seit vier Tagen war kein menschliches Wesen über den Paß gekommen. Der Schnee über der Schneelinie wurde zu weich für Wagen und nicht hart genug für einen Schlitten erklärt. Es waren außerdem Schneewolken am Himmel. Seit langen Tagen drohten sie dort und es blieb ein Wunder, daß der Schnee noch nicht gefallen war und eine Gewißheit, daß er fallen mußte. Kein Fuhrwerk konnte hinüber. Es war nur möglich die Reise auf Maulthieren oder zu Fuß zu versuchen. Aber die besten Führer mußten genommen und ihnen Preise gezahlt werden, wie sie für gefahrvolle Bergfahrten üblich waren; ob es gelang, die beiden Reisenden hinüberzubringen´oder ob die Nothwendigkeit sie umzukehren zwang, die Preise mußten entrichtet werden. An diesen Verhandlungen nahm Obenreizer durchaus keinen Antheil. Er saß still am Feuer und rauchte bis das Zimmer leer war und Vendale sich an ihn wendete.

»Pah! Die armen Teufel langweilen mich mit ihrem Feilschen,« sagte er statt aller Antwort. »Ueberall dieselbe Geschichte. So treiben sie es jetzt und so trieben sie es, als ich noch ein Bettelknabe war. Wir brauchen sie nicht. Wir brauchen jeder ein Ränzel und jeder einen Alpenstock. Wir brauchen keinen Führer. Wir würden ihn führen, er aber nicht uns. Wir lassen unsere Mantelsäcke hier und gehen zusammen hinüber. Wir sind schon früher auf den Bergen zusammen gewandert und ich bin auf den Bergen geboren. Ich kenne diesen Paß, diese Landstraße auswendig. Verlassen wir die armen Teufel, bemitleiden wir sie und mögen sie mit andern feilschen. Sie dürfen uns nicht mit ihren Versuchen Geld zu ernten aufhalten. Weiter wollen sie doch nichts.«

Vendale, zufrieden alle Streitigkeiten erledigt und den Knoten durchhauen zu sehen, that kräftig, waghalsig, genöthigt vorwärts zu kommen und sehr empfänglich für den letzten Wink, der ihm geworden, willigte sogleich ein. In zwei Stunden hatten sie erstanden, was sit für die Wanderung gebrauchten, hatten ihre Ränzel gepackt und legten sich wiederum zu schlafen.

Bei Tagesanbruch versammelte sich die halbe Stadt in der schmalen Gasse um sie fortwandern zu sehen. Die Leute standen in Gruppen umher und sprachen mit einander. Die Führer und Maulthiertreiber flüsterten für sich und sahen nach dem Himmel; Niemand wünschte ihnen eine glückliche Reise.

Als sie anfingen zu steigen brach ein Sonnenstrahl durch den übrigens unverändert trüben Himmel und verwandelte für einen Augenblick die blanken Spitzen der Kirchthürme des Städtchens zu Silber.

»Eine gute Vorbedeutung!« sagte Vendale (obgleich der Strahl noch während er sprach erlosch). »Vielleicht öffnet unser Beispiel den Paß von dieser Seite.«

»Nein. Es wird uns Niemand folgen,« erwiderte Obenreizer, hinauf zum Himmel und zurück in das Thal sehend. »Wir werden allein da oben sein.«



Kapiteltrenner

Auf der Höhe.

Der Weg war ziemlich gut für kräftige Wandersleute und die Lust wurde klarer und leichter zu athmen, je höher man stieg. Aber das trübe Wetter, welches sich festgesetzt hatte, blieb unverändert, wie es schon viele Tage geblieben war. Es schien, als ob die Natur zu einem Stillstand gekommen sei.

Der Sinn des Gehörs, wie des Gesichts versagte bei dem langen Warten auf einen Wechsel. Man vermochte nicht zu bestimmen, was eigentlich von oben her drohe. Die, Stille wurde ebenso drückend und schwer, als die hängenden Wolken —— oder besser die Wolke, denn es schien, als befände sich nur eine einzige am Himmel und als bedecke diese einzige das ganze Firmament.

Obgleich das Licht wie in ein Leichentuch eingehüllt war, so blieb doch die Aussicht frei. Unten in dem Rhonethal konnte man den Strom in seinen vielfachen Krümmungen verfolgen, schreckhaft dunkel und feierlich sah er in seiner bleiernen Farbe, wie eine lichtlose Wüste aus. Hoch und weit über ihnen bedrohten überhängende Schneelawinen die Stätten, über welche die Wandernden schreiten mußten. Zu ihrer Rechten tiefe dunkle Abgründe und der schäumende Bergstrom und ragende Felsen nach allen Seiten. Die riesige Landschaft, durch keinen Wechsel des Lichts, durch keinen Strahl der Sonne belebt, war schrecklich deutlich in ihrer furchtbaren Wildheit. Die Herzen zweier einsamer Männer möchten erbeben, wenn sie sich Meilen und Stunden zwischen einer Legion schweigender und bewegungsloser Menschen hindurch winden müßten —— lauter Menschen wie sie selber —— alle sie starr ansehend mit gerunzelter Stirn. Aber um wie viel schrecklicher, wenn diese Legion aus den großartigsten Schöpfungen der Natur besteht und das Zürnen sich in einem Augenblick zur Wuth verwandeln kann.

Im Weitersteigen wurde zwar der Weg schroffer und schwieriger, aber Vendale’s Laune eine gehobenere: lag doch eine ganze Strecke der Straße schon besiegt hinter ihnen. Obenreizer sprach wenig; er hielt an seinem Entschluß fest.

In Bezug auf Behendigkeit und Ausdauer waren Beide wohl zu dem Unternehmen geschickt. Was der auf den Bergen Geborene aus den Anzeichen des Wetters las, war für den Andern nicht zu entziffern und Obenreizer behielt seine Beobachtungen für sich.

»Kommen wir heut noch hinüber?« fragte Vendale.

»Nein!« erwiderte der Andere. »Bemerken Sie nicht, wie viel tiefer der Schnee hier liegt als eine halbe Meile niedriger? Je höher wir steigen, je mehr wird er sich um unsre Füße lagern.

Das Gehen ist schon jetzt ein Waten und die Tage sind so kurz. Wenn wir das fünfte Schutzhaus erreichen und die Nacht im Hospiz zubringen können, wollen wir von Glück sagen.«

»Ist keine Gefahr vorhanden, daß lieb in der Nacht das Wetter erhebt und uns einschneit?« fragte Vendale besorgt.

»Es lauern genug Gefahren um uns her,« sagte Obenreizer, vorsichtig seinen Blick aufwärts und abwärts schickend, »Um uns Schweigen zur Pflicht zu machen. Haben Sie schon von der Gantherbrücke gehört?«

»Ich bin einmal hinübergegangen.«

»Im Sommer?«

»Ja. In der Reisezeit.«

»Ja so. Es ist etwas andres in jetziger Jahreszeit,« und er setzte höhnisch, als ob er ärgerlich sei, hinzu: »Von dem Stand der Dinge in der jetzigen Jahreszeit auf einem Alpenpaß habt Ihr, Sonntagsreisende, keine Ahnung.«

»Sie sind mein Führer,« sagte Vendale wohlgelaunt.

»Ich vertrane Ihnen.«

»Ich bin Ihr Führer,« sagte Obenreizer, »und werde Sie bis an das Ende Ihrer Reise geleiten. Da liegt die Brücke vor uns.«

Sie waren durch eine Wendung in eine trostlose, finstre Schlucht gelangt, in welcher der Schnee tief unter ihnen, hoch über ihnen und zu beiden Seiten lagerte. Obenreizer stand still, zeigte, indem er sprach, aus die Brücke und betrachtete Vendale mit einem seltsamen Ausdruck.

»Wenn ich, der Führer, Sie voran hinübergeschickt und Sie ermuthigt hätte, ein Freudengeschrei anzustimmen, so würden Sie Centner und wieder Centner Schnee auf sich herabgerissen haben; würde Sie nicht allein getödtet, sondern Sie mit einem Schlage begraben haben.«

»Ohne Zweifel,« sagte Vendale.

»Ohne Zweifel. Aber als Führer ist das nicht meines Amtes. Also gehen Sie schweigend hinüber. Denn so, wie wir es jetzt machen, könnte unsre Unvorsichtigkeit die Lawine auf einen andern als Sie herablocken und mich begraben. Vorwärts!«

Auf der Brücke hatten sich Massen von Schnee aufgehäuft und eben so ungeheure Schneemassen hingen von vorspringenden Felsen herüber, so daß es aussah, als ob sie ihren Weg bei Sturm zurücklegten und der Wind dicke weiße Wolken zusammentriebe. Den Stock geschickt gebrauchend, indem er im Vorwärtsgehen Alles untersuchte, mit gekrümmten Schultern, den Kopf abwärts gebeugt, als ob er schon der bloßen Idee eines Schneesturzes von oben Widerstand leisten müßte, schritt Obenreizer langsam voran. Vendale folgte ihm auf dem Fuß. Sie waren in der Mitte ihres gefahrvollen Weges, als ein gewaltiger Krach erfolgte von einem donnernden Geräusch begleitet. Obenreizer drückte die Hand auf Vendale’s Mund und zeigte den schmalen Gang hinunter, den sie gekommen waren. Der Anblick hatte sich in einem Augenblick völlig verwandelt. Eine Lawine war in den Strom, der in der Schlucht schäumte, niedergestürzt. Das Erscheinen der Fremden in dem einsamen Wirthshause jenseits der Schreckensbrücke, kostete den darin Eingeschlossenen viele Ausrufe des Erstaunens.

»Wir wollen uns nur erholen,« sagte Obenreizer, den Schnee am Feuer aus seinen Kleidern schüttelnd. »Dieser Herr hat sehr dringende Veranlassung hinüberzukommen —— sagen Sie es ihnen, Vendale.«

»Gewiß, ich habe dringende Veranlassung. Ich muß hinüber.«

»Ihr hört es Alle. Mein Freund hat eine dringende Veranlassung hinüberzukommen, wir bedürfen weder Euren Rath noch Eure Hilfe. Ich bin ein eben so guter Führer, wie einer von Euch, meine lieben Landsleute. Jetzt gebt uns zu essen und zu trinken.«

Fast in derselben Weise und fast in denselben Worten gebärdete sich und sprach Obenreizer zu den verwunderten Leuten in dem Hospiz als es dunkel geworden und er und Vendale sich durch die vermehrten Schwierigkeiten des Weges durchgekämpft und endlich ihr Unterkommen für die Nacht erreicht hatten. Alles lief am Feuer zusammen, wo die Wanderer die nassen Schuhe abthaten und den Schnee aus den Mänteln schüttelten.«

»Es ist gut, wenn einer den andern versteht, meine Freunde. Der Herr ——«

»Hat,« sagte Vendale, ihm lächelnd das Wort aus dem Munde nehmend, »dringende Veranlassung hinüber zu kommen. Muß hinüber.«

»Ihr hört! —— hat dringende Veranlassung hinüber zukommen. Muß hinüber. Wir brauchen weder Rath noch Hilfe. Ich bin auf den Bergen geboren und diene zum Führer. Quält uns nicht mit vielen Hin- und Herreden, sondern gebt uns ein Abendbrot, Wein und Betten.«

In der entsetzlichen Nachtkälte derselbe schreckliche Stillstand. Beim Sonnenaufgang derselbe Strahl, der den Schnee röthete und vergoldete. Dieselbe unendliche Einöde von farblosem Weiß; dieselbe unbewegliche Luft; dieselbe eintönige Wolke am Himmel.«

»Wandrer«!« rief eine freundliche Stimme von der Thür aus, nachdem sich Vendale und Obenreizer mit dem Ränzel auf dem Rücken und dem Stock in der Hand wie gestern aufgemacht hatten. »Vergeßt nicht. Es giebt fünf Schutzstellen nahe bei einander auf Eurem gefährlichen Wege; dann kommt das hölzerne Kreuz und dann das nächste Hospiz. Verirrt Euch nicht. Wenn der Tourmente eintreten sollte, sucht sogleich Schutz.«

»Es ist das Handwerk der armen Teufel.« sagte Obenreizer zu seinem Freund, hochmüthig mit der Hand der Stimme winkend, »Sie stecken Alle unter einer Decke! Ihr Engländer nennt uns Schweizer Miethlinge und Söldner. Es sieht in der That so aus, als wären wir’s.«

Sie hatten in ihren Ränzeln solche Erfrischungen, welche überhaupt zu haben und ihnen zweckdienlich erschienen waren. Obenreizer trug als seinen Antheil an dem Gepäck den Wein, Vendale Brot, Fleisch, Käse und eine Flasche Liqueur.

Sie hatten sich eine zeitlang auf und ab durch den Schnee gearbeitet —— der in dem schmalen Engpaß ihnen bis über das Knie ging und sonst überall in unermeßlicher Höhe lag —— und sie arbeiteten sich weiter auf und ab durch den gefährlichsten Theil dieser Verwüstung, bis Schnee zu fallen begann. Zuerst waren es nur einige Flocken, die langsam und einzeln niederwehten. Nach einer kleinen Weile wurden sie dichter und plötzlich ohne bemerkliche Ursache wirbelten sie in spiralförmigen Bogen um sich selbst. Sobald dieser Wechsel eintrat, fing ein eisiger Wind an zu heulen und alle Wuth und alles Getöse, das bis jetzt gebunden gewesen, entfesselte sich über den Wanderern.

Eine der düsteren Galerien, die auf gefährlichen Stellen den Weg schützen, eine jener von festen schweren Bogen gestützten Höhlen, war nahe zur Hand. Sie flüchteten hinein. Der Sturm tobte wild. Das Getöse des Windes, das Getöse des Wassers, das Niederdonnern der stürzenden Schnee und Felsmassen, die schrecklichen Stimmen, mit denen nicht allein diese Kluft, sondern alle Klüfte in dem ganzen ungeheuren Umkreis plötzlich ausgerüstet zu sein schienen, die tiefe Dunkelheit, das gewaltsame Herumwirbeln des Schnees, welches ihn in Spreu zerschellte und zerbrach und die Wandrer blind machte, die Raserei, von der Alles um sie her erfaßt war, als habe jeden Gegenstand unersättliche Zerstörungswuth ergriffen, der schnelle Eintritt der heftigsten Aufregung nach der unnatürlichen Ruhe, die Menge erschreckender Töne nach der Stille, die geherrscht hatte: das alles waren Dinge die (noch dazu am Rande eines grauenvollen Abgrundes) das Blut erstarren machten, wenn es nicht schon dem heulenden Wind, der buchstäblich von Schnee und Eis Körperhaft wurde, gelungen war, es zu erstarren.

Obenreizer, der in der Galerie ohne Aufhören hin- und wiederging, bedeutete Vendale, ihm das Ränzel aufmachen zu helfen. Es konnte einer den andern sehen, aber nicht einer den andern sprechen hören. Vendale willfahrte ihm. Obenreizer zog eine Flasche Wein hervor, goß ein und hielt ihn Vendale hin, indem er ihm verständlich machte, daß er, um sich zu erwärmen, lieber Wein als Branntwein nehmen sollte. Vendale willfahrte ihm auf’s Neue. Es hatte den Anschein, als ob Obenreizer nach ihm tränke und die beiden wanderten danach nebeneinander auf und ab. Beide wußten, daß sich niederlegen oder schlafen ihr Tod sein würde.

Der Schnee trieb massenhaft am unteren Ende der Galerie herein, an dem Ende, zu dem sie hinaus mußten, wenn sie je wieder hinauskamen, denn es lagen größere Gefahren hinter ihnen als vor ihnen. Der Schnee fing bereits an den Bogen zu füllen. Noch eine Stunde und er lagerte so hoch, daß er das wieder aufdämmernde Tageslicht nicht hereinließ, doch fror er und konnte überklettert werden. Die Heftigkeit des Sturmes hatte nach und nach einem regelmäßigen Schneefall Platz gemacht. Der Wind wüthete noch in Zwischenräumen, aber nicht mehr unaufhörlich und wenn er einhielt, fiel der Schnee in ruhigen großen Flecken.

Zwei Stunden mochten sie in ihrem schrecklichen Gefängniß zugebracht haben, als Obenreizer zuvor den Schneewall untersuchend, mit gebücktem Kopf und mit seinem Körper oben an den Felsenboden stehend, hinüber kroch und seinen Ausweg aus der Höhle nähme. Vendale folgte ihm nach, aber ohne Ueberlegung und ohne sich klar zu werden, warum er es that. Denn die Lethargie, die er schon einmal in Basel empfunden, hatte ihn wieder beschlichen und beherrschte alle seine Sinne. Wie weit er von der Galerie entfernt war, oder mit welchen Hindernissen er seitdem gerungen hatte, wußte er nicht. Es kam ihm plötzlich zum Bewußtsein, daß Obenreizer auf ihn losgesprungen war und sie sich mitten im Schnee in einem verzweifelten Handgemenge befand. Es erwachte in ihm die Erinnerung, dessen, was sein Angreifer im Gürtel trage. Er tappte danach, zog es, stieß nach ihm, kämpfte weiter, stieß zum zweiten Mal nach ihm, riß sich los und stand nun Auge in Auge dem Andern gegenüber.

»Ich habe versprechen Sie an das Ende Ihrer Reise zu führen,« sagte Obenreizer, »und habe mein Versprechen gehalten. Ihre Lebensreise endet hier. Nichts kann Sie retten. Sie schlafen, wo Sie gehen und stehen.«

»Sie sind ein Elender. Was haben Sie mir angethan?«

»Sie sind ein Narr. Ich habe Ihnen einen Trank eingegeben. Sie sind zwiefach ein Narr, denn ich habe es versuchsweise schon einmal vor der Wanderung gethan. Sie sind dreifach ein Narr, denn ich bin der Dieb und der Fälscher und werde nach wenigen Augenblicken die Beweise gegen den Dieb und Fälscher ihrem entseelten Körper entnehmen.«

Der Ueberlistete versuchte die Lethargie von sich zu schütteln, aber sie übte eine so entsetzliche Herrschaft über ihn aus, daß er sich in dem Augenblicke, wo er solche Worte vernahm, nicht darauf besinnen konnte, wer von ihnen beiden der Verwundete war und wessen Blut dort über den Schnee rieselte.

»Was habe ich Ihnen gethan?« fragte er schwer und bedrängt, »daß Sie an mir —— zum gemeinen Mörder werden?«

»Mir gethan? Sie würden mich ruiniert haben, wenn Sie an das Ziel Ihrer Reise gelangt wären. Ihre verwünschte Schnelligkeit ließ mir nicht Zeit, das Geld zurückzahlen zu können. Mir gethan? Sie haben sich in meinen Weg gedrängt, nicht einmal oder zweimal, sondern wieder, und immer wieder. Habe ich Sie nicht anfänglich abschütteln wollen? Sie lassen sich nicht abschütteln, darum müssen Sie sterben.«

Vendale suchte zusammenhängend zu denken, zusammenhängend zu sprechen und versuchte den eisenbeschlagenen Stock aufzulangen, der ihm entfallen war. Als ihm das nicht gelang, versuchte er ohne Stütze vorwärts zu taumeln. Alles vergeblich! Er strauchelte und fiel hart an dem Rande der tiefen Kluft zu Boden. Betäubt, erstarrt, nicht fähig auf den Füßen zu stehen, mit um dunkelten Augen, mit versagendem Gehör, machte er noch eine gewaltsame Anstrengung sich aufzuraffen. Er stützte sich auf seine Hände, während sein Feind ruhig über ihm stand und folgende Worte sprach:

»Sie nennen mich einen Mörder,«« sagte Obenreizer dumpf lachend. »Der Name thut wenig zur Sache. Ich habe mindestens mein Leben gegen das Ihre eingesetzt, denn ich bin mit Gefahren umringt, aus denen vielleicht kein Entrinnen möglich ist. Der Tourmente erhebt sich wieder. Der Schnee beginnt zu wirbeln. Ich muß die Papiere haben. Jeder Augenblick Verzug kann mir das Leben kosten.«

»Halt!« rief Vendale mit schrecklicher Stimme und dem letzten Rest auflodernder Kraft in ihm. Er taumelte empor und hielt die räuberischen Hände, die nach seiner Brust griffen, mit letzter Anstrengung fest. »Halt! Fort von mir! Gott segne meine Marguerite! Hoffentlich er fährt sie niemals, auf welche Weise ich umkam! Zurück von mir und laß mich in Dein Mörderantlitz sehen, daß es mich erinnere —— an etwas —— was noch zu sagen übrig ist.«

Den Anblick dessen, der so hartnäckig mit dem schwindenden Bewußtsein kämpfte und die Furcht, derselbe könne sich noch einmal mit der Kraft von zwölf Männern beseelt aufraffen, hielten den Gegner unbeweglich an seinem Platz. Ihn wild anstarrend, stammelte Vendale die abgebrochenen Worte:

»Das Vertrauen des Todten —— will ich nicht täuschen. —— Geachtete Eltern —— unrechmäßig ererbtes Vermögen —— forschen Sie nach!«

Als sein Kopf herabsank und er wie zuvor an den Rand der Schlucht niedertaumelte, griffen die räuberischen Hände schnell und geschäftig wieder an seine Brust. Er machte eine krampfhafte Anstrengung, um »Nein!« zu rufen, und drängte sich verzweiflungsvoll über den Rand der gähnenden Kluft und versank vor den Händen seines Feindes wie ein schreckliches Traumbild.

Der Bergwind brach auf’s Neue los und beruhigte sich wieder. Die schrecklichen Stimmen der Felsen erstarben. Der Mond ging auf. Leise und still fiel Schnee hernieder.

Zwei Männer und zwei große Hunde kamen aus der Thür des Hospizes. Die Männer sahen sich vorsichtig um und blickten den Himmel an. Die Hunde wälzten sich im Schnee, nahmen ihn in den Mund und scharrten ihn mit den Füßen fort.«

Einer der Männer sagte zu dem andern: »Wir können es, jetzt wagen. Wir werden sie in einer der fünf Galerieen finden. Jeder befestigte einen Korb auf seinen Rücken, jeder nahm eine lange mit starker Eisenspitze beschlagene Stange in die Hand: jeder gürtete sich das mit einer Schlinge versehene Ende eines starken Seiles um, zu dem Zweck, sich aneinander zu befestigen.

Auf einmal hörten die Hunde auf, im Schnee zu wühlen. Sie standen still und sahen den Abhang hinab, hielten ihre Nasen in die Höhe, hielten sie auf den Boden, wurden sehr unruhig und brachen zusammen in ein tiefes lautes Heulen aus.

Die Männer sahen den Hunden in’s Gesicht. Die Hunde sahen mit mindestens derselben Intelligenz den Männern ins Gesicht.

»Zu Hilfe denn! helft! rettet!« riefen die beiden Männer. Die beiden Hunde, befriedigt, sprangen mit tiefem, lang dauerndem Gebell davon.

»Noch zwei solche Rasende,« sagte der eine Mann, bewegungslos vor Staunen, und starrte in das Mondlicht hinein. »Ist es möglich, in diesem Wetter! Und ein Weib dabei!«

Jeder der Hunde hatte den Zipfel eines Frauenkleides im Munde und zog daran. Die Besitzerin desselben liebkoste die Köpfe der Hunde und stieg durch den Schnee, als ob sie an solche Wanderungen gewöhnt wäre. Bei dem großen .Mann, der sie begleitete, war das nicht der Fall, er war erschöpft und außer Athem.

»Ihr lieben Führer, ihr lieben Freunde: aller Reisenden! ich bin eine Schweizerin. Wir suchen zwei Herren, die den Paß überschreiten wollten und das Hospiz gestern Abend erreicht haben müssen.«

»Sie haben es erreicht, Ma’amselle.«

»Dem Himmel sei Dank! dem Himmel sei Dank!«

»Aber sie sind unglücklicherweise weitergegangen, und wir machen uns eben auf den Weg, um sie zu suchen. Wir Haben erst den Tourmente vorübergehen lassen müssen, der hier oben schrecklich gewüthet hat.«

»Ihr lieben Führer und Freunde der Reisenden! Laßt mich Euch begleiten. Laßt mich Euch begleiten um Gotteswillen. Einer der Beiden soll mein Gatte werden. Ich liebe ihn so innig, o, so innig! Ihr seht, ich bin nicht schwach, Ihr seht, ich bin nicht müde. Ich bin ein Bauernkind. Ihr sollt Euch überzeugen, daß ich es verstehe, mich an Euer Seil zu befestigen. Ich kann es mit eigenen Händen. Ich schwöre Euch, muthig und tapfer auszudauern, nur laßt mich mit Euch gehen, laßt mich mit Euch gehen! Wenn ihm ein Unglück zugestoßen ist, so wird meine Liebe ihn auffinden, wenn alles Andere versagt. Auf meinen Knieen, lieben Freunde der Reisenden, beschwöre ich Euch; bei der Liebe, die Eure Mütter zu Euren Vätern im Herzen trugen, laßt mich mit Euch gehen!«

Die guten rauhen Gesellen wurden bewegt. »Genau genommen,« beredeten sie sich leise untereinander, »spricht sie die Wahrheit. Sie kennt Weg und Steg auf den Bergen. Seht, wie wunderbar sie herausgefunden hat! Aber was Monsieur hier anbetrifft, Ma’amselle?«

»Lieber Mr. Joey,« sagte Marguerite, ihn in seiner Muttersprache anredend, »Sie werden im Hause bleiben und uns erwarten. Nicht wahr?«

»Wenn ich genau wüßte, »daß ich Sie einem von Denen anvertrauen könnte´,« murrte Joey Ladle, die bei den Männer mit unverholener Geringschätzung betrachtend. »Aber mit denen würde ich mich um sechs Pfennige boxen und ihnen noch eine halbe Krone für ihre Auslagen schenken. Nein, Miß. Ich will zu Ihnen stehen, so lange ich überhaupt noch stehen kann. Ich will für Sie sterben, wenn ich nichts Besseres zu thun weiß.«

Die Stellung deä Mondes warnte nachdrücklich keine Zeit mehr zu verlieren, und da die Hunde Zeichen der höchsten Unruhe Von sich gaben, so faßten die Männer einen schnellen Entschluß. Das Seil, welches sie verband, wurde mit einem längeren vertauscht, an welchem sich die Genossen festknüpften. Marguerite war die zweite, der Kellermeister der letzte in der Reihe. Sie machten sich auf den Weg nach den Schutzhäusern. Die wirkliche Entfernung dieser Orte vom Hospiz war nicht bedeutend; an allen fünfen vorüber bis zum nächsten Hospiz betrug sie ungefähr zwei Meilen, aber ein weißes Leichentuch bedeckte gespenstig den Weg.

Sie kamen ohne zu irren in der Galerie an, in welcher die beiden Männer Schutz gesucht hatten. Der zweite Schneesturm hatte dergestalt hier gehaust, daß jede Spur: verweht war, doch liefen die Hunde mit den Nasen am Boden hin und her und schienen ihrer Sache gewiß zu sein.

Die Gefährten hielten indessen jenseits der Galerie ihre Tritte ein. Der Sturm hatte hier am wüthendsten getobt. Der Schnee lag aufgehäuft. Die Hunde wurden unsicher und liefen im Kreise herum, als suchten sie eine verlorene Spur.

Die Männer, in dem Bewußtsein, daß sich rechts die große Schlucht befand, hatten sich zu sehr nach links geschlagen und mußten nun mit unendlichen Mühen durch ein tiefes Schneefeld hindurch, um die Straße wieder zu gewinnen. Der Führer der Reihe machte Halt. Er wollte die Wegezeichen auffinden. Einer der Hunde begann in dem Schnee zu wühlen. Man trat hinzu und beobachtete den Vorgang gespannt. In der Meinung, daß jemand hier verschüttet sein konnte, beugte man sich nieder und gewahrte Flecken in dem Schnee, gewahrte auch, daß es rothe Flecken waren.

Der andere Hund blickte über den Rand der Schlucht; an allen Gliedern zitternd streckte er die Vorderpfoten auf dem Boden aus, damit er nicht hinabstürzen könne. Jetzt gesellte sich der Hund, der die rothen Flecken aufgefunden hatte, zu ihm und jetzt liefen sie wimmernd und klagend am, Rande hin und her. Endlich standen beide hart vor dem Abgrund still, legten ihre Köpfe nieder und erhoben ein schmerzvolles Geheul.

»Dort unten liegt jemand,« sagte Marguerite.

»Ich glaube auch,« sagte der Vorderste. »Stellt Euch fest, Ihr beiden Hintermänner, damit wir hinuntersehen können.«

Der Letzte in der Reihe zündete zwei Fackeln an, die er im Korbe bei sich trug und schickte sie vor. Der Führer bekam eine und Marguerite die andere. Sie spähten hinab, bald die Fackeln beschattend, bald sie nach rechts oder links hinwendend, bald sie erhebend, bald sie tief hinabbeugend wo das Mondlicht unten die schwarzen Schatten in der Tiefe nicht zu besiegen vermochte.

Ein durchdringender Schrei Margueritens unterbrach das tiefe Schweigen.

»Mein Gott! Auf jener vorspringenden Stelle, wo die Eisfläche sich über den Abgrund streckt, sehe ich eine menschliche Gestalt!«

»Wo, Ma’amselle, wo?«

»Sehen Sie, dort! auf der Eisfläche unter den Hunden.«

Der Führer zog sich mit dem Ausdruck größter Hoffnungslosigkeit vom Rande zurück. Alle verstummten, aber sie waren nicht unthätig. Marguerite machte sich und den Führer mit geschickten Fingern in wenigen Sekunden vom Seile los.

»steigt mir die Körbe. Sind diese beiden die einzigen Stricke?«

»Die einzigen, die wir hier haben, Ma’amselle; aber im Hospiz ——«

»Wenn er noch lebt —— ich weiß, es ist mein Bräutigam, so muß er sterben, ehe Ihr zurückkehrt. Lieben —— Führer! lieben Freunde der Reisenden! Seht mich an. Beobachtet meine Hände. Wenn sie versagen oder ungeschickt sind, haltet mich mit Gewalt fest, wenn sie aber kräftig und geschickt sind, helft mir ihn zu retten!«

Sie befestigte sich selbst das Seil unter der Brust und unter den Armen, sie formte eine Art Von Mieder daraus, sie schürzte es zusammen, sie legte das Ende des ersten neben das Ende des zweiten Seiles, sie wand und flocht beide zusammen, sie knotete sie, sie setzte ihren Fuß auf den Knoten, sie zog ihn fest und hielt ihn den beiden Männern hin um ihn zu prüfen.

»Sie ift inspirirt,« flüsterte einer dem andern zu.

»Bei der Gnade des Allmächtigen? rief sie aus. »Ihr beide wißt, daß ich die leichteste unter uns bin. Gebt mir den Branntwein und den Wein und laßt mich zu ihm hinunter. Dann eilt und holt mehr Hilfe herbei und ein stärkeres Seil. Ihr habt Euch überzeugt, daß, wenn Ihr es mir herunterlasst —— seht Euch das an, was ich mir selbst umgelegt habe —— ich sicher und fest seinen Körner daran befestigen kann. Todt oder lebendig, ich schaffe ihn hinauf oder sterbe mit ihm. Ich liebe ihn so innig. Braucht es noch mehr?«

Die Männer wollten sich an Marguerites Begleiter wenden, aber der lag besinnungslos im Schnee.

»Laßt mich zu ihm hinab,« sagte sie, sich zwei kleine Tonnen, die sie mitgebracht hatten, umhängend, »oder ich zerschmettre mich! Ich bin ein Bauernkind und kenne keine thörichte Furcht; die Gefahr schreckt mich nicht und ich liebe ihn so innig. Laßt mich hinab!«

»Ma’amselle, Ma’amselle, er stirbt oder ist schon todt.«

»Sterbend oder todt soll meines Gatten Haupt an meiner Brust ruhen. Laßt mich hinab, oder ich stürze mich hinunter.«

Sie waren überwunden und gaben nach. Mit so großer Vorsicht als ihre Geschicklichkeit und die Verhältnisse es erlaubten, ließen sie sie von der Höhe hinabgleiten.Mit ihrer Hand klammerte sie sich an die abschüssige Eiswand an. Sie ließen sie hinab und immer hinab, bis der Ruf heraufschallte:

»Genug!«

»Ist er es wirklich und ist er todt?« fragten sie, über den Rand blickend.

Der Ruf tönte herauf: »Er ist besinnungslos aber sein Herz schlägt. Es schlägt an dem meinen.«

»Wo liegt er?«

Der Ruf tönte herauf: »Auf einer Eisschicht. Sie thaut unter ihm und wird auch unter mir thauen. Eilt Euch. Sollten wir sterben —— ich bin es zufrieden.«

Einer der beiden Männer eilte mit den Hunden in der äußersten Geschwindigkeit, die er aufzubringen vermochte, fort, der andere steckte die brennenden Fackeln in den Schnee und bemühte sich, den Engländer wieder zum Leben zu erwecken. Viel Reiben mit Schnee und einiger Branntwein brachten ihn wieder auf die Füße, aber er blieb abwesend und vermochte sich nicht zu besinnen, wo er war?

Der Wächter stand am Rande des Abhanges, unaufhörlich schallte sein Ruf hinab: »Muth!Sie werden gleich hier sein. Wie geht es?« Die Antwort schallte heraus: »Sein Herz schlägt immer noch an dem meinen. Ich erwärme ihn in meinen Armen. Ich habe mich vom Seil losgemacht, denn das Eis schmilzt unter uns und das Seil würde mich von ihm trennen. Ich fürchte mich nicht.«

Der Mond versank hinter den Spitzen der Berge. Die ganze Schlucht hüllte Finsternis; ein. Der Ruf schallte hinab: »Was macht Ihr?« Die Antwort schallte zurück: »Wir sinken tiefer, aber sein Herz schlägt noch an dem meinen.«

Endlich verkündete Hundegebell und ein Lichtschein auf dem Schnee, daß Hilfe nahte. Zwanzig oder dreißig Männer, Laternen, Fackeln, Bahren, Seile, wollene Decken, Holz, um ein mächtiges Feuer zu entzünden, Wiederbelebungs- und Reizmittel tragend, kamen schnell herbei. Die Hunde liefen von einem Mann zum andern und von einem Gegenstand zum andern; sie liefen an die Schlucht, dumpf heulend: Eilt! eilt! eilt! Der Ruf schallte hinab: »Gott sei Dank. Alles bereit. Was macht Ihr?«

Die Antwort schallte herauf: »Wir sinken tiefer und sind zum Tode erstarrt. Sein Herz schlägt nicht mehr gegen das meine. Daß Niemand herunter komme, um unser Gewicht zu vermehren. Laßt nur das Seil herab.«

Das Feuer brannte hell und Fackelglanz beleuchtete die Seiten der Schlucht. Laternen wurden hinabgelassen und ein starkes Seil. Man konnte sehen, wie sie es um ihn schlang und befestigte.

Durch die Todtenstille ertönte der Ruf: »Aufziehen! leise!« Man sah ihre zarte Gestalt zusammenzucken, als der Leblose in den Lüften schwankte. Kein Freudenruf erschallte. Einige der Männer legten ihn auf die Bahre und andere ließen ein neues starkes Seil hinab. Wieder ertönte der Ruf: »Aufziehen! leise!« durch die Todtenstille. Aber als man sie am Rande der Schlucht empfing, da war ein Jubeln, ein Weinen, ein Gottdanken. Sie küßten ihr die Füße, sie küßten ihre Kleider, die Hunde liebkosten sie, leckten ihr die eisigen Hände und wärmten ihr mit ihren ehrlichen Gesichtern den erstarrten Busen.«

Sie machte sich von Allen los und sank auf die Bahre, mit ihren beiden lieben Händen das Herz bedeckend, was nicht mehr schlug.



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