Die Frau in Weiß

Schluß der Erzählung von Walter Hartright

I.

Als ich das letzte Blatt von des Grafen Handschrift zusammenlegte, war die halbe Stunde, welche ich mich verpflichtet hatte, in Forest Road zu bleiben, verflossen. Monsieur Rubelle sah auf seine Uhr und verbeugte sich. Ich stand sofort auf und ließ den Agenten im Besitze des leeren Hauses. Ich sah ihn niemals wieder, noch habe ich je weder von ihm noch seiner Frau Etwas gehört. Aus den finsteren Nebenwegen der Schurkereien und des Betruges waren sie über unseren Pfad gekrochen – in dieselben Nebenwege krochen sie heimlich zurück und waren verschwanden.

In einer Viertelstunde, nachdem ich Forest Road verlassen, war ich zu Hause angelangt.

Wenige Worte genügten, um Laura und Mariannen zu erzählen, wie mein verzweifeltes Abenteuer geendet und was das nächste Ereigniß unseres Lebens in Wahrscheinlichkeit sein werde. Ich sparte alle Einzelheiten bis später am Tage auf und eilte nach St. John’s Wood zurück, um den Mann aufzusuchen, von dem Graf Fosco den Wagen gemiethet hatte, als er Laura von der Station abholte.

Die mir gegebene Adresse führte mich zu einem »Lohnkutscher«, der ungefähr eine Viertelmeile (engl.) von Forest Road wohnte. Der Mann erwies sich als höflich und achtbar. Als ich ihm verständlich machte, daß eine wichtige Familienangelegenheit mich zu der Bitte an ihn nöthige, daß er in seinen Büchern nachsehe, um ein Datum zu erfahren, von dem dieselben mich würden unterrichten können, zeigte er sich willig, mir meinen Wunsch zu gewähren. Das Buch wurde herbeigebracht und da unter dem Datum »den 26. Juli 1850« stand die Bestellung in diesen Worten:

»Brougham für Graf Fosco, 5, Forest Road. Zwei Uhr. (John Owen.)«

Ich erfuhr auf meine Frage, daß der Name »John Owen« der des Mannes war, welcher den Wagen gefahren hatte. Er war augenblicklich im Stallhofe beschäftigt und wurde auf mein Ersuchen herbeigerufen.

»Erinnern Sie sich, im Monat Juli vorigen Jahres einen Herrn von Numero 5 Forest Road nach der Station der Waterloo-Brücke gefahren zu haben?« frug ich ihn.

»Nun, Sir,« sagte der Mann, »das kann ich gerade nicht sagen.«

»Vielleicht werden Sie sich des Herrn selbst erinnern? Entsinnen Sie sich, vorigen Sommer einen Ausländer gefahren zu haben – einen großen Herrn, der ganz besonders korpulent war?«

Des Mannes Gesicht erhellte sich sofort. »Ich erinnere mich, Sir! Der dickste Herr, den ich im ganzen Leben gesehen – und der schwerste Kunde, den ich je gefahren habe. Ja, ja, jetzt erinnere ich mich an ihn, Sir. Ja, gewiß fuhren wir nach der Station, und es war von Forest Road aus. Es war ein Papagai oder so was, das im Fenster kreischte. Der Herr war in einer ganz erschrecklichen Eile, um das Gepäck der Dame zusammenzubringen, und gab mir ein hübsches Trinkgeld, damit ich schnell die Koffer zusammensuchte.«

Die Koffer! Ich entsann mich augenblicklich, daß nach Laura’s eigener Erzählung über ihre Ankunft in London ihr Gepäck von Jemandem besorgt wurde, den der Graf mitgebracht hatte. Dies war also der Mann.

»Sahen Sie die Dame?« frug ich ihn. »Wie sah sie aus? War sie jung oder alt?«

»Ja nun, Sir, in der Eile und dem Gestoße kann ich nicht sagen, daß ich die Dame ordentlich gesehen hätte. Ich kann mich an Nichts mehr von ihr erinnern –außer ihrem Namen.«

»Sie erinnern sich ihres Namens?«

»Ja, Sir. Ihr Name war Lady Glyde.«

»Wie kommen Sie dazu, Das behalten zu haben, wenn Sie vergessen hatten, wie sie aussah?«

Der Mann lächelte und bewegte verlegen die Füße.

»Nun, Sir, um Ihnen die Wahrheit zu sagen,« sagte er, »ich hatte mich damals gerade erst verheirathet, und der Name meiner Frau, ehe sie den meinigen dafür annahm, war derselbe, als der von der Dame – ich meine Glyde, Sir. Die Dame sprach ihn selber aus. ›Ist Ihr Name auf dem Gepäck, Madame?‹ frug ich sie. ›Ja,‹ sagte sie, ›der Name steht auf dem Gepäck – Lady Glyde.‹ Na! sagte ich noch zu mir selbst, du hast sonst ein schlechtes Gedächtniß für vornehmer Leute Namen – aber dieser kommt wie ein alter Freund. Ich kann nicht genau sagen, wann es war, Sir; es mag beinah ein Jahr her sein, oder auch noch nicht so lange, Aber auf den dicken Herrn kann ich schwören und auf den Namen der Dame auch.«

Es war unnöthig, daß er sich der Zeit erinnerte, denn das Datum war positiv in seines Herrn Bestellbuche angegeben. Ich fühlte augenblicklich, daß ich jetzt die Mittel besaß, um mit einem einzigen Schlage den ganzen Verrath mit der unwiderstehlichen Waffe erwiesener Thatsache zu Boden zu schlagen. Ohne auch nur einen Augenblick zu zögern, nahm ich den Herrn des Kutschers auf die Seite und machte ihn mit der großen Wichtigkeit des Zeugnisses in seinem Bestellbuche und dem des Kutschers bekannt. Es wurde leicht eine Uebereinkunft in Bezug auf Schadloshaltung für den zeitweiligen Verlust der Dienste des Mannes getroffen, und ich selbst nahm eine Abschrift von dem in dem Buche Eingetragenen, welche dann der Lohnkutscher selbst als wahr bezeugte und unterzeichnete. Ich entfernte mich, nachdem ich angeordnet, daß John Owen sich während der nächsten drei Tage oder länger, falls Dies nothwendig sei, zu meiner Verfügung hielte.

Ich hatte jetzt alle Papiere, deren ich bedurfte, in meinem Besitze; denn des Registrars eigene Abschrift des Todtenscheines, sowie Sir Percival’s Brief an den Grafen befanden sich in meinem Taschenbuche.

Mit diesen geschriebenen Beweisen und den Antworten des Kutschers frisch im Gedächtnisse wandte ich mich zum erstenmale nach dem Beginne aller meiner Nachforschungen wieder nach Kyrle’s Expedition. Einer meiner Zwecke, indem ich ihm diesen Besuch machte, war natürlich der, ihm zu erzählen, was ich gethan hatte. Der zweite aber war der, ihm meinen Entschluß, meine Frau am folgenden Morgen mit nach Limmeridge House zu nehmen, anzukündigen, damit sie dort öffentlich in ihres Onkels Hause empfangen und anerkannt würde. Ich überließ es Mr. Kyrle, unter diesen Umständen und in Mr. Gilmore’s Abwesenheit zu entscheiden, ob er als Anwalt der Familie und im Interesse derselben genöthigt sei, bei der Gelegenheit zugegen zu sein oder nicht.

Ich sage Nichts von Mr. Kyrle’s unbegrenztem Erstaunen, noch von den Ausdrücken, in denen er sich über mein Betragen von den ersten Stadien meiner Nachforschungen bis zu den letzten aussprach. Ich brauche hier nur zu erwähnen, daß er sofort einwilligte, uns nach Cumberland zu begleiten.

Wir reisten am folgenden Morgen mit dem Frühzuge ab. Laura, Marianne, Mr. Kyrle und ich in einem Wagen und John Owen in Begleitung eines Schreibers aus Mr. Kyrle’s Expedition in einem anderen. Auf der Station von Limmeridge angelangt, gingen wir zunächst nach Todd’s Ecke. Ich war fest entschlossen, daß Laura ihres Onkels Haus nicht eher betreten sollte, als bis sie Dies öffentlich als seine Nichte anerkannt thun konnte. Ich überließ es Mariannen, sich mit Mrs. Todd über die Frage des Unterbringens zu einigen, sobald die gute Frau sich von ihrer Bestürzung und Verwirrung über Das, was sie von dem Zwecke unseres Besuches in Limmeridge gehört, erholt haben würde, und kam mit ihrem Manne überein, daß John Owen der entgegenkommenden Gastfreundschaft der Gehöftsknechte übermacht werde. Nachdem diese Einleitungen getroffen waren, begaben Mr. Kyrle und ich uns nach Limmeridge House.

Ich kann keine lange Beschreibung von unsrer Unterredung mit Mr. Fairlie geben; denn es ist mir unmöglich, derselben ohne Gefühle des Widerwillens und der Verachtung zu gedenken, die mir den Auftritt selbst in der Erinnerung im höchsten Grade unangenehm machen. Ich ziehe es vor, nur ganz einfach zu berichten, daß ich meinen Zweck erreichte. Mr. Fairlie versuchte, uns nach seiner gewohnten Weise zu behandeln. Wir ließen seine höfliche Impertinenz zu Anfang des Begegnens unbemerkt. Wir hörten ohne Theilnahme seine Betheuerungen an, daß die Enthüllungen über den Verrath ihn überwältigt hätten. Er winselte und wimmerte zuletzt förmlich wie ein verzogenes Kind. »Wie konnte er wissen, daß seine Nichte lebte, wenn man ihm gesagt hatte, sie sei todt? Er wolle die liebe Laura mit Freuden willkommen heißen, wenn wir ihm nur Zeit lassen wollten, sich zu erholen. Ob wir fänden, daß er wie ein Mann aussehe, den man in sein Grab zu treiben habe? Nein. Also wozu Dies da thun?« Er wiederholte diese Gegenvorstellungen bei jeder geringsten Gelegenheit, bis ich denselben ein für allemal Einhalt that, indem ich ihn entschieden zwischen zwei unvermeidliche Alternativen stellte. Ich ließ ihm die Wahl, ob er seiner Nichte nach meinen Bedingungen Gerechtigkeit angedeihen lassen – oder sich den Folgen einer öffentlichen Behauptung ihrer Existenz in einem Gerichtshofe aussetzen wolle. Mr. Kyrle, an den er sich um Beistand wandte, sagte ihm unumwunden, daß er die Frage ein für allemal auf der Stelle zu entscheiden habe. Indem er auf charakteristische Weise diejenige Alternative wählte, welche ihm die schnellste Befreiung von aller persönlichen Unbequemlichkeit versprach, gab er mit einem plötzlichen Anfalle von Energie zu verstehen, daß er nicht kräftig genug sei, um noch ferner auf sich einpoltern zu lassen, und daß wir thun könnten, was wir wollten.

Mr. Kyrle und ich gingen sofort hinunter und faßten eine Art Rundschreiben an alle Pächter des Gutes ab, welche das Begräbniß begleitet hatten, in welchem wir sie in Mr. Fairlie’s Namen aufforderten, sich am zweiten Tage von da ab in Limmeridge House zu versammeln. Zugleich wurde nach Carlisle geschickt, um von einem Bildhauer einen Mann zu bestellen, der eine Inschrift auskratzte. Mr. Kyrle, der im Hause wohnte, unterzog sich der Pflicht, Mr. Fairlie diese Briefe vorzulesen und sie ihn mit eigener Hand unterzeichnen zu lassen.

Ich brachte den zwischenliegenden Tag auf dem Gehöfte und damit zu, daß ich eine kurze, deutliche Erzählung des Bubenstückes aufsetzte, zu der ich noch eine Aufzählung der praktischen Widersprüche hinzufügte, welche sich der Behauptung von Laura’s Tode entgegenstellten. Ich legte dieselbe dann Mr. Kyrle zur Durchsicht vor, ehe ich sie am folgenden Tage den Leuten vorlesen würde. Darauf kamen wir über die Form überein, in welcher der Beweis am Schlusse des Lesens geführt werden sollte. Nachdem Dies Alles angeordnet, wollte Mr. Kyrle zunächst von Laura’s Vermögensangelegenheiten sprechen. Da ich von diesen Angelegenheiten Nichts wußte, noch zu wissen wünschte und sehr bezweifelte, ob Mr. Kyrle als Geschäftsmann mein Verfahren in Bezug auf meiner Frau Nießbrauch des Legates an die Gräfin Fosco billigen würde, bat ich ihn, mich zu entschuldigen, wenn ich auf den Gegenstand nicht einginge. Derselbe, konnte ich ihm mit Wahrheit versichern, war mit jenen bitteren Leiden der Vergangenheit verknüpft, deren wir unter uns niemals erwähnten, und auch Anderen gegenüber instinctmäßig vermieden.

Meine letzte Arbeit, ehe der Abend zu Ende ging, war die, mir die »Aussage des Grabsteines« zu verschaffen, indem ich eine Abschrift von der Inschrift über dem Grabe nahm, ehe dieselbe ausgekratzt sein würde.

Der Tag kam – der Tag, an dem Laura endlich wieder das alte, wohlbekannte Frühstückszimmer in Limmeridge House betrat. Alle Anwesenden erhoben sich von ihren Plätzen, als Marianne und ich sie hereinführten. Offenbare Ueberraschung und hörbare Theilnahme ließ sich beim Anblicke ihres Gesichtes unter ihnen vernehmen. Mr. Fairlie war (auf meine ausdrückliche Forderung) an Mr. Kyrle’s Seite zugegen. Sein Kammerdiener stand mit einem Riechfläschchen in der einen und einem in Eau de Cologne getränkten Batisttuche in der andern Hand hinter ihm.

Ich eröffnete das Verfahren, indem ich Mr. Fairlie öffentlich aufforderte, zu sagen, ob ich mit seiner Erlaubniß und ausdrücklichen Bewilligung hier sei. Er streckte zu jeder Seite einen Arm aus, den einen nach Mr. Kyrle und den andern nach seinem Diener; sie halfen ihm, sich auf den Beinen aufrecht zu halten, und er drückte sich dann folgendermaßen aus: »Man erlaube mir, Mr. Hartright vorzustellen. Ich bin noch immer so leidend wie je, und er wird die große Freundlichkeit haben, für mich zu sprechen. Der Gegenstand ist ein unbeschreiblich peinlicher. Ich bitte, daß man ihn anhöre – und keinen Lärm mache!« Mit diesen Worten sank er langsam in seinen Armstuhl zurück und nahm seine Zuflucht zu seinem parfümerirten Taschentuche.

Hierauf folgte die Enthüllung des ganzen Complots – nachdem ich zuvor in möglichst kurzen, klaren Worten meine vorläufigen Erklärungen gegeben. Ich unterrichtete meine Zuhörer, daß ich hier sei, um ihnen zu erklären, daß meine Frau– die augenblicklich an meiner Seite sitze – die Tochter des verstorbenen Mr. Philipp Fairlie sei; zweitens, um ihnen durch positive Thatsachen zu beweisen, daß das Begräbniß, dem sie im Friedhofe zu Limmeridge beigewohnt, das einer andern Person gewesen, und drittens, um ihnen eine deutliche Erzählung von dem ganzen Hergange der Sache zu geben. Ich las ihnen dann ohne weitere Vorrede die Erzählung des Complots vor, indem ich hauptsächlich den pekuniären Beweggrund desselben hervorhob, um meine Mittheilung nicht durch unnöthige Nennung von Sir Percival’s Geheimnisse verwickelt zu machen. Dann erinnerte ich meine Zuhörer an das in der Inschrift angegebene Datum (den 25.) kund bestätigte die Richtigkeit desselben, indem ich den Todtenschein vorzeigte. Hierauf las ich ihnen Sir Percival’s Brief vom 25. vor, in welchem er die Reise seiner Frau von Hampshire nach London für den 26. ankündigte; und bewies zunächst nach dem Zeugnisse des Kutschers, daß sie die Reise gemacht, und zwar laut Ausweis des Bestellbuches des Lohnkutschers an dem genannten Tage. Marianne fügte dann ihre eigene Erzählung von ihrem Begegnen mit ihrer Schwester in dem Irrenhause und von der Flucht derselben hinzu. Worauf ich die Sitzung damit schloß, daß ich die Anwesenden in Mr. Fairlie’s Beisein von Sir Percival’s Tode und meiner Vermählung in Kenntniß setzte.

Mr. Kyrle erhob sich, als ich mich wieder setzte, und erklärte als gerichtlicher Anwalt der Familie, daß ich meine Sache durch die klarsten Beweise dargethan, die ihm je im Leben vorgekommen. Während er sprach, legte ich meinen Arm um Laura’s Schulter und erhob sie so, daß sie Allen im Zimmer gleich sichtbar war. »Sind Alle hier derselben Ansicht?« frug ich, auf meine Frau deutend und indem ich ein paar Schritte ins Zimmer hineinthat.

Die Wirkung dieser Frage war eine elektrische. Ganz unten am Ende des Zimmers sprang einer der ältesten Pächter des Gutes auf und riß im Augenblicke alle Uebrigen mit sich fort. Ich sehe den Mann noch jetzt, mit seinem ehrlichen braunen Gesichte und seinem eisengrauen Haar, im Fenster stehend, seine schwere Reitpeitsche über dem Kopfe schwenkend und in lautes »Hurrah!« ausbrechend. »Da ist sie ja! frisch und lebendig – Gott segne sie! schrei’t, Jungens! schrei’t!« Das donnernde Hurrah, das auf seine Aufforderung folgte und wieder und nochmals wiederholt wurde, war die lieblichste Musik, die ich je gehört habe. Die Arbeiter aus dem Dorfe und die Knaben aus der Schule, die sich vor dem Hause versammelt hatten, fingen den Jubel auf und gaben ihn im lauten Echo wieder. Die Pächterfrauen drängten sich um Laura und wetteiferten, wer zuerst ihre Hände fassen und küssen sollte, und baten sie mit überströmenden Augen, tapfer zu bleiben und nicht zu weinen. Sie war so vollkommen überwältigt, daß ich genöthigt war, sie ihnen fortzunehmen und an die Thür zu führen. Hier übergab ich sie Mariannen – Mariannen, die uns noch nie im Stiche gelassen und deren muthige Fassung uns auch jetzt getreu blieb. Da ich an der Thür allein geblieben, forderte ich alle Anwesenden (nachdem ich ihnen in Laura’s und in meinem Namen gedankt) auf, mich nach dem Friedhofe zu begleiten und Zeugen zu sein, wie die falsche Inschrift von dem Grabsteine vertilgt würde.

Alle verließen das Haus und schlossen sich den Dorfleuten an, die sich um das Grab versammelt hatten, an welchem der Arbeiter des Bildhauers uns erwartete. In athemloser Stille erschallte der erste scharfe Hieb des Stahls auf dem Marmor. Keine Stimme ließ sich hören, keine Seele rührte sich, bis jene drei Worte: »Laura, Lady Glyde« verschwunden waren. Dann vernahm man eine große Bewegung unter der Menge, wie wenn sie gefühlt hätte, das jetzt das letzte Glied der langen Kette des Complots zerbrochen – worauf sie auseinanderging. Es war spät am Nachmittage, ehe die ganze Inschrift ausgekratzt war. Nur eine Zeile trat später an ihre Stelle:

»Anna Catherick, den 25. Juli 1850.«

Ich kehrte Abends früh genug nach Limmeridge House zurück, um mich von Mr. Kyrle zu verabschieden. Er, sein Schreiber und der Kutscher fuhren mit dem Abendzuge nach London zurück. Nach ihrer Abreise überbrachte man mir eine impertinente Botschaft von Mr. Fairlie – der beim ersten Hurrahrufen, das meinem Aufrufe an die Pächter gefolgt war, mit erschütterten Nerven aus dem Zimmer geschafft worden. »Mr. Fairlie’s besten Glückwünsche, und er bitte, daß wir ihn wissen lassen wollten, ob wir im Hause zu bleiben beabsichtigten.« Ich ließ ihm wieder sagen, daß der einzige Zweck, um dessentwillen wir sein Haus betreten, erfüllt sei; daß ich in Niemandes Hause als meinem eigenen zu bleiben beabsichtige, und daß Mr. Fairlie sich aller Furcht entschlagen möge, uns jemals wiederzusehen oder von uns zu hören. Wir kehrten für die Nacht zu unseren Freunden auf dem Gehöfte zurück, und am folgenden Morgen kehrten wir, indem uns das ganze Dorf und alle Pächter der Umgegend mit dem größten Enthusiasmus und dem herzlichsten Wohlwollen bis an die Station begleiteten, nach London zurück.

Als die Hügel Cumberland’s in blauer Ferne unseren Blicken entschwanden, gedachte ich der ersten entmuthigenden Umstände, unter welchen der lange Kampf, der jetzt überstanden war, begonnen worden. Es war seltsam, zurückzublicken und zu sehen, daß die Armuth, welche uns alle Hoffnung auf Beistand genommen, das indirecte Mittel zu unserem Erfolge gewesen, indem sie mich gezwungen hatte, selbst zu handeln. Wären wir reich genug gewesen, um gerichtliche Hülfe zu suchen, was wäre da wohl der Erfolg gewesen? Mr. Kyrle selbst hatte mir gezeigt, daß der Gewinn mehr als zweifelhaft gewesen wäre – der Verlust – wenn man nach dem urtheilte, was sich in Wirklichkeit zugetragen – gewiß. Das Gesetz hätte mir niemals eine Unterredung mit Mrs. Catherick verschafft. Das Gesetz hätte niemals aus Pesca das Mittel gemacht, um den Grafen zu einem Bekenntnisse zu zwingen.



Kapiteltrenner

II.

Es bleiben mir noch zwei Ereignisse zur Vervollständigung der Kette zu berichten übrig, bis dieselbe vollkommen vom Beginne der Geschichte bis zu ihrem Ende reicht.

Während das neue Gefühl unserer Freiheit nach dem langen Drucke der Vergangenheit uns noch ungewohnt war, ließ mich der Freund, von dem ich meine erste Beschäftigung im Holzschnitte erhalten, zu sich rufen, um mir ein neues Zeichen seiner Theilnahme an meiner Wohlfahrt zu geben. Er hatte von seinen Vorgesetzten Auftrag erhalten, nach Paris zu gehen, um eine französische Erfindung in der praktischen Anwendung seiner Kunst zu prüfen, deren Verdienste zu kennen ihnen besonders angelegen war. Seine eigenen Beschäftigungen hatten ihm nicht die Muße gelassen, den Auftrag selbst zu übernehmen, und er hatte deshalb freundlicherweise mich in Vorschlag gebracht. Ich konnte keinen Augenblick zögern, das Anerbieten dankbar anzunehmen; denn falls ich mich des Auftrages in einer Weise entledigte, wie ich es hoffte, so würde der Erfolg eine permanente Anstellung bei der illustrirten Zeitschrift sein, für die ich jetzt nur gelegentliche Aufträge erhielt.

Ich erhielt meine Instructionen und packte ein, um am folgenden Tage zu reisen. Als ich Laura abermals (unter wie veränderten Verhältnissen!) unter der Obhut ihrer Schwester zurückließ, fiel mir eine ernste Betrachtung ein, die sowohl mir wie meiner Frau schon zu wiederholten Malen gekommen war – ich meine der Gedanke an Mariannen’s Zukunft. Hatten wir irgendwie ein Recht, in unserer selbstischen Liebe das Opfer dieses großmüthigen Lebens anzunehmen? War es nicht unsere Pflicht – die beste Kundgebung unserer Dankbarkeit, uns selbst zu vergessen und nur an sie zu denken? Ich versuchte, ihr dies zu sagen, als wir beim Abschiede einen Augenblick allein waren. Sie nahm meine Hand und brachte mich bei den ersten Worten zum Schweigen.

»Nach Allem, was wir Drei zusammen gelitten haben,« sagte sie, »kann zwischen uns von keiner Trennung die Rede sein bis zu jener allerletzten. Mein Herz und mein Glück, Walter, sind bei Laura und bei Dir. Warte eine kleine Weile, bis wir an Deinem Herde Kinderstimmen hören. Ich will sie lehren, in ihrer Sprache für mich zu sprechen; und das Erste was sie zu ihrem Vater und ihrer Mutter sagen lernen werden, soll dies sein: Wir können unsere Tante nicht missen!«

Ich trat meine Reise nach Paris nicht allein an. Pesca entschloß sich noch im letzten Augenblicke, mich zu begleiten. Er hatte seit jenem Abende in der Oper noch immer nicht seine gewohnte Heiterkeit wiedergefunden und wollte daher versuchen, ob nicht eine kurze Ferienreise ihm dazu verhelfen werde.

Ich richtete den mir anvertrauten Auftrag aus und setzte am vierten Tage nach meiner Ankunft in Paris den nothwendigen Bericht darüber auf. Den fünften Tag bestimmte ich den Sehenswürdigkeiten und Vergnügungen in Pesca’s Gesellschaft.

Unser Gasthof war zu voll gewesen, um uns Beide in derselben Etage aufzunehmen. Mein Zimmer war in der zweiten Etage und Pesca’s über mir in der dritten. Am Morgen des fünften Tages ging ich hinaus, um zu sehen, ob er bereit sei, auszugehen. Gerade als ich oben am Vorsaal anlangte, sah ich, daß seine Thür von innen geöffnet wurde; eine lange, schmale, nervöse Hand (durchaus nicht die Hand meines Freundes) hielt sie halb geöffnet. Zu gleicher Zeit hörte ich Pesca’s Stimme in leisen, eifrigen Tönen und in seiner Muttersprache sagen: »Ich erinnere mich des Namens, aber ich kenne den Mann nicht. Sie sahen selbst in der Oper, daß er so verändert war, daß ich ihn nicht erkannte. Ich will den Bericht absenden – weiter vermag ich Nichts.«

Die Thür öffnete sich weit, und der blonde Herr mit der Narbe auf der Wange – der Mann, den ich vor einer Woche dem Fiaker des Grafen hatte folgen sehen – kam heraus. Er verbeugte sich, als ich auf die Seite trat, um ihn vorbeizulassen – sein Gesicht war von einer furchtbaren Blässe, und er hielt sich fest am Geländer, als er die Treppe hinunterging.

Ich öffnete die Thür und trat in Pesca’s Zimmer. Er kauerte auf höchst seltsame Weise in einer Ecke des Sopha’s und schien vor mir zurückzuweichen, als ich zu ihm herantrat.

»Störe ich Dich?« frug ich, »ich wußte nicht, daß ein Freund bei Dir war, bis ich ihn herauskommen sah·«

»Kein Freund,« sagte Pesca eifrig, »ich sehe ihn heute zum ersten Male.«

»Ich fürchte, er hat Dir schlimme Nachrichten gebracht?«

»Fürchterliche Nachrichten, Walter! Laß uns nach London zurückkehren – ich mag hier nicht länger bleiben –– ich bereue, daß ich überhaupt kam. Die Irrthümer meiner Jugend rächen sich sehr bitter an mir,« sagte er, das Gesicht nach der Wand wendend, »sehr, sehr bitter in meinen alten Tagen. Ich suche sie zu vergessen, aber sie wollen mich nicht vergessen!«

»Ich fürchte, wir können vor Nachmittag nicht reisen,« entgegnete ich. »Willst Du nicht inzwischen mit mir ausgehen?«

»Nein, lieber Freund; ich will hier warten. Aber laß uns heute zurückkehren – bitte, laß uns heute zurückkehren!«

Ich verließ ihn mit der Versicherung, daß er Paris noch an demselben Nachmittage verlassen solle. Wir hatten am vorigen Abende beschlossen, den Thurm von Notre-Dame mit Victor Hugo’s herrlichem Romane als Führer zu besteigen. Es gab in der französischen Hauptstadt Nichts, das ich mich mehr zu sehen sehnte – und ich machte mich daher allein auf den Weg.

Indem ich meinen Weg am Flusse entlang nahm, kam ich an jenem entsetzlichen Beinhause von Paris vorüber – La Morgue. Eine große Menschenmasse drängte sich vor der Thür. Es war drinnen offenbar Etwas, das die Neugierde des Volks erregte und seinem Appetit für Greuel Nahrung versprach.

Ich hätte meinen Weg nach der Kirche fortgesetzt, wenn mich nicht die Unterhaltung zweier Männer und einer Frau aufmerksam gemacht hätte. Sie waren eben aus der Morgue gekommen, wo sie die Leiche gesehen hatten, und die Beschreibung, welche sie ihren Nachbarn von derselben gaben, war die eines Mannes von ungeheurem Umfange und mit einer seltsamen Brandmarke am Oberarme.

Sowie ich die Worte hörte, stand ich still und mischte mich dann unter die Menge, welche hineinging. Eine undeutliche Ahnung von der Wahrheit hatte mich durchfahren, als ich Pesca’s Stimme durch die geöffnete Thür hindurch gehört und darauf das Gesicht des Fremden gesehen hatte, der auf der Treppe an mir vorbeiging. Jetzt war mir die Wahrheit selbst verrathen – in den zufälligen Worten, die ich soeben gehört! Eine andere Rache, als die meinige, hatte den vom Schicksal verurtheilten Mann von der Oper bis an sein Haus, von seiner eigenen Thür bis nach seinem Zufluchtsorte in Paris verfolgt. Eine andere Rache, als die meinige, hatte ihn zur Rechenschaft gezogen und ihn mit dem Leben büßen lassen. Der Augenblick, wo ich ihn Pesca im Theater gezeigt, wo der Fremde an unserer Seite, der ihn ebenfalls suchte, mich gehört hatte, war der Augenblick gewesen, der sein Urtheil gefällt. Ich gedachte des Kampfes in meinem eigenen Herzen – als er und ich einander gegenübergestanden – des Kampfes, ehe ich mich entschließen konnte, ihn mir entwischen zu lassen – und ich schauderte bei dem Gedanken.

Langsam, Zoll für Zoll, drängte ich mich mit der Menge hinein, dem großen Fensterschirme immer näher, der in der Morgue die Todten von den Lebenden trennt – immer näher, bis ich dicht hinter der zweiten Zuschauerreihe stand und hineinsehen konnte.

Da lag er, unerkannt und ungefordert; der leichtfertigen Neugierde eines französischen Pöbels preisgegeben! Dies war das furchtbare Ende jenes langen Lebens entwürdigter Fähigkeiten und herzloser Verbrechen. Schweigend in der erhabenen Ruhe des Todes, lag das große, massive, feste Gesicht und Haupt so großartig vor uns, daß die plappernden französischen Weiber um mich her voll Bewunderung die Hände erhoben und in gellendem Chore: »Ah, quel bel homme!« ausriefen. Die Wunde, die ihn getödtet, war entweder mit einem Messer oder einem Dolche gerade über dem Herzen geschlagen worden. Es ließen sich keine andere Spuren von Gewaltthätigkeit am Körper wahrnehmen, ausgenommen auf dem linken Arme; auf demselben, genau an derselben Stelle, wo ich auf Pesca’s Arme die Brandmarke gesehen, sah man zwei tiefe Einschnitte, in Form des Buchstaben T, welche vollkommen das Zeichen der »Verbindung« entstellten. Seine Kleider, welche über ihm aufgehangen waren, bewiesen, daß er sich selbst seiner Gefahr bewußt gewesen – es war die Verkleidung eines französischen Handwerkers. Ein paar Sekunden lang, und nicht länger, vermochte ich es über mich, alle diese Dinge durch den Glasschirm zu betrachten. Ich kann nichts Ferneres über sie berichten, denn ich sah Nichts weiter ……

Die wenigen Thatsachen in Bezug auf seinen Tod, deren ich später habhaft wurde (zum Theil durch Pesca und zum Theil aus anderen Quellen), können gleich hier mitgetheilt werden, ehe der Gegenstand ganz aus diesen Blättern verschwinden wird.

Sein Körper wurde in der Verkleidung, die ich beschrieben habe, aus der Seine genommen, jedoch Nichts bei ihm entdeckt, das seinen Namen, Stand oder Wohnort angegeben hätte. Die Hand, die ihn erschlug, wurde nie entdeckt, und die Umstände seines Todes blieben ein Geheimniß. Ich überlasse es Andern, in Bezug auf den Mord ihre eigenen Schlüsse zu ziehen, wie ich die meinigen gezogen habe. Wenn ich sage, daß der Fremde mit der Narbe ein Mitglied der Verbindung war (welcher nach Pesca’s Abreise aus Italien in derselben aufgenommen worden) und ferner hinzufüge, daß die beiden Schnitte im Arme des Ermordeten das italienische Wort Traditore bedeuteten und anzeigten, daß die »Verbindung« Gerechtigkeit an einem Verräther ausgeübt, so habe ich das Meinige gethan, um das Geheimniß von Graf Fosco’s Tode aufzuklären.

Die Leiche wurde am Tage, nachdem ich sie gesehen, durch einen anonymen Brief an seine Gemahlin identificirt. Die Gräfin ließ ihn im Père la Chaise beerdigen, und bis auf diesen Tag werden von der Gräfin eigenen Händen täglich frische Blumenkränze auf das zierliche Bronzegitter seines Grabes gehangen. Sie lebt in der größten Zurückgezogenheit in Versailles. Vor nicht langer Zeit gab sie eine Biographie ihres verstorbenen Gemahls heraus. Das Werk wirft nicht das geringste Licht auf den Namen, der in Wirklichkeit der seinige war, oder auf die geheime Geschichte seines Lebens: es beschäftigt sich fast ausschließlich mit dem Lobe seiner häuslichen Tugenden, der Aufzählung seiner seltenen Fähigkeiten und der Ehrenbezeugungen, die ihm zu Theil geworden. Die Umstände seines Todes sind sehr kurz angegeben, und in dem letzten Satze in Folgendes zusammengefaßt:

»Sein Leben war eine lange Behauptung der Rechte der Aristokratie und der heiligen Grundsätze der Ordnung – und er starb als Märtyrer für seine Sache.«



Kapiteltrenner

III.

Sommer und Herbst vergingen nach meiner Heimkehr aus Paris und brachten keine Veränderungen mit sich, deren hier Erwähnung gethan zu werden brauchte. Wir lebten so einfach und so ruhig, daß der Verdienst, welchen ich jetzt ununterbrochen einnahm, für alle unsere Bedürfnisse ausreichte.

Im Februar des neuen Jahres wurde unser erstes Kind – ein Sohn – geboren. Meine Mutter, meine Schwester und Mrs. Vesey waren unsere Gäste in der kleinen Taufgesellschaft, und Mrs. Clements war bei derselben Gelegenheit zur Hülfe meiner Frau zugegen. Marianne war unseres Knaben Pathe, sowie Pesca und Mr. Gilmore (der Letztere durch seinen Stellvertreter). Ich kann gleich hier bemerken, daß Mr. Gilmore, als er ein Jahr später zu uns zurückkehrte, zur Vervollständigung dieser Blätter beitrug, indem er auf mein Ersuchen die Aussage schrieb, welche am Anfange dieser Erzählung unter seinem Namen erschien, und die, obgleich der Reihenfolge nach die erste, doch die letzte war, die ich erhielt.

Das einzige Ereigniß unseres Lebens, das mir jetzt noch mitzutheilen übrig bleibt, trug sich zu, als unser kleiner Walter sechs Monate alt war.

Ich wurde um diese Zeit nach Irland geschickt, um für das Blatt, bei welchem ich jetzt angestellt war, gewisse Skizzen anzufertigen. Ich war beinah vierzehn Tage abwesend, während welcher ich unausgesetzt mit meiner Frau und Mariannen correspondirte, ausgenommen während der letzten drei Tage, wo mein Aufenthalt an einem Orte zu kurz und unsicher war, um Briefe zu empfangen. Ich machte den letzten Theil meiner Reise in der Nacht, und als ich morgens in meinem Hause anlangte, war zu meinem unbeschreiblichen Erstaunen Niemand da, um mich zu empfangen. Laura, Marianne und das Kind hatten es am Tage vor meiner Ankunft verlassen.

Ein Billet von meiner Frau, das die Magd mir übergab, vergrößerte mein Erstaunen durch die Nachricht, daß sie nach Limmeridge House gereist seien. Marianne hatte ihr untersagt, mir die geringste schriftliche Aufklärung zu geben – ich wurde gebeten, ihnen im selben Augenblicke, wo ich zurückkehrte nachzureisen – es erwartete mich vollständige Aufklärung in Limmeridge – und man verbot mir, mich inzwischen im Mindesten zu beunruhigen. Damit endete das Billet.

Es war noch früh genug, um mit dem Frühzuge abzureisen, und ich langte noch am Nachmittage in Limmeridge House an.

Meine Frau und Marianne waren Beide oben. Sie hatten sich (um mein Erstaunen noch zu vergrößern) in dem kleinen Zimmer niedergelassen, das mir einst als Atelier angewiesen worden. Auf demselben Stuhle, auf dem ich früher zu arbeiten pflegte, saß jetzt Marianne mit dem Kinde auf dem Schooße, das emsig an seinem Korallenringe zog – während Laura an dem wohlbekannten Zeichentische stand, an dem ich so viele Stunden beschäftigt gewesen, – und das kleine Album, das ich in vergangenen Tagen für sie gefüllt, offen in der Hand hielt.

»Was in aller Welt hat Euch hierher geführt?« rief ich aus. »Weiß Mr. Fairlie –«

Marianne ließ mich nicht aussprechen, sondern benachrichtigte mich, daß Mr. Fairlie todt sei. Er hatte einen Schlagflußanfall gehabt und sich nicht wieder davon erholt. Mr. Kyrle hatte sie von seinem Tode in Kenntniß gesetzt und ihnen gerathen, sich sofort nach Limmeridge zu begeben.

Ein matter Schimmer, wie von einer großen Veränderung tauchte in meinem Geiste auf. Laura sprach, ehe ich mir noch klar geworden war. Sie schlich dicht an mich heran, um sich an dem Erstaunen zu weiden, das in meinem Gesichte ausgedrückt war.

»Mein Herzens-Walter,« sagte sie, »müssen wir Dir wirklich erklären, wie wir hierher kommen? Ich fürchte, liebes Herz, ich kann Dies nur thun, indem ich unsere alte Regel verletze und von der Vergangenheit spreche.«

»Dazu ist nicht die geringste Nothwendigkeit vorhanden,« sagte Marianne; »wir können die Sache ganz ebenso deutlich und viel interessanter machen, indem wir von der Zukunft sprechen.« Sie stand auf und hielt das strampelnde, lachende Kind in ihren Armen empor. »Weißt Du, wer dies ist, Walter?« frug sie, indem die hellen Thränen des Glücks ihre Augen füllten.

»Selbst meine Verblüfftheit hat ihre Grenzen,« entgegnete ich »Ich glaube, ich bin noch im Stande, mein eigenes Kind zu erkennen.«

»Kind!« rief sie mit all der leichten Fröhlichkeit früherer Zeiten aus. »Sprichst Du auf diese familiäre Weise von einem der Grundeigenthümer Englands? Weißt Du, wenn ich Dir diesen erlauchten Säugling zeige, in wessen Gegenwart Du Dich befindest? Mir scheint, nicht! Erlaube mir, zwei ausgezeichnete Persönlichkeiten einander vorzustellen: Mr. Walter Hartright – der Erbe von Limmeridge

So sprach sie. Mit diesen letzten Worten habe ich Alles geschrieben. Die Feder zittert in meiner Hand; die lange, glückliche Arbeit vieler Monde ist vollendet! Marianne war der gute Engel unseres Lebens – Marianne schließe unsere Geschichte.

Ende.

Endnoten

 

 

1

Die Stellen, welche hier und anderswo in Miß Halcombe’s Tagebuche ausgelassen worden, sind nur solche, die auf keine Weise Miß Fairlie oder irgend eine andere Person, mit denen sie in dieser Erzählung in Berührung kommt, betreffen.

 

2

Französische Fenster werden in England solche genannt, die sich wie bei uns mit zwei Flügeln (à deux battans) nach Außen oder nach Innen öffnen lassen. Die englischen Fenster werden bekanntlich in ihren Rahmen vermittelst eines Zugwerks in die Höhe geschoben, die Art, die man in Frankreich »fenêtres à guillotine« nennt. – Anmerkung der Uebersetzerin.

 

3

Die Art und Weise, wie man sich Mr. Fairlie’s Aussage und andere Aussagen verschaffte, welche in Kurzem folgen werden, bildet den Gegenstand einer Erklärung, welche in einem spätern Theile der Erzählung erscheinen wird. –  Anmerkung d. Verfassers.

 

4

Es ist nicht mehr als billig, hier zu erwähnen, daß ich das, was Pesca mir mittheilte, mit den sorgfältigen Weglassungen wiederhole, welche die ernste Natur des Gegenstandes und mein eigenes Pflichtgefühl gegen meinen Freund von mir verlangen. Meine ersten und letzten Verheimlichungen dem Leser gegenüber sind diejenigen, welche die Vorsicht in diesem Theile der Erzählung unbedingt nöthig macht.



Kapiteltrenner


Inhaltsverzeichnis für diese Geschichte