Der Mondstein



Zwanzigstes Capitel.

Ich hatte den Ponywagen für den Fall angespannt gelassen, daß Herr Franklin darauf bestehen sollte, uns noch diesen Abend mit dem Nachtzug zu verlassen. Das Erscheinen des Gepäcks, dem Herr Franklin selbst auf dem Fuße folgte, machte es unzweifelhaft für mich, daß er sich vielleicht zum ersten Mal in seinem Leben an seinem einmal gefaßten Beschluß festgehalten habe.

So sind Sie wirklich entschlossen, Herr Franklin?« sagte ich, als wir uns in der Halle trafen. »Warum warten Sie nicht noch ein Paar Tage und geben Fräulein Rachel noch eine Chance?«

Der ausländische Firniß schien, wo jetzt der Moment des Abschieds gekommen war, ganz von Herrn Franklin gewichen zu sein. Er überreichte mir, statt auf meine Frage zu antworten, schweigend den Brief, den er von Mylady erhalten hatte. Der größte Theil desselben wiederholte nur das, was auch in meinem Briefe stand. Am Schluß aber fand sich eine Stelle in Betreff Fräulein Rachel’s, welche, wenn nichts anders, doch Herrn Franklins festes Beharren auf seinem Entschluß genügend erklären wird.

»Es wird Dich ohne Zweifel befremden (hieß es in dem Brief Mylady’s), daß ich es mir von meiner eigenen Tochter gefallen lasse, vollständig im Dunkel gehalten zu werden. Ein 20,000 Pfund St. werther Diamant ist verloren gegangen und ich bin zu der Annahme berechtigt, daß das Geheimniß seines Verschwindens kein Geheimniß für Rachel ist und daß ihr eine unerklärliche Verpflichtung gegen eine Person oder gewisse Personen, die mir völlig unbekannt ist oder sind, zu einem Zweck, über den ich nicht einmal eine Vermuthung zu hegen im Stande bin, Schweigen auferlegt. Scheint es nicht unbegreiflich, daß ich es mir gefallen lasse, in einer so geringschätzigen Weise behandelt zu werden? Es ist, aber in der That, wenn man Rachel’s gegenwärtigen Gemüthszustand berücksichtigt, vollkommen begreiflich. Sie ist in einem wahrhaft jammervollen Zustand nervöser Aufregung. Ich darf den Gegenstand des Mondsteins auch nicht von fern wieder berühren, bis die Zeit das Ihrige gethan haben wird, sie zu beruhigen. Um dazu beizutragen, habe ich keinen Anstand genommen, den Polizeibeamten zu entlassen. Das Geheimniß, welches uns in Verwirrung setzt, ist ihm nicht weniger räthselhaft. Hier liegt kein Fall vor, in welchem irgend ein Fremder uns helfen könnte. Seine Anwesenheit vermehrt nur meine Bedrängnisse und die bloße Nennung seines Namens macht Rachel rasen.

»Meine Pläne für die Zukunft sind so bestimmt wie es möglich ist. Zunächst beabsichtige ich mit Rachel nach London zu gehen, theils um sie durch einen vollständigen Wechsel ihrer Umgebung zu zerstreuen, theils um zu sehen, was der beste ärztliche Rath vermag. Kann ich Dich unter diesen Umständen auffordern, uns in London zu besuchen? Mein lieber Franklin, Du mußt Dir ein Beispiel an meiner Geduld nehmen und —— wie ich —— bessere Zeiten abwarten. Den schätzbaren Beistand, den Du bei der Untersuchung nach dem Verlust des Diamanten geleistet hast, betrachtet Rachel in ihrem gegenwärtigen traurigen Gemüthszustand als eine Beleidigung, die sie nicht verzeihen kann. Dadurch, daß Du Dich blindlings in diese Sache gemischt und sie durch Deine Bemühungen unabsichtlich mit der Entdeckung ihres Geheimnisses bedroht hast, hast Du nach ihrer Auffassung die aus ihr lastende Angst nur noch vermehrt. Ich bin weit entfernt, die Begriffsverwirrung entschuldigen zu wollen, welche Dich für Folgen verantwortlich machen will, die weder Du noch wir uns vorstellen oder vorhersehen konnten. Aber es läßt sich nicht mit ihr raisonniren, man kann sie nur bemitleiden. Mit schwerem Herzen spreche ich es aus, aber für jetzt bleiben Du und Rachel besser getrennt. Der einzige Rath, den ich Dir geben kann, ist, ihr Zeit zu lassen.«

Ich gab Herrn Franklin den Brief mit aufrichtigem Bedauern zurück, denn ich wußte, wie sehr er mein junges Fräulein liebte, und ich sah, daß der Bericht ihrer Mutter über sie ihn in’s Herz getroffen hatte.

»Sie kennen das Sprichwort, Herr Franklin,« da war Alles, was ich ihm sagte, »wenn die Noth am höchsten, so ist die Hilfe am nächsten. Viel höher als jetzt, Herr Franklin, kann die Noth nicht steigen.«

Herr Franklin faltete den Brief seiner Tante wieder zusammen, anscheinend ohne aus meinem Zuspruch viel Trost zu schöpfen.

»Als ich mit dem unseligen Diamanten hierher kam,« sagte er, »gab es, glaube ich, in ganz England kein glücklicheres Haus als dieses. Und wie sieht es jetzt in diesem Hause aus! Alles zerstreut, uneinig, Alles bis auf die Luft, die hier weht, mit dem Giftstoff des Geheimnisses und des Verdachtes getränkt! Erinnern Sie sich jenes Morgens am Zitterstrand, als wir uns über meinen Onkel Herncastle und sein Geburtstagsgeschenk unterhielten? Der Mondstein hat die Rachepläne des Obersten auf Wegen gefördert, Betteredge von denen der Oberst selbst nie geträumt hatte.«

Mit diesen Worten schüttelte er mir die Hand und ging hinaus an den Ponywagen.

Ich folgte ihm die Treppe hinunter. Es. war ein trauriger Anblick, ihn das alte Haus, in welchem er die glücklichsten Jahre seines Lebens zugebracht hatte, so verlassen zu sehen. Penelope, die durch alles Vorgefallene ganz unglücklich war, kam weinend herbei, um ihm Lebewohl zu sagen. Herr Franklin küßte sie. Ich winkte ihm mit der Hand ein herzliches Lebewohl zu. Auch einige von den andern weiblichen Dienstboten kamen zum Vorschein und blickten um die Ecke, um ihm nachzusehen. Er war einer von den Männern, denen die Frauen alle gut sind. Noch im letzten Augenblick hielt ich den Wagen zurück und bat ihn, uns von sich hören zu lassen. Er schien von meinen Worten keine Notiz zu nehmen, blickte umher und betrachtete alle Gegenstände, als ob er von dem alten Hause und Park für immer Abschied nehmen wolle.

»Bitte, sagen Sie uns, wohin Sie gehen,« sagte ich, noch immer am Wagen stehend, und versuchte es, auf diese Weise hinter seine künftigen Pläne zu kommen. Herr Franklin zog plötzlich den Hut über die Augen. »Wohin ich gehe?« sagte er, mir das Wort nachsprechend. »Ich gehe zum Teufel!« Bei diesen Worten lief das Pony davon, als ob ihm dieselben einen christlichen Schauder eingeflößt hätten. »Gott segne Sie, Herr Franklin, wohin Sie auch gehen mögen!« war Alles, was´ich noch Zeit hatte zu sagen, bevor er uns aus dem Gesicht gekommen war. Ein lieber und freundlicher Herr! Mit allen seinen Fehlern und Thorheiten ein lieber und freundlicher Herr! Er ließ eine große Lücke in Mylady’s Haus zurück. Es war still und traurig bei uns geworden, als der lange Sommerabend an jenem Sonnabend seinem Ende entgegenging.

Um meine sinkenden Lebensgeister aufzufrischen, nahm ich meine Zuflucht zu meiner Pfeife und zu meinem Robinson Crusoe. Die Frauenzimmer, mit Ausnahme Penelope’s, vertrieben sich die Zeit damit, über Rosanna’s Selbstmord zu reden. Sie beharrten Alle beider Ansicht, daß das arme Mädchen den Diamanten gestohlen und sich selbst, aus Furcht entdeckt zu werden, den Tod gegeben habe. Meine Tochter hielt natürlich in ihrem Sinn an Dem fest, was sie immer behauptet hatte. Ihre Auffassung von dem wirklichen Motiv des Selbstmords ließ, sonderbar genug, dieselbe Lücke unausgefüllt, über welche auch die Unschuldsbetheuerung meines jungen Fräuleins keinen Aufschluß gab. Beide ließen Rosanna’s geheime Reise nach Frizinghall und Rosanna’s Vornehmen in Betreff des Nachthemds völlig unaufgeklärt Aber es half nichts, Penelope darauf hinzuweisen; der Einwand machte ungefähr so viel Eindruck auf sie, wie ein Regenschauer auf einen wasserdichten Rock. Meine Tochter hat nämlich meine Unempfänglichkeit für Vernunftgründe geerbt und hat es in dieser Beziehung noch viel weiter gebracht, als ihr Vater.

Am nächsten Tage (Sonntag) kehrte der geschlossene Wagen, der bis jetzt bei Herrn Ablewhite in Frizinghall geblieben war, leer zu uns zurück. Der Kutscher überbrachte eine Bestellung für mich und geschriebene Instructionen für Mylady’s Kammermädchen und für Penelope.

Die Bestellung an mich lautete dahin, daß meine Herrin beschlossen habe, am nächsten Montag mit Fräulein Rachel nach London zu gehen und dort ihr Haus zu beziehen. Die geschriebenen Instructionen wiesen die Mädchen an, sich in Begleitung der näher angegebenen Garderobe ihrer Herrinnen zu einer bestimmten Stunde in London einzufinden. Von den übrigen Dienstboten sollten die meisten folgen. Mylady hatte Fräulein Rachel nach dem, was auf dem Landsitz vorgefallen war, so abgeneigt gefunden, dahin zurückzukehren, daß sie beschlossen habe, direct von Frizinghall nach London zu gehen; ich sollte bis auf weitere Ordre aus dem Gute bleiben, um Alles in und außer dem Hause zu überwachen. Die mit mir zurückbleibenden Dienstboten sollten Kostgeld erhalten.

Alles das erinnerte mich an die Worte des Herrn Franklin, daß hier jetzt Alles zerstreut und uneinig sei und führte meine Gedanken aus sehr natürlichem Wege zu Herrn Franklin selbst zurück. Je mehr ich an ihn dachte, desto unbehaglicher fühlte ich mich bei dem Gedanken an seine Zukunft. Das Ergebniß meiner Betrachtungen war, daß ich mit der Sonntagspost an den Kammerdiener seines Vaters, Herrn Jeffco, den ich in früheren Jahren in London gekannt hatte, schrieb und ihn bat, mich wissen zu lassen, was Herr Franklin bei seiner Ankunft in London zu thun beschlossen habe.

Der Sonntag-Abend war womöglich noch trübseliger, als es der Sonnabend-Abend gewesen war. Wir beschlossen den Ruhetag, wie Hunderttausende auf den britischen Inseln ihn regelmäßig beschließen, d. h. wir gingen vorzeitig zur Ruhe, indem wir Alle auf unsern Stühlen einschliefen. Was die Andern im Hause am nächsten Montag empfanden, weiß ich nicht, für mich brachte dieser Tag eine große Erschütterung. Die erste von Sergeant Cuffs Prophezeihungen der künftigen Dinge, nämlich daß ich von den Yollands hören werde, traf an diesem Tage an.

Ich hatte Penelope und Mylady’s Kammermädchen, mit dem Gepäck für London auf die Eisenbahn gebracht und schlenderte eben im Garten umher, als ich meinen Namen rufen hörte. Als ich mich umdrehte, stand ich der Tochter des Fischer, der hinkenden Lucy, gegenüber. Wenn man von ihrem lahmen Fuß und ihrer Magerkeit —— dieser bei Frauen nach meiner Ansicht sehr großen Schattenseite —— absah, so hatte das Mädchen einige für Männer angenehme Eigenschaften. Ein dunkles, ausdrucksvolles, intelligentes Gesicht, eine hübsche klare Stimme und schönes braunes Haar zählten zu ihren Vorzügen. Zu ihren Mängeln zählte noch eine Krücke, ihre unangenehmste Seite aber war ihr Temperament.

»Nun, mein Kind,« fragte ich, »was willst Du von mir?«

»Wo ist der Mann, den Ihr Franklin Blake nennt?« fragte das Mädchen, indem sie einen wilden Blick auf mich heftete und sich dabei auf ihre Krücke lehnte.

»Spricht man so von einem Herrn?« fragte ich. »Wenn Du Dich nach Mylady’s Neffen erkundigen willst, so sei so gut, ihn Herr Franklin Blake zu nennen.«

Sie hinkte mir einen Schritt näher und sah mich an, als ob sie mich mit Haut und Haaren auffressen wollte. »Herr Franklin Blake,« sprach sie mir nach, »Mörder Franklin Blake würde ein passenderer Name für ihn sein.«

Meine bei meiner Seligen geübte Praxis kam mir hier zu statten. Wenn ein Frauenzimmer es versucht uns außer Fassung zu bringen, so muß man den Spieß umkehren und sie außer Fassung bringen. Die Frauenzimmer sind gewöhnlich auf alle Mittel der Abwehr gegen ihre Angriffe vorbereitet, nur nicht auf dieses. Bringt man aber dieses Mittel im rechten Augenblick zur Anwendung, so richtet man mit einem Wort so viel aus wie sonst mit hunderten, und so war es in diesem Fall mit der hinkenden Lucy. Ich sah sie freundlich an und sagte: »Pah!«

Auf der Stelle stand das Mädchen in Feuer und Flammen. Sie stellte sich fest auf ihren gesunden Fuß und stieß mit ihrer Krücke wüthend drei Mal auf den Boden. »Er ist ein Mörder! ein Mörder! ein Mörder!

Er ist Schuld an dem Tode Rosanna Spearman’s!« Sie schrie diese Worte im höchsten Diskant. Einige von den Leuten, die nahe bei uns im Garten arbeiteten, blickten auf; sahen, daß es die hinkende Lucy war; wußten, wessen man sich von der zu versehen habe und fuhren ruhig in ihrer Arbeit fort.

»Er ist Schuld an dem Tode Rosanna Spearman’s?« wiederholte ich; »wie kommst Du darauf, das zu behaupten, Lucy?«

»Was fragen Sie darnach? Wer fragt überhaupt etwas darnach? O, wenn sie nur über die Männer gedacht hätte, wie ich, so lebte sie vielleicht noch heute.«

»Sie war immer dankbar gegen mich, das arme Kind!« sagte ich, »und ich habe mir immer die redlichste Mühe gegeben, sie freundlich zu behandeln.«

Ich sagte diese Worte in einem möglichst tröstenden Ton. In Wahrheit hatte ich nicht den Muth das Mädchen durch fernere scharfe Antworten noch mehr zu reizen. Anfänglich war mir nur ihr heftiges Temperament aufgefallen; jetzt machte sich ihre Armseligkeit bemerklich, und Armseligkeit ist beim Menschen niederen Standes nicht selten mit Insolenz verbunden. Meine Antwort brachte eine mildernde Wirkung auf die hinkende Lucy hervor. Sie senkte den Kopf und stützte denselben auf ihre Krücke.

»Ich habe sie geliebt,« sagte das Mädchen sanft; »sie hat ein elendes Leben gelebt, Herr Betteredge; schlechte Menschen hatten sie mißhandelt und auf schlechte Wege geführt, aber ihr gutes Gemüth hatten sie nicht verderben können. Sie war ein Engel. Sie hätte glücklich mit mir sein können. Ich hatte einen Plan gemacht, wie wir zusammen wie Schwestern nach London gehen und dort von unserer Hände Arbeit leben wollten; aber da kam der Mann daher und verdarb Alles. Er hat es ihr angethan. Sagen Sie mir nicht, daß es nicht seine Absicht war und daß er es nicht wußte; er hätte es wissen, er hätte Mitleid mit ihr haben müssen. »Ich kann nicht ohne ihn leben —— und, o Lucy, er sieht mich nie auch nur an!« Das waren ihre Worte. Schändlich! Schändlich! Ich sagte ihr: »Kein Mann ist Werth, daß man sich um ihn härmt.« Und sie antwortete: »Es giebt Männer, die werth sind, daß man sein Leben für sie hingiebt —— und er ist einer von diesen Männern.« Ich hatte mir ein bischen Geld erspart. Ich hatte mit Vater und Mutter Alles in Ordnung gebracht. Ich wollte sie den Kränkungen, die sie hier zu erdulden hatte, entziehen. Wir hätten uns eine kleine Wohnung in London genommen und wie Schwestern zusammen gelebt. Sie hatte, wie Sie wissen, Herr, eine gute Erziehung erhalten und schrieb eine gute Hand. Sie war geschickt mit der Nadel. Ich habe auch eine gute Erziehung genossen und schreibe auch eine Hand. Ich bin zwar nicht so geschickt mit der Nadel wie sie es war, aber es hätte doch hingereicht. Wir hätten uns unseren Lebensunterhalt ganz gut verdienen können. Und nun, was geschieht diesen Morgen? O, was geschieht diesen Morgen? Ihr Brief kommt und sagt mir, daß sie die Last ihres Lebens von sich geworfen hat. Ihr Brief kommt und sagt mir Lebewohl für immer. Wo ist er?« rief das Mädchen, ihren Kopf von der Krücke erhebend und abermals mit thränenden Augen aufflamment. »Wo ist dieser Herr, von dem ich nun so respectvoll reden soll? Ha! Herr Betteredge, der Tag ist nicht fern, wo die Armen gegen die Reichen aufstehen werden. Wollte Gott, sie machten mit ihm den Anfang!«

Das war wieder so eine von den gewöhnlichen guten Christinnen, und das war wieder so ein Fall, wo das gute Christenthum nicht vorhält, wenn es auf eine zu harte Probe gestellt wird. Der Pfarrer selbst —— und das will viel sagen —— hätte mit dem Mädchen in ihrem gegenwärtigen Zustand nicht viel anfangen können. Alles was ich zu thun wagte, war, daß ich versuchte, sie bei der Stange zu halten, in der Hoffnung, daß dabei vielleicht etwas herauskommen würde, was für mich zu hören der Mühe werth wäre.

»Was willst Du von Herrn Franklin Blake?« fragte ich.

»Ich will ihn sehen.«

»Aus einem besonderen Grunde?«

»Ich habe ihm einen Brief abzugeben.«

»Von Rosanna Spearman?«

»Ja!«

»Der, in dem an Dich gerichteten Brief einlag?«

»Ja!«

Sollte sich hier eine Möglichkeit zeigen, das Dunkel aufzuhellen? Sollten sich mir alle die Entdeckungen, die ich zu machen verzweifelte, hier auf einmal von selbst darbieten? Ich mußte mich einen Augenblick fassen.

Ich spürte wieder die ansteckende Nachwirkung von Sergeant Cuff’s Gesellschaft. Gewisse Symptome die ich an mir selbst beobachtete, mahnten mich, daß das Entdeckungsfieber mich wieder zu ergreifen anfing.

»Du kannst Herrn Franklin nicht sehen,« sagte ich.

»Ich muß und will ihn sehen.«

»Er ist gestern Abend nach London gereist.«

Die hinkende Lucy blickte mir scharf in’s Gesicht und sah, daß ich die Wahrheit sagte. Ohne ein Wort weiter zu sagen, drehte sie sich um und ging ihres Weges in der Richtung nach Cobb’s Hole zu.

»Halt!« sagte ich, »ich erwarte Morgen Nachrichten von Herrn Franklin Blake. Gieb mir Deinen Brief und ich will ihn ihm durch die Post zugehen lassen.«

Die hinkende Lucy stützte sich wieder auf ihre Krücke und blickte sich über die Schulter nach mir um.

»Ich muß ihn selbst in seine Hände geben,« sagte sie, »und darf ihn ihm auf keine andere Weise zukommen lassen.«

»Soll ich ihm schreiben, was Du gesagt hast?«

»Schreiben Sie ihm, daß ich ihn hasse, dann haben Sie ihm die Wahrheit geschrieben.«

»Ja, ja! aber ich meine wegen des Briefes.«

»Wenn er den Brief haben will, muß er wieder hierherkommen und sich ihn von mir geben lassen.«

Mit diesen Worten hinkte sie ihres Weges nach Cobb’s Hole weiter. Das Entdeckungsfieber hatte auf der Stelle bei mir alles Gefühl meiner persönlichen Würde aufgezehrt. Ich ging ihr nach und versuchte sie wieder zum Sprechen zu bringen. Alles vergebens. Es war mein Unglück, daß ich ein Mann war, und daß die hinkende Lucy sich daher freute, mir etwas zuwider thun zu können. Im Laufe des Tages versuchte ich noch mein Glück bei ihrer Mutter. Aber die gute Frau Yolland konnte nichts weiter als weinen und mir einen Schluck Trost aus der Geneverflasche empfehlen. Ich fand den Fischer selbst am Strande, Er flickte sein Netz und rief mir zu: »Das ist eine schlimme Geschichte.« Weder Vater noch Mutter wußten mehr von der Sache als ich. Die einzige Chance, die mir noch zu versuchen übrig blieb, war die Möglichkeit, an Herrn Franklin Blake zu schreiben.

Ich überlasse es dem Leser, sich die Ungeduld auszumalen, mit der ich am Dienstagmorgen den Postboten erwartete. Er brachte mir zwei Briefe. Der eine von Penelope, den ich mir zu lesen kaum Zeit ließ, meldete, daß Mylady und Fräulein Rachel gesund in London angekommen seien und sich dort in ihrem Hause eingerichtet hätten. Der andere von Herrn Jeffco benachrichtigte mich, daß der Sohn seines Herrn England bereits verlassen habe.

Nach seinem Eintreffen hatte sich Herr Franklin, wie es schien, direct nach dem Hause seines Vaters begeben. Er kam zu keiner günstigen Zeit. Herr Blake sen. war bis über die Ohren mit den Angelegenheiten des Hauses der Gemeinen beschäftigt und spielte gerade an jenem Abend zu Hause mit dem parlamentarischen Lieblingsspielzeug, das man eine »private-bill« nennt. Herr Jeffco selbst führte Herrn Franklin in das Arbeitszimmer seines Vaters.

»Aber lieber Franklin! warum überraschest Du mich auf diese Weise? Ist Dir etwas passirt?«

»Jawohl ist mir etwas passirt; mit Fräulein Rachel, was mich aufs Tiefste bekümmert.«

»Thut mir sehr leid. Aber ich habe jetzt keine Zeit, Dich anzuhören?«

»Wann kannst Du mich denn anhören?«

»Mein lieber Junge! Ich möchte Dich nicht unnütz hinhalten. Ich kann Dich anhören, wenn die Session vorüber ist, nicht einen Augenblick früher. Gute Nacht!«

»Danke Vater. Gute Nacht!«

»Das war die Unterhaltung im Studirzimmer, wie sie mir Herr Jeffco berichtete. Die Unterhaltung außerhalb des Studirzimmers war noch kürzer.

»Jeffco, bitte, sehen Sie nach, um welche Zeit der Schnellzug nach Dover morgen früh abgeht.«

»6 Uhr 40 Minuten, Herr Franklin.«

»Lassen Sie mich um 5 Uhr wecken.«

»Wollen Sie in’s Ausland verreisen, Herr Franklin?«

»Ja, Jeffco, wohin mich die Eisenbahn bringen will!«

»Soll ich es Ihrem Herrn Vater mittheilen?«

»Jawohl. Theilen Sie es ihm am Ende der Session mit.«

Am nächsten Morgen war Herr Franklin nach dem Continent; das Ziel seiner Reise vermochte Niemand, auch er selbst nicht, anzugeben. Wir mußten darauf gefaßt sein, demnächt von ihm aus Europa, Asien, Afrika und Amerika zu hören. Die Chancen für diese vier Welttheile waren nach Herrn Jeffco’s Ansicht völlig gleich. Diese Nachrichten, die jede Aussicht, die hinkende Lucy und Herrn Franklin zusammenzubringen, für mich verschlossen, thaten zugleich für mich jedem ferneren Fortschritt aus dem Wege der Entdeckung meinerseits Einhalt. Penelope’s Annahme, daß ihre Kameradin sich aus uns erwiderter Liebe für Herrn Franklin den Tod gegeben habe, wurde bestätigt und das war Alles Ob der Brief, welchen Rosanna mit der Weisung hinterlassen hatte, ihm denselben nach ihrem Tode zu übergeben, das Bekenntniß enthielt, welches sie, wie Herr Franklin glaubte, bei ihren Lebzeiten ihm zu machen versucht hatte, war unmöglich zu entscheiden. Vielleicht enthielt der Brief nur ein letztes Lebewohl und das Geständniß ihrer Leidenschaft für einen Mann von Stande. Oder vielleicht enielt er einen Aufschluß über ihre sonderbaren von Sergeant Cuff entdeckten Vornahmen von dem Moment an, wo der Mondstein verloren ging, bis zu dem, wo sie ihrem Tode auf dem Zitterstrande entgegengeeilt war. Versiegelt war der Brief der hinkenden Lucy übergeben worden und versiegelt blieb sein Inhalt für mich und Jedermann, Lucy’s eigne Eltern nicht ausgenommen. Wir Alle hatten sie in Verdacht, die Vertraute der Verstorbenen gewesen zu sein; wir Alle versuchten es, sie zum Reden zu bringen und blieben sämmtlich erfolglos. Einer oder der Andere von den Dienstboten, die noch immer an dem Glauben festhielten, daß Rosanna den Diamanten gestohlen und ihn versteckt habe, guckte und stöberte gelegentlich an dem Felsen herum, bis zu welchem ihre Spur verfolgt worden war und guckte und stöberte vergebens. Die Fluth kam und ging, der Sommer ging vorüber und der Herbst kam und der Zittersand, der ihren Leichnam barg, barg auch ihr Geheimniß.

Die Nachricht von Herrn Franklin’s am Sonntag Morgen erfolgter Abreise von England und die Nachricht von Mylady’s und Fräulein Rachels am Montag Nachmittag erfolgter Ankunft in London, hatte ich, wie der Leser weiß, durch die Dienstags-Post erhalten. Der Mittwoch kam und brachte nichts Neues. Der Donnerstag brachte eine zweite Portion Neuigkeiten von Penelope.

Der Brief meiner Tochter meldete mir, daß ein großer Londoner Arzt wegen des Zustandes ihres jungen Fräuleins consultirt worden sei und eine Guinea mit der Bemerkung verdient habe, daß ihr Zerstreuungen gut thun würden.

Blumen-Ausstellungen, Opern, Bälle und andere Amüsements in Menge standen bevor; und Fräulein Rachel schien zu ihrer Mutter Erstaunen Geschmack an Allem zu finden. Herr Godfrey hatte seinen Versuch gemacht und war augenscheinlich, ungeachtet der Aufnahme, die sein Antrag an jenem Geburtstag gefunden hatte, so beflissen gegen seine Cousine gewesen wie je. Zu Penelope’s Bedauern war er höchst freundlich empfangen worden und hatte Fräulein Rachel’s Namen auf der Stelle an die Spitze eines seiner mildthätigen Unternehmen stellen dürfen. Meine Herrin war nach Penelope’s Bericht sehr trübe gestimmt und hatte zwei lange Conferenzen mit ihrem Advocaten gehabt. Es folgten Betrachtungen über eine arme Verwandte der Familie —— eine gewisse Miß Clack, von der ich in meinem Bericht über das Geburtstags-Diner erzählt habe, daß sie neben Herrn Godfrey saß und sehr gern Champagner trank. Penelope war erstaunt, daß Miß Clack noch keinen Besuch gemacht habe. Es werde gewiß nicht lange dauern, bis sie sich wie gewöhnlich an Mylady drängen werde —— und so weiter, und so weiter in der Weise, wie Frauenzimmer mit der Feder und mit dem Munde über einander zu medisiren pflegen. Des letztgedachten Umstandes thue ich nur aus einem Grunde Erwähnung. Wie ich höre, wird der Leser nach seiner Trennung von mir Miß Clack in die Hände fallen. Wenn dem so ist, so habe ich den Leser nur um die eine Gefälligkeit zu bitten, nicht ein Wort von dem zu glauben, was sie von mir sagt.

Am Freitag ereignete sich wieder nichts, es wäre denn, daß einer der Hunde Spuren eines Ausschlages hinter den Ohren zeigte. Ich gab ihm eine Dosis Kreuzdornsaft und setzte ihn bis auf Weiteres auf eine Diät von Graswasser und Kräutern. Der geneigte Leser wolle entschuldigen, daß ich von so etwas rede. Es ist mir so aus der Feder geflossen. Ich bitte es zu übergehen. ich nähere mich mit raschen Schritten dem Ende meiner Verstöße gegen den seinen, modernen Geschmack. Aber der Hund war ein gutes Thier und verdient eine gute Behandlung.

Der Sonnabend, der letzte Tag der Woche, ist auch der letzte Tag in meiner Erzählung. Die Morgenpost brachte mir eine Ueberraschung in Gestalt einer Londoner Zeitung. Die Handschrift auf der Adresse intriguirte mich. Ich verglich sie mit Namen und Adresse des Geldverleihers, wie sie in meiner Brieftasche standen und erkannte sofort in der Adresse Sergeant Cuff’s Handschrift.

Als ich nach dieser Entdeckung die Zeitung eifrig durchsuchte, fand ich einen Polizeibericht mit Tinte angestrichen. Derselbe lautete, wie folgt. Man lese ihn, wie ich ihn gelesen habe und man wird die höfliche Aufmerksamkeit des Sergeanten, mir die Neuigkeiten des Tages zu schickem zu schätzen wissen.

»Lambeth. —— Kurz vor dem Schluß der Gerichts-Sitzung erbat sich Herr Septimus Luker, der Inhaber einer wohlbekannten Handlung von Gemmem Cameen, Intaglios 2C. 2c., den Rath des Richters Herr Luker gab an, daß er Tage lang zu wiederholten Malen von einigen jener herumtreibenden Indier, welche die Straßen unsicher machen, behelligt worden sei. Die Leute, über die er sich zu beschweren habe, seien drei an der Zahl gewesen. Trotzdem er sie durch die Polizei habe aus dem Hause schaffen lassen, wären sie doch immer wieder gekommen und hätten es versucht, in das Haus zu dringen, angeblich um ein Almosen zu erbitten Von der vorderen Hausthür fortgewiesen, seien sie wieder an der Hinterthür erschienen. Abgesehen von dieser Behelligung, über welche Herr Luker Beschwerde führte, äußerte er die Befugniß, daß es dabei auf einen Raub abgesehen sei. Seine Sammlung enthalte viele seltene und höchst kostbare Gemmen, sowohl aus dem classischen Alterthum wie aus dem Orient. Erst Tags zuvor sei er genöthigt gewesen, einen geschickten Elfenbein-Arbeiter —— einen geborenen Indier, wenn wir recht gehört haben —— auf den Verdacht eines versuchten Diebstahls hin, aus seinem Dienst zu entlassen, und er sei keineswegs sicher, daß dieser Arbeiter und die Straßen-Jongleurs, über die er sich beschwere, nicht unter einer Decke steckten. Er besorge, daß sie vielleicht darauf ausgingen, einen Auflauf in der Straße zu veranlassen und sich während der dadurch verursachten Verwirrung Eingang in das Haus zu verschaffen. Auf die Frage des Richters mußte Herr Luker zugeben, daß er keinen Beweis dafür beibringen könne, daß es wirklich auf einen Raub abgesehen sei. Bestimmt behaupten könne er nur die durch die Indier verursachte Belästigung und Unterbrechung in seiner Arbeit, aber weiter nichts. Der Richter entgegnete, daß, wenn sich die Belästigung wiederholen sollte, Herr Luker die Indier vor dieses Gericht fordern könne, wo nach dem Gesetze mit ihnen werde verfahren werden. Was die Kostbarkeiten in Herrn Luker’s Besitz anlange, so sei es Herrn Luker’s Sache, selbst die zweckmäßigsten Maßregeln zu ihrer Sicherung zu treffen. Er werde vielleicht gut thun, sich mit der Polizei in Verbindung zu setzen und besondere Vorsichtsmaßregeln zu ergreifen, wie sie ihm die Erfahrungen der Polizei an die Hand geben würden. Herr Luker dankte dem Richter und entfernte sich.

Einer der Weisen des Alterthums soll, ich weiß nicht mehr bei welcher Gelegenheit, seinen Mitmenschen empfohlen haben, »das Ende zu bedenken.« Wenn ich das Ende dieser meiner Blätter bedenke und mich erinnere, wie ich noch vor wenigen Tagen nicht wußte, wie ich damit zu Stande kommen solle, so finde ich, daß meine einfache Mittheilung von Thatsachen von selbst zu einem höchst passenden Schluß gelangt. Wir sind in dieser Mondsteingeschichte von einer wunderbaren Ueberraschung zu der andern geführt und schließen nun hier mit der wunderbarsten aller Ueberraschungen, nämlich dem Eintreffen von Sergeant Cuffs drei Prophezeihungen in weniger als einer Woche, nachdem er dieselben ausgesprochen hatte.

Nachdem ich am Montag von den Yollands gehört hatte, war mir nun durch eine Londoner Zeitung auch etwas über die Indier und den Geldverleiher zu Ohren gekommen. Man vergesse nicht, daß Fräulein Rachel selbst sich zu derselben Zeit in London befand. Man sieht, ich gebe die Dinge in ihrer nackten Wahrheit, selbst wenn sie meiner Auffassung gerade in’s Gesicht zu schlagen scheinen. Wenn der Leser auf die vorliegenden Beweise hin sich auf die Seite des Sergeanten stellt und mich im Stich läßt, und wenn er es demgemäß für die einzig rationelle Erklärung der Sache hält, daß Fräulein Rachel und Herr Luker mit einander in Verbindung getreten seien und daß der Mondstein sich jetzt als Pfand im Hause des Geldverleihers befinden müsse: so kann ich in diesem Dunkel, durch das ich den Leser bis jetzt geführt und in welchem ich ihn mit meinen besten Empfehlungen zu lassen genöthigt bin, gegen diese Annahme nichts einwenden.

Wie so genöthigt? wird man vielleicht fragen. Warum führe ich die, welche mir so lange gefolgt sind, nicht in die Regionen höherer Erleuchtung, in welchen ich jetzt selbst weile?

Darauf habe ich nur zu erwidern, daß ich nach bestimmten Instructionen handle und daß mir diese Instructionen im Interesse der Wahrheit ertheilt worden sind.

Ich darf in dieser Erzählung nicht mehr mittheilen, als ich selbst zur Zeit der Begebenheit wußte; oder, um es noch deutlicher zu sagen, ich muß mich streng innerhalb der Grenzen meiner eigenen Erlebnisse halten und darf meinen Lesern nichts von dem berichten, was mir Andere mitgetheilt haben, aus dem sehr einfachen Grunde, daß meine Leser diese Berichte von jenen andern Leuten selbst aus erster Hand erhalten sollen. In dieser Mondsteinangelegenheit sollen nicht bloß Berichte gegeben, sondern wirkliche Zeugen vorgeführt werden. Ich male mir selbst aus, wie ein Mitglied der Familie diese Blätter nach fünfzig Jahren lesen wird. Herr Gott! wie wird es sich geschmeichelt fühlen, daß man ihm nichts auf ein bloßes Hörensagen zu glauben zumuthet, sondern ihn in jeder Beziehung wie einen Richter behandelt.

Hier müssen wir also, nachdem wir eine lange Reise mit einander gemacht haben, beiderseits, hoffe ich, mit freundschaftlichen Gefühlen, für jetzt wenigstens von einander Abschied nehmen. Der Hexentanz des indischen Diamanten ist nach, London verlegt; und nach London hin müssen meine Leser ihm folgen und mich auf dem Lande allein lassen. Sie werden die Fehler dieses Berichts, meine vielen Selbstbetrachtungen und mein, fürchte ich, zu familiäres Wesen gütigst entschuldigen. Ich habe es nicht böse gemeint und trinke, da ich gerade mit meinem Mittagessen fertig bin, mit aller Ehrerbietung einen Krug von Mylady’s Ale auf die Gesundheit und das Gedeihen meiner Leser. Mögen sie in diesen von mir geschriebenen Blättern finden, was Robinsons Crusoe in seinen Erfahrungen auf der wüsten Insel fand, nämlich: »etwas Trost und einen Beitrag zu ihrer Unterscheidung von Gut und Böse, die sie mir bei ihrem Urtheil zu Gute schreiben werden.« Und somit rufe ich ihnen ein herzliches Lebewohl zu.

Ende der ersten Periode.


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