Die Frau in Weiß
Fortsetzung der Aussage Walter Hartrights
II.
Ich habe jetzt meine Lage beschrieben und meine Beweggründe erklärt, und es müssen nun zunächst Mariannens und Laura’s Berichte folgen.
Beide werde ich erstatten, doch nicht mit den Worten der Erzählerinnen selbst (welche oft und unvermeidlicherweise unterbrochen und verworren waren), sondern in den Worten des kurzen, deutlichen und gewissenhaft einfachen Auszuges, den ich zu meiner eigenen und der Anleitung meines Rechtsanwaltes abgefaßt hatte. Auf diese Weise wird das verworrene Gewebe sich am Schnellsten und Verständlichsten vor dem Leser aufrollen.
Mariannens Bericht beginnt, wo die Haushälterin zu Blackwater Park denselben hat fallen lassen.
Als Lady Glyde das Haus ihres Mannes verlassen, unterrichtete die Haushälterin Miß Halcombe von dieser Thatsache sowohl wie nothwendigerweise von den Umständen, welche ihre Abreise begleitet hatten. Es war einige Tage später (Mrs. Michelson konnte, da sie sich hierüber kein schriftliches Memorandum gemacht, nicht genau sagen, wie viele Tage), daß ein Brief von der Gräfin Fosco eintraf, welcher Lady Glyde’s Tod, der plötzlich im Hause des Grafen Fosco erfolgt, ankündigte. Der Brief enthielt keine Data und überließ es Mrs. Michelson’s Ermessen, Miß Halcombe diese Nachricht sogleich mitzutheilen, oder sie zu verschieben, bis sich erst die Gesundheit der Dame werde befestigt haben.
Nachdem sie hierüber Dr. Dawson (welcher durch eignes Unwohlsein verhindert gewesen, seine Besuche in Blackwater Park schon früher wieder zu erneuern) zu Rathe gezogen, theilte Mrs. Michelson der Kranken die Nachricht in des Doctors Gegenwart und auf sein Anrathen entweder noch an demselben Tage oder am Tage darauf mit.
Es ist unnöthig, hier bei der Wirkung zu verweilen, welche die Nachricht von Lady Glyde’s plötzlichem Tode auf ihre Schwester hatte. Für unsern gegenwärtigen Zweck ist es nur nothwendig zu sagen, daß sie auf drei Wochen nicht im Stande war, zu reisen. Nach Verlauf derselben begab sie sich in Begleitung der Haushälterin nach London. Hier trennten sie sich, nachdem Mrs. Michelson zuvor Miß Halcombe ihre Adresse gegeben, für den Fall, daß Letztere in Zukunft Befehle oder Wünsche für sie haben möchte.
Sobald Miß Halcombe von der Haushälterin Abschied genommen, ging sie nach dem Geschäftsbureau der Herren Gilmore und Kyrle, um Letzteren in Mr. Gilmore’s Abwesenheit zu consultiren Sie sprach gegen Mr. Kyrle aus, was sie allen Anderen (Mrs. Michelson nicht ausgenommen) zu verbergen rathsam erachtet: ihren Argwohn in Bezug auf die Umstände, unter welchen Lady Glyde ihren Tod genommen haben sollte. Mr. Kyrle, welcher schon früher freundschaftliche Beweise von seiner Bereitwilligkeit, Miß Halcombe zu dienen, gegeben hatte, unterzog sich sofort der Aufgabe, solche Nachforschungen anzustellen, wie die zarte und gefährliche Natur der ihm vorgeschlagenen Untersuchung sie zuließ.
Um mit diesem Theile der Sache abzuschließen, ehe ich weiter gehe, kann ich gleich hier bemerken, daß Graf Fosco Mr. Kyrle allen gewünschten Beistand leistete, als Letzterer ihm sagte, er sei von Miß Halcombe abgesandt, um über Lady Glyde’s Ableben alle Einzelheiten für sie zu sammeln, über die sie bisher in Unwissenheit geblieben. Mr. Kyrle wurde an den Arzt, Mr. Goodricke, und an die beiden Dienerinnen, die Köchin und das Stubenmädchen verwiesen. In Ermangelung aller Mittel, genau das Datum von Lady Glyde’s Abreise aus Blackwater Park zu erfahren, erschien das Zeugniß des Arztes und der beiden Mägde, sowie Graf Fosco’s Auskünfte – und die seiner Frau – Mr. Kyrle als entscheidend. Er konnte nur annehmen, daß Miß Halcombe’s tiefer Schmerz über den Verlust ihrer Schwester auf beklagenswerthe Weise ihre Urtheile irre geleitet hatte, und er schrieb ihr in diesem Sinne und fügte noch hinzu, daß der schreckliche Verdacht, dessen sie gegen ihn erwähnt, seiner Ansicht·nach auch nicht im Entferntesten begründet sei. So begannen und endeten die Nachforschungen von Mr. Gilmore’s Compagnon.
Unterdessen war Miß Halcombe nach Limmeridge House zurückgekehrt und hatte dort alle ferneren Erkundigungen eingezogen, die sie noch erhalten konnte.
Mr. Fairlie hatte die ersten Nachrichten vom Tode seiner Nichte durch seine Schwester, die Gräfin Fosco, erhalten, deren Brief jedoch auch kein einziges Datum enthielt. Er hatte in den Vorschlag seiner Schwester, daß die Verstorbene in das Grab ihrer Mutter im Friedhofe zu Limmeridge gelegt werde, gewilligt. Graf Fosco hatte die Leiche nach Cumberland begleitet und der Beerdigung in Limmeridge, welche am 22. August stattgefunden, beigewohnt. Um ihre Verehrung darzuthun, folgten alle Dorfbewohner und viele Nachbarn. Am folgenden Tage wurde die Grabschrift (welche, wie es hieß, von der Tante der Verstorbenen abgefaßt und dann ihrem Bruder, Mr. Fairlie, zur Genehmigung vorgelegt worden) auf der einen Seite des Marmors über der Gruft angebracht.
Am Tage des Begräbnisses und den darauf folgenden war Graf Fosco in Limmeridge House als Gast aufgenommen worden, aber Mr. Fairlie’s Wunsche zufolge waren die beiden Herren nicht zusammengekommen. Sie hatten sich schriftlich unterhalten, und Graf Fosco hatte Mr. Fairlie auf diesem Wege mit den Einzelheiten des Todes seiner Nichte bekannt gemacht. Der Brief, welcher dieselben enthielt, fügte keine neuen Auskünfte zu denen, welche bereits bekannt waren; nur das Postscriptum enthielt eine bemerkenswerthe Stelle; dieselbe bezog sich auf Anna Catherick.
Der Inhalt dieser Stelle lief auf Folgendes hinaus:
Er begann damit, Mr. Fairlie zu benachrichtigen, daß Anna Catherick (über die er von Miß Halcombe Näheres erfahren, sobald sie in Limmeridge House eintreffen werde) in der Umgegend von Blackwater Park wieder aufgefunden und sofort wieder unter dieselbe ärztliche Obhut gestellt worden, der sie sich durch die Flucht entzogen.
Dies war der erste Theil des Postscriptums. Der zweite bereitete Mr. Fairlie darauf vor, daß sich Anna Catherick’s Geisteskrankheit durch die lange Aussetzung der Ueberwachung bedeutend verschlimmert habe, und daß ihr wahnsinniger Haß gegen Sir Percival Glyde, der früher ihre hervorragendste Sinnesverwirrung ausgemacht, auch noch jetzt, und zwar unter einer neuen Form, existire. Diese letzte Idee der unglücklichen Person in Bezug auf Sir Percival Glyde bestand darin, ihn zu ärgern und zu kränken und sich selbst, wie sie denke, in den Augen der Patienten und Wärterinnen zu erheben, indem sie sich für seine Gemahlin ausgebe: eine Idee, die sich ihr wahrscheinlich nach einer verstohlenen Zusammenkunft, die sie sich mit Lady Glyde zu verschaffen gewußt, in den Kopf gesetzt habe, bei welcher Gelegenheit sie die auffallende Aehnlichkeit zwischen der verstorbenen Dame und sich selbst wahrgenommen haben müsse. Es sei im höchsten Grade unwahrscheinlich, daß es ihr je wieder gelingen würde, aus der Anstalt zu entfliehen, jedoch nicht unmöglich, daß es ihr gelingen möchte, die Angehörigen der verstorbenen Lady Glyde mit Briefen zu belästigen, und Mr. Fairlie sei deshalb hiermit gegen solche gewarnt.
Dieses Postscriptum wurde Miß Halcombe gezeigt, als sie nach Limmeridge kam, und es wurden ihr außerdem die Kleider und anderen Effecten übergeben, welche Lady Glyde mit in das Haus ihrer Tante gebracht hatte. Dieselben waren von der Gräfin Fosco sorgfältig zusammengepackt und nach Cumberland gesandt worden.
Dies war die Lage der Sache, als Miß Halcombe anfangs September in Limmeridge eintraf. Kurze Zeit darauf fesselte ein Rückfall sie wieder an das Zimmer, da ihre geschwächte physische Kraft dem Seelenschmerze erlag, den sie noch immer um ihre Schwester litt. Als sie sich nach ungefähr einem Monate wieder erholt, war, ihr Argwohn in Bezug auf die den Tod ihrer Schwester begleitenden Umstände noch immer unerschüttert derselbe.
Sie hatte inzwischen Nichts von Sir Percival Glyde gehört; Graf Fosco und seine Frau hatten – durch die Hand der Letzteren – wiederholte, herzliche Nachfragen über Miß Halcombe’s Befinden angestellt. Anstatt jedoch diese Briefe zu beantworten, hatte Miß Halcombe das Haus in St. John’s Wood, sowie das Verfahren der Bewohner desselben heimlich beobachten lassen. Doch war nichts Verdächtiges dabei entdeckt worden. Ihre nächsten Nachforschungen, welche sie im Geheimen über Mrs. Rubelle veranstaltete, hatte denselben Erfolg. Diese war etwa sechs Monate vorher mit ihrem Manne in London angekommen. Sie waren aus Lyon und hatten bei ihrer Ankunft in London in der Nachbarschaft vom Leicester-Platze ein Haus gemiethet und dasselbe zur Aufnahme von Fremden hergerichtet, die in großer Menge zur Industrieausstellung von 1851 in England erwartet wurden. Sie waren ruhige Leute und hatten bisher redlich Zahlung geleistet.
Ihre letzten Nachforschungen bezogen sich auf Sir Percival Glyde. Er lebte in Paris, und zwar sehr ruhig in einem Kreise englischer und französischer Bekanntschaften.
Doch ungeachtet der Erfolglosigkeit all’ ihrer Bemühungen konnte Miß Halcombe nicht ruhen und beschloß zunächst, die Anstalt zu besuchen, in welcher Anna Catherick zum zweiten Male gefangen war. Sie hatte früher eine große Neugier in Bezug auf dies arme Wesen gefühlt, und dieselbe hatte sich jetzt noch gesteigert; sie wünschte sich zu überzeugen, erstens: ob es wahr sei, daß Anna Catherick sich für Lady Glyde auszugeben versuche, und zweitens (falls dem wirklich so), welche Beweggründe das arme Geschöpf hatte, um diesen Betrug zu wagen.
Obgleich Graf Fosco’s Brief an Mr. Fairlie nicht die Adresse der Anstalt angab, so legte doch dieses Versehen Miß Halcombe keine Schwierigkeiten in den Weg. Als ich Anna Catherick im Friedhofe zu Limmeridge gesprochen, hatte sie mich von der Oertlichkeit des Hauses unterrichtet, und Miß Halcombe hatte die Adresse sofort genau in ihr Tagebuch eingetragen. Demzufolge sah sie in demselben nach und fand die Adresse; sie ließ sich darauf des Grafen Brief an Mr. Fairlie von Letzterem geben, damit derselbe ihr im Nothfalle als eine Art von Beglaubigungsschreiben diene, und brach dann ohne Begleitung am 11. October nach London auf.
Hier brachte sie die Nacht zu. Es war ihre Absicht gewesen, in dem Hause zu schlafen, welches Lady Glyde’s ehemalige Erzieherin bewohnte, doch war ihr Mrs. Vesey’s Aufregung beim Anblicke der nächsten und liebsten Verwandten ihrer verlorenen Schülerin so schmerzlich, daß sie es für rathsamer hielt, nicht länger bei ihr zu bleiben und deshalb in ein benachbartes Familienhôtel zu gehen, das Mrs. Vesey’s verheirathete Schwester ihr empfahl.
Am folgenden Tage begab sie sich nach der Anstalt, welche in nicht großer Entfernung nördlich von London gelegen war.
Sie wurde sofort eingelassen, um mit dem Besitzer zu sprechen. Dieser schien anfangs entschieden abgeneigt, sie seine Patientin sehen zu lassen. Als sie ihm jedoch Graf Fosco’s Postscriptum zeigte und ihn daran erinnerte, daß sie selbst die daran genannte »Miß Halcombe« und eine nahe Anverwandte der verstorbenen Lady Glyde sei, und deshalb – aus Familiengründen – ganz natürlich ein Interesse daran nehme, sich persönlich von Anna Catherick’s Sinnentäuschung in Bezug auf ihre verstorbene Schwester zu überzeugen – da änderten sich Ton und Wesen des Besitzers der Anstalt, und er nahm seine Einwendungen zurück. Er fühlte wahrscheinlich, daß, falls er fortführe, sich zu weigern, dies unter den obwaltenden Verhältnissen nicht nur eine persönliche Unhöflichkeit sein, sondern auch zu der Vermuthung Anlaß geben würde, daß das Verfahren in seiner Anstalt nicht der Art sei, um eine Untersuchung von achtbaren Privaten aushalten zu können.
Miß Halcombe’s eigene Ansicht war, daß Graf Fosco und Sir Percival den Besitzer der Anstalt nicht in ihr Vertrauen gezogen hatten. Ein Beweis hiervon schien darin zu liegen, daß er überhaupt einwilligte, sie mit seiner Patientin zusammenkommen zu lassen, und ging noch ferner aus Einräumungen hervor, welche sicherlich nicht von einem Mitschuldigen gemacht sein würden.
Zum Beispiel unterrichtete er Miß Halcombe im Laufe ihrer vorläufigen Unterredung, daß Anna Catherick ihm am 30. Juli mit den nöthigen Anweisungen und Zeugnissen durch Graf Fosco wieder zurückgebracht worden, welcher ihm dabei einen von Sir Percival Glyde unterzeichneten Brief mit Erklärungen und Instructionen übergeben. Er (der Besitzer der Anstalt) gestand, daß er, als er seine Pflegebefohlene wieder gesehen, einige auffallende persönliche Veränderungen an ihr wahrgenommen. Allerdings seien solche Veränderungen in Geisteskranken seiner Erfahrung nach durchaus nicht ohne Beispiel. Solche Leute seien sich oft innerlich sowohl wie äußerlich zu verschiedenen Zeiten im höchsten Grade ungleich, indem eine Besserung oder Verschlimmerung des geistigen Krankheitszustandes nothwendigerweise Veränderung im äußern Erscheinen des Patienten hervorbringe. Er rechtfertigte diese Veränderungen, sowie auch die gemäßigte Form von Anna Catherick’s Sinnverwirrung, welche sich ohne Zweifel in ihrem Aussehen und Wesen kundgab. Dennoch aber verwirrte es ihn zu Zeiten, daß seine Patientin, ehe sie ihm entwichen, verschieden war von der Patientin, die ihm zurückgebracht worden. Diese Verschiedenheiten waren zu geringfügiger Natur, um beschrieben werden zu können. Er könnte natürlich nicht sagen, daß sie sich in Größe, Gestalt, Gesichtsfarbe oder allgemeiner Gesichtsform entschieden verändert: es war eine Veränderung, welche er mehr fühlte als sah. Kurz, der ganze Fall war ihm von Anfang an ein Räthsel gewesen, dessen Dunkelheit jetzt noch vermehrt werden sollte.
Es darf nicht gesagt werden, daß diese Unterhaltung Miß Halcombe in Wirklichkeit auch nur theilweise auf das vorbereitete, was folgen sollte; aber es machte dennoch einen sehr ernstlichen Eindruck auf sie. Sie fühlte sich in dem Grade ergriffen dadurch, daß es eine Weile währte, bis sie im Stande war, dem Besitzer der Anstalt nach dem Theile des Hauses zu folgen, welchen die Kranken bewohnten.
Es erwies sich, daß Anna Catherick eben in den zu der Anstalt gehörigen Gartenanlagen spazieren ging. Eine der Wärterinnen erbot sich, Miß Halcombe zu ihr zu führen, während der Besitzer der Anstalt einige Minuten im Hause zurückzubleiben genöthigt war, da seine Dienste für einen dringenden Fall in Anspruch genommen wurden, jedoch versprach, Miß Halcombe in Kurzem zu folgen.
Die Wärterin begleitete Miß Halcombe bis zu einem entfernten, geschmackvoll angelegten Theile des Gartens und betrat, nachdem sie um sich geblickt, einen Rasenpfad, der zu beiden Seiten von Gebüsch beschattet wurde. Ungefähr auf der Hälfte dieses Pfades kamen langsam zwei Frauengestalten gegangen. Die Wärterin sagte, auf sie hindeutend:
»Das ist Anna Catherick, Madame, mit ihrer Wärterin, welche Ihnen die Fragen beantworten wird, die Sie ihr vorzulegen wünschen«
Mit diesen Worten verließ sie die Frau, um zu ihren Pflichten im Hause zurückzukehren.
Miß Halcombe ging vorwärts und die beiden Frauen ihrerseits ebenfalls. Als sie ungefähr noch ein Dutzend Schritte von einander entfernt waren, stand die eine der beiden Frauen plötzlich einen Augenblick still, blickte eifrig auf die fremde Dame, stieß schnell die Hand der Wärterin von sich und lag im nächsten Augenblicke in Miß Halcombe’s Armen. Miß Halcombe erkannte ihre Schwester – erkannte die Lebendig-Todte
Glücklicherweise für den Erfolg der später getroffenen Maßregeln war Niemand außer der Wärterin Zeuge dieses Erkennens Sie war ein junges Mädchen und so betreten darüber, daß es ihr unmöglich war, dazwischen zu treten. Sobald sie sich aber wieder gefaßt, wurde ihre ganze Aufmerksamkeit durch Miß Halcombe in Anspruch genommen, die für den Augenblick der Anstrengung erlegen war, unter der gewaltigen Bewegung dieser Entdeckung Herrin ihrer Sinne zu bleiben. Nach einigen Minuten gelang es der frischen Luft und dem kühlen Schatten, mit Hülfe ihrer natürlichen Energie und Willenskraft, sie soweit wiederherzustellen, daß sie sich an die Nothwendigkeit zu erinnern im Stande war, um ihrer unglücklichen Schwester willen all’ ihre Geistesgegenwart zusammenzuraffen.
Unter der Bedingung, daß sie sich nicht aus ihrem Gesichtskreise entfernten, gestattete ihnen die Wärterin, sich allein zu unterhalten.
Es war keine Zeit zu fragen – Miß Halcombe konnte die unglückliche Dame nur mit dringenden Bitten auf die Nothwendigkeit aufmerksam machen, sich zu fassen und zu beherrschen, in welchem Falle sie ihr schnelle Hülfe und Rettung zusichern könne.
Die Aussicht auf Befreiung aus der Anstalt, indem sie den Vorschriften ihrer Schwester gehorchte, genügte, um Lady Glyde zu beruhigen und sie begreifen zu lassen, was von ihr verlangt wurde. Miß Halcombe kehrte dann zu der Wärterin zurück, gab ihr alles Gold, das sie bei sich hatte (drei Sovereigns) und frug sie, wann sie werde allein mit ihr sprechen können.
Das Mädchen war anfangs erstaunt und mißtrauisch. Als aber Miß Halcombe erklärte, sie habe ihr nur einige Fragen vorzulegen, für die sie augenblicklich zu aufgeregt, habe durchaus nicht die Absicht, sie zu einer Verletzung ihrer Pflichten zu verleiten, nahm sie das Geld und schlug drei Uhr des folgenden Nachmittags als die Stunde zu einer Unterredung vor. Sie könne dann, nachdem die Kranken zu Mittag gespeist, auf eine halbe Stunde hinausschlüpfen und an einem versteckten Orte außerhalb der hohen Nordmauer, welche sie um die Gartenanlagen zog, mit der Dame sprechen.
Miß Halcombe hatte nur noch Zeit hierein zu willigen und ihrer Schwester zuzuflüstern, daß sie am folgenden Tage von ihr hören solle, als der Besitzer der Anstalt zu ihnen kam. Er bemerkte Miß Halcombe’s Bewegung, welche sie erklärte, indem sie sagte, daß ihre Unterredung mit Anna Catherick sie anfangs etwas ergriffen habe. Sie verabschiedete sich dann so schnell als möglich, das heißt, sobald sie Muth genug sammeln konnte, um sich von ihrer unglücklichen Schwester zu trennen.
Als sie wieder im Stande war, ruhig nachzudenken, überzeugte ganz kurze Ueberlegung sie, daß jeder Versuch die Identität von Lady Glyde auf dem Wege des Rechtes festzustellen und sie zu befreien – selbst wenn derselbe ein erfolgreicher wäre – einen Verzug herbeiführen würde, der den Geisteskräften ihrer Schwester, welche durch die Schrecken ihrer Lage bereits erschüttert waren, verderblich werden könnte. Bis Miß Halcombe wieder in London anlangte, hatte sie beschlossen, Lady Glyde’s Befreiung heimlich und mit Hülfe der Wärterin zu bewerkstelligen.
Sie ging sofort zu ihrem Geldmäkler und verkaufte die Actien des ganzen kleinen Vermögens, das sie besaß und das sich auf etwa siebenhundert Pfund belief. Entschlossen, die Freiheit ihrer Schwester, falls dies nothwendig, mit dem letzten Heller, den sie in der Welt besaß, zu erkaufen, begab sie sich, indem sie die ganze Summe in Banknoten in der Tasche bei sich trug, an den für die Zusammenkunft bestimmten Ort jenseits der Mauer der Anstalt.
Die Wärterin erwartete sie hier. Miß Halcombe kam durch viele vorläufige Fragen vorsichtig auf den Gegenstand ihrer Wünsche. Sie erfuhr unter andern, daß man die Wärterin, welche früher die wahre Anna Catherick beaufsichtigt, für die Flucht derselben verantwortlich gemacht (obgleich sie nicht dafür zu tadeln gewesen) und sie ihrer Stellung entsetzt hatte. Dieselbe Strafe, fügte das Mädchen hinzu, würde auf sie fallen, falls die angebliche Anna Catherick ebenfalls entwiche; außerdem habe sie ein besonderes Interesse, um ihre Stelle zu behalten. Sie war verlobt und wartete, bis sie und ihr Verlobter im Stande sein würden, zwischen zwei und dreihundert Pfund zusammen zu sparen, um ein Geschäft zu entriren, das es ihnen möglich machen würde, zu heirathen. Sie erhielt einen guten Lohn und hoffte es durch strenge Sparsamkeit zu ermöglichen, in zwei Jahren ihren Antheil an der erforderlichen Summe beitragen zu können.
Auf diesen Wink hin sprach Miß Halcombe.
Sie unterrichtete die Wärterin, daß die angebliche Anna Catherick eine nahe Anverwandte von ihr sei; daß sie durch ein unglückseliges Mißverständniß in die Anstalt gebracht worden, und daß es eine gute, christliche Handlung von ihr – der Wärterin – sein würde, falls sie ihr behilflich wäre, die arme Dame zu befreien. Ohne dem armen Mädchen Zeit zu irgend einer Einwendung zu lassen, nahm Miß Halcombe vier Banknoten, jede zu hundert Pfund, aus ihrem Taschenbuche und bot sie ihr als Entschädigung für die Gefahr, die sie laufen würde, und für den Verlust ihrer Stelle an.
Die Wärterin zögerte aus bloßer Ueberraschung und Ungläubigkeit. Aber Miß Halcombe fuhr entschlossen fort, in sie zu dringen.
»Sie werden eine gute Handlung thun,« sagte sie; »Sie werden einer auf’s Tiefste verletzten, unglücklichen Dame helfen. Hier ist Ihr Heirathsgut als Belohnung. Bringen Sie sie sicher zu mir hierher, und ich will Ihnen diese vier Banknoten geben, ehe ich sie von Ihnen entgegennehme.«
»Wollen Sie mir einen Brief mit diesen Worten geben, den ich meinem Bräutigam zeigen kann, wenn er mich fragt, woher ich das Geld habe?« frug das Mädchen.
»Ich will den Brief fertig geschrieben und unterzeichnet mit mir bringen,« sagte Miß Halcombe.
»Dann will ich es wagen,« sagte das Mädchen.
»Wann?«
»Morgen.«
Sie kamen dann eilig überein, daß Miß Halcombe am folgenden Morgen zeitig wiederkommen und zwischen den Bäumen versteckt warten – jedoch sich immer in der Nähe der Stelle hinter der Nordmauer aufhalten solle. Die Wärterin konnte nicht genau bestimmen, wann sie kommen werde, da es die Vorsicht erforderte, daß sie sich durch die Umstände leiten ließe. Auf diese Uebereinkunft hin trennten sie sich dann.
Miß Halcombe war nächsten Morgens schon vor zehn Uhr mit dem versprochenen Briefe und den Banknoten an der bestimmten Stelle. Sie wartete länger als anderthalb Stunden. Nach Verlaufe derselben sah sie die Wärterin schnell um die Ecke kommen, indem sie Lady Glyde am Arme hatte. Sowie sie einander gegenüberstanden, gab Miß Halcombe den Brief und die Banknoten in ihre Hände – und die Schwestern waren wieder vereinigt.
Die Wärterin hatte Lady Glyde mit vortrefflichem Vorbedacht in einen Hut, Schleier und Shawl gekleidet, die ihr – der Wärterin – gehörten. Miß Halcombe hielt sie nur zurück, um ihr die Mittel anzudeuten, durch welche die Verfolgung in die falsche Richtung geleitet werden könne, sobald man die Flucht in der Anstalt entdecken würde. Sie sollte zum Hause zurückkehren; dann, wie zufällig, in Gegenwart der andern Wärterinnen erwähnen, daß Anna Catherick sich neulich nach der Entfernung von London nach Hampshire erkundigt, – bis zu dem letzten Augenblicke warten, wo die Entdeckung der Flucht unvermeidlich sein würde, und dann Lärm über Anna Catherick’s Verschwinden zu machen. Die angeblichen Erkundigungen in Bezug auf Hampshire würden den Besitzer der Anstalt, sobald sie ihm mitgetheilt worden, auf die Vermuthung führen, daß seine Patientin unter dem Einflusse der Sinnestäuschung, in der sie sich noch immer für Lady Glyde ausgab, nach Blackwater Park zurückgekehrt sei, wonach die erste Verfolgung aller Wahrscheinlichkeit nach in dieser Richtung vorgenommen werden würde.
Die Wärterin versprach, diesem Plane zu folgen – und zwar um so bereitwilliger, da er ihr die Mittel bot, sich gegen schlimmere Folgen, als die des Verlustes ihrer Stelle zu sichern, indem sie im Hause blieb und so wenigstens den Schein der Unschuld bewahrte.
Sie kehrte sofort in die Anstalt zurück und Miß Halcombe verlor keine Zeit, ihre Schwester nach London und in Sicherheit zu bringen. Sie kamen noch zur rechten Zeit an, um mit dem Nachmittagszuge nach Carlisle zu reisen, und langten noch an demselben Abende ohne Unfall oder Schwierigkeit in Limmeridge an.
Während der letzten Strecke ihrer Reise waren sie allein im Waggon, und es gelang Miß Halcombe, solche Erinnerungen der Vergangenheit zu sammeln, wie das verwirrte und geschwächte Gedächtniß ihrer Schwester sie sich zurückzurufen vermochte Die Einzelheiten des ausgeübten Complotts, welche sie sich auf diese Weise verschaffte, waren abgebrochen und im höchsten Grade unzusammenhängend. So unvollkommen jedoch diese Mittheilungen waren, müssen sie dennoch hier berichtet werden, ehe diese erläuternde Abtheilung unserer Erzählung mit den Ereignissen des folgenden Tages in Limmeridge schließt.
Folgende Einzelheiten sind Alles, was Miß Halcombe zu erfahren vermochte.
Lady Glyde’s Erinnerungen an die Ereignisse, welche ihrer Abreise von Blackwater Park folgten, begannen mit ihrer Ankunft auf der Station der Südwestbahn in London. Sie hatte nicht daran gedacht, sich vorher ein Memorandum über den Tag zu machen, an welchem sie die Reise machte. Alle Hoffnung mußte somit aufgegeben werden, dieses wichtige Datum durch ihr Zeugniß oder das der Haushälterin, Mrs. Michelson, genau zu erfahren.
Bei der Ankunft des Zuges am Perron fand Lady Glyde, daß Graf Fosco sie dort erwartete. Er war an der Wagenthür, sowie nur der Schaffner dieselbe öffnete. Der Zug brachte ungewöhnlich viele Passagiere, und es gab daher ein großes Gedränge und große Verwirrung bei dem Gepäcke. Das von Lady Glyde wurde von Jemandem verschafft, den der Graf mitgebracht hatte. Es war alles mit ihrem Namen versehen. Sie fuhr dann mit dem Grafen allein in einem Wagen ab, den sie zur Zeit nicht besonders beachtete.
Ihre erste Frage, indem sie die Station verließen, war nach Miß Halcombe. Der Graf unterrichtete sie, daß Miß Halcombe noch nicht nach Cumberland abgereist sei, da er nach reiflicherer Ueberlegung an der Rathsamkeit gezweifelt, sie, ohne daß sie vorher ein paar Tage ausgeruht, eine so lange Reise unternehmen zu lassen.
Lady Glyde frug dann, ob ihre Schwester sich augenblicklich im Hause des Grafen aufhalte.
Ihre Erinnerung der Antwort des Grafen war verwirrt und nur insoweit deutlich, daß der Graf ihr gesagt habe, er sei im Begriffe, sie zu Miß Halcombe zu führen. Lady Glyde war so wenig mit London bekannt, daß sie nicht sagen konnte, durch welche Straßen sie kamen. Aber sie war gewiß, daß sie die Straßen nicht verlassen, und daß sie an keinen Gärten oder Bäumen vorbeikamen. Als der Wagen stille hielt, war dies in einer engen Straße hinter einem großen Platze – einem Platze mit Kaufläden, öffentlichen Gebäuden und großer Menschenmenge. Diesen Erinnerungen zufolge (in denen Lady Glyde sich klar war), scheint es, daß Graf Fosco sie nicht nach seiner eigenen Wohnung in der Vorstadt St. John’s Wood brachte.
Sie gingen ins Haus und nach einer Hinterstube entweder in der ersten oder zweiten Etage hinauf. Das Gepäck wurde sorgfältig hereingetragen; eine Magd öffnete die Thür, und ein Mann mit einem Barte, dem Anscheine nach ein Ausländer, empfing sie im Flur und führte sie dann mit großer Höflichkeit die Treppe hinauf. Auf Lady Glyde’s Fragen entgegnete der Graf, daß Miß Halcombe sich im Hause befinde und sofort von der Ankunft ihrer Schwester benachrichtigt werden solle. Er ging dann mit dem fremden Manne fort und ließ sie allein im Zimmer. Dasselbe war ärmlich als Wohnzimmer meublirt und bot eine Aussicht auf die Hinterseite einer Straße.
Es war auffallend stille im Hause; auf der Treppe kamen und gingen keine Schritte, und sie hörte Nichts als ein dumpfes Murmeln von Männerstimmen in dem Zimmer unter dem, in welchem sie sich befand. Sie war nicht lange allein geblieben, als der Graf zurückkam, um ihr anzukündigen, daß Miß Halcombe augenblicklich schlafe und auf eine Weile nicht gestört werden könne. Es begleitete ihn ein Herr (ein Engländer), den er ihr als seinen Freund vorstellen zu dürfen bat. Nach dieser sonderbaren Vorstellung – bei welcher, soviel Lady Glyde sich entsinnen konnte, keine Namen genannt wurden – blieb sie mit dem Fremden allein. Er war vollkommen höflich, aber er erschreckte und verwirrte sie durch einige sonderbare Fragen in Bezug auf sie selbst und durch seine seltsamen Blicke, während er dieselben an sie richtete. Nach einer kleinen Weile ging er wieder hinaus; und ein paar Minuten später trat ein zweiter Fremder (ebenfalls ein Engländer) herein. Dieser Letztere stellte sich selbst als einen Freund des Grafen Fosco vor und begann dann seinerseits sie durch seltsame Blicke und Fragen zu verwirren, wobei er sie nicht ein einziges Mal, soviel sie sich zu erinnern vermochte, bei ihrem Namen anredete; worauf er dann bald, wie der Erste, das Zimmer wieder verließ.
Sie war jetzt bereits so ängstlich geworden und so besorgt um ihre Schwester, daß sie daran dachte, wieder hinunter zu gehen und den Beistand des einzigen weiblichen Wesens anzurufen, das sie im Hause gesehen: der Magd nämlich, welche ihnen die Hausthür geöffnet hatte.
Als sie sich eben von ihrem Sessel erhoben, kehrte der Graf ins Zimmer zurück. Sie frug ihn sogleich voll Besorgniß, wie lange ihr Zusammenkommen mit ihrer Schwester noch verschoben bleiben müsse? Zuerst gab er ihr eine ausweichende Antwort, dann aber, als sie immer ängstlicher in ihn drang, bekannte er, anscheinend mit großem Widerstreben, daß Miß Halcombe sich durchaus nicht so wohl befinde, wie er es sie bisher habe glauben lassen. Der Ton und die Art und Weise, in der er ihr diese Antwort gab, beunruhigten Lady Glyde in dem Grade, oder erhöhten vielmehr noch so peinlich die Besorgniß, welche sie in Gegenwart der beiden fremden Herren gefühlt, daß sie von einer plötzlichen Schwäche befallen wurde und um ein Glas Wasser zu bitten genöthigt war. Der Graf ging an die Thür und rief, daß man ihm ein Glas Wasser und ein Riechfläschchen brächte. Das Wasser hatte, als Lady Glyde es zu trinken versuchte, einen so sonderbaren Geschmack, daß es ihr Unwohlsein verschlimmerte und sie schnell dem Grafen das Riechfläschchen aus der Hand nahm, um daran zu riechen. Es wurde ihr, augenblicklich schwindelig; der Graf fing das Fläschchen auf, als es ihren Händen entfiel, und das Letzte, dessen sie sich bewußt, war, daß er es ihr zum zweiten Male zu riechen vorhielt.
Von diesem Punkte an waren ihre Erinnerungen unklar, abgebrochen und schwer mit jeder annehmbaren Wahrscheinlichkeit zu vereinigen.
Ihrem eigenen Eindrucke zufolge kehrte ihr erst spät am Abend das Bewußtsein zurück; ihre Erinnerung war, daß sie darauf das Haus verließ; daß sie (wie sie es vorher im Blackwater Park beschlossen) zu Mrs. Vesey ging, dort Thee trank und die Nacht zubrachte. Sie war durchaus nicht im Stande, anzugeben, wie, wann oder in welcher Gesellschaft sie das Haus verlassen, in das Graf Fosco sie geführt. Sie blieb bei der Behauptung, daß sie bei Mrs. Vesey gewesen, und, was noch merkwürdiger war, daß Mrs. Rubelle sie zu Bette gebracht! Sie konnte sich nicht entsinnen, wovon man bei Mrs. Vesey gesprochen, wen sie dort noch außer dieser Dame gesehen, oder warum Mrs. Rubelle im Hause gewesen und ihr geholfen habe.
Ihre Erinnerung an das, was sich am folgenden Morgen zugetragen, war noch unklarer und unzuverlässiger. Sie hatte eine undeutliche Idee, als ob sie mit dem Grafen und mit Mrs. Rubelle als weiblicher Begleitung ausgefahren, doch konnte sie nicht sagen, zu welcher Stunde, noch wie, wann und weshalb sie Mrs. Vesey verlassen. Ebensowenig konnte sie sich erinnern, welche Richtung der Wagen nahm, wo sie ausstieg, und ob der Graf und Mrs. Rubelle fortwährend bei ihr blieben oder nicht. An diesem Punkte ihrer traurigen Geschichte war eine vollkommene Leere. Sie hatte auch nicht den schwächsten Eindruck irgend einer Art zu berichten – keine Idee, ob ein Tag oder mehr als ein Tag verflossen war, bis sie plötzlich an einem fremden Orte, wo unbekannte Frauen sie umringten, wieder zur Besinnung kam.
Dies war die Irrenanstalt. Hier hörte sie sich zuerst bei Anna Catherick’s Namen nennen, und hier als letzten bemerkenswerthen Umstand in der Erzählung des an ihr begangenen Verrathes gewahrte sie mit ihren eigenen Augen, daß sie Anna Catherick’s Kleider trug.
Die Wärterin hatte ihr am ersten Abende, da sie sie auskleidete, die Zeichen in jedem einzelnen Gegenstande ihrer Unterkleider gezeigt und ihr dabei ohne alle Unfreundlichkeit oder Gereiztheit gesagt:
»Sehen Sie doch Ihren eignen Namen in Ihren eignen Kleidern an und langweilen Sie uns nicht mehr mit Ihrer Idee, daß Sie Lady Glyde wären. Die ist todt und begraben, und Sie sind lebendig und gesund. Sehen Sie doch Ihre Kleider einmal an! Da steht es ja, mit guter Zeichentinte, und an derselben Stelle werden Sie es in all Ihren Kleidern finden, die wir hier für Sie aufbewahrt haben: ›Anna Catherick,‹ so deutlich als ob es gedruckt wäre!«
Und allerdings war es da, als Miß Halcombe am Abende ihrer Ankunft in Limmeridge House die Leinwand ihrer Schwester besichtigte.
Dies war in deutlichen Ausdrücken die Erzählung, welche Miß Halcombe auf der Fahrt nach Cumberland durch sorgfältige Fragen aus ihrer Schwester herausbrachte. Miß Halcombe enthielt sich, mit Fragen über die Ereignisse in der Anstalt in sie zu dringen, da ihr Gemüthszustand offenbar nicht der Art war, diese Erinnerungen zu ertragen. Man erfuhr durch das freiwillige Bekenntniß des Eigenthümers der Anstalt, daß sie am 30. Juli in derselben aufgenommen worden war. Von diesem Tage an bis zu dem 15. October (dem Tage ihrer Befreiung) war sie in Haft gewesen, indem man systematisch ihre Identität als Anna Catherick behauptete und ihr entschieden von Anfang bis zu Ende ihren gesunden Verstand ableugnete. Seelen, die weniger fein geartet, und Naturen, die weniger zart organisirt gewesen wären, hätten unter einer solchen Feuerprobe erliegen müssen. Kein Mann hätte sie durchmachen und unverändert daraus hervorgehen können.
Da sie erst spät am Abende des 15. Octobers in Limmeridge House anlangten, beschloß Miß Halcombe wohlweislich, den Versuch, Lady Glyde’s Identität geltend zu machen, bis zum folgenden Tage zu verschieben.
Am nächsten Morgen war ihr Erstes, zu Mr. Fairlie zu gehen; sie erzählte ihm dann nach aller erdenklichen Vorsicht und Vorbereitung mit einfachen, klaren Worten, was sich zugetragen. Sobald er sich von seinem ersten Erstaunen und seiner Bestürzung einigermaßen erholt, erklärte er mit zornigen Worten, Miß Halcombe habe sich durch Anna Catherick zum Narren halten lassen. Er verwies sie auf Graf Fosco’s Brief und auf das, was sie selbst ihm über die Aehnlichkeit zwischen Anna und seiner verstorbenen Nichte mitgetheilt hatte, und weigerte sich entschieden, auch nur auf eine einzige Minute eine Wahnsinnige vor sich zu lassen, welche in sein Haus gebracht zu haben allein schon Beleidigung genug für ihn sei.
Miß Halcombe verließ das Zimmer und wartete, bis sich die erste Hitze ihrer Entrüstung gelegt; sie beschloß nach reiflicher Ueberlegung, daß Mr. Fairlie im bloßen Interesse der Menschlichkeit seine Nichte sehen solle, ehe er seine Thüren gegen sie schloß, wie gegen eine Fremde, und führte dann Lady Glyde, ohne ihn vorher auch nur durch ein Wort hierauf vorzubereiten, in sein Zimmer. Der Diener war an der Thür aufgestellt, um ihnen den Eintritt zu wehren; aber Miß Halcombe bestand auf ihren Vorsatz und drang, ihre Schwester an der Hand haltend, in Mr. Fairlie’s Zimmer ein.
Der Auftritt, welcher folgte, war, obgleich er nur wenige Minuten währte, zu schmerzlich, um beschrieben zu werden. – Miß Halcombe selbst konnte sich nicht überwinden, davon zu sprechen. Genüge es, zu sagen, daß Mr. Fairlie in den entschiedensten Ausdrücken erklärte, er erkenne die Person, die man ihm vorführe, nicht; er sehe Nichts in ihren Manieren oder ihrem Gesichte, das ihn einen Augenblick daran zweifeln ließe, daß seine Nichte im Kirchhofe von Limmeridge begraben liege, und daß er den Schutz des Gesetzes anrufen wolle, falls die Person nicht, ehe der Tag zu Ende, sein Haus verlassen haben werde.
Selbst wenn man Mr. Fairlie’s Egoismus, Trägheit und angeborenen Gefühlsmangel aus dem allerschlimmsten Gesichtspunkte betrachtete, war es doch offenbar unmöglich, anzunehmen, daß er einer solchen Schändlichkeit fähig gewesen wäre, das Kind seines Bruders geflissentlich zu verleugnen.
Miß Halcombe legte dem Einflusse des Vorurtheils und der Bestürzung auf höchst humane und verständige Weise sein volles Gewicht bei und erklärte sich dadurch, was sich zugetragen. Als sie aber darauf die Probe mit der Dienerschaft machte und fand, daß auch sie durchgängig wenigstens unsicher waren, ob die Dame, die man ihnen vorstellte, ihre junge Gebieterin oder Anna Catherick sei (von deren Aehnlichkeit mit der Ersteren sie Alle gehört hatten), konnte Miß Halcombe nicht länger zweifeln, daß die Veränderung, welche die lange Haft im Irrenhause in Lady Glyde’s Aussehen und Wesen hervorgebracht, eine weit bedeutendere sei, als sie zuerst angenommen hatte. Der schändliche Betrug, der ihren Tod behauptet, bot aller Entdeckung, selbst in dem Hause, in welchem sie geboren war, und bei den Leuten, unter denen sie gelebt, Trotz.
In weniger kritischen Verhältnissen hätte der Versuch auch jetzt noch nicht als hoffnungslos aufgegeben zu werden brauchen.
Die Kammerjungfer, Fanny, zum Beispiel, die zur Zeit zufällig nicht in Limmeridge anwesend war, wurde in ein paar Tagen zurückerwartet; und dies würde eine Aussicht geboten haben, mit ihrem Erkennen den Anfang zu machen, da sie in weit vertrauterem Umgange mit ihrer jungen Gebieterin gelebt und ihr weit herzlicher zugethan war, als die übrige Dienerschaft. Dann auch hätte Lady Glyde heimlich im Hause oder im Dorfe zu Limmeridge bleiben können, bis sich ihre Gesundheit wieder etwas befestigt und ihre Geisteskräfte wieder hergestellt hatten; denn sobald sie sich wieder auf ihr Gedächtniß verlassen konnte, würde sie natürlicherweise Personen und Ereignisse der Vergangenheit erwähnt haben, und zwar mit einer Sicherheit und Genauigkeit, die eine Betrügerin nicht hätte nachahmen können; und so hätte ihre Identität, welche festzustellen ihrem eignen Erscheinen nicht gelungen war, später mit Hülfe der Zeit durch ihre eignen Worte noch unzweifelhafter bewiesen werden können.
Aber die Verhältnisse, unter welchen sie ihre Freiheit wiedergewonnen, machten diese Zufluchtsmittel geradezu unanwendbar. Die Verfolgung von Seiten der Irrenanstalt, die nur für den Augenblick nach Hampshire hin abgelenkt worden, mußte unfehlbar zunächst sich nach Cumberland richten. Die mit der Verfolgung beauftragten Personen konnten in wenigen Stunden in Limmeridge eintreffen, und in Mr. Fairlie’s gegenwärtiger Stimmung durften sie mit Bestimmtheit auf seinen Beistand als örtliche Autorität rechnen. Die gewöhnlichste Rücksicht für Lady Glyde’s Sicherheit zwang Miß Halcombe, den Kampf aufzugeben, um recht gegen sie zu handeln, und sie sofort von dem Orte zu entfernen, der ihr jetzt gefährlicher war, als jeder andere – aus ihrer eignen Heimath.
Augenblickliche Rückkehr nach London war die erste und weiseste Sicherheitsmaßregel, an die sie dachte. In der großen Stadt konnte jede Spur von ihnen am Schnellsten und Sichersten getilgt werden. Es waren keine Reisevorbereitungen zu treffen – und Niemand da, mit dem sie herzliche Abschiedsworte zu wechseln gehabt hätten.
Am Nachmittage jenes denkwürdigen 16. Octobers ermunterte Miß Halcombe ihre Schwester zu einer letzten Muthanstrengung, und ohne von einer lebenden Seele Abschied zu nehmen, gingen die Beiden allein in die Welt hinaus und wandten Limmeridge House auf immer den Rücken.
Sie hatten den Hügel oberhalb des Friedhofes erreicht, als Lady Glyde darauf bestand, umzukehren und noch einmal das Grab ihrer Mutter zu sehen. Miß Halcombe versuchte sie davon abzubringen, doch gelang es ihr diesmal nicht. Sie war unerschütterlich. Ihre matten Augen leuchteten mit plötzlichem Feuer und blitzten durch den Schleier, der ihr Gesicht bedeckte; die abgemagerten Finger schlossen sich fester und krampfhafter um den treuen Arm, auf den sie sich bisher so kraftlos gelehnt. Ich glaube im Innersten meines Herzens, daß Gottes Hand ihnen den Weg rückwärts wies und daß es dem schuldlosesten und geprüftesten all’ seiner Geschöpfe in jenem schweren Augenblicke vergönnt war, dies zu sehen.
Sie gingen zurück und auf den Begräbnißplatz und besiegelten hiedurch die Zukunft unserer drei Leben.
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