Die Frau in Weiß
Miß Halcombes Aussage
Aus ihrem Tagebuche1
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Limmeridge House, den 7. November
Heute Morgen hat Mr. Gilmore uns verlassen. Seine Unterredung mit Laura hatte ihn offenbar mehr betrübt und erstaunt, als ihm zu bekennen lieb war. Ich fürchtete nach seinem Aussehen und Benehmen beim Abschiede, daß sie ihm unachtsamerweise das wahre Geheimniß ihrer Niedergeschlagenheit und meiner Besorgniß für sie verrathen habe. Dieser Zweifel wuchs in dem Grade in mir, daß ich es ausschlug, mit Sir Percival auszureiten, und statt dessen zu Laura auf ihr Zimmer ging.
Nachdem ich entdeckt, wie wenig ich die Stärke von Laura’s unglücklicher Neigung gekannt hatte, war ich in dieser schwierigen Sache sehr mißtrauisch gegen mich selbst geworden. Ich hätte wissen sollen, daß das Zartgefühl, Ehrgefühl und die Selbstverleugnung, durch welche mir der arme Hartright so werth wurde und die mich ihn so aufrichtig achten und bewundern ließen, gerade die Eigenschaften waren, die den unwiderstehlichsten Eindruck auf Laura’s fühlendes Gemüth und edle natürliche Großmuth machen mußten. Und doch ahnte ich nicht, daß dieses neue Gefühl so tief in ihrem Herzen Wurzel geschlagen habe, bis sie von selbst ihr Herz gegen mich öffnete. Ich glaubte erst, daß Zeit und Sorge es verwischen werde. Jetzt aber fürchte ich, daß es in ihr leben und sie auf immer verändern wird. Die Entdeckung, daß ich einen solchen Fehler in meinem Urtheile gemacht, macht mich in allem Andern zaghaft. Ich bin angesichts der klarsten Beweise zaghaft in Bezug auf Sir Percival. Ich bin sogar zaghaft, mit Laura zu sprechen. Diesen Morgen noch war ich, als ich schon die Hand auf der Thürklinke hatte, zweifelhaft, ob ich die Fragen, die ich an sie zu richten gekommen war, thun solle oder nicht.
Als ich in ihr Zimmer trat, ging sie in großer Ungeduld auf und ab. Sie sah erhitzt und aufgeregt aus und kam mir sogleich entgegen und sprach, ehe ich noch die Lippen öffnen konnte.
»Ich habe gewünscht, daß Du kämest,« sagte sie. »Komm, und setze Dich zu mir aufs Sopha. Marianne! ich kann dies nicht länger ertragen – ich muß und will es enden.«
Es war zu viel Farbe in ihren Wangen, zu viel Energie in ihrem Benehmen, zu viel Festigkeit in ihrer Stimme. Das kleine Heft mit Hartright’s Zeichnungen, das unglückselige Heft, über dem sie träumt, wenn sie allein ist – war in ihrer Hand. Ich nahm es sanft, aber fest von ihr und legte es auf einen Seitentisch, wo sie es nicht sah.
»Sage mir ruhig, was Du zu thun wünschest, mein Herz,« sagte ich. »Hat Mr. Gilmore Dir Rath ertheilt?«
Sie schüttelte das Haupt. »Nein, nicht über das, woran ich jetzt denke. Er war sehr freundlich und gut gegen mich, Marianne – und ich schäme mich, sagen zu müssen, daß ich ihn durch Thränen betrübte. Ich bin so hülflos; ich kann mich nicht beherrschen. Um meiner selbst willen und um unser Aller willen, muß ich Muth genug haben, es zu enden.«
»Meinst Du, Muth genug, um Deine Freilassung zu fordern?« fragte ich.
»Nein,« sagte sie einfach, »Muth, Liebe, um die Wahrheit zu sagen.«
Sie schlang ihre Arme um meinen Nacken und legte ihr Haupt ruhig auf meine Brust. An der gegenüberliegenden Wand hing das Miniaturgemälde ihres Vaters. Ich beugte mich über sie herab und sah, daß sie es anschaute, während ihr Kopf an meiner Brust ruhte.
»Ich kann niemals meine Freilassung fordern,« fuhr sie fort. »Wie es auch immer enden mag, für mich muß es traurig enden. Alles, was ich thun kann, Marianne, ist, mein Elend nicht noch durch das Bewußtsein, mein Versprechen gebrochen und meines sterbenden Vaters letzte Worte vergessen zu haben, zu vergrößern.«
»Was beabsichtigst Du da zu thun?« fragte ich.
»Sir Percival mit meinen eigenen Lippen von der Wahrheit zu unterrichten,« entgegnete sie, »und ihn mich freigeben lassen, wenn er will, nicht, weil ich ihn darum bitte, sondern weil er Alles weiß.«
»Was willst Du mit ›Alles‹ sagen, Laura? Sir Percival wird genug wissen (das hat er mir selbst gesagt), wenn er weiß, daß die Verbindung gegen Deine Wünsche ist.«
»Kann ich ihm das sagen, wenn mein Vater sie mit meiner Zustimmung einging? Ich hätte mein Versprechen gehalten, nicht sehr froh, wie ich fürchte, aber doch zufrieden« – sie schwieg, wandte ihr Gesicht mir zu und legte ihre Wange wieder fest an die meinige, »ich hätte mein Versprechen gehalten, Marianne, wenn in meinem Herzen nicht eine andere Liebe aufgewachsen wäre, die nicht da war, als ich versprach, Sir Percival zu heirathen.«
»Laura! Du wirst Dich doch nicht so erniedrigen, ihm ein Bekenntniß zu machen?«
»Ich würde mich in der That erniedrigen, wenn ich meine Freiheit von ihm erhielte, indem ich ihm das vorenthalte, was er ein Recht zu wissen hat.«
»Er hat nicht den Schatten eines Rechtes darauf, es zu wissen!«
»Falsch, Marianne, falsch! Ich sollte Niemanden täuschen – am allerwenigsten aber den Mann, dem mich mein Vater, dem ich selbst mich gab.« Sie küßte mich. »Meine herzige Schwester,« sagte sie leise, »Du hast mich so viel zu lieb, bist so viel zu stolz für mich, daß Du in meinem Falle vergissest, was Du in dem Deinigen wohl bedenken würdest. Lieber soll Sir Percival meine Beweggründe bezweifeln und mein Betragen mißdeuten, wenn er will, als daß ich erst in Gedanken falsch gegen ihn wäre und dann kleinlich genug, meinen eigenen Interessen zu dienen, indem ich meine Falschheit versteckte.«
Ich hielt sie voll Erstaunen von mir ab. Zum ersten Male in unserm Leben hatten wir die Rollen gewechselt; alle Entschlossenheit war auf ihrer Seite, alle Zaghaftigkeit auf der meinigen. Ich schaute in das blasse, ruhige, ergebene junge Gesicht; ich sah das reine, unschuldige Herz in den zärtlichen Augen, die in die meinigen blickten – und die armseligen, weltlichen Warnungen und Einwürfe, die zu meinen Lippen stiegen, schwanden und erstarben in ihrer eigenen Nichtigkeit. Ich senkte schweigend den Kopf. An ihrer Stelle wäre der verächtliche, kleinliche Stolz, der so viele Frauen falsch macht, mein Stolz gewesen, und hätte auch mich falsch gemacht.
»Sei nicht böse mit mir, Marianne,« sagte sie, mein Schweigen mißdeutend.
Ich konnte nur antworten, indem ich sie fester an mich drückte. Ich fürchtete zu weinen, wenn ich spräche. Meine Thränen fließen nicht so leicht, wie sie wohl sollten, sie kommen fast wie Männerthränen, mit einem Schluchzen, das mir die Brust zu zerreißen scheint und Alle, die um mich sind, erschreckt.
»Ich habe schon seit mehreren Tagen daran gedacht, Liebe,« fuhr sie fort, während sie mein Haar mit jener kindischen Unruhe um ihre Finger wand, welche die gute Mrs. Vesey noch immer so geduldige und so vergebene Versuche machte, ihr abzugewöhnen – »ich habe sehr ernstlich daran gedacht, und ich kann mich auf meinen Muth verlassen, wenn mein Gewissen mir sagt, daß ich recht thue. Laß mich morgen zu ihm sprechen, in Deiner Gegenwart, Marianne. Ich will Nichts sagen, das nicht recht wäre, Nichts, dessen Du oder ich uns zu schämen brauchten – aber, o, es wird mir das Herz so sehr erleichtern, dieser erbärmlichen Verheimlichung ein Ende zu machen! Laß mich nur wissen und fühlen, daß ich keinen Betrug zu verantworten habe; und dann, wenn er gehört, was ich zu sagen habe, laß ihn in Bezug auf mich thun, was er will.« Sie seufzte und legte ihren Kopf wieder an seine alte Stelle an meiner Brust. In meinem Herzen erhoben sich trübe Ahnungen über das Ende von dem Allem; aber, da ich mir noch immer mißtraute, sagte ich ihr, ich wolle thun, was sie wünsche. Sie dankte mir, und wir sprachen dann allmälig von andern Dingen.
Sie kam heute zu Tische hinunter und war unbefangener und mehr dieselbe gegen Sir Percival, als ich sie noch gesehen habe. Nach Tische setzte sie sich ans Clavier, wählte aber von der neuen künstlichen, unmelodischen, brillanten Musik. Die lieblichen alten Melodien, die der arme Hartright so gern hörte, hat sie, seitdem er fort ist, noch nicht wieder gespielt. Das Heft liegt nicht mehr auf dem Notentischchen; sie selbst trug es fort, damit Niemand es finde und sie etwa bitte, daraus zu spielen.
Ich hatte keine Gelegenheit zu erfahren, ob ihre mir morgens mitgetheilte Absicht unverändert sei, bis sie Sir Percival gute Nacht wünschte; da aber gab sie es ausdrücklich« kund. Sie sagte sehr gefaßt, daß sie nach dem Frühstück mit ihm zu sprechen wünsche, und er sie dann mit mir in ihrem Wohnzimmer finden werde. Er wechselte die Farbe bei diesen Worten, und als ich an die Reihe kam, ihm gute Nacht zu wünschen, fühlte ich seine Hand leicht erzittern. Der folgende Morgen sollte über seine Zukunft entscheiden, und dies war ihm offenbar nicht unbekannt.
Ich ging, wie gewöhnlich, durch die Thür, welche unsere beiden Schlafzimmer trennte, hinein, um Laura, ehe sie einschliefe, gute Nacht zu wünschen. Als ich mich auf sie herabbeugte, um sie zu küssen, sah ich Hartright’s kleines Zeichenbuch halb unter dem Kissen verborgen, gerade an der Stelle, wo sie als Kind ihr liebstes Spielzeug zu verstecken pflegte. Ich konnte es nicht übers Herz bringen. Etwas darüber zu sagen;·aber ich deutete auf das Heft und schüttelte den Kopf. Sie schlang beide Hände um meinen Nacken und zog mein Gesicht zu sich herab, bis unsere Lippen sich begegneten.
»Laß es diese Nacht noch da,« flüsterte sie; »morgen mag ein grausamer Tag sein und mich zwingen, ihm auf immer Lebewohl zu sagen.«
Den 8. November.
Das erste Ereigniß des Morgens war nicht von einer Beschaffenheit, mich froh zu stimmen; es kam ein Brief für mich von dem armen Walter Hartright. Es ist die Antwort auf den meinigen, in welchem ich ihm schrieb, auf welche Weise Sir Percival Glyde den Argwohn beseitigte, den Anna Catherick’s Brief auf ihn geworfen. Er schreibt kurz und bitter über Sir Percival’s Erklärungen, indem er blos sagt, daß er nicht das Recht hat, eine Meinung über Diejenigen abzugeben, welche höher stehen als er. Dies ist traurig Aber seine gelegentlichen Bemerkungen über sich selbst betrüben mich noch mehr. Er sagt, daß die Anstrengung, seine alten Gewohnheiten und Beschäftigungen wieder aufzunehmen, ihm täglich, anstatt leichter zu werden, schwerer wird; und bittet mich dringend, falls ich irgendwie Einfluß habe, denselben dazu zu verwenden, daß ich ihm eine Anstellung verschaffe, die es nothwendig für ihn mache, England zu verlassen und unter ganz neuen Verhältnissen und Leuten zu leben. Ich werde diese Bitte um so bereitwilliger erfüllen, als mich eine Stelle am Schlusse seines Briefes fast beunruhigt hat.
Nachdem er gesagt, daß er von Anna Catherick weder Etwas gehört noch gesehen hat, bricht er plötzlich ab und spielt auf die unerwartetste, geheimnißvollste Weise darauf an, daß, seit er nach London zurückgekehrt ist, fremde Männer ihn fortwährend verfolgen und ihm aufpassen. Er bekennt, daß er für diesen sonderbaren Verdacht keine Beweise beibringen kann indem er bestimmte Personen bezeichnet; aber er erklärt, daß der Verdacht selbst ihn Tag und Nacht begleitet. Dies hat mich erschreckt, weil es fast aussieht, als ob seine fixe Idee in Bezug auf Laura seine Geisteskräfte wanken machte. Ich will sogleich nach London an einige von den einflußreichen ehemaligen Bekannten meiner Mutter schreiben und ihre Aufmerksamkeit für sein Ersuchen in Anspruch nehmen. Abwesenheit und neue Beschäftigung kann zu dieser Krisis seines Lebens wirklich seine Rettung sein.
Zu meiner großen Erleichterung ließ Sir Percival sich beim Frühstück entschuldigen. Er hatte schon bei Zeiten eine Tasse Kaffee auf seinem Zimmer getrunken und war dort noch mit Briefen beschäftigt. Um elf Uhr, falls diese Stunde uns bequem sei, werde er die Ehre haben, Miß Fairlie und Miß Halcombe seine Aufwartung zu machen.
Meine Augen ruhten auf Laura’s Gesicht, während diese Botschaft abgegeben wurde. Ich hatte sie unbegreiflich ruhig und gefaßt gefunden, als ich früh in ihr Zimmer kam und während des ganzen Frühstücks blieb sie dieselbe. Selbst, als wir auf dem Sopha in ihrer Stube saßen und auf Sir Percival warteten, blieb ihre Selbstbeherrschung unerschüttert.
»Sorge Du nicht um mich, Marianne,« war Alles, was sie sagte; »ich mag mich wohl einem alten Freunde, wie Mr. Gilmore, oder einer lieben Schwester, wie Du, gegenüber vergessen, aber Sir Percival Glyde gegenüber soll dies nicht geschehen.«
Ich sah und hörte sie mit schweigendem Erstaunen an. Während der langen Jahre unseres vertrauten Umganges war diese duldende Kraft ihres Charakters unentdeckt geblieben – selbst mir unbekannt geblieben, bis die Liebe sie fand – und das Leiden sie zur Thätigkeit rief.
Als die Wanduhr auf dem Kaminsims Elf schlug, klopfte Sir Percival an die Thür und trat herein. Unterdrückte Besorgniß und Aufregung drückte sich in allen seinen Zügen aus. Der trockne, schneidende Husten, der ihn gewöhnlich belästigt, schien ihn mehr denn je zu quälen. Er nahm uns gegenüber am Tische Platz, und Laura blieb neben mir sitzen. Ich betrachtete Beide aufmerksam und sah, daß er von Beiden am bleichsten war.
Er sagte ein paar unwesentliche Worte, in dem sichtbaren Bestreben, seine gewohnte Unbefangenheit zu bewahren. Aber seine Stimme war unsicher und die unstäte Besorgniß in seinen Augen nicht zu verbergen. Er mußte dies selbst fühlen, denn er hielt mitten in einem Satze inne, und gab den Versuch, seine Verwirrung zu verbergen auf.
Es trat ein einziger Augenblick der Todtenstille ein, den Laura endete.
»Ich wünsche über einen Gegenstand mit Ihnen zu sprechen, Sir Percival, der für uns Beide von der größten Wichtigkeit ist. Meine Schwester ist anwesend, weil ihre Gegenwart mir hilft und Muth macht. Aber übrigens hat sie mir mit keinem Worte in dem, was ich Ihnen zu sagen habe, Rath ertheilt: ich spreche meine eignen Gedanken aus, nicht die ihrigen. Ich bin überzeugt, daß Sie die Güte haben werden, dies wohl zu verstehen, ehe ich fortfahre?«
Sir Percival verbeugte sich. Sie hatte soweit mit vollkommener äußerer Ruhe und Fassung gesprochen. Sie blickte ihn an und er sie. Sie schienen zu Anfang wenigstens entschlossen, einander genau zu verstehen.
»Ich höre von Marianne,« fuhr sie fort, »daß ich nur meine Freiheit von Ihnen fordern darf, um sie zu erlangen. Es war nachsichtig und großmüthig von Ihnen, Sir Percival, mir das sagen zu lassen. Es ist nicht mehr, als gerecht gegen Sie, Ihnen meine Dankbarkeit für das Anerbieten auszudrücken; und ich hoffe und glaube, daß es nicht mehr als gerecht gegen mich ist, zu sagen, daß ich dasselbe nicht annehme.«
Sein gespannt aufmerksames Gesicht nahm einen Ausdruck der Erleichterung an, und er schien freier zu athmen. Aber ich sah, wie er leise und unaufhörlich mit einem Fuße auf den Teppich klopfte, und ich fühlte, daß er im Geheimen noch immer von derselben Besorgniß erfüllt war.
»Ich habe nicht vergessen, daß Sie sich der Erlaubniß meines Vaters versicherten, ehe Sie mich mit Ihrem Antrage beehrten. Vielleicht haben auch Sie nicht vergessen, was ich sagte, indem ich meine Einwilligung gab? Ich wagte, Ihnen zu sagen, daß hauptsächlich meines Vaters Einfluß und Rath mich bestimmt hatten, Ihnen mein Versprechen zu geben. Ich ließ mich von meinem Vater leiten, weil ich in ihm immer den treuesten aller Rathgeber, den besten und zärtlichsten Beschützer und Freund gefunden hatte. Ich habe ihn verloren und kann nur noch sein Andenken lieben; aber mein Vertrauen zu dem lieben todten Freunde hat noch nie gewankt. Ich glaube noch in diesem Augenblicke so fest, wie je vorher, daß er wußte, was am besten für mich sei, und daß seine Hoffnungen und Wünsche auch die meinigen sein sollten.«
Ihre Stimme bebte zum ersten Male, Ihre unruhigen Finger stahlen sich in meinen Schooß und klammerten sich in eine meiner Hände. Es trat eine augenblickliche Pause ein und dann sprach Sir Percival.
»Darf ich fragen,« sagte er, ob ich mich jemals des Vertrauens unwürdig bewiesen, dessen Besitz ich mir bisher zur größten Ehre und zum größten Glücke angerechnet habe?«
»Ich habe in Ihrem Betragen nichts entdeckt, das ich tadeln könnte;« entgegnete sie. »Sie sind mir immer mit gleichem Zartgefühl und gleicher Nachsicht begegnet. Sie haben mein Vertrauen verdient, und, was bei mir von weit größerer Wichtigkeit ist, Sie haben meines Vaters Vertrauen, aus welchem das meinige entstand, verdient. Sie haben mir keine Ursache gegeben, selbst wenn ich einer solchen bedurfte, um meine Freilassung fordern zu dürfen. Was ich bis jetzt gesagt, habe ich in dem Wunsche gesprochen, meine ganze Verpflichtung Ihnen gegenüber anzuerkennen. Meine Achtung für diese Verpflichtung, für meines Vaters Andenken und für mein eignes Versprechen verbietet mir, meinerseits das Beispiel zu geben, von unserm jetzigen Verhältnisse zu einander zurückzutreten. Die Auflösung desselben muß einzig und allein Ihr Wunsch, Ihr Thun sein, Sir Percival – nicht das meinige.«
Sein Fuß hielt plötzlich mit dem unruhigen Klopfen inne, und er lehnte sich begierig über den Tisch hinüber.
»Mein Thun?« sagte er. »Welchen Grund könnte ich möglicherweise haben, um mich zurückzuziehen?«
Ich hörte ihren Athem schneller gehen und fühlte ihre Hand kalt werden. Ungeachtet dessen, was sie zu mir gesagt hatte, als wir allein waren, begann ich für sie zu fürchten. Aber ich hatte unrecht.
»Einen Grund, Sir Percival, den Ihnen zu sagen mir sehr schwer fällt,« entgegnete sie. »Es hat eine Veränderung in mir stattgefunden, eine Veränderung, die von hinreichender Bedeutung ist, um Sie sich selbst und mir gegenüber zu rechtfertigen, indem Sie das bestehende Verhältniß auflösen.«
Er erbleichte wieder bis zu den Lippen. Er erhob den Arm, welcher auf dem Tische lag, wandte sich auf seinem Sessel ein wenig um und stützte den Kopf auf die Hand, so daß wir nur sein Profil noch sehen konnten.
»Was für eine Veränderung?« fragte er.
Sie seufzte tief und beugte sich etwas zu mir herüber, so daß ihre Schulter an der meinigen ruhte. Ich fühlte, wie sie zitterte, und suchte sie zu schonen, indem ich selbst das Wort nähme. Sie verhinderte mich aber durch einen warnenden Druck der Hand und wandte sich dann wieder zu Sir Percival; doch diesmal ohne ihn anzusehen.
»Ich habe gehört,« sagte sie, »und ich glaube, daß die tiefste und wahrste Zuneigung diejenige ist, welche eine Frau für einen Mann hegen sollte. Als ich mich Ihnen versprach, hatte ich eine solche Zuneigung zu vergeben, wenn ich es konnte, und sie blieb Ihnen zu gewinnen, falls es Ihnen gelingen sollte. Wollen Sie mir vergeben und Nachsicht mit mir haben, Sir Percival, wenn ich Ihnen sage, daß dies nicht länger der Fall ist?«
Ihre Augen füllten sich und einige wenige Thränen rannen langsam über ihre Wangen, als sie schwieg und seiner Antwort harrte. Er sprach kein Wort. Zu Anfange ihrer Erwiderung hatte er die Hand, auf welche er den Kopf stützte, so gelegt, daß sie uns sein Gesicht verbarg. Ich sah Nichts, als den oberen Theil seiner Gestalt am Tische. Die Finger der Hand, welche seinen Kopf stützte, faßten tief in sein Haar, aber es war kein Zittern bemerkbar an ihnen. Es war da Nichts, durchaus gar Nichts, das uns das Geheimniß seiner Gedanken in diesem Augenblicke hätte verrathen können – in diesem Augenblicke, welcher die Krisis seines Lebens und des ihrigen bildete. Ich war entschlossen, ihn um Laura’s Willen zu einer Erklärung zu zwingen.
»Sir Percival!« rief ich mit Strenge, »haben Sie gar Nichts zu sagen, wenn meine Schwester so Viel gesagt hat? Mehr, meiner Ansicht nach,« fügte ich hinzu, indem meine unglückselige Heftigkeit sich wieder meiner bemeisterte, »als irgend ein Mann in Ihrer Lage das Recht hat, von ihr zu hören.«
Diese letzte unüberlegte Rede öffnete ihm einen Weg, auf dem er mir ausweichen konnte falls er es wünschte, und er zog augenblicklich Vortheil daraus.
»Verzeihen Sie, Miß Halcombe,« sagte er, noch immer sein Gesicht mit der Hand bedeckend – »verzeihen Sie mir, wenn ich Sie daran erinnere, daß ich ein solches Recht durchaus nicht beansprucht habe.«
Die paar einfachen Worte, die ihn auf den Gegenstand zurückgeführt hätten, von dem er abgewichen, waren gerade auf meiner Zunge, als Laura mich wieder am Sprechen verhinderte, indem sie selbst das Wort ergriff.
»Ich hoffe, daß ich mein peinliches Bekenntniß nicht vergebens gemacht habe,« sagte sie. »Ich hoffe, daß es mir Ihr volles Vertrauen für Das erworben, was ich noch zu sagen habe?«
»Ich bitte Sie, dessen versichert zu sein.«
Er sprach diese kurze Antwort mit Wärme, wobei er seine Hand auf den Tisch sinken ließ und sich uns wieder zuwandte. Welche äußere Veränderung vorher auch mit ihm vorgegangen sein mochte, jetzt war sie verschwunden. Sein Gesicht war begierig und erwartungsvoll– es drückte nichts Anderes, als die gespannteste Erwartung auf ihre nächsten Worte aus.
»Ich hoffe, Sie verstehen, daß ich nicht aus irgend einem selbstsüchtigen Beweggrunde gesprochen habe,« sagte sie; »falls Sie mich nach Dem, was Sie soeben gehört haben, verlassen, Sir Percival, so wird das nicht meine Vermählung mit irgend einem anderen Manne zur Folge haben. Sie gestatten mir dadurch nur, mein Lebelang unverheirathet zu bleiben. Meine Schuld gegen Sie hat ihren Anfang und ihr Ende in meinen Gedanken gefunden. Sie kann niemals weiter gehen. Es ist kein Wort« – sie zögerte, zweifelhaft über den Ausdruck, den sie gebrauchen sollte, in einer kurzen Verwirrung, die etwas unaussprechlich Trauriges und Schmerzliches hatte. »Es ist kein Wort von mir und Demjenigen, dessen ich jetzt zum ersten und letzten Male in Ihrer Gegenwart erwähne, über unsere gegenseitigen Gefühle gewechselt worden, noch wird dies je der Fall sein, es ist nicht wahrscheinlich, daß wir einander je im Leben wieder begegnen werden. Ich bitte Sie ernstlich, es mir zu ersparen, noch mehr darüber zu sagen, und mir auf mein Wort in dem zu glauben, was ich Ihnen gesagt habe. Es ist die Wahrheit, Sir Percival, die Wahrheit, zu der ich meinen versprochenen Gemahl berechtigt halte, welche Opfer meiner Gefühle dies auch bedingen möge. Ich baue auf seine Großmuth, die mir vergeben, und auf seine Ehre, die mein Geheimniß bewahren wird.«
»Das Vertrauen soll mir in beiden Beziehungen heilig sein,« sagte er.
Dann schwieg er und sah sie an, als ob er erwarte, mehr zu hören.
»Ich habe Alles gesagt, was ich zu sagen wünschte,« fügte sie ruhig hinzu, – »ich habe mehr denn genug gesagt, um Sie zu rechtfertigen, indem Sie von dem Verlöbnisse zurücktreten.«
»Sie haben mehr denn genug gesagt,« entgegnete er, »um es zum höchsten Ziele meiner Wünsche zu machen, dasselbe vollzogen zu sehen.« Mit diesen Worten erhob er sich von seinem Sitze und that ein paar Schritte nach der Stelle zu, an der sie saß.
Sie zuckte heftig zusammen, und ein schwacher Schrei des Erstaunens entfuhr ihren Lippen. Mit jedem Worte, das sie gesprochen, hatte sie unschuldigerweise ihre Reinheit und Wahrhaftigkeit einem Manne verrathen, der vollkommen den unschätzbaren Werth eines reinen, wahren Weibes verstand. Ihr edles Benehmen war der verborgene Feind all der Hoffnungen gewesen, welche sie darauf gebaut hatte. Ich hatte dies von Anfang an befürchtet. Ich wollte es verhindert haben, wenn sie mir nur die kleinste Gelegenheit dazu gelassen hätte. Ich wartete und lauerte selbst jetzt noch, da das Unglück geschehen war, auf ein Wort von Sir Percival, das mir die Gelegenheit liefern würde, ihm Unrecht zu geben.
»Sie haben es mir überlassen, Sie aufzugeben, Miß Fairlie,« fuhr er fort. »Ich bin nicht herzlos genug, um einem Weibe zu entsagen, in der ich soeben die Edelste ihres Geschlechtes erkannt habe.«
Er sprach mit solcher Wärme, solchem Gefühle, solch leidenschaftlicher Begeisterung und dennoch so vollkommenem Zartgefühle, daß sie aufblickte, leicht erröthete und ihn mit plötzlicher Lebhaftigkeit ansah.
»Nein!« sagte sie fest. »Die Beklagenswertheste ihres Geschlechtes, wenn sie sich selbst geben muß, wo sie nicht ihr Herz geben kann.«
»Ist es nicht möglich, daß sie es noch in Zukunft giebt,« fragte er, »wenn ihres Mannes ganzes Streben dahin geht, es zu verdienen?«
»Niemals!« entgegnete sie. »Wenn Sie darauf bestehen, unser Verlöbniß anzuerkennen, Sir Percival, so mag ich Ihr treues und ergebenes Weib werden – aber Ihr liebendes Weib – falls ich mein eigen Herz kenne – nie!«
Sie sah so unwiderstehlich schön aus, als sie diese muthigen Worte sprach, daß kein Mann von der Welt sein Herz hätte gegen sie stählen können. Ich versuchte mit aller Gewalt, zu fühlen, daß Sir Percival zu tadeln sei, und versuchte dies auszusprechen, aber mein Frauenherz bemitleidete ihn wider Willen.
»Ich nehme Ihr Vertrauen und Ihre Treue dankbar an,« sagte er. »Das Geringste, was Sie mir zu bieten haben, ist mehr für mich, als das Aeußerste, das ich von irgend einem Weibe der Welt erwarten dürfte.«
Ihre linke Hand hielt noch immer die meinige umschlossen, aber ihre Rechte hing achtlos an ihrer Seite herab. Er führte sie sanft an seine Lippen, berührte sie eher damit, als daß er sie küßte, verbeugte sich gegen mich und verließ dann rücksichtsvoll und bescheiden schweigend das Zimmer.
Sie rührte sich nicht, noch sagte sie ein Wort, nachdem er das Zimmer verlassen – sie saß neben mir, kalt und still, die Augen auf den Boden geheftet. Ich sah, daß es hoffnunglos und nutzlos sein werde, zu sprechen und schlang daher nur meinen Arm um sie, um sie fester an mich zu drücken. So saßen wir, wie es schien, eine lange traurige Weile, so lang und so traurig, daß ich unruhig um sie wurde und leise zu ihr sprach, in der Hoffnung, eine Veränderung dadurch in ihr zu bewirken.
Der Klang meiner Stimme schien sie zum Bewußtsein zurückzurufen. Sie zog sich plötzlich von mir zurück und stand auf.
»Ich muß mich drein ergeben, Marianne, so gut ich kann,« sagte sie. »Mein neues Leben hat seine schweren Pflichten, und eine derselben beginnt heute.«
Während sie sprach, trat sie an den kleinen Tisch am Fenster, auf dem ihre Zeichenmaterialien lagen, sammelte sie sorgsam und legte sie in eine Schublade ihres Schränkchens. Sie verschloß es und brachte mir den Schlüssel.
»Ich muß von Allem scheiden, das mich an ihn erinnert,« sagte sie. Verwahre den Schlüssel, wo Du willst, ich werde ihn nie wieder gebrauchen.«
Ehe ich noch ein Wort sagen konnte, hatte sie sich zu ihrem Bücherschranke gewandt und das Album herausgenommen, welches Walter Hartright’s Zeichnungen enthielt. Sie stand einen Augenblick und hielt das kleine Heft liebend in beiden Händen, dann erhob sie es und küßte es.
»O Laura! Laura!« sagte ich, nicht erzürnt, nicht vorwurfsvoll – nur mit Kummer in der Stimme und Kummer im Herzen.
»Es ist das letzte Mal, Marianne,« sagte sie mit flehendem Tone; »ich nehme ja auf immer Abschied davon.«
Sie legte das Buch auf den Tisch und nahm den Kamm heraus, der ihr Haar festhielt, welches dann in seiner unvergleichlichen Pracht über ihre Schultern und bis weit unter ihre Taille um sie her wallte. Sie trennte eine lange, dünne Locke von den übrigen, schnitt sie ab und befestigte sie sorgfältig auf dem ersten leeren Blatte des Albums. Dann schloß sie eilig das Heft und legte es in meine Hände.
»Du schreibst an ihn, und er an Dich,« sagte sie. »So lange ich lebe, sage ihm immer, wenn er nach mir fragt, daß ich wohl, und nie, daß ich unglücklich bin. Betrübe ihn nicht, Marianne – wenn Du mich lieb hast, betrübe ihn nicht. Wenn ich sterbe, so versprich mir, daß Du ihm dies kleine Buch mit seinen Zeichnungen und meinem Haare geben willst. Es kann nicht Unrecht sein, wenn ich gestorben bin, ihm zu sagen, daß ich es mit eigner Hand hineingethan. Und sage ihm, o Marianne, sage ihm dann für mich, was ich selbst ihm niemals sagen kann – sage, daß ich ihn liebte!«
Sie schlang ihren Arm um meinen Nacken und flüsterte mir diese letzten Worte mit einer leidenschaftlichen Wonne ins Ohr, die zu hören mir fast das Herz gebrochen hätte. All der lange Zwang, den sie sich auferlegt hatte, wich unter diesem ersten und letzten Ausbruche der Liebe. Sie riß sich mit krampfhafter Heftigkeit von mir los und warf sich in einem Anfalle von Weinen und Schluchzen, der ihren ganzen Körper erschütterte, auf’s Sopha.
Ich suchte vergebens; sie zu beruhigen und mit ihr zu reden – sie konnte weder sich fassen, noch mit sich reden lassen. Es war dies für uns Beide das traurige, plötzliche Ende dieses denkwürdigen Tages. Als der Anfall vorüber, war sie zu erschöpft, um zu sprechen. Gegen Nachmittag schlummerte sie ein und ich legte das Album fort, damit sie es nicht mehr sehen möge, wenn sie erwachte.
Mein Gesicht war ruhig, was immer mein Herz sein mochte, als sie die Augen wieder öffnete und mich anschaute. Wir sprachen nicht weiter von der betrübenden Unterredung von heute Morgen. Weder Sir Percival, noch Walter Hartright wurden den ganzen Tag über wieder von uns Beiden genannt.
Den 9. November.
Da ich sie heute Morgen etwas beruhigter und gefaßter fand, nahm ich den peinlichen Gegenstand von gestern in der Absicht wieder auf, sie zu bitten, mich deutlicher und entschiedener über diese beklagenswerthe Heirath mit Sir Percival und Mr. Fairlie sprechen zu lassen, als sie selbst dies mit dem Einen oder dem Andern thun konnte. Sie unterbrach mich sanft aber fest mitten in meinen Vorstellungen.
»Ich ließ den gestrigen Tag entscheiden,« sagte sie, »und er hat entschieden. Es ist zu spät, um wieder umzukehren.«
Sir Percival sprach diesen Nachmittag voll Gefühl und ohne Rückhalt mit mir über das, was sich in Laura’s Zimmer zugetragen. Er versicherte mich, daß das beispiellose Vertrauen, welches sie in ihn gesetzt, eine so entsprechende Ueberzeugung von ihrer Unschuld und Reinheit in seinem Herzen erweckt, daß er weder in ihrer Gegenwart, noch, nachdem er sie verlassen, auch nur einen Augenblick sich einer unwürdigen Eifersucht schuldig gemacht habe. So sehr er auch die unglückliche Neigung beklagen müsse, welche dem Fortschritte Einhalt gethan, den er anders vielleicht in ihrer Achtung hätte machen können, eben so fest sei er auch wieder überzeugt, daß dieselbe in der Vergangenheit uneingestanden geblieben, und unter allen Verhältnißwechseln, die möglicherweise zu erwarten ständen, auch für die Zukunft uneingestanden bleiben werde. Dies sei seine feste Ueberzeugung, und der größte Beweis, den er davon geben könne, liege in der Versicherung, welche er hiermit ausspreche, daß er weder in Bezug auf den Zeitpunkt des Entstehens dieser Neigung, noch in Bezug auf den Gegenstand derselben irgend wie Neugierde fühle. Das unbedingte Vertrauen, das er in Miß Fairlie setze, lasse ihn sich mit dem begnügen, was ihr gut dünkte, ihm mitzutheilen, und er sei vollkommen unschuldig an selbst dem heimlichsten Wunsche, mehr zu erfahren.
Er wartete, nachdem er dies gesagt, und sah mich an. Ich war mir meines ungerechten Vorurtheils und eines unwürdigen Verdachtes, daß er wohl gar darauf spekulire, daß ich aus eignem Antriebe gerade jene Fragen beantworten werde, über die er sich den Anschein so vollkommener Gleichgültigkeit gegeben, so bewußt – daß ich aller ferneren Erwähnung dieses Gegenstandes wie mit Verwirrung auswich. Zugleich aber war ich entschlossen, jede, auch die kleinste Gelegenheit zu einem Versuche zu benutzen, Laura’s Sache zu führen; und ich gestand ihm geradezu, daß ich bedauere, daß seine Großmuth ihn nicht noch einen Schritt weiter geführt und bewogen habe, ganz von dem Verlöbnisse zurückzutreten.
Aber auch hier entwaffnete er mich dadurch, daß er sich nicht zu vertheidigen suchte. Er bitte mich nur, den Unterschied zu bedenken, der darin liege, daß er Miß Fairlie gestatte, ihn aufzugeben, was eine Sache bloßer Unterwerfung sei, und darin, daß er sich zwinge, Miß Fairlie aufzugeben, wodurch man mit andern Worten, von ihm verlange, Selbstmord an seinen eignen Hoffnungen zu begehen. Ihr Betragen am gestrigen Tage habe die unveränderliche Liebe und Bewunderung, die er seit zwei langen Jahren für sie gehegt, so befestigt, daß ein thätiger Kampf von seiner Seite gegen diese Gefühle hinfort nicht mehr in seiner Macht sei. Ich möge ihn für schwach, selbstsüchtig und gefühllos gegen gerade dasjenige Weib halten, das er anbete, und er müsse meine Meinung, so gut es ihm möglich sei, ertragen; doch bitte er mich zu gleicher Zeit, zu erwägen, ob die Zukunft eines unverheiratheten Weibes, das unter einer unglücklichen Neigung hinsiechte, eine frohere Aussicht biete, als die einer Frau, deren Mann schon den Boden, den ihre Füße betreten, anbetete. In letzterem Falle sei noch Etwas von der Zeit zu hoffen, wie geringe diese Hoffnung auch sei – im ersteren, wie sie selbst gesagt, gab es gar keine mehr für sie.
Ich antwortete ihm, mehr, weil ich eine Frauenzunge habe, als weil ich irgend etwas Ueberzeugendes zu sagen hatte. Es war nur zu klar, daß Laura’s Verfahren von gestern ihm einen Vortheil offen gelassen, falls er ihn benutzen wollte, und daß er ihn in der That benutzte. Ich fühlte dies damals und fühle es noch in diesem Augenblicke, wo ich auf meinem Zimmer diese Zeilen schreibe. Die einzige Hoffnung, die mir noch bleibt, ist die, daß seine Beweggründe wirklich, wie er es betheuert, aus der unwiderstehlichen Stärke seiner Zuneigung zu Laura entspringen.
Ehe ich mein Tagebuch für heute Abend schließe, muß ich berichten, daß ich heute in des armen Hartright’s Interesse an zwei alte Bekannte meiner Mutter in London schrieb, Beide Männer in hoher Stellung und denen viel Einfluß zu Gebote steht. Wenn sie irgend Etwas für ihn thun können, so bin ich überzeugt, daß sie mir’s nicht verweigern werden. Laura ausgenommen, war ich nie so besorgt, um irgend Jemanden, als ich es jetzt um Walter bin. Alles, was sich zugetragen, seitdem er uns verlassen, hat meine große Achtung und Theilnahme für ihn nur noch vergrößert. Ich hoffe, daß ich recht thue, indem ich ihm Beschäftigung im Auslande zu verschaffen suche, ich hoffe ernstlich und von ganzem Herzen, daß es gut enden möge.
Den 10. November.
Sir Percival hatte eine Unterredung mit Mr. Fairlie, und ich wurde dazu geladen.
Ich fand Mr. Fairlie’s Gemüth außerordentlich erleichtert durch die Aussicht, daß das »Familienärgerniß« (wie er die Vermählung seiner Nichte zu benennen beliebt) endlich beigelegt werden soll. Bis dahin fühlte ich mich nicht berufen, ihm irgend Etwas von meiner Ansicht zu sagen; als er aber auf seine allerwiderwärtigste, schmachtende Manier zunächst uns vorschlug, jetzt auch, Sir Percival’s Wünschen gemäß, den Zeitpunkt der Heirath zu bestimmen, verschaffte ich mir den Genuß, Mr. Fairlie’s Nerven mit einem so kräftigen Proteste, daß man Laura nimmer drängen dürfe, zu bestürmen, wie ich ihn nur durch Worte ausdrücken konnte. Sir Percival versicherte mich augenblicklich, daß er die Richtigkeit meines Einwurfes fühle, und bat mich zu glauben, daß der Vorschlag nicht auf sein Ersuchen gemacht worden. Mr. Fairlie lehnte sich in seinen Sessel zurück, schloß seine Augen, erklärte, daß wir Beide der menschlichen Natur Ehre machten, und wiederholte seinen Vorschlag dann so trocken, als ob weder Sir Percival, noch ich ein Wort dagegen gesagt hätten. Die Sache endete damit, daß ich es platterdings ausschlug, der Sache gegen Laura zu erwähnen, falls sie nicht von selbst davon anfinge; und nach dieser Erklärung verließ ich sofort das Zimmer. Sir Percival sah ernstlich verlegen und betrübt aus. Mr. Fairlie streckte seine trägen Beine auf seinem Sammetschemel aus und sagte: »Diese liebe Marianne! wie sehr ich Dich um Dein derbes Nervensystem beneide: Bitte, schlage die Thür nicht zu!«
Als ich nach Laura’s Zimmer ging, hörte ich, daß sie nach mir gefragt, und Mrs. Vesey ihr gesagt hatte, ich sei bei Mr. Fairlie. Sie frug mich sogleich, was man von mir gewollt habe, und ich erzählte ihr Alles, was sich zugetragen, ohne den Versuch zu machen, ihr meinen Verdruß darüber zu verbergen. Ihre Antwort erstaunte und betrübte mich unaussprechlich; es war die allerletzte Entgegnung, die ich von ihr erwartet hätte.
»Mein Onkel hat recht,« sagte sie; »ich habe Dir und meiner ganzen Umgebung bereits Kummer und Sorge genug verursacht. Laß mich nicht noch mehr verursachen, Marianne – laß Sir Percival entscheiden.«
Ich machte ihr warme Gegenvorstellungen, aber sie ließ sich durch Nichts, das ich sagen konnte, erschüttern.
»Man hält mich an mein Versprechen,« sagte sie, »ich bin mit meinem alten Leben fertig. Der schlimme Tag ist nicht weniger sicher in Aussicht für mich, weil ich ihn aufschiebe. Nein, Marianne! Ich wiederhole es, mein Onkel hat Recht. Ich habe Euch Allen Betrübniß und Sorge genug verursacht, und ich will Euch nicht noch mehr Betrübniß und Sorge machen.«
Sie pflegte die Fügsamkeit selbst zu sein, und war jetzt so unbeugsam in ihrer Ergebung – ich möchte fast sagen in ihrer Verzweiflung. So innig ich sie liebe, hätte es mich doch weniger geschmerzt, wenn ich sie heftig bewegt gesehen; diese Kälte und Fühllosigkeit war ihrem natürlichen Charakter so entsetzlich zuwider.
Den 11. November.
Sir Percival that beim Frühstücken einige Fragen über Laura an mich, die mir nichts weiter übrig ließen, als ihm mitzutheilen, was sie gesagt hatte.
Während wir sprachen, kam sie selbst zum Frühstück herunter. Sie war in Sir Percival’s Gegenwart ebenso unnatürlich gefaßt, wie sie es in der meinigen gewesen. Nach dem Frühstück hatte er Gelegenheit, ein paar Worte allein in einer Fensternische mit ihr zu sprechen. Sie standen dort nicht länger als zwei oder drei Minuten zusammen, und als sie sich trennten, verließ Laura das Zimmer mit Mrs. Vesey, und Sir Percival kam zu mir. Er sagte, er habe sie inständig gebeten, ihm die Gunst zu erweisen, von ihrem Privilegium Gebrauch zu machen, indem sie den Zeitpunkt für ihre Vermählung nach eignem Gefallen bestimme. In Erwiderung habe sie blos ihre Erkenntlichkeit ausgesprochen und ihn ersucht, seine Wünsche Miß Halcombe mitzutheilen.
Ich bin außer mir. Bei dieser Gelegenheit, wie bei jeder andern hat Sir Percival, ungeachtet alles dessen, was ich sagen oder thun kann, seinen Zweck auf die ehrenvollste Weise erreicht. Seine Wünsche sind dieselben jetzt, die sie waren, als er ankam; und Laura bleibt, nachdem sie sich in das unvermeidliche Opfer der Heirath ergeben, so kalt, hoffnungslos und duldend wie vorher. Indem sie von den kleinen Beschäftigungen und Reliquien schied, die sie an Hartright erinnerten, scheint sie auch von aller Zärtlichkeit und Empfänglichkeit geschieden zu sein. Es ist erst drei Uhr Nachmittags, während ich diese Zeilen schreibe, und schon hat uns Sir Percival in der frohen Eile eines Bräutigams verlassen, um sein Haus in Hampshire zu dem Empfange seiner jungen Frau vorzubereiten. Wenn sich nicht irgend etwas ganz Außerordentliches ereignet, um es zu verhindern, so wird ihre Vermählung genau zu der Zeit stattfinden, wo er es wünschte – vor Ablauf des Jahres. Meine Finger brennen indem ich es schreibe!
Den 12. November.
Eine schlaflose Nacht, aus Unruhe um Laura. Gegen Morgen kam ich zu dem Entschlusse zu versuchen, ob nicht eine Veränderung der–Umgebung günstig auf sie wirken werde. Sie kann doch unmöglich in ihrem jetzigen Zustande erstarrter Unempfindlichkeit bleiben, wenn ich sie von Limmeridge hinwegnehme und mit den lieben Gesichtern alter Bekannten umgebe? Nach einiger Ueberlegung entschied ich mich, an die Arnold’s in Yorkshire zu schreiben. Sie sind einfache, liebevolle, gastfreundliche Leute; und sie hat sie seit ihrer Kindheit gekannt. Als ich den Brief in die Posttasche gesteckt, sagte ich ihr, was ich gethan habe. Es wäre mir eine Beruhigung gewesen, wenn sie den Muth gezeigt hätte, Einwendungen zu machen und sich zu widersetzen. Aber nein, sie sagte blos: »Mit Dir, Marianne, will ich gehen, wohin Du willst. Du wirst gewiß Recht haben. Ich denke wohl, daß die Abwechselung gut für mich sein wird.«
Den 13. November.
Ich habe an Mr. Gilmore geschrieben und ihn benachrichtigt, daß wirklich Aussicht darauf vorhanden, diese elende Heirath vor sich gehen zu sehen, und erwähnte zugleich meiner Absicht, zu versuchen, was eine kleine Abwechselung für Laura zu thun im Stande sei. Ich hatte nicht das Herz dazu, in die Einzelheiten einzugehen. Dazu ist es noch Zeit genug, wenn wir dem Ende des Jahres näher kommen.
Den 14. November.
Drei Briefe für mich. Der erste von den Arnold’s voller Freude über die Aussicht, Laura und mich bei sich zu sehen. Der zweite von einem der Herren, an die ich in Walter Hartright’s Interesse schrieb und der mich benachrichtigt, daß er das Glück gehabt, eine Gelegenheit zu finden, mein Anliegen zu erfüllen. Der dritte von Walter selbst; er dankt mir, der arme Junge, in den wärmsten Ausdrücken dafür, daß ich ihm Gelegenheit verschafft, seine Heimath, sein Vaterland und alle seine Lieben zu verlassen. Es scheint, daß eine Privatexpedition von Liverpool absegeln soll, um in den verfallenen Städten von Centralamerika Nachgrabungen zu veranstalten. Der Zeichner, der bereits angestellt war, um sie zu begleiten, hat im letzten Augenblicke den Muth verloren und sich zurückgezogen, und Walter soll an seiner Stelle eintreten. Er ist, von dem Zeitpunkte an, wo sie in Honduras landen, auf sechs Monate fest angestellt und dann, falls die Nachgrabungen erfolgreich und die Mittel ausreichend sind, noch auf ein Jahr. Sein Brief schließt mit dem Versprechen, mir eine Abschiedszeile zu schreiben, wenn Alle an Bord gegangen sind und der Lootse sie verläßtIch kann nur hoffen und beten, daß er und ich in dieser Sache gehandelt haben, wie es am besten war. Es scheint ein so ernster Schritt für ihn zu sein, daß der bloße Gedanke daran mich schon erschreckt. Und doch, wie kann ich erwarten oder wünschen, daß er, in seiner unglücklichen Lage, zu Hause bliebe?
Den 15. November.
Der Wagen ist vor der Thür. Laura und ich reisen heute zu den Arnold’s ab.
– – – – – – – – – – –
Polesdean Lodge in Yorkshire. Den 23. November.
Eine Woche unter diesen neuen Umgebungen und freundlichen Leuten hat ihr gut gethan, obgleich nicht in den Grade, wie ich es gehofft hatte. Ich habe beschlossen, unsern Besuch noch wenigstens um eine Woche auszudehnen. Es ist unnöthig, früher nach Limmeridge zurückzukehren, als bis eine entschiedene Nothwendigkeit für unsere Rückkehr eintritt.
Den 24. November.
Traurige Nachrichten mit der heutigen Post. Die Expedition nach Centralamerika segelte am Einundzwanzigsten ab. Wir sind von einem wahren Manne geschieden, haben einen treuen Freund verloren. Walter Hartright hat England verlassen.
Den 25. November.
Gestern traurige, heute schlimme Nachrichten. Sir Percival Glyde hat an Mr. Fairlie geschrieben, und Mr. Fairlie hat an Laura und mich geschrieben, um uns augenblicklich nach Limmeridge zurückzurufen.
Was kann dies bedeuten? Ist der Tag der Vermählung in unsrer Abwesenheit bestimmt worden?
Limmeridge House. Den 27. November.
Meine schlimmen Ahnungen sind eingetroffen. Die Heirath ist auf den dreiundzwanzigsten December festgesetzt·
Am Tage nach unserer Abreise nach Polesdean Lodge, erhielt Mr. Fairlie, wie es scheint, einen Brief von Sir Percival, worin dieser ihm mittheilte, daß die nothwendigen Verbesserungen und Veränderungen in seinem Hause in Hampshire in ihrer Ausführung weit längere Zeit in Anspruch nehmen würden, »als er erwartet habe.« Die gehörigen Ueberschläge sollten ihm in kürzester Frist zugestellt werden, und es werde seine Anordnungen mit den Arbeitern sehr unterstützen, wenn er genau von dem Zeitpunkte unterrichtet werden könnte, an welchem die Hochzeit stattfinden dürfe. Er werde dann im Stande sein, alle seine Zeitberechnungen zu machen und zugleich seinen Freunden, die er eingeladen, ihn im Winter zu besuchen, und die natürlich nicht kommen konnten, so lange das Haus in den Händen der Arbeiter sei, die nöthigen Entschuldigungen zu schreiben.
Auf diesen Brief hatte Mr. Fairlie geantwortet, indem er Sir Percival bat, selbst einen Tag für die Hochzeit vorzuschlagen, der dann Miß Fairlie’s Billigung überlassen werden könne, welche zu erhalten ihr Vormund sein Möglichstes zu thun versprach. Sir Percival antwortete mit umgehender Post und schlug (in Uebereinstimmung mit seinen schon zu Anfang ausgesprochenen Absichten und Wünschen) die letzte Woche im December vor – etwa den dreiundzwanzigsten oder vierundzwanzigsten, oder irgend einen andern Tag, den die Dame und ihr Vormund vorziehen möchten. Da die Dame nicht zur Hand war, um ihren eigenen Wunsch auszusprechen, hatte ihr Vormund in ihrer Abwesenheit den erstgenannten Tag gewählt – den dreiundzwanzigsten December – und uns in Folge dessen nach Limmeridge zurückberufen.
Nachdem Mr. Fairlie mir diese Einzelheiten gestern in einer Privatunterredung mitgetheilt, schlug er mir auf seine liebenswürdigste Manier vor, die nothwendigen Unterhandlungen schon heute einzuleiten. Da ich fühlte, daß aller Widerstand nutzlos sei, wenn ich nicht erst Laura’s Erlaubniß dazu hatte, so willigte ich ein, mit ihr zu sprechen, erklärte aber zugleich, daß ich mich unter keiner Bedingung verpflichte, ihre Einwilligung zu Sir Percival’s Wünschen zu verlangen. Mr. Fairlie machte mir seine Complimente über mein »vortreffliches Gewissen,« ungefähr wie er mir, falls wir uns auf einem Spaziergange befunden hätten, sein Compliment über meine »vortreffliche Gesundheit« gemacht haben würde, und schien so weit vollkommen befriedigt, daß er wieder eine Familienverantwortlichkeit von seinen Schultern auf die meinigen gewälzt hatte.
Heute Morgen sprach ich meinem Versprechen gemäß zu Laura. Die Fassung – ich möchte fast sagen, die Unempfindlichkeit – die sie mit solcher Entschlossenheit, seit Sir Percival uns verlassen, bewahrt hat, war dem Schlage einer solchen Nachricht nicht gewachsen. Sie erblaßte und zitterte heftig.
»Noch nicht so bald!« flehte sie. »O, Marianne, nicht so bald!«
Der geringste Wink von ihr genügte mir. Ich stand auf, um das Zimmer zu verlassen, und sofort ihre Sache bei Mr. Fairlie zu vertreten.
Gerade, als meine Hand auf der Thürklinke war, ergriff sie mein Kleid und hielt mich fest.
»Laß mich gehen,« sagte ich; »mir brennt die Zunge, Deinem Onkel zu sagen, daß er und Sir Percival nicht in Allem ihren Willen haben können.«
Sie seufzte bitterlich und hielt noch immer mein Kleid fest.
»Nein!« sagte sie mit matter Stimme. »Es ist zu spät, Marianne – zu spät!«
»Nicht eine Minute zu spät,« entgegnete ich. »Die Frage über den Zeitpunkt ist unsere Frage – und glaube mir, Laura, daß ich meinen vollen Frauenvortheil daraus zu ziehen beabsichtige.«
Während ich sprach, machte ich ihre Hand von meinem Kleide los, aber in demselben Augenblicke schlang sie beide Arme um meine Taille und hielt mich so noch wirksamer gefangen, denn zuvor.
»Es wird uns nur noch mehr Sorge und Verwirrung bereiten,« sagte sie. »Es wird Dich mit meinem Onkel veruneinigen, und Sir Percival wieder mit neuen Klagegründen zu uns bringen«
»Desto besser!« rief ich mit Heftigkeit aus. »Wer kümmert sich um seine Klagegründe? Mußt Du Dir das Herz brechen, um sein Gemüth zu beruhigen? Kein Mann unter der Sonne ist solcher Opfer von uns Frauen würdig. Die Männer! Sie sind die Feinde unserer Unschuld und unseres Friedens – sie schleppen uns fort von der Liebe unserer Eltern und der Freundschaft unserer Schwestern – sie fesseln uns an sich mit Leib und Seele, und ketten unsere hülflosen Leben an die ihrigen, wie sie zwei Hunde zusammenkoppeln. Und was giebt uns der Beste dafür wieder? Laß mich los, Laura – es macht mich wahnsinnig, daran zu denken!«
Thränen – erbärmliche, schwache Weiberthränen des Verdrusses und Zornes füllten meine Augen. Sie lächelte traurig und hielt ihr Taschentuch vor mein Gesicht, um für mich meine Schwäche zu verbergen – die Schwäche, von der sie wußte, daß ich sie mehr als jede andere verachte.
»O Marianne!« sagte sie, »Du weinst! Bedenke, was Du sagen würdest, wenn Du an meiner Stelle, und diese Thränen die meinigen wären. All Deine Liebe, Dein Muth und Deine Aufopferung können nicht verhindern, was ja früher oder später doch geschehen muß. Laß meinen Onkel seinen Willen haben. Laß uns keine Sorgen und Herzschmerzen mehr haben, die irgend ein Opfer von mir verhindern kann. Sage, daß Du bei mir leben willst, Marianne, wenn ich verheirathet bin – und sage weiter Nichts«
Aber ich sagte dennoch noch mehr. Ich drängte die verächtlichen Thränen zurück, die mir keine Erleichterung waren, und sie nur betrübten, und redete und bat dann, so ruhig wie es mir nur möglich war. Es nützte Nichts. Sie ließ mich zweimal mein Versprechen, bei ihr zu leben, wenn sie verheirathet sei, wiederholen, und that dann plötzlich eine Frage, die meinem Kummer und meiner Theilnahme für sie eine neue Richtung gab.
»Als wir in Polesdean waren,« sagte sie, »hattest Du einen Brief, Marianne –«
Ihre veränderte Stimme; das plötzlich veränderte Wesen, mit dem sie das Gesicht abwandte und an meiner Schulter verbarg; die Zögerung, welche sie schweigen ließ, bevor sie noch ihre Frage beendet – Alles dies sagte mir nur zu deutlich, wohin ihre halb ausgesprochene Frage deutete.
»Ich dachte, Laura, daß wir Beide nie wieder von ihm sprechen wollten,« sagte ich, doch ohne Vorwurf.
»Du hattest einen Brief von ihm?« wiederholte sie.
»Ja,« entgegnete ich; »wenn Du darauf bestehst, es zu wissen.«
»Beabsichtigst Du, ihm wieder zu schreiben?«
Ich zögerte. Ich hatte mich gefürchtet, ihr von seiner Abreise zu erzählen oder inwiefern meine Bemühungen, seinen neuen Hoffnungen und Plänen zu Hülfe zu kommen, mit derselben zu thun gehabt. Was konnte ich ihr antworten. Er war hingegangen, wohin ihm auf Monate, vielleicht auf Jahre kein Brief folgen konnte.
»Gesetzt ich beabsichtigte es, Laura, was dann?« sagte ich.
Ihre Wange brannte an meinem Nacken, und ihre Arme zitterten und schlossen sich fester um mich.
»Sage ihm Nichts vom Dreiundzwanzigsten,« flüsterte sie. »Versprich mirs, Marianne – bitte, versprich mir, daß Du selbst meines Namens nicht erwähnen willst, wenn Du das nächste Mal an ihn schreibst.«
Ich gab ihr das Versprechen. Ich weiß keine Worte, um auszudrücken, mit wie kummervollem Herzen ich es gab. Sie nahm augenblicklich ihren Arm von meiner Taille hinweg, ging ans Fenster und schaute, den Rücken mir zugewendet, hinaus. Nach einer Minute sprach sie wieder, doch ohne sich umzuwenden oder mich nur im Geringsten ihr Gesicht sehen zu lassen.
»Gehst Du zu meinem Onkel?« frug sie. »Willst Du ihm sagen, daß ich in jede Anordnung willige, die ihm gut dünkt? Fürchte nicht, mich zu verlassen, Marianne; mir wird besser werden, wenn ich eine kleine Weile allein bleibe.«
Ich ging hinaus. Hätte ich, als ich in den Gang trat, Mr. Fairlie und Sir Percival dadurch, daß ich den kleinen Finger erhob, an die äußersten Enden der Welt versetzen können, so hätte ich ihn erhoben, ohne mich auch nur eine Sekunde lang zu besinnen. Dies eine Mal begünstigte mich mein unglückliches Temperament. Ich wäre gänzlich zusammen gesunken und in einen heftigen Thränenstrom ausgebrochen, wären nicht meine Thränen alle von der Gluth meines Zornes verzehrt worden. So aber trat ich ungestüm in Mr. Fairlie’s Zimmer – rief ihm so barsch wie möglich zu, »Laura willigt in den Dreiundzwanzigsten,« und fuhr wieder hinaus, ohne auf Antwort zu warten.
Ich schlug die Thür heftig hinter mir zu und hoffe, daß ich Mr. Fairlie’s Nervensystem für den heutigen Tag gründlich erschüttert habe.
Den 28. November.
Heute Morgen habe ich Walter’s Abschiedsbrief noch einmal durchgelesen, da sich mir gestern der Zweifel aufdrängte, ob ich auch recht daran thue, Laura seine Abreise zu verheimlichen.
Wenn ich es mir recht überlege, denke ich noch immer, daß ich recht daran gethan. Seine Andeutungen über die Vorbereitungen, welche für diese Expedition nach dem Innern von Amerika gemacht wurden, weisen alle darauf hin, daß die Leiter derselben sie für gefahrvoll hielten. Wenn diese Entdeckung mich schon beunruhigt, wie würde dieselbe da auf sie wirken? Es ist schlimm genug, zu fühlen, daß seine Abreise uns des Freundes beraubt hat, dessen Ergebenheit wir in der Stunde der Noth, wenn diese Stunde kommen und uns hülflos finden sollte, vor allen Andern vertrauen konnten. Aber noch weit schlimmer ist es, zu wissen, daß er den Gefahren eines bösen Climas, eines wilden Landes und einer unruhigen Bevölkerung entgegengegangen ist. Es wäre sicherlich eine grausame Offenheit, Laura ohne die dringendste Nothwendigkeit hiervon zu unterrichten?
Ich bin fast in Zweifel, ob ich nicht eigentlich noch einen Schritt weiter thun und den Brief, damit er nicht etwa eines Tages in unrechte Hände geräth, verbrennen sollte. Nicht allein, daß derselbe in Ausdrücken von Laura spricht, die auf immer ein Geheimniß zwischen mir und dem Schreiber bleiben müssen, sondern er wiederholt auch jenen Verdacht – der so eigensinnig, unbegreiflich und beunruhigend scheint – daß er, seitdem er Limmeridge verlassen, heimlich beobachtet worden. Er behauptet, daß er die Gesichter zweier Männer, die ihm in den Straßen von London wiederholt nachgingen, in der Menge erblickte, welche der Einschiffung der Expedition in Liverpool zusah, und versichert mit Entschiedenheit, daß er in dem Augenblicke, wo er ins Boot stieg, Anna Catherick’s Namen hinter sich aussprechen hörte. Seine eigenen Worte lauten folgendermaßen: »Diese Ereignisse haben eine Bedeutung, sie müssen zu irgend einem Resultate führen. Das Geheimniß, das Anna Catherick betrifft, ist noch nicht aufgeklärt. Ich mag ihr vielleicht auf meinem Pfade nie wieder begegnen, sollten aber Sie ihr begegnen, Miß Halcombe, da machen Sie bessern Gebrauch von der Gelegenheit, als ich von der meinigen machte. Ich spreche nach fester Ueberzeugung, und ich flehe Sie an, sich dessen, was ich sage, zu erinnern.« Dies sind seine eigenen Worte. Er braucht nicht zu befürchten, daß ich sie vergessen werde – meine Erinnerung verweilt nur zu bereitwillig bei jedem Worte Hartright’s, das sich auf Anna Catherick bezieht. Aber es ist gefährlich, den Brief aufzubewahren. Der kleinste Zufall könnte ihn in fremde Hände liefern. Ich kann krank werden, – sterben; es wird besser sein, ihn sogleich zu verbrennen, und so eine Befürchtung weniger zu haben.
Es ist geschehen! Die Asche seines Abschiedsbriefes – des letzten, den er vielleicht je an mich schreiben mag – liegt in wenigen schwarzen Flocken auf dem Kaminherde. Ist dies das traurige Ende jener ganzen traurigen Geschichte? O nein, nicht das Ende – gewiß, gewiß nicht schon das Ende!
Den 29. November.
Die Vorbereitungen zur Heirath haben begonnen. Die Schneiderin hat ihre Aufträge bekommen. Laura ist völlig gleichgültig, völlig unbekümmert um Dinge, die sonst von allen andern das Interesse der Frauen in Anspruch nehmen. Sie hat das Alles mir und der Schneiderin überlassen. Wie anders wäre dies gewesen, falls der arme Walter der Baronet und der ihr vom Vater bestimmte Gemahl gewesen! Wie peinlich und eigen sie da gewesen wäre, und welch’ eine Aufgabe für die beste der Schneiderinnen, sie zufrieden zu stellen.
Den 30. November.
Wir hören täglich von Sir Percival. Die letzte Neuigkeit, die er uns mittheilt, ist die, daß es wohl vier bis sechs Monate dauern wird, ehe die Veränderungen in seinem Hause vollständig beendet werden können. Falls Maler, Tapezierer und Möbelhändler sowohl Glück als Pracht herstellen könnten, so würde ich mich für ihre Fortschritte in Laura’s zukünftiger Häuslichkeit interessiren. So aber ist die einzige Stelle in Sir Percival’s Briefe, welche mich nicht so gleichgültig wie vorher läßt, die, in welcher er von der beabsichtigten Hochzeitsreise spricht. Er schlägt vor, da Laura augenblicklich nicht kräftig ist und der Winter ungewöhnlich strenge zu werden droht, sie nach Rom zu nehmen und bis zu Anfange nächsten Frühlings in Italien zu bleiben. Sollte sie diesen Plan nicht billigen, so sei er ebenso bereit, die Saison in London zuzubringen, und da er selbst kein Haus dort besitze, irgend ein passendes, möblirtes Haus zu dem Ende zu miethen.
Indem ich mich und meine eigenen Gefühle in Bezug hierauf gänzlich unberücksichtigt lasse (was meine Pflicht, zu thun ist), zweifle ich meinerseits nicht an der Schicklichkeit des ersteren dieser Vorschläge. In beiden Fällen ist eine Trennung zwischen Laura und mir unvermeidlich. Wenn sie ins Ausland reisen, wird es eine längere Trennung werden, als wenn sie in London blieben – aber dagegen müssen wir wieder den Vortheil erwägen, der aus einem Aufenthalte in einem milden Clima für Laura’s Gesundheit erwachsen würde, und noch mehr als das berücksichtigen, wie sehr die Ueberraschungen und die Aufregung einer ersten Reise in dem interessantesten Lande der Welt zu ihrer Aufheiterung und Aussöhnung mit ihrem neuen Leben beitragen würde. Sie ist nicht in der Stimmung, dies in den conventionellen Vergnügungen und Aufregungen von London zu finden. Dieselben würden sie den Druck dieser beklagenswerthen Heirath nur noch schwerer fühlen lassen. Ich fürchte den Anfang ihres neuen Lebens mehr, als ich Worte habe, es auszudrücken – aber ich hege einige Hoffnung für sie, wenn sie reist; keine, wenn sie zu Hause bleibt.
Es ist seltsam, wenn ich auf das eben Geschriebene zurückblicke, zu sehen, daß ich von der Heirath und dem Abschiede von Laura schreibe, wie man von einer ausgemachten Sache spricht. Es sieht so kalt und gefühllos aus, der Zukunft so gefaßt entgegenzublicken. Aber was ist zu machen, jetzt, da die Zeit so schnell herankommt? Ehe noch ein Monat verstreicht, wird sie schon seine Laura sein, anstatt die meinige! Seine Laura! Ich bin ebenso wenig im Stande, mir die Idee zu verwirklichen, welche jene beiden Worte enthalten, und ebenso sehr davon überwältigt, als ob ich, anstatt von ihrer Heirath, von ihrem Tode schriebe.
Den 1. December.
Ein sehr, sehr trauriger Tag; ein Tag, den ich ausführlich zu beschreiben nicht das Herz habe. Nachdem ich gestern Abend schwach genug war, es zu verschieben, war ich heute Morgen genöthigt, ihr von Sir Percival’s Vorschlage in Bezug auf die Hochzeitsreise zu sagen.
In der vollen Ueberzeugung, daß ich sie begleiten werde, wohin sie auch gehen möge, war das arme Kind – denn in vielen Dingen ist sie immer nur noch ein Kind – beinah froh über die Aussicht, die Wunder von Florenz, Rom und Neapel zu sehen. Es brach mir fast das Herz, sie hierüber zu enttäuschen und sie angesichts der bittern Wahrheit zu bringen. Ich mußte ihr sagen, daß kein Mann während der ersten Zeit nach seiner Vermählung einen Nebenbuhler – selbst nicht einen weiblichen – in der Zuneigung seiner Frau duldet, was er auch später thun möge. Ich mußte sie warnen, daß meine Aussicht auf dauernden Aufenthalt unter ihrem Dache einzig und allein davon abhänge, daß ich nicht Sir Percival’s Eifersucht errege, indem ich mich beim Beginne ihrer Heirath als Empfängerin der tiefsten Geheimnisse seiner Frau zwischen sie drängte. Tropfenweise mußte ich die entweihende Bitterkeit der Weisheit dieser Welt in dieses reine Herz und unschuldige Gemüth gießen, während sich jedes höhere und bessere Gefühl in mir meiner verhaßten Aufgabe widersetzte. Jetzt ist es vorbei. Sie hat ihre bitteren, unvermeidlichen Lehren empfangen; die Täuschungen ihrer Mädchenzeit sind dahin, und es war meine Hand, die sie ihr rauben mußte. Aber lieber meine Hand, als die seinige, das ist mein einziger Trost.
So ist denn der erste Vorschlag angenommen: sie gehen nach Italien; und ich soll, mit Sir Percival’s Genehmigung, meine Vorkehrungen treffen, bei ihrer Rückkehr nach England bei ihnen zu wohnen. Mit andern Worten, ich soll zum ersten Male in meinem Leben um eine persönliche Vergünstigung bitten, und zwar von dem Manne sie mir erbitten, dem ich von allen Andern am ungernsten wirklich verpflichtet zu sein wünsche. Nun gut! Ich glaube, für Laura könnte ich sogar noch mehr thun.
Den 2. December.
Da ich zurückblicke, finde ich, daß ich immer in herabsetzenden Ausdrücken von Sir Percival spreche. Nach der jetzigen Wendung der Dinge muß und will ich dieses Vorurtheil gegen ihn abwerfen. Ich kann mir nicht denken, wie es sich zuerst bei mir eingeschlichen haben kann; denn in früheren Zeiten war es doch nicht da.
Ob es Laura’s Widerstreben, seine Frau zu werden, war, das es in mir hervorrief? oder habe ich Hartright’s sehr begreifliche Vorurtheile auf mich wirken lassen? Läßt jener Brief von Anna Catherick noch immer ein lauerndes Mißtrauen gegen Sir Percival in meinem Gemüthe zurück, ungeachtet seiner Erklärung und ungeachtet des Beweises, den ich von der Wahrheit derselben in Händen habe? Ich kann mir meine eigenen Gefühle nicht erklären: aber das Eine, was mir ganz klar, ist, daß es meine Pflicht, jetzt doppelt meine Pflicht ist, Sir Percival nicht durch unbegründeten Argwohn Unrecht zu thun. Wenn es mir zur Gewohnheit geworden, immer noch auf ungünstige Weise von ihm zu schreiben, so muß und will ich es mir wieder abgewöhnen, und wenn ich deshalb dieses Tagebuch schließen müßte, bis die Heirath vorüber ist! Ich bin ernstlich unzufrieden mit mir – ich will heute nicht weiter schreiben.
– – – – – – – – – – –
Den 16. December.
Es sind volle vierzehn Tage vergangen, ohne daß ich diese Blätter geöffnet habe. Ich habe mein Tagebuch lange genug unberührt gelassen, um, wie ich hoffe, mit besseren, vorurtheilsfreieren Gesinnungen in Bezug auf Sir Percival zu ihm zurückzukehren.
Von den beiden letzverflossenen Wochen habe ich nicht viel zu berichten. Die Kleider sind fast alle fertig und die neuen Reisekoffer bereits aus London angekommen. Meine arme, liebe Laura verläßt mich den ganzen Tag kaum eine Minute; und gestern Abend, als wir Beide nicht schlafen konnten, kam sie zu mir in mein Bett, um mit mir zu plaudern. »Ich werde Dich bald verlieren, Marianne,« sagte sie; »ich muß Dich genießen, so lange ich Dich noch haben kann.«
Die Heirath wird in der Kirche zu Limmeridge stattfinden, und es ist, Gott sei Dank, Niemand aus der Nachbarschaft zu der Feierlichkeit eingeladen. Unser einziger Gast wird unser alter Freund Mr. Arnold sein, der von Polesdean kommen wird, um Vaterstelle bei der Braut zu vertreten, da ihr Onkel viel zu zarter Gesundheit ist, um sich in so unbarmherzigem Wetter, wie wir jetzt haben, hinauszuwagen. Wäre ich nicht fest entschlossen, von diesem Tage an nur die frohe Seite unserer Aussichten zu sehen, so würde mich die traurige Abwesenheit jedes männlichen Verwandten in Laura’s wichtigster Lebensstunde sehr verstimmt und argwöhnisch gegen die Zukunft machen. Aber ich bin mit aller Verstimmtheit und allem Argwohn fertig – das heißt in soweit ich weder über die eine, noch den andern ferner in diesen Tagen schreiben werde.
Sir Percival wird morgen erwartet. Er erbot sich, falls wir ihn nach der strengsten Etiquette zu behandeln wünschten, an unsern Geistlichen zu schreiben und ihn während seines kurzen Aufenthaltes in Limmeridge vor der Heirath um die Gastfreundschaft des Pfarrhauses zu bitten. Unter den Umständen hielten weder Mr. Fairlie, noch ich es für nöthig, uns mit kleinlichen Formen und Ceremonien zu befassen. In unserm wilden Marschlande und in diesem großen, einsamen Hause dürfen wir wohl beanspruchen, den alltäglichen Hergebrachtheiten, welche die Leute anderswo binden, enthoben zu sein. Ich schrieb an Sir Percival, um ihm für sein höfliches Erbieten zu danken und ihn zu bitten, seine alten Zimmer wie gewöhnlich in Limmeridge House zu beziehen.
Den 17. December.
Er langte heute an und sah, wie mir’s schien, etwas abgemagert und sorgenvoll aus, sprach und lachte indessen wie ein Mann in bester Laune. Er brachte einige wirklich schöne Kleinodien als Geschenke mit, welche Laura mit Freundlichkeit und wenigstens äußerlicher Fassung entgegennahm. Das einzige Anzeichen von dem Kampfe, den es sie kosten muß, in einer so schweren Zeit wenigstens, den Schein der Fassung zu bewahren, entdeckte ich in ihrem plötzlichen Widerwillen, allein gelassen zu werden. Anstatt sich wie sonst in ihr Zimmer zurückzuziehen, scheint sie nur mit Zagen hineinzugehen. Als ich heute nach dem Gabelfrühstück hinauf ging, um mich zu einem Spaziergange zu rüsten, erbot sie sich, mich zu begleiten. Und vor Tische wieder öffnete sie die Thür, die unsere Zimmer trennt, damit wir plaudern könnten, während wir Toilette machten.
»Laß mich fortwährend Etwas thun,« sagte sie, »laß mich immer in Gesellschaft sein. Laß mir keine Gelegenheit zum Denken, das ist Alles, warum ich Dich bitte, Marianne – laß mir keine Gelegenheit zum Denken.«
Diese traurige Veränderung in ihr machte sie nur um so anziehender für Sir Percival. Er beutet sie, wie ich sehen kann, zu seinem Vortheile aus. Es liegt eine fieberhafte Röthe auf ihren Wangen, ein fieberhafter Glanz in ihren Augen, die er als eine Rückkehr ihrer Schönheit und ihres Frohsinns willkommen heißt. Sie sprach heute bei Tische mit einer so falschen, so unpassenden Lustigkeit und Sorglosigkeit, daß ich mich heimlich sehnte, sie zum Schweigen zu bewegen oder fortzuführen. Sir Percival schien unbeschreiblich erfreut und überrascht darüber. Die Sorge, die ich bei seiner Ankunft auf seinem Gesichte bemerkt, verschwand gänzlich aus demselben, und er erschien selbst meinen Augen um wenigstens zehn Jahre jünger, als er wirklich ist.
Es ist kein Zweifel – obgleich ein sonderbarer Eigensinn mich verhindert, es zu sehen – es ist kein Zweifel, daß Laura’s künftiger Gemahl ein sehr schöner Mann ist. Erstens liegt ein großer Vortheil in regelmäßigen Zügen – und er hat sie. Glänzende braune Augen sind bei Männern sowohl, wie bei Frauen sehr anziehend, und auch die hat er. Selbst Kahlheit, wenn sie von der Stirn ausgeht (wie es bei ihm der Fall) ist bei einem Manne eher kleidsam, als nicht, denn sie erhöht die Stirn und den Ausdruck der Intelligenz im Gesichte. Anmuthige, unbefangene Bewegungen, feines Wesen, fließende Conversation – alles unstreitig Vorzüge, und er besitzt sie alle. Mr. Gilmore, in seiner Unkenntniß von Laura’s Geheimnissen, ist gewiß nicht zu tadeln, daß er sich über ihre Reue über dieses Verlöbniß verwunderte. Jeder Andere an seiner Stelle hätte, unseres guten alten Freundes Ansicht getheilt. Falls man mich in diesem Augenblicke früge, welche Fehler ich an Sir Percival entdeckt habe, so könnte ich nur zwei andeuten. Der eine: seine fortwährende Unruhe und Erregbarkeit, welche ganz begreiflicherweise aus seinem ungewöhnlich energischen Charakter entspringen mag. Der andere: seine kurze, scharfe, verächtliche Manier, wenn er mit Dienstboten spricht, was wahrscheinlich eine bloße Angewohnheit ist. Nein, ich kann’s nicht bestreiten, und ich will’s nicht bestreiten: Sir Percival ist ein sehr schöner und ein sehr angenehmer Mann. So! jetzt habe ich es endlich geschrieben,und freue mich, daß ich fertig damit bin
Den 18. December.
Da ich mich heute Morgen traurig und niedergeschlagen fühlte, ließ ich Laura bei Mrs. Vesey, um einen meiner schnellen Mittagsspaziergänge zu machen, die ich seit einiger Zeit zu oft ausgesetzt hatte. Ich schlug den trocknen, offenen Weg über die Haide, der nach Todd’s Ecke führt, ein. Nachdem ich ungefähr eine halbe Stunde gegangen, war ich unaussprechlich erstaunt, Sir Percival mir aus der Richtung des Gehöftes entgegenkommen zu sehen. Er ging sehr schnell und schwang seinen Stock, den Kopf hoch erhoben wie gewöhnlich, und mit offnem Jagdrocke, der im Winde flatterte. Als wir zusammenkamen, wartete er nicht ab, daß ich ihn befragte, sondern theilte mir sogleich mit, daß er nach dem Gehöfte gewesen, um sich zu erkundigen, ob Mr. und Mrs. Todd seit seinem letzten Besuche in Limmeridge nichts von Anna Catherick gehört hätten.
»Sie fanden natürlich, daß sie Nichts weiter von ihr wußten?« sagte ich.
»Nicht das Geringste,« entgegnete er. »Ich fange an, ernstlich zu befürchten, daß wir sie verloren haben. Wissen Sie vielleicht,« fuhr er fort, indem er mir sehr aufmerksam ins Gesicht sah, »ob der Maler – Mr. Hartright im Stande ist, uns weitere Auskunft zu geben?««
»Er hat weder von ihr gehört noch sie gesehen, seit er Cumberland verlassen hat,« sagte ich.
»Sehr traurig,« sagte Sir Percival, indem er sprach wie ein Mann, der sich unangenehm getäuscht sieht, und dabei aussah, wie ein Mann, der sich erleichtert fühlt. »Es ist unmöglich zu berechnen, welche Unfälle dem armen Geschöpfe zugestoßen sein mögen. Es verdrießt mich unaussprechlich, daß es allen meinen Bemühungen mißlungen, sie der Sorgfalt und dem Schutze zurückzugeben, dessen sie so dringend bedarf.«
Diesmal sah er wirklich verdrossen aus. Ich sagte ein paar theilnehmende Worte und dann sprachen wir auf dem Heimwege von anderen Dingen. Hat nicht mein zufälliges Begegnen mit ihm auf der Haide einen neuen günstigen Zug seines Charakters offenbart? War es nicht sehr rücksichtsvoll von ihm, so kurz vor seiner Heirath an Anna Catherick zu denken und den langen Weg nach Todd’s Ecke zu gehen, da er die Zeit in Laura’s Gesellschaft so viel angenehmer hätte zubringen können? Wenn man bedenkt, daß sein Beweggrund hierzu ein rein menschenfreundlicher sein mußte, so beweist sein Benehmen unter den Umständen viel Wohlwollen und verdient das größte Lob. Nun gut! ich gebe ihm das größte Lob – und damit Punktum.
Den 19. December.
Neue Entdeckungen in der unerschöpflichen Mine von Sir Percival’s Tugenden.
Ich spielte heute auf den in Vorschlag gebrachten Plan meines Aufenthaltes bei seiner Frau an, nachdem er sie nach England zurückgebracht habe. Ich hatte kaum den ersten Wink in dieser Richtung fallen lassen, als er mit Wärme meine Hand ergriff und sagte, ich habe gerade das ausgesprochen, was er von Herzen mir vorzuschlagen gewünscht habe. Ich sei die Gefährtin von allen Anderen, die er aufrichtig seiner Frau zu verschaffen wünsche, und er bitte mich, versichert zu sein, daß ich ihm eine ewige Gunst erwiesen, indem ich ihm den Vorschlag gemacht, nach ihrer Heirath meinen Aufenthalt bei Laura zu nehmen, gerade wie wir bisher zusammen gelebt hatten.
Als ich ihm in ihrem und meinem Namen für seine rücksichtsvolle Güte gegen uns Beide gedankt hatte, gingen wir zunächst auf den Gegenstand seiner Hochzeitsreise über, und sprachen von der englischen Gesellschaft in Rom, in die Laura eingeführt werden sollte. Er erwähnte mehrerer Namen von Bekannten, die er diesen Winter dort zu treffen erwartete. Sie waren, so viel ich mich entsinnen kann, alle englisch, mit einer Ausnahme. Diese eine Ausnahme war Graf Fosco.
Die Erwähnung Graf Fosco’s und die Entdeckung, daß er und seine Frau wahrscheinlich mit den Neuvermählten auf dem Festlande zusammentreffen werden, stellt Laura’s Heirath zum ersten Male in ein entschieden günstiges Licht. Es mag dies vielleicht eine Familienfehde enden. Bisher hat es die Gräfin Fosco beliebt, ihre Verpflichtungen als Laura’s Tante aus bloßem Grolle gegen den verstorbenen Mr. Fairlie wegen seines Verfahrens in Bezug auf das Legat zu vergessen. Jetzt aber kann sie bei diesem Betragen nicht länger bleiben. Sir Percival und der Graf sind alte und vertraute Freunde und ihre Frauen haben keine andere Wahl, als sich auf höflichem Fuße zu begegnen. Die Gräfin Fosco war zu ihrer Mädchenzeit eines der impertinentesten Frauenzimmer, die mir vorgekommen sind, launisch, anmaßend und eitel bis zur Albernheit. Falls es ihrem Gemahle gelungen, sie zu Verstande zu bringen, verdient er die Dankbarkeit jedes Mitgliedes der Familie, und er mag mit der meinigen den Anfang machen.
Ich werde neugierig, den Grafen kennen zu lernen. Er ist der vertrauteste Freund von Laura’s künftigem Gemahle, und erregt als solcher mein lebhaftestes Interesse. Weder Laura noch ich haben ihn jemals gesehen. Alles, was ich von ihm weiß, ist, daß seine zufällige Gegenwart eines Tages vor vielen Jahren auf den Stufen der Trinità del Monte zu Rom Sir Percival half, einem Raub- und Mordanfalle zu entgehen, gerade in dem kritischen Momente, wo er in der Hand verwundet worden und im nächsten im Herzen hätte getroffen sein können. Auch entsinne ich mich, daß der Graf bei Gelegenheit von Mr. Fairlie’s – des verstorbenen – lächerlichen Einwürfen gegen die Heirath seiner Schwester, ihm einen sehr gemäßigten und verständigen Brief über die Angelegenheit schrieb, der, wie ich mich fast zu sagen schäme, unbeantwortet blieb. Dies ist Alles, was ich von Sir Percival’s Freunde weiß. Ob er wohl je nach England kommen wird? Ob ich ihn wohl werde leiden können?
Meine Feder ergeht sich in bloßen Muthmaßungen. Um zu nüchternen Thatsachen zurückzukehren. Es ist eine Thatsache, daß Sir Percival’s Aufnahme meines gewagten Vorschlages, bei seiner Frau zu leben, mehr als gütig, daß sie beinah liebevoll war. Ich bin überzeugt, daß Laura’s Gemahl keine Ursache haben wird, sich über mich zu beklagen, wenn ich nur fortfahren kann, wie ich begonnen habe. Ich habe ihn bereits als schön, unterhaltend, rücksichtsvoll gegen Unglückliche und gütig gegen mich beschrieben. Ich erkenne mich selbst wirklich kaum wieder in meinem neuen Charakter als Sir Percival’s wärmste Freundin.
Den 20. December.
Ich hasse Sir Percival! Ich leugne entschieden, daß er schön ist. Ich finde ihn unbeschreiblich widerwärtig, durchaus rücksichtslos und ohne alle Herzensgüte. Gestern Abend kamen die Karten der Neuvermählten an. Laura öffnete das Paquet, und sah zum ersten Male ihren neuen Namen gedruckt. Sir Percival sah vertraulich über ihre Schulter auf die Karte, auf der Miß Fairlie bereits in Lady Glyde verwandelt war, lächelte mit der unerträglichsten Selbstgefälligkeit und flüsterte ihr Etwas ins Ohr. Ich weiß nicht, was es war, Laura wollte mir’s nicht sagen, aber ich sah sie so tödtlich erbleichen, daß ich sie ohnmächtig werden zu sehen erwartete. Er nahm keine Notiz von der Veränderung und schien sich auf barbarische Weise unbewußt, Etwas gesagt zu haben, daß ihr weh’ thun könne. Alle meine alten feindseligen Gefühle gegen ihn erwachten augenblicklich wieder, und die vielen Stunden, die seitdem vergangen sind, haben Nichts dazu beigetragen, den Eindruck wieder zu verwischen. Ich bin unbilliger und ungerechter denn je. In drei Worten – wie geläufig sie meiner Feder werden! – in drei Worten: ich hasse ihn.
Den 21. December.
Haben mich die Sorgen dieser ängstlichen Zeit endlich etwas verwirrt gemacht? Ich habe während der letzten paar Tage in einem Tone der Sorglosigkeit geschrieben, die ich, Gott weiß, weit entfernt bin zu fühlen, und die zu entdecken mir bei meinem Rückblicke in mein Tagebuch ein ziemlich unangenehmes Gefühl verursacht hat.
Vielleicht habe ich während der letzten Wochen Laura’s fieberhafte Aufregung angenommen. In dem Falle hat mich der Anfall bereits wieder verlassen und mich in einen sehr sonderbaren Gemüthszustand versetzt. Es hat sich mir seit gestern Abend die hartnäckige Idee aufgedrängt, daß sich noch Etwas ereignen wird, um die Heirath zu verhindern. Was hat diesen sonderbaren Gedanken in mir hervorgerufen? Ist es der indirekte Erfolg meiner Besorgnisse um Laura’s Zukunft? Oder entstand er etwa aus der wachsenden Unruhe und Aufregung, die ich allerdings, da der Hochzeitstag näher und näher rückt, an Sir Percival bemerkt habe? Ich kann’s nicht bestimmen. Ich weiß nur, daß ich die Idee habe; ist es nicht unter den Umständen die albernste Idee, die je einem Weibe in den Kopf kam? – aber, was ich auch thun mag, ich kann ihren Ursprung nicht entdecken.
Den 22. December.
Ein Tag solcher Verwirrung und solchen Jammers, wie ich ihn nie wieder zu erleben hoffe!
Die gute Mrs. Vesey, die wir in letzter Zeit Alle zu wenig beachtet und zu sehr vergessen haben, verursachte uns gleich zuerst einen traurigen Morgen. Sie hat sich seit vielen Monaten heimlich mit der Anfertigung eines warmen Shawls von Shetlandwolle für ihre liebe Schülerin beschäftigt, eine erstaunliche Arbeit für eine Frau in ihrem Alter und von ihren Gewohnheiten. Das Geschenk wurde heute Morgen überreicht, und meine arme, warmherzige Laura verlor alle Fassung, als die zärtliche alte Freundin und Hüterin ihrer mutterlosen Kindheit den Shawl stolz um ihre Schultern legte. Mir blieb kaum Zeit, sie Beide zu beruhigen oder meine eignen Thränen zu trocknen, als ich schon zu Mr. Fairlie berufen wurde, um von ihm eine lange Mittheilung über die Vorkehrungen zu hören, die er zur Bewahrung seiner Ruhe am Hochzeitstage getroffen hatte.
»Die liebe Laura« sollte sein Geschenk – einen armseligen Ring, mit ihres zärtlichen Onkels Haar statt eines kostbaren Steines geziert und inwendig eine herzlose französische Inschrift über verwandte Gefühle und ewige Freundschaft tragend, – »die liebe Laura« sollte diesen zärtlichen Tribut sofort aus meinen Händen empfangen, so daß sie Zeit haben möge, sich von der Gemüthsbewegung, die ihr das Geschenk verursachen würde, zu erholen, ehe sie sich in ihres Onkels Gegenwart begebe. »Die liebe Laura« sollte ihm heute Abend einen kleinen Besuch abstatten und die Güte haben, keine Scene zu machen. »Die liebe Laura« sollte ihm morgen früh in ihrem Brautkleide noch einen kleinen Besuch abstatten und abermals die Güte haben, keine Scene zu machen. »Die liebe Laura« sollte nochmals, zum dritten Male, zu ihm kommen, ehe sie abreise, aber ohne sein Gemüth dadurch aufzuregen, daß sie ihm sagte, wann sie reisen werde, und ohne Thränen – »im Namen der Barmherzigkeit, im Namen alles Dessen, liebe Marianne, was am zärtlichsten, entzückendsten und gefaßtesten ist, ohne Thränen!« Ich war so entrüstet über diese erbärmliche, selbstsüchtige Narrheit zu einer solchen Zeit, daß ich jedenfalls Mr. Fairlie’s Nerven durch einige der bittersten, rauhesten Wahrheiten zu erschüttern Lust gehabt hätte, die er je in seinem Leben gehört hat, wäre ich nicht in demselben Augenblicke durch Mr. Arnold’s Ankunft zu neuen Pflichten unten im Hause abgerufen worden.
Der Rest des Tages ist nicht zu beschreiben. Ich glaube, daß kein Mensch im ganzen Hause wirklich weiß, wie derselbe verging. Die Confusion kleiner, durcheinander geworfener Ereignisse verwirrte Alle. Es kamen Kleider an, welche vergessen worden waren; da gab es Koffer zu packen, auszupacken und wieder einzupacken; Geschenke kamen an von fernen und nahen Bekannten, hohen und niedrigen Freunden. Wir waren Alle in einer unnöthigen Hast, Alle voll aufgeregter Erwartung des morgenden Tages. Sir Percival namentlich war zu unruhig, um nur fünf Minuten an einer Stelle zu bleiben. Sein trockner, kurzer Husten quälte ihn mehr denn je. Er ging den ganzen Tag ein und aus und schien mit einemmale so neugierig zu werden, daß er sogar die Fremden ausfragte, die mit Botschaften zum Hause kamen. Man füge zu all Diesem den einen Gedanken in Laura’s und meinem Herzen hinzu, daß wir uns morgen trennen sollten, und die gespenstische Furcht, die Keine von uns aussprach, daß diese unselige Heirath sich als der eine verderbenbringende Fehler ihres Lebens und der hoffnungslose Schmerz des meinigen erweisen möge. Zum ersten Male während der vielen Jahre unseres vertrauten Umganges vermieden wir fast, einander anzusehen, und vermieden es auf stillschweigende Uebereinkunft, nur ein einziges Mal während des ganzen Abends mit einander allein zu sein. Ich kann nicht länger dabei verweilen. Welch künftige Leiden mir auch noch bestimmt sein mögen, auf diesen zweiundzwanzigsten December werde ich immer als auf den trostlosesten, kummervollsten Tag meines Lebens zurückblicken.
Ich schreibe diese Zeilen lange nach Mitternacht in der Einsamkeit meines Zimmers, nachdem ich eben heimlich Laura in ihrem hübschen weißen Bettchen betrachtet habe, dem Bettchen, in dem sie seit ihrer Kindheit geschlafen hat. Da lag sie, nicht ahnend, daß ich sie betrachtete, ganz ruhig, ruhiger als ich zu hoffen gewagt, aber nicht schlafend. Der Schimmer des Nachtlichtes zeigte mir, daß ihre Augen nur halb geschlossen waren und zwischen den Lidern glänzten Thränenspuren. Mein kleines Andenken, Nichts als eine kleine Broche, lag auf dem Tischchen neben ihrem Bett und daneben ihr Gebetbuch und ihres Vaters Miniaturbildchen, das sie mitnimmt, wohin sie auch gehen mag. Ich stand einen Augenblick hinter ihrem Kissen und blickte auf sie herab, wie sie dalag und der eine Arm so weiß auf der weißen Decke ruhte – so still, so sanft athmend, daß selbst die Spitzen an ihrem Nachtkleide nicht einmal zitterten, ich stand und schaute sie an, wie ich sie zu tausend Malen angeschaut, und wie ich sie niemals wiedersehen werde – und kehrte dann leise in mein Zimmer zurück. Mein einziges Lieb! wie verlassen Du bist trotz all Deines Reichthums und all Deiner Schönheit! Der eine Mann, der sein Herzblut hergeben würde, um Dir zu dienen, ist weit von Dir in dieser stürmischen Nacht umhergetrieben auf der wüthenden See. Wer bleibt Dir sonst noch? Kein Vater, kein Bruder, kein lebendes Wesen, außer einem hülflosen, nutzlosen Weibe, das diese traurigen Zeilen schreibt und für Dich den Morgen erwartet, voll Kummer, den sie nicht stillen, voll Zweifel, die sie nicht überwinden kann. O, welch ein Schatz soll morgen in jenes Mannes Hände gegeben werden! Wenn er es jemals vergißt; wenn er je ein Haar ihres Hauptes verletzt!
Den 23. December.
Sieben Uhr. Ein wilder, rauher Morgen. Sie ist soeben aufgestanden und ist wohler und gefaßter, da die Zeit gekommen ist, als sie gestern war.
Zehn Uhr. Sie ist angekleidet. Wir haben einander umarmt und versprochen, nicht den Muth zu verlieren. Ich bin einen Augenblick auf mein Zimmer gekommen. In dem Tumulte und der Verwirrung meiner Gedanken bleibt mir noch immer diese sonderbare Idee, daß sich Etwas ereignen wird, um die Heirath zu verhindern. Hat er etwa dasselbe Gefühl? Ich sah ihn durch’s Fenster unruhig zwischen den an der Thür haltenden Wagen hin und her gehen. – Wie kann ich nur so thöricht schreiben! Die Heirath ist gewiß. In weniger als einer halben Stunde brechen wir nach der Kirche auf.
Elf Uhr. Es ist Alles vorüber. Sie sind verheirathet.
Drei Uhr. Sie sind fort! Ich bin blind vom Weinen – ich kann nicht weiter schreiben. –
– – – – – – – – – – –
1 - Die Stellen, welche hier und anderswo in Miß Halcombe’s Tagebuche ausgelassen worden, sind nur solche, die auf keine Weise Miß Fairlie oder irgend eine andere Person, mit denen sie in dieser Erzählung in Berührung kommt, betreffen.
Zweiter Band.
Aus Miß Halcombe’s Tagebuche. (Fortsetzung.)
Blackwater Park in Hampshire. Den 27. Juni.
Sechs Monate, die vergangen sind, sechs lange, einsame Monate, seit Laura und ich uns zuletzt gesehen!
Wie viele Tage habe ich noch zu warten? Nur einen noch! Morgen am Achtundzwanzigsten kehren die Reisenden nach England zurück. Ich kann kaum an mein Glück glauben; ich kann mir kaum vorstellen, daß die nächsten vierundzwanzig Stunden die letzten meiner Trennung von Laura sein sollen! Sie ist den ganzen Winter über mit ihrem Manne in Italien und darauf in Tyrol gewesen. Sie kommen in Begleitung von Graf Fosco und seiner Frau zurück, die sich in der Umgegend von London niederzulassen beabsichtigen und versprochen haben, die Sommermonate in Blackwater Park zuzubringen, bis sie eine passende Wohnung gefunden haben. Solange nur Laura wiederkommt ist mir’s einerlei, wer noch sonst mit kommt. Sir Percival mag sein Haus meinetwegen vom Erdgeschosse bis unter’s Dach mit Gästen anfüllen, wenn nur seine Frau und ich noch zusammen darin wohnen dürfen.
Inzwischen bin ich hier in Blackwater Park etablirt, – »dem alten und interessanten Landsitze« (wie die Grafschafts-Chronik mich freundlichst unterrichtet) »von Sir Percival Glyde, Baronet,« – und zukünftigem Aufenthaltsorte (wie ich jetzt auf eigne Verantwortung hinzufügen kann) der einfachen Marianne Halcombe, ledig, augenblicklich in einem gemüthlichen kleinen Wohnzimmer sitzend, neben sich eine Tasse Thee und um sich herum all ihr irdisches Hab und Gut, enthalten in drei Reisekoffern und einem Nachtsacke.
Ich verließ Limmeridge gestern Morgen, nachdem ich den Tag zuvor Laura’s lieben, guten Brief aus Paris erhalten hatte. Ich war ungewiß gewesen, ob ich in London oder in Hampshire mit ihnen zusammentreffen sollte, aber in diesem letzten Briefe sagte sie mir, daß Sir Percival in Southampton zu landen und von da gleich nach seinem Landsitze zu reisen beabsichtige. Er hat so viel Geld im Auslande ausgegeben, daß ihm nicht genug übrig bleibt, um den Rest der Saison in London zuzubringen, und hat sparsamerweise beschlossen, den Sommer und Herbst ruhig in Blackwater zu bleiben. Laura hat mehr als hinreichend Aufregung und Abwechselung gehabt, und freut sich auf die ländliche Ruhe und Zurückgezogenheit, die ihres Mannes Umsicht ihr verschafft. Was mich betrifft, so bin ich bereit, überall glücklich zu sein, solange ich nur bei ihr sein kann. Demzufolge sind wir Alle zum ersten Anfange auf verschiedene Weise zufrieden.
Vorige Nacht schlief ich in London und wurde dort heute so lange durch allerlei Besuche und Geschäfte abgehalten, daß ich erst nach dem Dunkelwerden in Blackwater anlangte.
Nach meinen bis jetzt empfangenen unbestimmten Eindrücke zu urtheilen, ist es ganz das Gegentheil von Limmeridge. Das Haus steht auf einer ganz flachen Ebene und ist rings von Bäumen eingeschlossen oder vielmehr erstickt, wie ich mit meinen nordländischen Begriffen es fast nennen möchte. Ich habe noch Niemanden gesehen, als den Diener, der mir die Thür öffnete, und die Haushälterin, eine sehr aufmerksame, höfliche Frau, die mich auf mein Zimmer führte und mir meinen Thee brachte. Ich habe ein hübsches kleines Wohnzimmer mit Schlafgemach am Ende eines langen Corridors in der ersten Etage. Die Zimmer der Dienerschaft und noch einige Fremdenzimmer sind in der zweiten Etage und alle Wohnzimmer im Erdgeschosse. Ich habe noch keins von ihnen gesehen und weiß noch Nichts von dem Hause, ausgenommen, daß der eine Flügel fünfhundert Jahre alt sein soll, daß es einst von einem Wallgraben umzogen war und daß es seinen Namen Blackwater von einem kleinen See im Parke erhalten hat.
Es hat soeben auf gespenstische, feierliche Weise von dem kleinen Thurme über dem Centrum des Hauses, den ich bei meiner Ankunft gesehen, elf Uhr geschlagen. Dies hat einen großen Hund erweckt, der irgendwo um eine Ecke herum ganz jämmerlich heult und gähnt. Ich höre das Echo von hallenden Schritten in den Gängen unter mir und das Geräusch des Vorschiebens und Schließens von eisernen Riegeln und Stangen an der Hausthür. Die Dienerschaft ist augenscheinlich im Begriffe; zu Bette zu gehen. Soll ich ihrem Beispiele folgen?
Nein; ich bin nicht halb schläfrig genug. Schläfrig, sage ich? Mir ist, als ob ich im ganzen Leben die Augen nicht wieder schließen würde. Die bloße Erwartung, morgen das liebe Gesicht wiederzusehen und die bekannte Stimme wieder zu hören erhält mich in fortwährender fieberhafter Aufregung. Wenn ich die Privilegien eines Mannes hätte, da ließ ich mir sofort Sir Percival’s bestes Pferd satteln und sprengte in einem Nachtgallopp davon nach Osten zu, der aufgehenden Sonne entgegen, ich ritt im langen, schweren, ununterbrochenen, stundenlangen Galopp dahin, ein Ritt wie der des berüchtigten Straßenräubers zu York. Da ich aber blos ein Weib und deshalb auf Lebenszeit zu Stillsitzen, Schicklichkeiten und Schleppröcken verurtheilt bin, muß ich versuchen, der Haushälterin keinen Anstoß zu geben und mich auf irgend eine schwächliche weibliche Art und Weise zu beruhigen
An Lesen ist nicht zu denken, ich kann meine Aufmerksamkeit nicht auf ein Buch fesseln. Ich will sehen, ob ich mich nicht schläfrig schreiben kann. Ich habe mein Tagebuch seit einiger Zeit sehr vernachlässigt. Was kann ich mir, jetzt, da ich an der Schwelle eines neuen Lebens stehe, von den Personen, Ereignissen und Wechselfällen der letzten sechs Monate zurückrufen, dem langen, traurigen, leeren Zeitraume seit Laura’s Hochzeitstage?
Walter Hartright steht in meiner Erinnerung obenan und geht zuerst in der schattenhaften Prozession meiner abwesenden Lieben an mir vorüber. Ich erhielt ein paar Zeilen von ihm, die er gleich nach ihrer Landung in Honduras und etwas heiterer und hoffnungsvoller geschrieben hatte. Etwa einen Monat oder sechs Wochen später sah ich einen Auszug aus einer amerikanischen Zeitung, welcher das Aufbrechen der Abenteurer nach ihrer Reise landeinwärts beschrieb. Man sah sie zuletzt, als sie einen wilden Urwald betraten, Jeder mit seiner Flinte auf der Schulter und sein Gepäck hinter sich tragend. Seitdem hat man alle Spur von ihnen verloren. Ich habe keine Zeile wieder von Walter gesehen, noch ist seitdem die kleinste Nachricht über die Expedition in den öffentlichen Blättern erschienen.
Ueber dem Geschick von Anna Catherick und ihrer Gefährtin Mrs. Clements schwebt noch immer dasselbe undurchdringliche Dunkel. Man hat von Keiner von Beiden je wieder etwas gehört. Ob sie im Lande sind oder in der Fremde, ob lebend oder todt, kein Mensch weiß es. Sogar Sir Percival’s Advokat hat alle Hoffnung und zugleich alle ferneren Nachforschungen aufgegeben.
Unserm guten alten Freunde, Mr. Gilmore, ist ein trauriges Hinderniß in seinem thätigen Berufsleben entgegengetreten. Zu Anfange des Frühlings hörten wir zu unserer Bestürzung, daß man ihn bewußtlos an seinem Pulte gefunden und die Aerzte erklärt haben, daß es ein Schlagflußanfall sei. Er hatte längst über Blutandrang und Eingenommenheit des Kopfes geklagt, und sein Arzt hatte ihn vor den Folgen gewarnt, die nicht ausbleiben könnten, falls er fortfahre, früh und spät zu arbeiten, als ob er noch ein junger Mann sei. Die Folge davon ist nun, daß ihm entschiedene Verordnungen ertheilt sind, auf wenigstens ein Jahr nicht wieder auf sein Bureau zu gehen und Erholung für Geist und Körper in gänzlich veränderter Lebensweise zu suchen. Das Geschäft wird demgemäß von seinem Compagnon fortgesetzt, und er selbst ist augenblicklich in Deutschland, wo er Verwandte hat, die als Kaufleute ansässig sind. Auf diese Weise haben wir noch einen treuen, zuverlässigen Freund verloren, doch, wie ich hoffe, nur auf kurze Zeit.
Die gute Mrs. Vesey reiste bis London mit mir. Wir konnten sie unmöglich zu der Einsamkeit in Limmeridge verurtheilen, nachdem Laura und ich Beide das Haus verlassen, und haben ausgemacht, daß sie bei einer unverheiratheten Schwester, die eine Pensionsanstalt in Clapham hat, leben soll. Sie soll im Herbste herkommen und ihre Schülerin, ich möchte fast sagen ihre angenommene Tochter, besuchen. Ich begleitete die gute alte Dame, bis ich sie an ihrem Bestimmungsorte in Sicherheit sah, und überließ sie der Sorgfalt ihrer Schwester in stiller Glückseligkeit über die Aussicht, Laura in wenigen Monaten wiederzusehen.
Was Mr. Fairlie betrifft, so glaube ich mich keiner Ungerechtigkeit schuldig zu machen, wenn ich sage, daß es ihm eine außerordentliche Erleichterung war, sein Haus von allen Frauenzimmern befreit zu sehen. Die Idee, daß er seine Nichte vermißt hätte, ist vollkommen widersinnig, er pflegte sie in früheren Zeiten monatelang nicht zu sehen, und was Mrs. Vesey und mich betrifft, so erlaube ich mir, seine Versicherung, daß ihm unsere Abreise das Herz breche, für das Bekenntniß seines innern Jubels, uns los zu werden, anzusehen. Seine jüngste Laune ist die, fortwährend zwei Photographen von den Schätzen und Merkwürdigkeiten in seinem Besitze Sonnenbilder abnehmen zu lassen. Eine vollständige Copie dieser Sammlung von Photogrammen soll auf die feinste Kartenpappe geklebt und mit sehr ins Auge fallenden Unterschriften in rothen Buchstaben dem Arbeiterinstitute zu Carlisle zum Geschenke gemacht werden. »Madonna und Christkind von Raphael, Eigenthum von Frederick Fairlie, Esquire.« – »Unnachahmliche Skizze von Rembrandt. In ganz-Europa-unter dem Namen ›Die Kladde‹ bekannt, nach einem Druckflecken in einer Ecke, der in keinem andern Exemplare existirt. Auf dreihundert Guineen geschätzt. Eigenthum von Frederick Fairlie, Esquire.« – »Kupfermünze aus der Zeit Tiglath Pileser’s, Eigenthum von Frederick Fairlie, Esquire.« Dutzende von diesen Photogrammen mit ähnlichen Unterschriften waren bereits vollendet, ehe ich Cumberland verließ,·und Hunderte sind noch anzufertigen; Mit dieser neuen Beschäftigung wird Mr. Fairlie auf viele Monate ein glücklicher Mann sein, und die beiden unglückseligen Photographen werden das sociale Märtyrerthum theilen, das bisher auf den Kammerdiener allein gefallen ist.
Soviel über die Personen und Ereignisse, die den vordersten Platz in meiner Erinnerung einnehmen. Was aber jetzt über die eine Person, die den ersten Platz in meinem Herzen füllt? Laura ist, während ich diese Zeilen geschrieben habe, ununterbrochen in meinen Gedanken gewesen. Was weiß ich von ihr während der letzten sechs Monate, das ich in mein Tagebuch einschreiben könnte, ehe ich es für heute Abend schließe?
Ich habe Nichts als ihre Briefe, die mir als Führer dienen könnten; und über den wichtigsten aller Gegenstände über die unsere Briefe verhandeln können, lassen sie mich alle ohne Ausnahme im Dunkeln.
Behandelt er sie mit Güte? Ist sie jetzt glücklicher, als da wir an ihrem Hochzeitstage von einander schieden? Alle meine Briefe haben diese beiden Fragen enthalten, jedesmal mehr oder weniger deutlich, bald in dieser, bald in jener Form ausgedrückt; und alle sind sie in Bezug auf diesen einen Punkt allein unbeantwortet geblieben, oder so beantwortet, als ob meine Fragen sich blos auf ihre Gesundheit bezogen hätten. Sie benachrichtigt mich zu wiederholten Malen, daß sie vollkommen wohl ist, daß das Reisen ihr wohl bekommt, daß sie zum ersten Male in ihrem Leben den Winter ohne Erkältung überstanden, aber nirgends finde ich ein Wort, das mir sagte, sie sei mit ihrer Heirath ausgesöhnt und könne jetzt ohne alle Bitterkeit und Reue auf den dreiundzwanzigsten December zurückblicken Der Name ihres Mannes erscheint in ihren Briefen nur wie der eines Freundes, der sie auf der Reise begleitet und alle Anordnungen derselben übernommen hätte. »Sir Percival« hat bestimmt, daß wir an dem und dem Tage von hier abreisen. »Sir Percival« beabsichtigt die und die Reiseroute zu nehmen. Hin und wieder nennt sie ihn auch blos »Percival«, aber doch nur sehr selten; in neun Fällen von zehnen giebt sie ihm seinen Titel.
Ich kann nicht entdecken, daß seine Ansichten und Gewohnheiten die ihrigen in irgend einer Hinsicht verändert oder gefärbt hätten. Die gewöhnliche moralische Umbildung, die fast unmerklich in einem jungen, frischen, gefühlvollen Weibe durch ihre Heirath bewirkt wird, scheint nicht mit Laura vorgegangen zu sein. Sie schreibt über ihre Gedanken und Eindrücke unter den Wundern, die sie gesehen hat, gerade wie sie wohl an Jemand Anderes geschrieben haben würde, wenn ich an ihres Mannes Stelle mit ihr gereist wäre. Ich sehe Nichts, was mir in irgend einer Beziehung eine zwischen ihnen bestehende Sympathie verriethe. Selbst wenn sie von dem Gegenstande ihrer Reisen abgeht und sich mit den Aussichten beschäftigt, die sie bei ihrer Rückkehr nach England erwarten, sind ihre Betrachtungen immer nur auf ihre Zukunft als meine Schwester gerichtet und lassen ihre Zukunft als Sir Percival’s’ Gemahlin beharrlich unberücksichtigt. Unter allem Diesem liegt dabei kein Ton der Klage verborgen, der mir verriethe, daß sie sich in ihrer Verheirathung geradezu unglücklich fühlte. Der Eindruck, den ich aus unserer Correspondenz empfangen, führt mich, Gott sei Dank, nicht zu einem so traurigen Schlusse. Ich sehe nur, wenn ich sie mir ihren Briefen nach nicht als Schwester, sondern als junge Frau vergegenwärtige, eine traurige Erstarrung, eine unveränderliche Gleichgültigkeit in ihr. Kurz, es hat während der letzten sechs Monate immer noch Laura Fairlie an mich geschrieben und niemals Lady Glyde.
Dasselbe Schweigen, welches sie in Bezug auf ihres Mannes Charakter und Betragen beobachtet, trägt sie auch in ihren wenigen Hindeutungen auf Graf Fosco mit derselben Entschlossenheit auf ihres Mannes Busenfreund über.
Aus irgend einem unerklärten Grunde scheinen der Graf und seine Gemahlin plötzlich im Herbste ihre Pläne geändert zu haben und nach Wien gegangen zu sein, anstatt, wie Sir Percival erwartet hatte, in Rom mit ihnen zusammenzutreffen. Sie verließen Wien erst im Frühling und reisten dann nach Tyrol, von wo aus sie mit den jungen Eheleuten die Rückreise nach England antraten. Laura schreibt ausführlich genug über ihr Begegnen mit ihrer Tante und versichert mich, daß dieselbe sich so sehr zu ihrem Vortheile verändert habe, daß sie als Frau so viel ruhiger und vernünftiger geworden, als sie vor ihrer Heirath war, daß ich sie kaum wieder erkennen werde, wenn ich sie hier wiedersehe. Aber in Bezug auf Graf Fosco (der mich bedeutend mehr interessirt als seine Frau) ist sie unleidlich zurückhaltend und schweigsam. Sie sagt weiter Nichts, als daß er ihr ein Räthsel ist, und daß sie mir ihre Eindrücke über ihn nicht sagen will, bis ich ihn selbst gesehen und meine eigene Meinung von ihm gefaßt habe. Dies sieht meiner Ansicht nach nicht günstig für den Grafen aus. Laura hat die feine Kindergabe, durch Instinct einen Freund zu erkennen, in weit vollkommnerem Grade bewahrt, als die meisten Leute dieselbe in spätern Jahren haben; und wenn ich mich in meiner Vermuthung, daß ihr erster Eindruck vom Grafen ein ungünstiger war, nicht täusche, so bin ich meines Theils in Gefahr, dem erlauchten Ausländer zu mißtrauen, ehe ich ihn noch mit einem Auge gesehen habe. Doch Geduld, Geduld, diese Ungewißheit und noch manche andere wird nicht viel länger mehr währen. Der morgende Tag wird den Anfang machen, alle meine Zweifel früher oder später zu lösen.
Es hat soeben Zwölf geschlagen, und ich komme zurück, um diese Blätter zu schließen, nachdem ich einen Blick aus meinen offenen Fenster geworfen.
Es ist eine stille, schwüle, mondlose Nacht. Nur wenige blasse Sterne stehen am Himmel. Die Bäume, die auf allen Seiten die Aussicht versperren, sehen in der Entfernung schwarz und fest aus, wie eine Felsenmauer. Ich höre das Quaken der Frösche, schwach und von Weitem her, und das Echo der großen Glocken summt in der luftlosen Stille, lange nachdem die Schläge aufgehört haben. Es soll mich verlangen, wie Blackwater Park bei Tage aussieht. Ich kann nicht sagen, daß der Ort mir bei Nacht besonders gefiele.
Den 28. Juni.
Ein Tag der Nachforschungen und Entdeckungen – aus vielen Gründen ein weit interessanterer Tag, als ich zu erwarten gewagt hatte.
Ich begann natürlich mit den Sehenswürdigkeiten des Hauses.
Das Hauptgebäude stammt aus der Zeit jener unendlich überschätzten Frau, der Königin Elisabeth. Im Erdgeschosse sind zwei ungeheuer lange, niedrige Gallerien, die mit einander parallel laufen, und durch scheußliche Familienportraits, die ich alle ohne Ausnahme verbrennen möchte, ein doppelt düsteres und schauerliches Aussehen erhalten. Die Zimmer, welche oberhalb dieser Gallerien liegen, sind in ziemlich gutem Stande gehalten, werden aber selten benutzt. Die höfliche Haushälterin, die mich als Führerin begleitete, erbot sich, sie mir zu zeigen, fügte aber rücksichtsvoll hinzu, sie fürchte, ich werde sie etwas in Unordnung finden. Meine Achtung für die Unbeflecktheit meiner Röcke und Strümpfe geht indessen meiner Achtung für alle Elisabethischen Schlafgemächer des Königreichs unbedingt vor; und ich schlug daher mit Entschiedenheit eine Entdeckungsreise in den höhern Regionen aus, die nur mit Gefahren für meine schöne weiße Wäsche unternommen werden konnte. Die Haushälterin sagte: »ich bin ganz Ihrer Ansicht, Miß,« und schien in mir das verständigste Frauenzimmer zu erkennen, daß ihr seit langer Zeit vorgekommen.
Soviel also über das Hauptgebäude. An jedem Ende desselben ist ein Flügel angebaut. Der halb verfallene Flügel links (wie man sich dem Hause nähert) war einst ein allein stehendes Wohngebäude und wurde im vierzehnten Jahrhunderte erbaut. Eine von Sir Percival’s mütterlichen Vorfahren – ich erinnere mich nicht, welche es war, und es ist mir auch einerlei – ließ zur besagten Zeit der Königin Elisabeth das Hauptgebäude im rechten Winkel daran flicken. Die Haushälterin sagte mir, daß die Architektur des »alten Flügels« inwendig sowohl als auswendig von Sachverständigen für außerordentlich schön erklärt werde. Nach einer ferneren Untersuchung kam ich zu der Ueberzeugung, daß die Sachverständigen erst dieser Ansicht in Bezug auf Sir Percival’s Exemplar aus dem Alterthume werden konnten, nachdem sie sich vorher aller Furcht vor Feuchtigkeit, Finsterniß und Ratten entschlagen. Unter diesen Umständen gab ich ohne alles Zaudern zu, daß ich keine Sachverständige sei und schlug vor, daß wir es mit dem »alten Flügel« machten, wie wir es schon mit den Elisabethischen Schlafgemächern gemacht. Die Haushälterin sagte nochmals, »ich bin ganz Ihrer Ansicht, Miß,« und sah mich zum zweiten Male mit einem Ausdrucke der unverkennbarsten Bewunderung für meinen außerordentlich gesunden Verstand an.
Wir gingen dann zum rechten Flügel über, der um den wunderbaren architektonischen Mischmasch von Blackwater Park zu vollenden, zur Zeit Georg’s des Zweiten erbaut war. Dies ist der bewohnbare Theil des Hauses, welcher um Laura’s willen inwendig ausgebessert und neu eingerichtet worden ist. Meine beiden Zimmer und alle die besten Schlafzimmer liegen in der ersten Etage und im Erdgeschosse: das Gesellschaftszimmer, Wohnzimmer, Eßzimmer, eine Bibliothek und ein hübsches kleines Boudoir für Laura, die alle sehr hübsch nach neuer Mode verziert und elegant mit all’ den herrlichen neuen Luxusgegenständen meublirt sind. Keine von den Stuben sind an Größe und Luftigkeit mit unsern Stuben in Limmeridge zu vergleichen; aber sie haben alle ein gemüthliches Aussehen. Ich war nach dem, was ich von Blackwater gehört, in einer schrecklichen Angst gewesen, daß ich dort Nichts als antike, steife Stühle, klösterlich bemalte Fenster, dumpfige, vermoderte Vorhänge und all jenen barbarischen Plunder finden werde, den Leute, die ohne jeglichen Begriff von Comfort geboren sind, ohne alle Rücksicht auf das, was sie ihren Bekannten schuldig sind, um sich anhäufen. Es nimmt mir daher einen außerordentlichen Stein vom Herzen, zu finden, daß das neunzehnte Jahrhundert in diese meine neue Heimath gedrungen und die garstige »gute alte Zeit« aus den Pfaden meines täglichen Lebens hier verdrängt hat.
Ich verbrachte den Morgen theils in den Zimmern des Erdgeschosses, theils außen in dem Quadrate, das von den drei Seiten des Hauses und dem hohen Eisengitter mit dem Thore, das es von vorne schützt, gebildet wird. Ein großer runder Fischteich mit steinernen Seiten und einem allegorischen bleiernen Ungeheuer in der Mitte bildet den Mittelpunkt des Vierecks. Der Teich ist voller Gold- und Silberfischchen, und von dem weichsten Rasengürtel eingefaßt, den ich je betreten habe. Ich zögerte hier auf der schattigen Seite ziemlich zufrieden bis zur Gabelfrühstücksstunde; nach derselben nahm ich meinen großen runden Hut und wanderte ohne Begleitung in den schönen warmen Sonnenschein hinaus, um mir die Parkanlagen anzusehen.
Das Tageslicht bestärkte den Eindruck vom Abende vorher, daß es nämlich im Blackwater zu viele Bäume gebe. Sie ersticken das Haus förmlich. Es sind meistens junge Bäume, und viel zu dicht gepflanzt. Ich denke mir, daß vor Sir Percival’s Zeiten auf der ganzen Besitzung auf sehr verschwenderische Weise Nutzholz gehauen worden, und daß der nächste Besitzer voll empörter Besorgniß gewesen, die Lücken möglichst schnell wieder zu füllen. Indem ich mich vor dem Hause umschaute, bemerkte ich zu meiner Linken einen Blumengarten und ging darauf zu, um zu sehen, was ich in dieser Richtung entdecken werde.
Der Garten erwies sich in der Nähe als klein, unbedeutend und schlecht gehalten. Ich ließ ihn hinter mir, trat durch ein kleines Pförtchen in der Hecke, und befand mich in einer Tannenpflanzung. Ein hübscher, künstlicher Pfad schlängelte sich durch die Bäume und ich schritt auf ihm weiter, wobei meine Erfahrungen im Norden mich belehrten, daß ich mich sandigem, haidigen Boden näherte. Nachdem ich wohl mehr als eine halbe (englische) Meile weit unter den Bäumen dahinspaziert war, machte der Pfad plötzlich eine scharfe Wendung; die Bäume hörten zu beiden Seiten auf und ich sah mich am Rande einer großen offenen Ebene und auf den Blackwater See hinab, der dem Hause diesen Namen giebt.
Der Boden, der sich vor mir hin abwärts zog, war lauter Sand, einige haidige kleine Hügel ausgenommen, welche hie und da die Einförmigkeit unterbrachen. Der See war einst offenbar bis an die Stelle gekommen, an der ich stand, und war allmälig bis auf den dritten Theil seines ehemaligen Umfanges eingetrocknet. Ich sah wie seine stillen, faulen Wasser etwa eine Viertelmeile von mir in einer Vertiefung von verschlungenem Schilfe, Rohre und von kleinen Erdhügeln in Sümpfe und Pfützen getheilt wurde. Auf dem mir gegenüberliegenden Ufer erhob sich wieder dieses Gebüsch, das die Aussicht verbarg und seine düstern Schatten auf das träge, flache Wasser warf. Als ich zum See hinabging, sah ich, daß der Boden am entgegengesetzten Ende desselben feucht und sumpfig und mit üppigem Grase und Trauerweiden bewachsen war. Das Wasser, welches auf der offenen sandigen Seite, wo die Sonne schien, ziemlich klar war, sah mir gegenüber, wo es tiefer in dem Schatten des schwammigen Ufers und dichten, überhängenden Gebüsches lag, schwarz und giftig aus. Die Frösche quakten und die Ratten schlüpften, als ich der sumpfigen Seite des Sees näher kam, in dem schattigen Wasser selbst wie lebendige Schatten aussehend ein und aus. Ich sah hier, halb aus dem Wasser heraufragend, das verfaulte Wrack eines umgeworfenen alten Bootes liegen, und auf seine trockne Oberfläche fiel durch eine Lücke in den Bäumen hindurch ein schwacher Fleck von Sonnenlicht, in dessen Mitte eine Natter, phantastisch zusammengerollt, verrätherisch still dalag. Nah und fern machte die Aussicht nur denselben traurigen Eindruck von Einsamkeit und Verfall, und die helle Pracht des Sonnenhimmels über mir schien die Düsterheit und Kahlheit der Wildniß, auf die sie herableuchtete, nur noch fühlbarer zu machen. Ich wandte mich um und ging dem höher gelegenen, haideartigen Boden, und von meinem früheren Pfade ein wenig abweichend, einem ärmlichen kleinen hölzernen Schuppen zu, der am äußersten Rande der Pflanzung stand und zu unbedeutend war, um bisher meine Aufmerksamkeit mit der großen wilden Aussicht über den See hin zu theilen.
Als ich mich dem Schuppen nahte, fand ich, daß es früher ein Boothaus gewesen war, und daß dem Anscheine nach später ein Versuch gemacht worden, es zu einer Art rohen Lusthäuschens zu machen, in das man eine Bank von Tannenästen, ein paar Sessel und einen Tisch hineinstellte. Ich trat hinein, um mich ein wenig auszuruhen und wieder zu Athem zu kommen.
Ich war kaum eine Minute in dem Boothause gewesen, als ich gewahr wurde, daß meine schnellen Athemzüge seltsamerweise irgendwo unter mir ein Echo fanden. Ich horchte einen Augenblick mit gespannter Aufmerksamkeit, und hörte ein leises Röcheln, das unter der Bank hervorzukommen schien, auf der ich saß. Meine Nerven werden nicht leicht durch Kleinigkeiten erschüttert, aber bei dieser Gelegenheit sprang ich erschrocken auf, rief, erhielt keine Antwort, sammelte meinen abhanden gekommenen Muth, und blickte unter die Bank.
Da, im fernsten Winkel kauernd, lag die hülflose Ursache meines Schreckens in der Gestalt eines armen kleinen Hundes, ein kleiner schwarz und weißer Wachtelhund. Das Thierchen winselte matt, als ich es ansah und zu mir lockte, rührte sich aber nicht. Ich rückte die Bank fort und blickte näher hin. Des armen Hündchens Augen umzogen sich schnell, und auf seinen weißen Weichen waren Blutflecke. Der Jammer eines armen schwachen, hülflosen, stummen Geschöpfes ist doch von allen Anblicken der Welt der traurigste. Ich nahm das arme Thier so zart wie mir nur möglich war vom Boden auf und legte es in eine Art improvisirter Hängematte, indem ich rund um es her die Falten meines Kleiderrockes aufnahm. Auf diese Weise trug ich es dann so schmerzlos und so schnell als möglich nach dem Hause zurück.
Da ich Niemanden im Vorsaale fand, ging ich sofort auf mein Wohnzimmer, machte aus einem meiner alten Shawls ein Bett für das Thierchen und klingelte dann. Das größte und corpulenteste aller denkbaren Stubenmädchen erschien in einem Zustande munterer Einfältigkeit, die für die Geduld einer Heiligen zu viel gewesen wäre. Ihr dickes, formloses Gesicht dehnte sich zu einem breiten Grinsen aus, als sie das verwundete Thierchen am Boden erblickte.
»Was siehst Du denn da zu lachen?« fragte ich so aufgebracht, wie wenn sie meine eigene Dienerin gewesen wäre »Weißt Du, wem der Hund gehört?«
»Nein, Miß, das weiß ich nicht.« Sie bückte sich und sah die verwundete Seite des Thierchens an, dann erhellte sich ihr Gesicht plötzlich wie durch eine Eingebung, und mit einem Kichern der Zufriedenheit auf die Wunde deutend, sagte sie: »Das hat Baxter gethan, das.«
Ich war so entrüstet, daß ich sie hätte ohrfeigen können
»Baxter?« sagte ich, »wer ist das Thier, den du Baxter nennst?«
Das Mädchen grinste breiter denn je. »Mein Gott, Miß, Baxter ist der Holz- und Wildwärter, und wenn er hier fremde Hunde jagen findet, so geht er und schießt sie, ja. Das ist den Wildwärter seine Pflicht, Miß. Der Hund wird wohl sterben. Dies ist die Stelle, wo er geschossen worden ist, nicht wahr? Das hat Baxter gethan, Miß, hat er. Baxter hat’s gethan, Miß, und ’s ist Baxter’s Pflicht, ja.«
Ich war beinahe schlecht genug zu wünschen, Baxter hätte lieber das Stubenmädchen anstatt des Hundes angeschossen. – Da ich sah, daß es nutzlos sei, von diesem begriffslosen Frauenzimmer Hülfe für den kleinen Hund zu erwarten, ersuchte ich sie, der Haushälterin meine Empfehlung zu machen und sie zu bitten, zu mir zu kommen, Sie ging, wie sie gekommen war, von einem Ohr bis zum andern grinsend. Als sie die Thür schloß, sagte sie noch einmal leise vor sich hin: »Das hat Baxter gethan, und es war Baxter seine Pflicht, war es.«
Die Haushälterin, eine Person, die einige Erziehung und Intelligenz besitzt, brachte vorsorglicherweise etwas Milch und warmes Wasser mit herauf. Sowie sie den Hund am Boden erblickte, machte sie eine Bewegung und wechselte die Farbe.
»Du mein Gott!« rief sie aus, »das muß Mrs. Catherick’s Hund sein!«
»Wessen Hund?« fragte ich im höchsten Erstaunen.
»Mrs. Catherick’s. Sie scheinen Mrs. Catherick zu kennen, Miß Halcombe?«
»Nicht persönlich Aber ich habe von ihr gehört. Wohnt sie hier. Hat sie Nachrichten von ihrer Tochter gehabt?«
»Nein, Miß Halcombe. Sie kam, um sich bei uns nach ihr zu erkundigen.«
»Wann?«
»Erst gestern. Sie sagte, sie habe gehört, daß Jemand eine Fremde, deren Beschreibung der ihrer Tochter entspräche, in dieser Umgegend gesehen habe. Wir haben aber davon Nichts gehört, noch wußte man im Dorfe Etwas davon, als ich hinschickte und für Mrs. Catherick Erkundigungen einziehen ließ. Sie brachte jedenfalls diesen kleinen Hund mit sich, als sie kam, und ich sah ihn hinter ihr drein traben, als sie wieder fort ging. Vermuthlich verirrte sich das kleine Thier in der Pflanzung und wurde geschossen. Wo fanden sie es, Miß Halcombe?«
»In dem alten Schuppen am See.«
»Ach ja, das ist auf der Seite der Pflanzung, und das arme Thier schleppte sich an den nächsten geschützten Ort, wie die Hunde thun, um zu sterben. Wenn Sie ihm ein wenig Milch einflößen wollen, Miß Halcombe, so will ich unterdessen sehen, ob ich sein zusammengeklebtes Haar von der Wunde abwaschen kann. Ich fürchte indessen sehr, daß es bereits zu spät ist, um das Thierchen zu retten; doch können wir’s ja versuchen.«
Mrs. Catherick! Der Name klang mir noch immer in den Ohren, als ob die Haushälterin mich soeben erst dadurch in Erstaunen gesetzt hätte. Während wir uns mit dem Hunde beschäftigten, erinnerte ich mich Walter Hartright’s warnender Worte: »Sollte Ihnen je auf Ihrem Pfade Anna Catherick begegnen, Miß Halcombe, da machen Sie bessern Gebrauch von Ihrer Gelegenheit als ich von der meinigen gemacht habe.« Das Finden des verwundeten Hündchens hatte mich bereits Mrs. Catherick’s Besuch in Blackwater Park entdecken lassen; und diese Entdeckung konnte mich weiter führen. Ich beschloß, die mir gebotene Gelegenheit auszubeuten und mir jede mögliche Auskunft zu verschaffen.
»Sagten Sie nicht, Mrs. Catherick wohne in der Nachbarschaft?« fragte ich.
»O nein,« sagte die Haushälterin »Sie wohnt in Welmingham; ganz am andern Ende der Grafschaft, volle fünfundzwanzig Meilen von hier.«
»Sie kennen Mrs. Catherick vermuthlich schon lange?«
»Im Gegentheile, Miß Halcombe; ich sah sie gestern zum ersten Male. Ich hatte natürlich von ihr gehört, da man mir von Sir Percival’s Güte erzählt hatte, indem er ihrer Tochter ärztliche Aufsicht und Behandlung verschaffte. Mrs. Catherick ist in ihren Manieren etwas sonderbar, aber übrigens sieht sie recht anständig aus. Sie schien sehr betrübt darüber, als sie fand, daß an dem Gerüchte, ihre Tochter sei in dieser Gegend gesehen worden, nichts Wahres sei – wenigstens soviel wir erfahren konnten.«
»Ich fühle einiges Interesse für Mrs. Catherick,« sagte ich in dem Wunsche, die Unterhaltung so lange wie möglich fortzusetzen. »Ich wollte, ich wäre gestern früh genug hier angelangt; um sie zu sehen. Blieb sie ziemlich lange da?«
»Ja,« sagte die Haushälterin, »sie blieb eine ziemliche Weile. Und ich denke mir, sie wäre noch länger geblieben, wäre ich nicht abgerufen worden, um mit einem fremden Herrn zu sprechen, einem Herrn, der zu fragen kam, wann Sir Percival zurückerwartet werde. Mrs. Catherick stand sogleich auf und ging, als sie das Mädchen die Bestellung von dem Herrn bringen hörte. Beim Abschiede sagte sie, es sei unnöthig, Sir Percival Etwas davon zu sagen, daß sie hier gewesen sei. Ich fand die Bemerkung etwas sonderbar, namentlich mir gegenüber in meiner verantwortlichen Stellung.«
Ich fand dies ebenfalls; denn Sir Percival hatte mich in Limmeridge glauben lassen, daß vollkommenes Zutrauen zwischen ihm und Mrs. Catherick bestehe. Wenn dies aber der Fall war, warum wünschte sie ihm da ihren Besuch in Blackwater Park zu verheimlichen?
»Vermuthlich,« sagte ich, da ich sah, daß die Haushälterin meine Meinung über Mrs. Catherick’s Abschiedsworte zu hören erwartete, »vermuthlich dachte sie, die Nachricht ihres Besuchs werde Sir Percival unnöthigerweise verdrießen, indem er ihn daran erinnerte, daß ihre verlorene Tochter noch immer nicht gefunden sei. Sprach sie viel über den Gegenstand?«
»Sehr wenig,« entgegnete die Haushälterin. »Sie sprach meistens von Sir Percival und that eine Menge Fragen über seine Reisen und seine junge Gemahlin. Es schien sie überhaupt mehr zu verdrießen als zu betrüben, daß sie keine Spur von ihrer Tochter entdecken konnte. ›Ich gebe sie auf,‹ waren, soviel ich mich entsinne, die letzten Worte, die sie darüber sagte; ›ich gebe sie als verloren auf, Madame,‹ und dann ging sie gleich zu ihren Fragen in Bezug auf Lady Glyde über; sie wollte wissen, ob sie eine schöne und liebenswürdige Dame, ob sie lieblich, gesund und jung – ach Gott! ich dachte mir wohl, daß es so enden werde. Sehen Sie, Miß Halcombe, das arme Thier hat’s endlich überstanden!«
Der Hund war todt. Er hatte etwas wie ein schwaches Röcheln ausgestoßen, und es hatte die Glieder ein kurzes Zucken durchlaufen, gerade als jene letzten Worte: »lieblich, gesund und jung« fielen. Die Veränderung war erschreckend plötzlich eingetreten, in einer Minute lag das kleine Thier leblos in unseren Händen.
Acht Uhr. Ich kehre soeben von meinem einsamen Staatsdiner zurück. Der Sonnenuntergang glüht roth über der Wildniß von Bäumen, die ich von meinem Fenster aus sehe, und ich sitze wieder bei meinem Tagebuche, um die Ungeduld zu bemeistern, die mir die Erwartung der Ankunft der Reisenden verursacht. Sie sollten meiner Berechnung nach schon hier sein. Wie stille und einsam dieses Haus in der schläfrigen Abendruhe ist! O, wie viele Minuten noch, bis ich die Räder auf dem Sande höre, hinunterlaufe und Laura in den Armen halte?
Das arme Hündchen! Ich wollte, daß der erste Tag meines Aufenthaltes in Blackwater Park nicht mit einem Tode zu thun gehabt hätte, wenngleich es nur der Tod eines verlaufenen Thieres war.
Welmingham – indem ich in diesen Blättern zurückblicke, sehe ich, daß dies der Name des Ortes ist, wo Mrs. Catherick wohnt. Ihr Brief ist noch in meinem Besitze, jener Brief, welchen sie als Antwort auf den meinigen, den Sir Percival mich zu schreiben nöthigte, in Bezug auf ihre arme Tochter, schrieb. Nächster Tage, wenn ich eine sichere Gelegenheit dazu finden kann, will ich diesen Brief als Empfehlungsschreiben mitnehmen und sehen, was ich in einer persönlichen Zusammenkunft aus Mrs. Catherick machen kann. Ich begreife ihren Wunsch, Sir Percival, ihren Besuch in Blackwater zu verheimlichen nicht, und bin nicht halb so überzeugt davon, wie die Haushälterin zu sein scheint, daß ihre Tochter nicht doch am Ende in der Umgegend ist. Was hätte Walter Hartright in diesem dringenden Falle gesagt? Armer, lieber Hartright! Ich fange schon an, seinen redlichen Rath und seine bereitwillige Hülfe zu vermissen.
Horch! Gewiß ich hörte Etwas? Ja! ich höre unten das Geräusch eiliger Füße. Ich höre den Trab der Pferde, das Knirschen der Räder. Fort mit Tagebuch, Papier und Tinte! Die Reisenden sind zurück – mein Liebling, meine Laura ist endlich wieder da!
Den 1. Juli.
Die Verwirrung ihrer Ankunft hat Zeit gehabt, sich zu legen. Es sind zwei Tage seit der Ankunft der Reisenden vergangen, und dieser Zwischenraum hat hingereicht, um die neue Maschinerie unserer Lebensweise in Blackwater Park völlig in Gang zu bringen. Ich darf jetzt mit einiger Aussicht, meine Berichte mit gewohnter Fassung fortzusetzen, zu meinem Tagebuche zurückkehren.
Ich denke, ich mache den Anfang mit einer sonderbaren Bemerkung, die sich mir seit Laura’s Rückkehr aufgedrungen hat.
Wenn zwei Mitglieder einer Familie, oder zwei vertraute Bekannte sich trennen und das eine ins Ausland reist, das andere aber zu Hause bleibt, da scheint die Rückkehr des verreist gewesenen das zurückgebliebene zuerst auf peinliche Weise in den Nachtheil zu stellen. Das plötzliche Begegnen der neuen Gedanken und Gewohnheiten, eifrig gepflegt wie sie sind, auf der einen, und den alten Gedanken und Gewohnheiten, wie sie passiv beibehalten wurden, auf der andern Seite, scheint zuerst die Sympathien der zärtlichsten Verwandten und vertrautesten Freunde zu trennen und eine plötzliche Entfremdung zwischen Beiden hervorzubringen, die Keines von Beiden weder erwartete noch zu bemeistern im Stande ist. Nachdem die erste Freude des Wiedersehens zwischen mir und Laura vorüber war, nachdem wir uns Hand in Hand neben einander gesetzt, um Athem und Fassung zum Sprechen zu finden, fühlte ich augenblicklich diese Entfremdung und konnte sehen, daß auch sie dieselbe fühlte. Jetzt, da wir die meisten unserer alten Gewohnheiten wieder aufgenommen, ist sie zum Theil bereits wieder verschwunden und wird es wahrscheinlich binnen Kurzem ganz sein. Aber sie hat jedenfalls jetzt, da wir wieder zusammen leben, einen Einfluß auf meine ersten Eindrücke von Laura geübt, und aus diesem Grunde hielt ich es für angemessen, der Sache hier zu erwähnen.
Sie hat mich unverändert gefunden, aber ich finde sie verändert.
Verändert im Aeußern und in einer Beziehung auch verändert im Charakter. Ich kann nicht gerade sagen, daß sie weniger schön ist, als sonst: ich sage nur, daß sie für mich weniger schön ist. Andere, die sie nicht mit meinen Augen und meinen Erinnerungen ansehen, finden sie wahrscheinlich schöner. Es ist mehr Farbe auf ihren Wangen, und die Umrisse ihres Gesichtes sind bestimmter und runder, als sie zu sein pflegten; ihre Gestalt scheint mehr ausgebildet und ihre Bewegungen sicherer und unbefangener, als sie zu ihrer Mädchenzeit waren. Aber, es fehlt mir Etwas, wenn ich sie ansehe – Etwas, das dem glücklichen, unschuldigen Leben Laura Fairlie’s angehörte, und das ich in Lady Glyde vergebens suche. Es lebte in alten Zeiten etwas so Frisches, Sanftes, immer Wechselndes und doch Bleibendes in der zarten Schönheit ihres Gesichts, dessen Zauber mit Worten zu beschreiben oder selbst zu malen unmöglich war, wie der arme Hartright oft zu sagen pflegte. Dies ist fort. Mir war als sähe ich einen schwachen Wiederschein davon, als sie am Abende ihrer Rückkehr bei der Gemüthsbewegung, die ihr unser plötzliches Begegnen verursachte, erbleichte; aber seitdem habe ich Nichts wieder davon gesehen. Keiner ihrer Briefe hatte mich darauf vorbereitet, sie persönlich verändert zu finden. Im Gegentheil, sie hatten mich erwarten lassen, daß sie im Aeußern wenigstens nach ihrer Heirath dieselbe geblieben, die sie vorher war. Vielleicht las ich ihre Briefe in der Vergangenheit nicht richtig, und verstehe sie selbst jetzt in der Gegenwart nicht ganz? Doch einerlei! Ob sie während der letzten sechs Monate an Schönheit gewonnen oder verloren haben mag, die Trennung hat ihr liebes Selbst mir jedenfalls kostbarer denn je gemacht, und das ist doch wenigstens eine gute Folge ihrer Heirath!
Die zweite Veränderung, die, welche ich in ihrem Charakter wahrgenommen habe, hatte mich nicht überrascht, da ich durch den Ton ihrer Briefe darauf vorbereitet war. Jetzt, da sie zu Hause ist, finde ich, daß sie ebenso ungern von ihrem Verhältnisse zu ihrem Manne spricht, als sie vorher darüber schrieb. Bei meiner ersten Anspielung auf diesen verbotenen Gegenstand legte sie ihre Hand auf meine Lippen, und zwar mit einem Blicke und einer Bewegung, die mich auf rührende, ja fast schmerzhafte Weise an die glückliche Vergangenheit erinnerten, da wir keine Geheimnisse vor einander hatten.
»Wenn wir Beide zusammen sind, Marianne,« sagte sie, »werden wir glücklicher und unbefangener miteinander sein, wenn wir meine Heirath als das annehmen, was sie ist, und so wenig als möglich darüber sprechen und daran denken. Ich würde Dir Alles erzählen, herzige Schwester, was mich selbst betrifft,« fuhr sie eifrig, mit der Schnalle an meinem Gürtel beschäftigt, fort, »wenn meine Mittheilungen da enden könnten. Aber das wäre nicht der Fall – sie würden zu Mittheilungen über meinen Mann führen, die ich jetzt, da ich einmal verheirathet bin, um seinetwillen, um Deinetwillen und meinetwillen lieber vermeiden will. Ich will damit nicht sagen, daß sie Dich oder mich betrüben würden – das wollte ich um die Welt nicht damit andeuten. Aber – mich verlangt so danach, glücklich zu sein, jetzt, da ich Dich wieder habe, und auch Dich glücklich zu sehen –« sie unterbrach sich plötzlich und schaute sich rings im Zimmer – mein Wohnzimmer, in welchem wir uns unterhielten – um. »Ach!« rief sie, indem sie mit einem fröhlichen Lächeln des Erkennens die Hände zusammenschlug, »da finde ich schon wieder eine alte Bekanntschaft! Dein Bücherschrank, Marianne, Dein lieber, alter, schäbiger kleiner Bücherschrank von Atlasholz – ich freue mich so, daß Du ihn aus Limmeridge mit fortgebracht hast! Und Dein Arbeitskästchen, gerade so unordentlich wie sonst! Und der abscheuliche, schwere Herrn-Regenschirm, auf den Du so versessen warst, wenn es regnete! Und vor Allem, Dein eigenes liebes, braunes, kluges Zigeunergesicht, das mich wieder wie sonst anblickt! Es ist so heimathlich hier! Wie können wir es nur noch mehr so machen? Ich will meines Vaters Bild in Deiner Stube aufhängen, anstatt in der meinigen, und alle meine kleinen Schätze aus Limmeridge hier aufstellen, und dann wollen wir viele Stunden des Tages zwischen diesen freundschaftlichen vier Wänden zusammen zubringen. O, Marianne!« sagte sie, sich plötzlich auf eine kleine Fußbank zu meinen Füßen setzend und mir ernst ins Gesicht sehend, »versprich mir, daß Du Dich nie verheirathen und mich verlassen willst. Es ist sehr egoistisch von mir, dies zu sagen, aber Du bist unverheirathet soviel besser daran, wenn – wenn Du Deinen Mann nicht gerade sehr, sehr lieb hast – aber Du wirst Niemanden als mich sehr, sehr lieb haben, wie, Marianne?« Sie hielt wieder inne, legte meine Hände auf meinem Schooße übereinander und ihr Gesicht auf sie. »Hast Du kürzlich viele Briefe geschrieben und erhalten?« sagte sie mit leiser, plötzlich veränderter Stimme. Ich verstand, was sie meinte, aber ich hielt es für meine Pflicht, sie nicht darin zu bestärken, indem ich ihr auf halbem Wege entgegenkäme. »Hast Du von ihm gehört?« fuhr sie fort, indem sie schmeichelnd meine Hände küßte, damit ich ihr diese noch directere Frage vergebe. »Ist er wohl und glücklich, und geht es ihm gut in seinem Berufe? Hat er sich ganz beruhigt und hat er mich vergessen?«
Sie hätte diese Fragen nicht thun, hätte sich ihres Entschlusses von jenem Morgen erinnern sollen, an dem Sir Percival sie an ihr Versprechen hielt und sie Hartright’s kleines Album auf immer in meine Hände gab. Aber ach! wo ist das tadellose, menschliche Wesen, das einen guten Entschluß durchführen kann, ohne jemals zu wanken? Wo das Weib, dem es gelang, das Bild einer wahren Liebe je ganz aus ihrem Herzen zu tilgen? Die Bücher sagen uns wohl, daß es solche überirdische Wesen gegeben – was aber kann nicht darin unsere eigene Erfahrung den Büchern Alles entgegenhalten?
Ich versuchte nicht, ihr Vorstellungen zu machen: vielleicht weil ich die furchtlose Offenheit, die mir so unverhohlen Das zeigte, was andere Frauen in ihrer Lage vielleicht zu verbergen Ursache gehabt hätten, aufrichtig zu schätzen wußte, vielleicht auch weil ich in meinem eigenen Herzen und Gewissen fühlte, daß ich an ihrer Stelle dieselben Gedanken gehabt und dieselben Fragen gethan hätte. Das Rechtlichste, was ich thun konnte war, ihr zu sagen, daß ich kürzlich nicht an ihn geschrieben, noch von ihm gehört habe, und dann das Gespräch auf andere Gegenstände zu leiten.
Es war in unserer Unterredung – meiner ersten vertraulichen Unterhaltung seit ihrer Rückkehr viel Betrübendes für mich gewesen. Die Veränderung, welche ihre Heirath in unserem Verhältnisse zu einander hervorgebracht, indem sie zum ersten Male in unserem Leben einen verbotenen Unterhaltungsgegenstand zwischen uns gebracht hatte; die traurige Ueberzeugung des Mangels an jedem wärmeren Gefühle und aller Sympathie zwischen ihr und ihrem Manne, die ihre eigenen Worte wider ihren Willen mir jetzt aufgedrungen; die betrübende Entdeckung, daß der Einfluß jener unglückseligen Neigung in wie harmlosem und unschuldigem Grade dies auch sei – noch immer so tief wie je in ihrem Herzen wurzelte – sind Alles Enthüllungen, die wohl geeignet erscheinen, eine Person zu betrüben, die sie liebt und für sie fühlt, wie ich es thue. Ich habe dem Allem nur einen Trost entgegen zu stellen – ein Trost, der mich beruhigen sollte und der dies auch thut. All die Anmuth und Lieblichkeit ihres Characters, als die offene Zärtlichkeit ihrer Natur und all’ der schöne, einfache weibliche Zauber, der sie zum Lieblinge und zur Wonne Aller machte, die sich ihr machten – sind mir jetzt mit ihr selbst zurückgegeben. An der Richtigkeit meiner andern Eindrücke bin ich zuweilen geneigt zu zweifeln. Dieser letzte, beste, glücklichste Eindruck aber wird jeden Tag und jede Stunde klarer in mir.
Um aber jetzt von ihr zu ihren Reisegefährten überzugehen. Meine erste Aufmerksamkeit muß ihrem Manne gehören. Was habe ich seit seiner Rückkehr an Sir Percival wahrgenommen, das mir eine bessere Meinung von ihm gegeben hätte?
Ich kann’s kaum sagen. Er scheint von kleinen Aergerlichkeiten belagert zu werden, seit er wieder heim ist, und unter solchen Umständen nimmt sich kein Mann sehr vortheilhaft aus. Mir scheint, er sieht magerer aus, als zur Zeit, wo er England verließ. Sein ermüdender Husten und seine ungemüthliche Unruhe haben jedenfalls zugenommen. Sein Wesen, wenigstens gegen mich, ist viel kürzer angebunden, als es früher war. In seiner Begrüßung am Abende seiner Ankunft war wenig oder gar Nichts von der Ceremonie und Höflichkeit früherer Zeit zu verspüren, keine höflichen Bewillkommnungsredensarten, kein Ausdruck besonderer Zufriedenheit, mich wieder zu sehen – Nichts, als ein kurzer Händedruck, und ein scharfes »Wie geht’s, Miß Halcombe? freut mich, Sie wiederzusehen.« Er schien mich wie einen der wand- band- niet- und nagelfesten Gegenstände des Hauses hinzunehmen, sich zu überzeugen, daß ich mich an der rechten Stelle befinde, und dann sofort zu etwas Anderem überzugehen.
Die meisten Leute zeigen in ihrem eigenen Hause das von ihrem Character, was sie anderswo zu verbergen wußten; und Sir Percival hat bereits eine Sucht nach Ordnung und Regelmäßigkeit entfaltet, wie sie mir nach meiner früheren Kenntniß seines Characters eine wahre Offenbarung ist. Wenn ich ein Buch aus der Bibliothek nehme und es auf dem Tische liegen lasse, so folgt er mir und thut es wieder an seinen Platz; ebenso, wenn ich bloß von meinem Platz aufstehe und es dort liegen lasse. Er sammelt Blumenblättchen vom Teppiche auf und brummt dabei so unzufrieden in sich selbst hinein, als ob es glühende Kohlen seien, die Löcher hineinbrennten; und wenn sich im Tischtuche eine Falte sehen läßt oder ein Messer an der gewohnten Stelle fehlt, da zankt er die Diener so wüthend aus, als ob sie ihn persönlich beleidigt hätten.
Ich habe schon der kleinen Verdrießlichkeiten erwähnt, die ihn seit seiner Rückkehr gequält zu haben scheinen, und ihnen mag viel von der ungünstigen Veränderung zuzuschreiben sein, die ich an ihm bemerkt habe. Ich suche mir dies einzureden, weil ich mich nicht schon um die Zukunft ängstigen möchte. Es ist allerdings eine harte Probe für die Laune eines Mannes, wenn nach einer langen Abwesenheit vom Hause, sowie er den Fuß wieder hineinsetzt, ihm ein Aergerniß entgegentritt, und ein solches widerfuhr Sir Percival wirklich in meiner Gegenwart. Am Abende seiner Ankunft folgte mir die Haushälterin in den Flur, um ihren Herrn, ihre Herrin und deren Gäste zu empfangen. Sowie er sie erblickte, frug Sir Percival sie, ob kürzlich Jemand da gewesen, der nach ihm gefragt habe. Die Haushälterin sagte ihm darauf, was sie schon mir erzählt hatte, daß nämlich ein Herr dagewesen, der sich erkundigt, wann sie ihren Herrn zurückerwarte. Er frug sie sofort nach dem Namen des Herrn; Er hatte seinen Namen nicht genannt. Des Herrn Anliegen oder Geschäft? er hatte Nichts davon erwähnt. Wie sah er aus? Die Haushälterin versuchte, ihn zu beschreiben, doch gelang es ihr nicht, den namenlosen Besucher mit irgend etwas Besonderem zu bezeichnen, woran ihr Herr ihn hätte erkennen können. Sir Percival runzelte die Stirn, stampfte ungeduldig mit dem Fuße und ging ins Haus, ohne irgend Jemanden weiter zu berücksichtigen. Wie ihn eine solche Kleinigkeit in dem Grade außer Fassung bringen konnte, ist mir allerdings unbegreiflich, gewiß aber ist, daß sie ihn ernstlich verdroß.
Im Ganzen wird es vielleicht besser sein, wenn ich noch keine entschiedene Meinung über sein Wesen, seine Sprache und sein Benehmen in seinem eigenen Hause ausspreche, bis er Zeit gehabt hat, die Besorgnisse abzuschütteln, welcher Art dieselben auch immer sein mögen, die offenbar jetzt im Geheimen sein Gemüth erfüllen. Ich will zu einer neuen Seite übergehen, und meine Feder soll Laura’s Gemahl für’s Erste in Ruhe lassen.
Die beiden Gäste, der Graf und die Gräfin Fosco, sind in meinem Kataloge die Nächsten. Ich will die Gräfin zuerst vornehmen, um so schnell als möglich der weiblichen Ehehälfte fertig zu werden.
Laura hat sich allerdings keine Uebertreibung zu Schulden kommen lassen, indem sie mir schrieb, daß ich ihre Tante kaum wiedererkennen werde. Ich habe noch nie in meinem Leben eine solche Veränderung durch Verheirathung in einer Frau vorgehen sehen, wie bei der Gräfin Fosco stattgefunden hat. Als Eleonor Fairlie (im Alter von siebenunddreißig Jahren) schwatzte sie fortwährend den arrogantesten Unsinn und peinigte die unglücklichen Männer mit jeder kleinlichen Anmaßung, die nur ein eitles, albernes Weib für die duldende Männerwelt zu erfinden im Stande ist. Als Gräfin Fosco (im Alter von dreiundvierzig Jahren) sitzt sie stundenlang, ohne ein Wort zu sagen, wie ein seltsames erfrorenes Wesen. Die entsetzlich lächerlichen »Schmachtlocken«, die ihr zu beiden Seiten des Gesichts herabzuhängen pflegten, sind jetzt zwei Reihen steifer, kleiner Locken gewichen, wie man sie auf altmodischen Perücken sieht. Eine einfache, ehrbare Haube bedeckt ihr Haupt und giebt ihr zum ersten Male, seit ich sie kenne, das Ansehen einer verständigen Frau. Kein Mensch (ihr Gemahl natürlich ausgenommen) erkennt in ihr jetzt, was früher Jedem sichtbar war, ich meine die Bauart eines weiblichen Skeletts in der Gegend des Schlüsselbeins und der Schulterblätter. In gesetzten schwarzen oder grauen Kleidern, die hoch am Halse schließen – Kleider, über die sie früher gelacht oder laut aufgeschrien hätte, je nach dem nun ihre Mädchenlaune sein mochte – sitzt sie wortlos im Winkel; ihre trockenen weißen Hände (und zwar so trocken, daß die Poren ihrer Haut kreidig aussehen) sind fortwährend entweder mit irgend einer langweiligen Stickerei oder sonst mit der endlosen Verfertigung kleiner Cigarretten für des Grafen besonderen Gebrauch beschäftigt. In den wenigen kurzen Augenblicken, wenn sie die kalten blauen Augen von ihrer Arbeit erhebt, sind dieselben meistens mit jener stummen, fragenden Unterwürfigkeit auf ihren Mann gerichtet, die uns Allen in den Augen treuer Hunde bekannt ist. Das einzige Wahrzeichen eines innerlichen Aufthauens, das ich bis jetzt unter der äußeren Eislage ihres gezwungenen Wesens habe entdecken können, hat sich ein paar Mal in einer unterdrückten, aber wahrhaft tigerartigen Eifersucht auf jedes weibliche Wesen im Hause verrathen, mit dem der Graf spricht (die Stubenmädchen mit eingerechnet), oder das er mit der geringsten Aufmerksamkeit ansieht. Diesen einen Punkt ausgenommen, ist sie ewig, morgens, mittags und abends im Hause oder draußen, in schönem oder schlechtem Wetter, so kalt wie eine Statue und so unempfindlich wie der Stein, aus dem sie gehauen. Für die allgemeinen Zwecke des gesellschaftlichen Lebens ist diese Veränderung jedenfalls eine überaus günstige, denn sie ist dadurch in ein höfliches, schweigsames, anspruchsloses Frauenzimmer verwandelt, das Niemandem und niemals im Wege ist. Inwieweit und ob sie aber wirklich in ihrem geheimsten Innern sich gebessert oder verschlimmert hat, ist eine andere Frage. Ich habe den Ausdruck ihrer zusammengekniffenen Lippen ein paar Mal sich plötzlich verändern sehen und den Ton ihrer ruhigen Stimme sich plötzlich verändern hören, und dies hat mich auf die Vermuthung geführt, daß ihr gegenwärtiger Zustand, in dem sie fortwährend Etwas zu unterdrücken scheint, etwas Gefährliches in ihrer Natur verbirgt, das in der Freiheit ihres früheren Lebens harmlos zu verdunsten pflegte. Es ist sehr möglich, daß diese Idee von mir eine völlig irrthümliche ist; aber es ist nun einmal der Eindruck, den sie auf mich macht. Die Zeit wird es lehren.
Und der Zauberer, der diese wunderbare Verwandlung hervorgebracht, der fremdländische Gemahl, der diese verdrehte Engländerin so gezähmt hat, daß ihre eigenen Verwandten sie kaum wiedererkennen – der Graf selbst? Was von ihm sagen?
Mit einem Worte dies: er sieht aus wie ein Mensch, der zähmen könnte, was er nur immer wollte. Hätte er statt eines Weibes eine Tigerin geheirathet, so hätte er die Tigerin gezähmt. Hätte er mich geheirathet, so hätte ich ihm seine Cigaretten gemacht, gerade wie jetzt seine Frau sie macht, und hätte wie sie den Mund gehalten, sowie er mich nur angeblickt.
Ich fürchte mich fast, es selbst diesen geheimen Blättern anzuvertrauen. Der Mann interessirt mich, zieht mich an, zwingt mich, ihn gern zu haben. In zwei kurzen Tagen ist er geradewegs in meine Gunst hineinspaziert, und wie er das angefangen hat, ist mehr, als ich mir erklären kann,.
Es erschreckt mich förmlich, wie deutlich ich ihn vor mir sehe, jetzt, da ich an ihn denke! – wie viel deutlicher, als Sir Percival oder Mr. Fairlie oder Walter Hartright, Laura allein ausgenommen! Ich vergegenwärtige mir seine Stimme, als ob ich ihn in diesem Augenblicke sprechen hörte. Ich erinnere mich seiner Unterhaltung von gestern, als ob ich ihm augenblicklich noch zuhörte. Wie soll ich ihn beschreiben? Es sind in seiner persönlichen Erscheinung, in seinen Gewohnheiten und in seinen Vergnügungen Absonderlichkeiten, die ich auf das Strengste tadeln, oder auf das Unbarmherzigste ins Lächerliche ziehen würde, wenn ich sie an irgend Jemand anders als ihm bemerkte. Was ist es nur, das es mir unmöglich macht, sie an ihm zu tadeln oder lächerlich zu finden?
Er ist zum Beispiel enorm corpulent. Ehedem ist mir die corpulente Menschheit stets ein Greuel gewesen. Ich bin immer der Ansicht gewesen, daß die volksthümliche Idee, der zufolge ungeheure Corpulenz von ungeheurer Gutmüthigkeit unzertrennlich, gleich bedeutend sei mit dem Satze, daß entweder nur liebenswürdige Leute stark werden oder daß der zufällige Zusatz so vieler Pfunde Fleisch mehr einen geradezu günstigen Einfluß auf die Gemüthsanlagen derjenigen Personen ausüben müsse, an deren Körper sie sich sammele. Ich habe diese alberne Idee stets dadurch angegriffen, daß ich Beispiele von starken Leuten angeführt, die ebenso verächtlich, boshaft und grausam waren wie die magersten und schlimmsten ihrer Mitmenschen. Ich habe gefragt, ob Heinrich der Achte ein liebenswürdiger Mann war? oder Papst Alexander der Sechste ein guter Mann? Ob der Herr Mörder und die Frau Mörderin Manning nicht Beide ungewöhnlich starke Leute waren? Ob nicht gemiethete Krankenwärterinnen, die sprichwörtlich zu den grausamsten Leuten in ganz England gehören, nicht auch meistens die corpulentesten Frauenzimmer von ganz England sind? – und so weiter, durch Dutzende von Beispielen, alten sowohl wie neuen, einheimischen wie auswärtigen, hohen wie niedrigen hindurch. Und trotz dieser Ansichten, an denen ich noch in diesem Augenblicke mit aller Gewalt festhalte, ist hier Graf Fosco, der so fett ist wie Heinrich der Achte selbst, durch seine abscheuliche Corpulenz ungehindert in meine Gunst hineingewandert. In der That wunderbar!
Ist es sein Gesicht, das ihn empfohlen? Dies mag sein. Es trägt die auffallendste Aehnlichkeit im vergrößerten Maßstabe mit dem Napoleon’s des Großen. Seine Züge haben Napoleon’s erhabene Regelmäßigkeit. Ihr Ausdruck erinnert an die großartig ruhige, unerschütterliche Kraft des Gesichtes des großen Soldaten. Diese auffallende Aehnlichkeit machte gleich zu Anfang Eindruck auf mich; aber es ist noch außer dieser Aehnlichkeit Etwas in ihm, was noch größeren Eindruck auf mich machte.
Ich glaube, daß der Einfluß, nach dem ich jetzt suche, durch seine Augen ausgeübt wird. Sie sind die unergründlichsten grauen Augen, die ich je gesehen, und funkeln zu Zeiten so kalt, klar, schön und unwiderstehlich, daß es mich zwingt ihn anzusehen, obgleich es mir zugleich eine Empfindung verursacht, die ich lieber nicht fühlen möchte. Auch andere Theile seines Kopfes und Gesichtes haben ihre Eigenthümlichkeiten. Seine Hautfarbe ist zum Beispiel von einer sonderbaren fahlen Weiße, die so sehr von der dunklen Farbe seines Haares absticht, daß ich letzteres in dem Verdachte habe, eine Perrücke zu sein, und sein Gesicht, das vollkommen glatt rasirt, ist ebener und runzelfreier als meins, obgleich er (nach Sir Percival’s Angabe) beinah sechzig Jahre alt ist. Aber dies sind nicht die hervorstechendsten persönlichen Eigenthümlichkeiten, die ihn meiner Meinung nach von allen andern Männern unterscheiden, die ich je gesehen. Das, was ihn unverkennbar von der Masse gewöhnlicher Menschen aussondert, liegt einzig, soweit ich bis jetzt sehen kann, in dem außerordentlichen Ausdrucke und der wunderbaren Macht seiner Augen.
Sein Wesen und die Art und Weise, wie er unsere Sprache beherrscht, mag ebenfalls dazu beigetragen haben, ihm meine gute Meinung zu verschaffen. Wenn er einer Dame zuhört, hat er jene ruhige Ehrerbietigkeit, jene Miene aufmerksamer Theilnahme, und wenn er zu ihr spricht, liegt in seiner Stimme eine geheime Sanftheit, der wir, was wir auch immer sagen mögen, nicht widerstehen können. Auch hier hilft ihm seine ungewöhnliche Kenntniß der englischen Sprache. Ich hatte oft von der außerordentlichen Fähigkeit gehört, mit der viele Italiener unsere harte nördliche Aussprache bemeistern, aber bis ich Graf Fosco sah, hatte ich es nicht für möglich gehalten, daß irgend ein Ausländer jemals Englisch sprechen könne, wie er es spricht. Es giebt Zeiten, wo es fast unmöglich wäre, ihn seiner Aussprache nach für etwas Anderes als einen Landsmann zu halten, und was den Redefluß betrifft, so giebt es wenig geborene Engländer, die so selten in ihrer Rede inne halten oder wiederholen wie Graf Fosco. Er mag wohl hin und wieder fremdartige Satzbildung gebrauchen, aber ich habe noch nie gehört, daß er einen verkehrten Ausdruck gebraucht, oder wegen der Wahl eines Wortes einen Moment gezögert hätte,
Alle die kleinsten Eigenthümlichkeiten dieses seltsamen Mannes haben etwas auffallend Originelles und verwirrend Widersprechendes an sich. So stark und bejahrt er auch ist, sind doch seine Bewegungen erstaunlich leicht und unbefangen. Er ist so geräuschlos im Zimmer, wie nur je eine von uns Frauen, und was noch mehr, er ist ungeachtet all seiner unverkennbaren geistigen Festigkeit und Kraft so nervös empfindlich wie die Schwächste von uns. Er fährt bei einem zufälligen Geräusche so heftig auf, wie Laura selbst. Er zuckte und schauderte gestern, als Sir Percival einen der Wachtelhunde schlug, so zusammen, daß ich mich meines eignen Mangels an Gefühl im Vergleich mit dem Grafen schämte.
Dieser letztere Vorfall erinnert mich an eine seiner sonderbarsten Eigenschaften, deren ich bis jetzt noch nicht erwähnt habe, nämlich seine außerordentliche Vorliebe für Lieblingsthierchen. Einige von diesen hat er auf dem Festlande zurückgelassen, aber er hat einen Kakadu, zwei Canarienvögel und eine ganze Familie von weißen Mäusen mit hieher gebracht. Er sieht persönlich nach allen Bedürfnissen dieser merkwürdigen kleinen Lieblinge und hat sie gelehrt, ihn außerordentlich lieb und erstaunliches Zutrauen zu ihm zu haben. Der Kakadu, der gegen jeden Anderen im höchsten Grade boshaft und falsch ist, scheint ihn förmlich zu lieben. Wenn er ihn aus seinem Käfige heraus läßt, so hüpft er auf seine Knie, marschirt seinen großen Körper hinan und schmiegt seinen Federpoll auf das Zärtlichste an sein blasses Doppelkinn. Er braucht nur die Thürchen in den Bauern der Canarienvögel öffnen und ihnen zurufen, und die niedlichen, wohlerzogenen kleinen Thierchen hüpfen ihm furchtlos auf die Hand, von einem der ausgestreckten dicken Finger auf den andern, wenn er ihnen sagt, »die Treppe hinauf zu gehen«, und singen, wenn sie oben anlangen, als ob ihnen die Wonne die Brust zersprengte. Seine weißen Mäuse wohnen in einer kleinen Pagode von buntem Draht, von ihm selbst entworfen und angefertigt. Sie sind beinah so zahm wie die Canarienvögel, und werden, wie diese, häufig herausgelassen. Sie laufen auf seinem ganzen Körper umher, kriechen in seinen Westentaschen aus und ein und sitzen in schneeweißen Pärchen auf seinen gewaltigen Schultern. Er scheint für seine Mäuse noch größere Zärtlichkeit zu fühlen als für seine anderen Lieblinge, lächelt ihnen zu, küßt sie und giebt ihnen alle möglichen Liebesnamen.
Wäre es möglich, sich einen Engländer mit so kindischen Interessen und Vergnügungen wie diese, zu denken, so würde dieser Engländer sich ihrer herzlich schämen und sich bemühen, in Gesellschaft erwachsener Leute sich über sie zu entschuldigen. Aber der Graf sieht offenbar in dem Contraste zwischen seiner eignen kolossalen Persönlichkeit und seinen zarten kleinen Lieblingen nichts Lächerliches. Er würde inmitten einer Gesellschaft englischer Fuchsjäger freundlich seine weißen Mäuschen küssen und seinen Canarienvögeln zuzwitschern und Jene nur als Barbaren bemitleiden, wenn sie gerade am lautesten über ihn lachen.
Es ist kaum glaublich, aber nichts destoweniger wahr, daß dieser selbe Mann, der die Liebe einer alten Jungfer für seinen Kakadu hegt und seine weißen Mäuse mit der Geschicklichkeit eines Savoyardenknaben regiert, mit einer kühnen Gedankenfreiheit, einer Kenntniß von Büchern in allen Sprachen und einer Erfahrenheit über die Gesellschaft in den neuesten Hauptstädten Europa’s sprechen kann, die ihn in jeder Versammlung in der gebildeten Welt zu einer hervorragenden Persönlichkeit machen würden. Dieser Canarienvogelzüchter, dieser Architekt von Pagoden für weiße Mäuse ist (wie Sir Percival selbst mir erzählt hat) einer der bedeutendsten experimentirenden Chemiker unserer Zeit und hat unter anderen merkwürdigen Entdeckungen auch die gemacht, wie man einen Körper nach dem Tode so versteinert, daß er bis an’s Ende aller Zeiten hart wie Marmor bleibt. Dieser corpulente, träge, ältliche Mann, dessen Nerven so zart sind, daß er bei einem zufälligen Geräusche auffährt, zusammenzuckt und schaudert, wenn ein Wachtelhund gepeitscht wird, ging neulich morgens in den Stallhof und legte seine Hand auf den Kopf eines Schweißhundes – eines so wüthenden Thieres, daß selbst der Reitknecht, der ihn füttert, sich aus seinem Bereiche hält. Seine Frau und ich waren zugegen, und ich werde sobald nicht den Auftritt vergessen, so kurz er auch war.
»Nehmen Sie sich vor dem Hunde in Acht, Sir,« sagte der Reitknecht; »er fährt auf alle Leute los!«
»Das thut er, mein Freund, weil sich alle Leute vor ihm fürchten,« sagte der Graf ruhig »Wir wollen sehen, ob er auf mich losfährt,« und so sprechend, legte er seine fetten gelbweißen Finger, auf denen vor zehn Minuten die Canarienvögel herumgehüpft waren, auf den Kopf der fürchterlichen Bestie und sah ihr gerade in die Augen. »Ihr großen Hunde seid Alle feige,« sagte er verachtungsvoll zu dem Thiere, während sein Gesicht keinen Zoll von dem des Hundes entfernt war. »Du würdest eine Katze tödten, du feiger Höllenhund du, – würdest auf einen verhungerten Bettler losfahren, du feige Höllenbestie, – auf irgend Etwas, das du unvermuthet überfallen könntest, das sich vor deinem großen Körper, deinen bösen weißen Zähnen und deinem geifernden, blutdürstigen Maule fürchtet. Du könntest mich in diesem Augenblicke erwürgen, du erbärmlicher, niederträchtiger Eisenfresser, und wagst mir nicht einmal ins Gesicht zu sehen, weil ich nicht bange vor dir bin. Willst du dich eines Bessern besinnen und deine Zähne an meinem fetten Nacken versuchen? Puh! Du denkst nicht daran!« und er wandte sich, über das Erstaunen der Stallleute lachend, ab, während der Hund demüthig in seine Hundehütte zurückkroch.
»Ach! meine schöne Weste!« rief er pathetisch aus. »Es thut mir leid, daß ich herkam! Das Vieh hat meine hübsche reine Weste mit seinem Geifer besudelt.« Diese Worte deuten auf noch eine andere seiner unbegreiflichen Seltsamkeiten. Er hält auf schöne Kleider, wie der größte Narr, den es geben kann, und ist bereits in den zwei Tagen seines Aufenthaltes hier in vier verschiedenen prachtvollen Westen aufgetreten, alle von hellen, bunten Farben und selbst für ihn unendlich viel zu groß.
Sein Takt und seine Gewandtheit in kleinen Dingen sind ebenso bemerkenswerth wie die sonderbaren Inconsequenzen seines Charakters und die kindische Trivialität seiner Beschäftigungen und seines Geschmackes.
Ich kann bereits wahrnehmen, daß er während seines Aufenthaltes hier mit uns Allen auf dem freundschaftlichsten Fuße zu leben beabsichtigt. Er hat offenbar entdeckt, daß Laura ihn nicht gern hat (sie hat mir dies bekannt, da ich deshalb in sie drang), aber zu gleicher Zeit, daß sie eine unbeschreibliche Vorliebe für Blumen hat. Wann sie immer einen Strauß verlangen mag, er hat stets einen für sie bereit, und zwar von ihm selbst gepflückt und gebunden, und zu meiner großen Belustigung ist er immer schlauerweise mit einem zweiten versehen, der von genau denselben Blumen und genau ebenso gebunden ist, um die eisige Eifersucht seiner Frau zu besänftigen, ehe sie noch daran denken kann, sich verletzt zu fühlen. Seine Behandlung der Gräfin (vor den Leuten) ist ein sehenswerther Anblick. Er verneigt sich vor ihr, redet sie gewöhnlich mit »mein Engel« an, trägt seine Canarienvögel auf seinen Fingern hin, um sie ihr kleine Besuche abstatten und ihr vorsingen zu lassen, küßt ihre Hand, wenn sie ihm seine Cigarretten giebt und beschenkt sie aus Dankbarkeit für dieselben mit Bonbons, die er ihr scherzend aus einer Schachtel in seiner Tasche in den Mund steckt. Die eiserne Ruthe, mit der er sie regiert, erscheint nie in Gesellschaft, sie ist eine Privatruthe und bleibt stets im Privatgemach.
Seine Art und Weise, sich bei mir beliebt zu machen, ist gänzlich hiervon verschieden. Er hat ausfindig gemacht, (der Himmel mag wissen wodurch) daß gemachte Empfindsamkeit bei meiner prosaischen Natur weggeworfene Mühe ist, und er schmeichelt meiner Eitelkeit, indem er so ernst und verständig mit mir spricht, als ob ich ein Mann sei. Ja! ich durchschaue ihn, wenn ich nicht bei ihm bin. Ich weiß, wenn ich hier oben auf meinem Zimmer bin, daß er meiner Eitelkeit schmeichelt, – und dabei, wenn ich hinunter gehe und wieder in seiner Gesellschaft bin, wird er mich wieder hinter’s Licht führen, und ich werde mich wieder geschmeichelt fühlen, gerade als ob ich ihn nie durchschaut hätte. Er weiß mich zu nehmen, wie er seine Frau und Laura zu nehmen weiß, wie er den Hund im Hofe zu nehmen wußte und wie er Sir Percival selbst zu jeder Stunde des Tages zu nehmen weiß. »Mein guter Sir Percival, ich kann Dir nicht sagen, wie sehr mir Deine rauhe englische Laune gefällt!« – »Mein guter Percival! ich kann Dir nicht sagen, wie sehr ich mich über Deinen gesunden englischen Menschenverstand freue!« Er hält sich auf diese Weise Sir Percival’s ungezogenen Bemerkungen über seine weibischen Beschäftigungen ruhig vom Leibe, wobei er ihn stets bei seinem Taufnamen nennt, mit der ruhigsten Ueberlegung ihm zulächelt, ihm auf die Schulter klopft und ihn überhaupt mit der wohlwollenden Nachsicht behandelt, die wohl ein gutmüthiger Vater gegen einen eigensinnigen Sohn übt.
Das Interesse, welches ich wirklich nicht umhin kann, für diesen seltsamen Menschen zu fühlen, bewog mich, Sir Percival über sein früheres Leben zu befragen. Sir Percival weiß aber davon nur wenig oder will mir nur wenig darüber mittheilen. Er und der Graf trafen sich zuerst vor Jahren in Rom unter Umständen von drohender Gefahr, auf die ich schon früher hingedeutet. Seit jener Zeit sind sie fortwährend zusammen in London, Paris und Wien gewesen, aber nie wieder in Italien, und der Graf hat seltsamerweise seit Jahren nicht mehr die Grenzen seines Vaterlandes überschritten. Ist er vielleicht das Opfer politischer Verfolgung? Jedenfalls scheint er einen patriotischen Eifer zu fühlen, seine in England anwesenden Landsleute nicht aus den Augen zu verlieren. Am Abende seiner Ankunft erkundigte er sich gleich,·wie weit wir von der nächsten Stadt entfernt und ob dort zufällig Italiener ansässig seien. Jedenfalls steht er mit Leuten auf dem Festlande in brieflicher Verbindung, und die Briefe, welche er erhält, tragen alle Arten von sonderbaren Stempeln; heute Morgen beim Frühstück sah ich ein Schreiben an seinem Platze auf ihn warten, das ein großes, officiell aussehendes Siegel trug. Vielleicht steht er mit seiner Regierung in Correspondenz? Aber das ließe sich kaum mit meiner anderen Idee, daß er nämlich ein politischer Flüchtling sei, vereinigen.
Welch eine Menge ich über den Grafen Fosco geschrieben habe! »Und auf was läuft das Alles hinaus?« wie der gute Gilmore auf seine unerschütterliche Geschäftsweise fragen würde. Ich kann nur wiederholen, daß ich entschieden, selbst nach dieser kurzen Bekanntschaft, eine Art seltsamer, widerstrebender Vorliebe für den Grafen hege. Er scheint über mich dieselbe Art von Uebergewicht gewonnen zu haben, die er über Sir Percival hat. Denn so frei und sogar grob, wie Sir Percival auch zuweilen gegen seinen corpulenten Freund sein mag, so kann ich doch deutlich sehen, daß er sich fürchtet, den Grafen ernstlich zu beleidigen. Ob ich mich wohl auch vor ihm fürchte? Jedenfalls habe ich nie einen Menschen gekannt, den ich so ungern zum Feinde hätte wie ihn. Ist dies, weil ich ihn gern habe oder weil ich ihn fürchte? Chi sa? – wie Graf Fosco in seiner Muttersprache sagen würde. Wer weiß?
Den 2. Juli.
Heute giebt’s auch außer meinen Gedanken und Eindrücken noch Etwas aufzuschreiben. Es ist, Laura und mir ganz unbewußt und von Sir Percival völlig unerwartet, ein Besuch angekommen.
Wir waren Alle unten in dem Zimmer mit den neuen französischen Fenstern2, die auf die Veranda gehen, beim Gabelfrühstück versammelt, und der Graf (der einen Appetit für Backwerk hat, wie ich ihn noch bei keinem menschlichen Wesen außer jungen Mädchen in Pensionsschulen gesehen habe) hatte uns eben amüsirt, als er voll Ernst um die vierte Zuckerpastete bat, – da trat der Diener herein und kündigte uns den Besuch an.
»Mr. Merriman ist soeben angekommen, Sir Percival, und wünscht Sie sogleich zu sprechen.«
Sir Percival fuhr zusammen und blickte den Mann mit einem Ausdrucke zorniger Unruhe an.
»Mr. Merriman?« wiederholte er, als glaube er, seine Ohren müßten ihn getäuscht haben.
»Ja wohl, Sir Percival, Mr. Merriman aus London.«
»Wo ist er?«
»In der Bibliothek, Sir Percival.«
Er verließ den Tisch sowie er die letzte Antwort gehört und eilte, ohne ein Wort zu irgend Jemandem von uns zu sprechen, aus dem Zimmer.
»Wer ist Mr. Merriman?« frug Laura, gegen mich gewendet.
»Ich habe nicht die geringste Ahnung davon,« war Alles, was ich erwidern konnte.
Der Graf hatte seine vierte Pastete verzehrt und war an einen Seitentisch getreten, um nach seinem boshaften Kakadu zu sehen. Er wandte sich, mit dem Vogel auf der Schulter, zu uns um.
»Mr. Merriman ist Sir Percival’s Rechtsanwalt,« sagte er ruhig.
Sir Percival’s Rechtsanwalt. Es war eine vollkommen unbefangene Antwort auf Laura’s Frage, und dennoch war sie unter den Umständen nicht ausreichend. Wäre Mr. Merriman ausdrücklich von seinem Clienten herberufen worden, so hätte nichts Auffallendes darin gelegen, daß er die Hauptstadt verlassen, um der Aufforderung Folge zu leisten. Aber wenn ein Advokat von London nach Hampshire reist, ohne daß er dazu aufgefordert worden, und wenn seine Ankunft im Hause seines Clienten diesen ernstlich erschreckt, so darf man mit Zuversicht annehmen, daß der rechtsgelehrte Besucher Ueberbringer wichtiger und unerwarteter Nachrichten ist, die entweder sehr guter oder sehr schlimmer, aber auf keinen Fall alltäglicher Natur sind.
Laura und ich blieben etwa noch eine Viertelstunde schweigend am Tische sitzen, in unbehaglichen Vermuthungen über Das, was sich zugetragen haben könne, und auf den Zufall von Sir Percival’s baldiger Rückkehr wartend.
Doch ließ sich davon kein Zeichen vernehmen, und wir standen auf, um das Zimmer zu verlassen.
Der Graf kam mit seiner gewohnten Höflichkeit aus der Ecke, in der er seinen Kakadu gefüttert hatte und mit dem Thiere noch immer auf der Schulter und öffnete die Thür für uns. Laura und die Gräfin Fosco gingen zuerst hinaus. Gerade als ich im Begriffe war, ihnen zu folgen, machte er mir ein Zeichen mit der Hand, und ehe ich an ihm vorüber gehen konnte, sprach er auf höchst seltsame Weise zu mir.
»Ja,« sagte er ruhig, den unausgesprochenen Gedanken beantwortend, der mich in dem Augenblicke beschäftigte, als ob ich ihm denselben klar mit Worten ausgedrückt hätte – »ja, es ist in der That Etwas vorgefallen.«
Ich war im Begriff zu entgegnen: »Ich habe ja nichts davon gesagt.« Aber der boshafte Kakadu spreizte seine Flügel aus und gab einen Schrei von sich, der mir durch alle Nerven drang, so daß ich froh war, aus der Stube zu fliehen.
Am Fuße der Treppe holte ich Laura ein. Der Gedanke in ihrem Geiste war derselbe, als der in dem meinigen, den Graf Fosco entdeckt hatte, und als sie sprach, waren ihre Worte beinah das Echo der seinigen Auch sie sagte mir im Geheimen, sie fürchte, daß Etwas vorgefallen sein müsse.
Ich habe noch ein paar Zeilen hinzuzufügen, ehe ich für heute Abend schließe und zu Bette gehe.
Ungefähr zwei Stunden nachdem Sir Percival vom Frühstückstische aufgestanden war, um seinen Advokaten, Mr. Merriman, in der Bibliothek zu empfangen, verließ ich mein Zimmer, um allein einen Spaziergang in den Anlagen zu machen. Gerade als ich am Treppenende des Corridors anlangte, öffnete sich die Thür der Bibliothek und die beiden Herren traten heraus. Da ich es für das Beste hielt, sie nicht zu stören, beschloß ich, nicht eher die Treppe hinunter zu gehen als bis sie über den Flur gegangen seien. Obgleich sie ziemlich leise mit einander sprachen, äußerten sie ihre Worte doch mit hinreichender Deutlichkeit, um zu mir herauf zu dringen.
»Beruhigen Sie sich vollkommen, Sir Percival,« hörte ich den Advokaten sagen, »die Sache liegt durchaus in Lady Glyde’s Händen.«
Ich hatte mich umgewandt, um auf ein paar Minuten in mein Zimmer zurückzukehren, aber Laura’s Name von den Lippen eines Fremden ausgesprochen, ließ mich augenblicklich still stehen. Ich glaube wohl, daß es sehr unrecht und verächtlich von mir war, zu lauschen, aber wo ist in unserem ganzen Geschlechte das Weib, das sich in ihren Handlungen nach den abstracten Grundsätzen der Ehre richten kann, wenn diese Grundsätze nach einer Richtung und ihre Liebe und die aus ihr entwachsenden Interessen nach der andern hindeuten?
Ich lauschte, und unter ähnlichen Umständen würde ich es wieder thun, – ja! und zwar mit dem Ohre am Schlüsselloche, falls es mir nicht anders möglich wäre.
»Sie verstehen mich doch ganz,« Sir Percival?« fuhr der Advokat fort. »Lady Glyde muß in Gegenwart eines Zeugen, oder falls Sie besonders vorsichtig zu sein wünschen, in Gegenwart von zwei Zeugen ihren Namen unterschreiben, – dann ihren Finger auf das Siegel legen und sagen: ›Ich überliefere das als meine Acte und Urkunde.‹ Falls dies in Zeit von einer Woche geschehen ist, wird dadurch unser Zweck vollkommen erreicht werden und alle Besorgniß beseitigt sein. Wo nicht –«
»Was wollen Sie mit Ihrem ›wo nicht‹ sagen?« frug Sir Percival aufgebracht. »Wenn die Sache geschehen muß, so soll sie geschehen, das verspreche ich Ihnen, Merriman.«
»Ganz recht, Sir Percival, ganz recht; aber in allen Verhandlungen giebt es zwei Alternativen, und wir Advokaten sehen ihnen gern beiden kühn ins Gesicht. Falls durch irgend ein unvorhergesehenes Hinderniß die Sache sich nicht machen ließe, da denke ich die betreffenden Parteien bewegen zu können, Wechsel auf drei Monate anzunehmen. Wie wir aber das Geld aufnehmen sollen, wenn diese Wechsel fallen –«
»Der Teufel hol’ die Wechsel! Das Geld ist nur auf eine Weise zu haben, und ich wiederhole Ihnen nochmals, daß es auf diese Weise geschafft werden soll. Ein Glas Wein, Merriman, ehe Sie gehen?«
»Danke, Sir Percival; ich habe keinen Augenblick zu verlieren, wenn ich noch zur rechten Zeit zum nächsten Zuge nach London ankommen will. Sie werden mich davon unterrichten, sobald die Uebereinkunft getroffen und nicht die Vorsicht vergessen, die ich empfahl –«
»Natürlich nicht. Da ist das Jagdgig für Sie vor der Thür. Springen Sie hinauf. Mein Groom wird Sie im Handumdrehen nach der Station hinunterfahren. Benjamin, fahre wie toll! Wenn Mr. Merriman zu spät für diesen Zug ankommt, jag’ ich Dich fort. Halten Sie sich fest, Merriman, und wenn Sie umgeworfen werden, vertrauen Sie dem Teufel, daß er sein Eigenthum retten wird.«
Mit diesem Abschiedssegen wandte Sir Percival sich um und ging in die Bibliothek zurück.
Ich hatte nicht viel gehört, aber selbst das Wenige hatte mir ernstliche Unruhe verursacht. Das »Etwas,« was »vorgefallen« war, erschien mir nur zu klar als eine ernstliche Geldverlegenheit, und es sollte Laura obliegen, Sir Percival davon zu befreien. Die Aussicht, sie in ihres Mannes geheime Schwierigkeiten verwickelt zu sehen, erfüllte mich mit einer Angst, die wahrscheinlich durch meine Geschäftsunkenntniß und mein Mißtrauen gegen Sir Percival eine übertriebene wurde. Anstatt deshalb, wie ich mir vorgenommen hatte, meinen Spaziergang zu machen, ging ich sofort nach Laura’s Zimmer und erzählte ihr, was ich gehört habe.
Sie nahm meine schlimme Nachricht mit einer Ruhe entgegen, die mich in Erstaunen setzte. Sie weiß offenbar mehr über ihres Mannes Charakter und seine Verlegenheiten, als ich bisher vermuthet habe.
»Ich fürchtete es,« sagte sie, »als ich von dem fremden Herrn hörte, der gekommen war und seinen Namen nicht hatte nennen wollen.«
»Wer glaubst Du denn, daß dieser Herr war?« frug ich.
»Jemand, der große Forderungen an Sir Percival hat,« entgegnete sie, »und der die Ursache von Mr. Merriman’s heutigem Besuche ist.«
»Weißt Du Etwas über diese Forderungen?«
»Nein, keine Einzelheiten.«
»Du wirst doch Nichts unterschreiben, Laura, das Du nicht zuvor gelesen hast?«
»Gewiß nicht, Marianne. Was ich nur immer redlicherweise thun kann, um ihm zu helfen, das will ich thun, um Dein Leben, meine Schwester und das meinige so behaglich und glücklich wie nur möglich zu machen. Aber ich will Nichts in Unwissenheit thun, dessen wir uns vielleicht später einmal zu schämen hätten. Laß uns jetzt nicht weiter darüber sprechen – Du hast Deinen Hut auf, wollen wir den Nachmittag zusammen in den Anlagen verträumen –?«
Als wir das Haus verließen, gingen wir dem nächsten Schatten zu, und an einer offenen Stelle zwischen den Bäumen vor dem Hause sahen wir den Grafen Fosco, der langsam im Grase auf und ab spazierte und sich in der vollen Gluth des heißen Julinachmittags sonnte. Er hatte einen großen runden Strohhut mit einem veilchenfarbenen Bande auf. Eine blaue Blouse, die auf der Brust reich mit einer weißen Stickerei verziert war, umhüllte seinen umfangreichen Körper und wurde an der Stelle, wo vielleicht ehedem seine Taille gewesen sein mochte, durch einen breiten rothen Saffiangürtel festgehalten. Nankingbeinkleider, die oberhalb der Knöchel wiederum viel schöne Stickerei zeigten und dunkelblaue Maroquinschuhe schmückten seine unteren Extremitäten. Er sang das berühmte Lied des Figaro im Barbier von Sevilla mit jener Stimmgeläufigkeit, die so ausschließlich dem italienischen Gesangsorgane eigen ist, und spielte die Begleitung auf der Concertina, wobei er entzückt mit den Armen um sich warf, und anmuthig den Kopf hin und her drehte, wie eine dicke Santa Cecilia, die in Männerkleidung einher maskeradirte. »Figaro quà! Figaro là! Figaro sù! Figaro giù!« sang der Graf, indem er fröhlich die Concertina auf Armlänge von sich streckte und sich mit der Anmuth und Leichtigkeit eines Figaro von zwanzig Jahren gegen uns verbeugte.
»Verlaß’ Dich drauf, Laura, dieser Mensch weiß Etwas von Sir Percival’s Verlegenheit,« sagte ich, als wir aus sicherer Entfernung des Grafen Gruß zurückgaben.
»Warum glaubst Du das?« fragte sie.
»Wie hätte er sonst wissen sollen, daß Mr. Merriman Sir Percival’s Rechtsanwalt ist?« entgegnete ich. »Und außerdem sagte er mir, ohne daß ich ein Wort der Frage an ihn gerichtet hätte, als ich nach Euch das Frühstückszimmer verließ, daß Etwas vorgefallen sei. Verlaß’ Dich drauf, er weiß mehr als wir von der Sache.«
»Wenn auch – frage ihn nach Nichts, ziehe ihn nicht in unser Vertrauen!«
»Du scheinst sehr entschiedene Abneigung gegen ihn zu hegen, Laura. Was hat er gesagt oder gethan, um dieses Gefühl zu rechtfertigen?«
»Nichts, Marianne. Im Gegentheil, er war die Güte und Aufmerksamkeit selbst auf unsrer Heimreise und bezwang Sir Percival’s leidenschaftliche Ausbrüche mehrmals auf die rücksichtsvollste Weise gegen mich. Vielleicht ist er mir unangenehm, weil er so viel mehr Macht über meinen Mann hat, als ich. Es verletzt wahrscheinlich meinen Stolz, ihm für seine Vermittelung zu Dank verpflichtet zu sein. Das Einzige aber, was ich gewiß weiß, ist, daß er mir zuwider ist.«
Der Rest des Tages und Abends verging ziemlich friedlich. Der Graf und ich spielten Schach. In den ersten beiden Partien ließ er sich aus Höflichkeit von mir besiegen, und dann, als er sah, daß ich ihn durchschaut, bat er mich um Verzeihung und schlug mich in der nächsten nach zehn Minuten. Sir Percival erwähnte des Besuches seines Advokaten nicht ein einziges Mal während des ganzen Abends. Doch hatte entweder jenes Ereigniß oder sonst irgend Etwas eine auffallend günstige Veränderung in ihm hervorgebracht. Er war gegen uns Alle so höflich und liebenswürdig, wie er es während seiner Probezeit in Limmeridge gewesen war, und so erstaunlich aufmerksam und gütig gegen seine Frau, daß selbst die eisige Gräfin sich soweit aus ihrer Erstarrung herausriß, um ihn voll ernster Verwunderung anzublicken. Was hat dies zu bedeuten? Ich glaube, ich errathe es; ich fürchte, Laura kann es errathen, und ich bin überzeugt, daß Graf Fosco es weiß. Ich ertappte Sir Percival mehrere Male während des Abends darauf, daß er den Grafen ansah, als erwarte er in seinen Blicken Beifall zu lesen.
Den 3. Juli.
Ein Tag der Ereignisse. Ich hoffe und bete nur von ganzem Herzen, daß ich nicht noch hinzuzufügen haben werde: und ein Tag des Unglücks.
Sir Percival war über die geheimnißvolle »Uebereinkunft« (wie der Advokat es genannt hatte), die über unsern Häuptern schwebte, nächsten Morgens beim Frühstücke ebenso zurückhaltend, wie er es gestern Abend gewesen war. Eine Stunde später aber trat er in das allgemeine Wohnzimmer, wo Laura und ich in unsern Hüten auf die Gräfin Fosco warteten, und frug nach dem Grafen.
»Wir erwarten ihn jeden Augenblick,« sagte ich.
»Die Sache ist die,« fuhr Sir Percival fort, indem er aufgeregt im Zimmer auf- und abging, »ich habe mit Fosco und seiner Frau wegen einer bloßen Geschäftsformalität in der Bibliothek zu sprechen, und mit Dir auch, Laura, auf eine Minute.« Er hielt inne und schien zum ersten Male zu bemerken, daß wir zum Spazierengehen gerüstet waren »Seid Ihr eben hereingekommen,« frug er, »oder wollt Ihr erst ausgehen?«
»Wir beabsichtigten heute Morgen nach dem See zu gehen,« sagte Laura, »wenn Du aber etwas Anderes vorzuschlagen hast –«
»Nein, nein!« entgegnete er hastig. »Was ich vorzuschlagen hatte, kann warten. Es wird nach dem Gabelfrühstück auch noch Zeit genug dazu sein. Ihr wollt Alle nach dem See gehen, wie? Ein guter Einfall. Wir wollen einen müßigen Morgen haben: ich schließe mich der Gesellschaft an.«
Man konnte sein Wesen nicht mißverstehen, selbst wenn man sich über die mit seinem Charakter so vollkommen im Widerspruche stehende Bereitwilligkeit hätte täuschen können, mit der er seine eignen Pläne der Bequemlichkeit Anderer unterordnete. Es war ihm offenbar eine Erleichterung, einen Vorwand zu finden, um die Geschäftsformalität, deren er erwähnt, aufzuschieben. Mir sank das Herz, als ich den unvermeidlichen Schluß hieraus zog.
Der Graf und seine Frau gesellten sich in diesem Augenblicke zu uns. Die Dame trug ihres Mannes gestickte Tabakstasche und einen Vorrath von Papier zur ewigen Anfertigung von Cigarretten. Der Herr, wie gewöhnlich in Blouse und Strohhut, trug die Pagode mit seinen lieben kleinen weißen Mäusen und lächelte ihnen und uns mit einer wahrhaft unwiderstehlichen Liebenswürdigkeit zu.
»Mit Ihrer freundlichen Erlaubniß,« sagte der Graf, »will ich meine kleine Familie hier, meine armen, lieben, harmlosen, hübschen kleinen Mäuschen auch mit auf den Spaziergang nehmen. Es sind Hunde im Hause, und soll ich meine verlassenen weißen Kinder der Barmherzigkeit von Hunden überlassen? O, niemals!«
Er zirpte seinen kleinen weißen Kindern durch die Stäbe der Pagode väterlich zu, und dann brachen wir Alle nach dem See auf.
In den Anlagen schlenderte Sir Percival von uns fort; es scheint mit zu seinem unstäten Wesen zu gehören, daß er sich bei solchen Gelegenheiten jedesmal von seinen Gefährten trennt, und während er dann allein ist, schneidet er neue Spazierstöcke für seinen eignen Gebrauch. Er scheint schon im bloßen Schneiden und Hacken eine Unterhaltung zu finden und hat das Haus mit Spazierstöcken angefüllt, von denen er keinen einzigen zum zweiten Male benutzt.
Bei dem alten Boothause traf er wieder mit uns zusammen. Ich will die Unterhaltung, die sich entspann, nachdem wir uns Alle gesetzt hatten, genau niederschreiben. Es ist, soweit sie mich selbst betrifft, eine wichtige Unterhaltung, denn sie hat mich bewogen, dem Einflusse, welchen Graf Fosco über meine Gedanken und Gefühle ausgeübt hat, ernstlich zu mißtrauen und denselben für die Zukunft mit möglichster Entschlossenheit zu bekämpfen.
Das Boothaus war groß genug, um uns alle aufzunehmen, aber Sir Percival blieb draußen und hackte mit seinem kleinen Taschenbeile an seinem letzten neuen Stocke. Wir drei Frauen fanden reichlich Platz auf der großen Bank. Laura nahm ihre Arbeit heraus, und die Gräfin Fosco begann ihre Cigarretten. Ich selbst hatte, wie gewöhnlich, Nichts zu thun. Meine Hände sind stets so ungeschickt wie Männerhände gewesen und werden es ewig bleiben. Der Graf nahm gutmüthigerweise einen Sessel, der um ein Unendliches zu klein für ihn war, und schaukelte sich darauf, mit dem Rücken gegen die Wand des Schuppens gelehnt, der unter seiner Wucht krachte und zitterte. Er nahm die Pagode auf den Schooß und ließ die Mäuse heraus und über seine ganze Person hinkriechen. Es sind hübsche, harmlose Thierchen, aber es ist mir gewissermaßen ein widerlicher Anblick, sie so über eines Mannes Körper hinkriechen zu sehen; er erregt ein sonderbares, entsprechendes Kriechen in meinen eignen Nerven, und eine scheußliche Idee von Leuten, welche in Gefängnissen gestorben sind, über deren hülflose Körper die kriechenden Geschöpfe ihres Kerkers ungestört ihr Wesen treiben.
Der Morgen war windig und der Himmel wolkig, und die schnellen Wechsel von Licht und Schatten auf der Fläche des Sees verliehen der Aussicht etwas doppelt Wildes, Geheimnißvolles und Finsteres.
»Das nennen nun einige Leute malerisch,« sagte Sir Percival, mit seinem halbfertigen Stocke auf die vor uns liegende Aussicht deutend, »ich nenne es dagegen eine Verunzierung auf dem Besitzthume eines Gentlemans. Zur Zeit meines Urgroßvaters kam der See bis hier heran – jetzt seht ihn an! er ist an der tiefsten Stelle kaum vier Fuß tief und besteht aus lauter Sümpfen und Pfützen. Ich wollte, ich hätte die Mittel, ihn auszutrocknen und die Stelle dann zu bepflanzen. Mein Inspektor sagt (in seinem blödsinnigen Aberglauben), er sei überzeugt, daß auf dem See, wie auf dem todten Meere, ein Fluch laste. Was meinst Du, Fosco? Sieht die Stelle nicht aus, wie für einen Mord gemacht, was?«
»Mein guter Percival!« sagte der Graf im Tone sanfter Vorstellung. »Woran denkt Dein gesunder englischer Menschenverstand? Das Wasser ist ja viel zu flach, um den Leichnam zu verbergen, und hat überall Sand, um die Fußspuren des Mörders zu zeigen. Die Stelle ist meiner Ansicht nach die allerungünstigste für einen Mord, die ich je gesehen habe.«
»Gewäsch!« sagte Sir Percival, wüthend auf seinen Stock einhackend. »Du weißt recht gut, was ich meine. Die düstere Gegend – die einsame Lage. Wenn es Dir gefällig ist, mich zu verstehen, so kannst Du es recht gut, wo nicht, so werde ich mir wahrhaftig nicht erst die Mühe geben, Dir auseinanderzusetzen, was ich meine.«
»Und warum nicht,« sagte der Graf, »wenn es sich doch in zwei Worten thun läßt? Wenn ein Narr einen Mord begehen wollte, da wäre Dein See wahrscheinlich der erste Ort,·den er sich dazu ausersehen würde. Wollte aber ein gescheidter Mann einen Mord begehen, so wäre es der allerletzte Ort dazu. Ist das, was Du sagen wolltest? Dann hast Du also hiermit Deine Erklärung. Nimm sie, mein guter Percival, mit Deines Fosco’s Segen.«
Laura schaute den Grafen mit einem Gesichtsausdrucke an, der ihr Mißfallen an ihm etwas zu deutlich verrieth, doch war er so von seinen Mäusen in Anspruch genommen, daß er dies nicht bemerkte.
»Es thut mir leid zu hören, wie man diese Seeansicht mit einer so schrecklichen Idee, wie der eines Mordes in Verbindung bringt,« sagte sie, »und wenn Graf Fosco Mörder classificiren will, so scheint er mir in der Wahl seiner Ausdrücke kein besonderes Glück gehabt zu haben. Mir scheint, daß wenn man sie als Narren bezeichnet, man eine Nachsicht gegen sie übt, zu der sie nicht berechtigt sind, und sie gescheidte Leute zu nennen scheint mir geradezu ein Widerspruch. Ich habe immer gehört, daß wahrhaft gescheidte Menschen zugleich wahrhaft gute Menschen sind und tiefen Abscheu gegen alles Verbrechen hegen.«
»Meine verehrte Dame,« sagte der Graf, »das sind herrliche Gefühle, und ich habe sie oft als Vorschriften in Schönschreibebüchern gesehen.« Er nahm eine der weißen Mäuschen und setzte sie auf seine Handfläche; dann hielt er ihr auf seine launige Weise eine kleine Rede. »Mein lieber, hübscher, glatter kleiner Spitzbube,« sagte er, »hier ist eine Moral für Dich. Eine wahrhaft gescheidte Maus ist eine wahrhaft gute Maus. Sei so gütig, dies Deinen Gefährten bekannt zu machen und nage Dein Lebelang nicht wieder an den Stäben Deines Käfigs.«
»Es ist eine Kleinigkeit, Alles ins Lächerliche zu ziehen,« sagte Laura entschlossen; »aber Sie werden es nicht ganz so leicht finden, Graf Fosco, mir ein Beispiel von einem gescheidten Manne zu geben, der ein großer Verbrecher gewesen wäre.«
Der Graf zuckte mit den Achseln und lächelte Laura auf das Freundlichste an.
»Sehr wahr!« sagte er. »Des Narren Verbrechen ist dasjenige, welches entdeckt, und des gescheidten Mannes das, welches nicht entdeckt wird. Wenn ich Ihnen ein Beispiel geben könnte, so wäre es nicht mehr das eines gescheidten Mannes. Liebe Lady Glyde, Ihr gesunder englischer Verstand hat mich geschlagen. Diesmal bin ich schachmatt; wie, Miß Halcombe?«
»Laß Dich nicht verblüffen, Laura,« spottete Sir Percival, der von der Thüre aus zugehört hatte. »Sage ihm auch noch, daß Verbrechen durch eigenes Verschulden des Thäters entdeckt werden. Da hast Du noch eine Schönschreibebuch-Moral, Fosco. Verbrechen werden durch des Thäters eigenes Verschulden entdeckt. Welch’ verdammtes Gewäsch!«
»Ich glaube, daß es wahr ist,« sagte Laura ruhig.
Sir Percival lachte laut auf – so heftig, so übertrieben, daß er uns Alle erschreckte, den Grafen aber am meisten.
»Ich glaube dasselbe,« sagte ich, Laura zu Hülfe eilend.
Sir Percival, den die Bemerkung seiner Frau in so unbegreiflichem Grade belustigt hatte, war durch die meinige in demselben Grade erzürnt. Er stieß heftig mit dem neuen Spazierstocke auf den Boden und ging fort.
»Dieser gute Percival!« rief der Graf, ihm fröhlich nachblickend; »er ist das Opfer englischen Spleens. Aber meine liebe Miß Halcombe, theuerste Lady Glyde, glauben Sie wirklich, daß Verbrechen durch des Thäters eigenes Verschulden entdeckt werden? Und Du, mein Engel,« fuhr er zu seiner Gemahlin gewendet hinzu, welche noch kein Wort gesagt hatte, »glaubst Du es auch?«
»Ich lasse mich belehren,« entgegnete die Gräfin in einem Tone eisigen Vorwurfes gegen Laura und mich gerichtet, »ehe ich mir anmaße, in Gegenwart wohlunterrichteter Männer zu urtheilen.«
»Wirklich?« sagte ich. »Ich weiß doch die Zeit noch, Gräfin, wo Sie die Rechte der Frauen vertraten, und eines derselben war Meinungsfreiheit.«
»Wie denkst Du über den Gegenstand, Graf?« frug die Gräfin, ruhig mit Anfertigung ihrer Cigarretten fortfahrend und ohne die geringste Notiz von mir zu nehmen.
Der Graf streichelte eine seiner weißen Mäuse nachdenklich mit dem kleinen Finger, ehe er Etwas erwiderte.
»Es ist wahrhaft staunenswerth,« sagte er, »wie leicht die Gesellschaft für die schlimmsten ihrer Vergehen sich durch ein Stückchen Gemeinplatz tröstet. Die Maschinerie, welche sie zur Entdeckung von Verbrechen eingesetzt hat, ist auf eine erbärmliche Weise unzureichend, und dennoch – es erfinde nur Einer ein moralisches Epigramm und sage, daß es von guter Wirkung sei, und sofort wird er Alles gegen die Fehler desselben verblendet haben. Also Verbrechen werden durch des Thäters eigenes Verschulden entdeckt? Und ›Es ist Nichts so fein gesponnen, es kommt doch an’s Licht der Sonnen‹ wie? Fragen Sie die Richter, Lady Glyde, welche in großen Städten bei Leichenschauen gegenwärtig sind, ob dies wahr sei. Fragen Sie Secretaire, die bei Lebensversicherungsgesellschaften angestellt sind, Miß Halcombe, ob dies der Fall ist. Lesen Sie die öffentlichen Blätter. Sind nicht unter den wenigen Fällen, die ihren Weg in die Zeitungen finden, Beispiele von erschlagen gefundenen Körpern, deren Mörder unentdeckt bleiben? Multipliciren Sie die Fälle, welche berichtet sind, mit denen, die unberichtet bleiben, und die Leichname, die gefunden werden, mit denen, die verborgen bleiben, zu welchem Schlusse kommen Sie da? Zu folgendem. Daß es ungeschickte Verbrecher giebt, die entdeckt werden, und gescheidte Verbrecher, die der Entdeckung entgehen. Worin besteht das Verhehlen oder das Aufdecken eines Verbrechens? In Schlauheitversuchen der Polizei auf der einen und des Individuums auf der andern Seite. Wenn der Verbrecher ein brutaler, unwissender Narr ist, so siegt die Polizei in zehn Fällen neun Mal; ist er aber ein entschlossener, gebildeter, in hohem Grade intelligenter Mensch, so verliert die Polizei in demselben Verhältnisse. Wenn die Polizei siegt, hören Sie gewöhnlich den ganzen Hergang der Sache – verliert sie dagegen, so hören Sie meistens kein Wort von der Geschichte. Und auf diese wackelige Grundlage bauen Sie Ihre gemüthliche moralische Maxime, daß Verbrechen durch des Thäters eigenes Verschulden entdeckt werden! Ja – alle Verbrechen, von denen Sie etwas wissen, Wie aber steht’s mit den übrigen?«
»Verflucht wahr das, und sehr gut dargethan,« rief eine Stimme am Eingange des Boothauses. Sir Percival hatte seinen Gleichmuth wieder gewonnen und war zurückgekehrt, während wir dem Grafen zuhörten.
»Es mag zum Theil wahr sein und ist Alles sehr gut dargethan,« sagte ich. »Aber ich sehe nicht ein, warum Graf Fosco den Sieg des Verbrechers über die Gesellschaft mit solchem Frohlocken feiere, oder warum Sie, Sir Percival, ihm so enthusiastisch dafür applaudiren sollten.«
»Hörst Du es, Fosco?« sagte Sir Percival spöttisch. »Nimm meinen Rath und schließe Frieden mit Deinen Zuhörern. Sage ihnen, daß es etwas Herrliches um die Tugend ist – das wird ihnen gefallen, kann ich Dir versprechen.«
Der Graf lachte still in sich hinein, und zwei von den weißen Mäusen in seiner Weste stürzten, über das Erdbeben unter derselben entsetzlich erschrocken, heraus, und eilten in ihren Käfig zurück.«
»Die Damen,« sagte er, »sollen mir von der Tugend erzählen, mein guter Percival. Sie haben darüber ein besseres Urtheil als ich; denn sie wissen, was Tugend ist, und ich weiß es nicht.«
»Hört ihn an!« sagte Sir Percival, »ist das nicht entsetzlich?«
»Es ist wahr,« sagte der Graf ruhig. »Ich bin ein Weltbürger und habe in meinem Leben schon so viele verschiedene Arten von Tugend kennen gelernt, daß ich jetzt in meinen alten Tagen nicht im Stande bin, die rechte Sorte von der unrechten zu unterscheiden. Hier in England giebt es eine Sorte und da hinten in China eine andere. John Engländer sagt, die meine ist die echte Tugend, und John Chinese sagt, nein, die meine ist die echte. Und ich sage Ja zu dem Einen oder Nein zu dem Andern und bin dabei über das Richtige ebenso sehr im Unklaren bei John in den Reitstiefeln, wie bei John mit dem Zopfe. Ach! meine süße kleine Maus! komm’ und küsse mich. Wie denkst du über tugendhafte Leute, mein Mäuselinichen? Daß es Leute sind, die Dich warm halten und Dir reichlich zu speisen geben? Gar keine schlechte Idee und jedenfalls eine verständliche.«
»Einen Augenblick, Graf,« unterbrach ich ihn, »auf Ihr Beispiel eingehend, so haben wir doch ohne Frage eine Tugend in England, die ihnen in China fehlt. Die chinesischen Gerichtsobrigkeiten tödten Tausende von unschuldigen Menschen auf irgend einen abscheulichen nichtigen Vorwand hin. In England sind wir von aller derartigen Schuld fern, so fürchterliche Verbrechen begehen wir nicht, wir verabscheuen sorgloses Blutvergießen von ganzem Herzen.«
»Ganz recht, Marianne,« sagte Laura, »ein guter Gedanke und gut ausgedrückt.«
»Bitte, gestatten Sie dem Grafen, fortzufahren,« sagte die Gräfin mit strenger Höflichkeit »Sie werden finden, meine Damen, daß er nie Etwas sagt, wofür er nicht die vortrefflichsten Gründe hätte.«
»Ich danke Dir, mein Engel,« sagte der Graf, »darf ich Dir einen Bonbon anbieten?« Er nahm eine niedliche kleine Schachtel aus der Tasche und stellte sie offen auf den Tisch. »Chocolat à la Vanille,« rief dieser unerschütterliche Mann, indem er fröhlich die Schachtel schüttelte und sich rundum gegen die Gesellschaft verneigte. »Als ein Act der Huldigung Fosco’s gegen die bezaubernde Gesellschaft.«
»Sei so gut und fahre fort, Graf,« sagte seine Frau mit einem tückischen Blicke auf mich; »thu’ mir den Gefallen, Miß Halcombe zu widerlegen.«
»Miß Halcombe ist unwiderlegbar,« entgegnete der höfliche Italiener – »das heißt, in soweit sie geht. Ja! ich stimme mit ihr überein. John Bull verabscheut des Chinesen Greuelthaten. Es giebt in der Welt keinen flinkern alten Herrn als ihn, um die Fehler Anderer wahrzunehmen und keinen langsamern, wo es auf die Entdeckung seiner eigenen ankommt. Ist er aber wirklich auf seine Art so viel besser, als die Leute, die er verdammt? Die englische Gesellschaft, Miß Halcombe, ist ebenso oft die Mitschuldige des Verbrechens, wie sie dessen Feindin ist. Ja! ja! Das Verbrechen ist in diesem Lande gerade dasselbe, was es in andern Ländern ist – ebenso oft der gute Freund eines Mannes und Derer, die zu ihm gehören, als es sein Feind und der ihrige ist. Ein großer Schurke sorgt für seine Frau und Kinder: je schlechter er ist, desto lebhafter erregt er Eure Theilnahme für seine Familie. Oft sorgt er auch für sich selbst. Ein ausschweifender Verschwender, der fortwährend Geld borgt, wird mehr aus seinen Freunden machen, als der streng rechtliche Mann, der nur einmal in der bittersten Nothwendigkeit von ihnen borgt. In ersterem Falle werden die Freunde durchaus nicht erstaunen und deshalb herhalten, im zweiten werden sie sehr überrascht sein und daher zögern, ehe sie Etwas herausgeben. Ist das Gefängniß, in welchem Herr Schurke am Ende seiner Laufbahn Wohnung bekommt, ein unangenehmerer Aufenthalt, als das Landarbeitshaus, in dem Herr Biedermann am Ende der seinigen sich zurückziehen muß? Wenn John Howard-Menschenfreund Elend erleichtern will, so sucht er es in Gefängnissen auf, wo es verbrecherisches Elend ist, nicht aber in den Hütten der Armuth, wo es tugendhaftes Elend ist. Wer ist derjenige englische Poet, der sich die allgemeinste Theilnahme errungen, der den leichtesten Gegenstand zu pathetischer Dichtung und pathetischer Malerei abgiebt? Jener charmante junge Mann, der das Leben mit einer Fälschung begann und es mit Selbstmord beendete – Euer lieber, romantischer, interessanter Chatterton. Welche von zwei verhungernden Nähjungfern kommt Ihrer Ansicht nach wohl am besten weg, die, welche der Versuchung widersteht und ehrlich bleibt, oder die, welche ihr weicht und stiehlt? Ihr wißt Alle recht gut, daß diese Person durch diesen Diebstahl ihr Glück macht, es ist eine Reclame für sie von einem Ende zum andern des gutmüthigen, mildthätigen England, und als Uebertreterin eines Gebotes wird ihr geholfen, während man sie hätte verhungern lassen, so lange sie das Gebot gehalten. Komm her, meine lustige kleine Maus! Hei! presto! flink! Ich verwandle dich für den Augenblick in eine respectable Dame. Bleib’ hier in der Fläche meiner schrecklich großen Hand, mein Mäuschen, und höre mir zu. Du heirathest den armen Mann, den du liebst, Maus, und die eine Hälfte Deiner Bekannten bemitleidet dich, während die andere dich tadelt. Jetzt aber verkaufst du dich im Gegentheil für Gold einem Manne, um den Du Dich keinen Pfifferling scheerst, und alle deine Bekannten jubeln; und der Verwalter des öffentlichen Gottesdienstes weihet den schändlichsten aller menschlichen Handelsverträge und lächelt und grinst hernach an Deinem Tische, wenn Du so gütig gewesen bist, ihn zum Frühstück einzuladen. Hei! presto! flink! Sei wieder eine Maus und quikse; denn wenn du noch länger eine Dame bliebst, so würdest du mir zunächst sagen, daß die Gesellschaft das Verbrechen verabscheute, und dann, Maus, würde ich daran zweifeln, ob deine eigenen Augen und Ohren dir wirklich von geringstem Nutzen seien. Ach! ich bin ein schlechter Mann, Lady Glyde, nicht wahr? Ich spreche aus, was andere Leute blos denken, und wenn die ganze übrige Welt sich verschwört, die Maske für das Gesicht anzunehmen, so ist die meine die verwegene Hand, welche die plumpe Pappe hinwegreißt und die nackten Knochen darunter zeigt. Ich will mich auf meine großen Elephantenbeine erheben, ehe ich mir in Ihrer unschätzbaren Meinung noch mehr Schaden thue, ich will mich erheben und einen kleinen Spaziergang, machen. Theure Damen, wie Ihr vortrefflicher Sheridan sagt, ich gehe und lasse meinen Charakter in Ihren Händen zurück.«
Er stand auf, stellte den Käfig auf den Tisch und blieb einen Augenblick, um die Mäuse in demselben zu zählen. »Eins, zwei, drei, vier – ha!« rief er mit einem Blicke des Entsetzens, »wo, ins Himmels Namen, ist die fünfte – die jüngste, weißeste, liebenswürdigste von Allen – mein Mäuse-Benjamin?«
Weder Laura noch ich waren im Geringsten aufgelegt, belustigt zu sein, denn des Grafen schamloser Cynismus hatte uns einen neuen Einblick in seinen Charakter verschafft, vor dem wir Beide zurückbebten. Aber der komische Schmerz eines so umfangreichen Mannes über den Verlust einer so kleinen Maus war unwiderstehlich. Wir lachten widerwillen, und als die Gräfin Fosco sich erhob und uns das Beispiel gab, das Boothaus zu räumen, damit der Graf in dessen entlegensten Winkel Nachsuchung halten könne, standen wir ebenfalls auf, um demselben zu folgen.
Ehe wir noch drei Schritte gethan hatten, entdeckte des Grafen scharfes Auge schon die verlorene Maus unter dem Sitze, den wir eingenommen hatten. Er zog die Bank auf die Seite und nahm das kleine Thier in die Hand; plötzlich aber kniete er nieder und blickte aufmerksam auf einen Flecken am Boden dicht vor ihm.
Als er sich wieder aufrichtete, zitterte seine Hand so, daß er die Maus kaum in ihren Käfig zu setzen vermochte, und sein Gesicht war mit einer matten Blässe bedeckt.
»Percival!« rief er flüsternd. »Percival! Komm’ her.«
Sir Percival hatte während der letzten zehn Minuten uns nicht beachtet. Er war beschäftigt gewesen, Zahlen in den Sand zu malen und sie dann mit seinem Stocke wieder zu verwischen.
»Was ist jetzt los?« sagte er, unbekümmert in das Boothaus schlendernd.
»Siehst Du dort Nichts?« sagte der Graf, ihn mit der einen Hand zitternd am Kragen fassend und mit der anderen auf die Stelle deutend, neben welcher er die Maus wiedergefunden hatte.
»Ich sehe eine Menge trocknen Sandes,« entgegnete Sir Percival, »und mitten darin einen Kothflecken.«
»Kein Koth,« flüsterte der Graf, plötzlich auch die andere Hand auf Sir Percival’s Kragen legend und ihn in seiner Aufregung zerrend, »Blut!«
Laura stand nahe genug, um das letztere Wort, so leise es auch gesprochen ward, zu hören. Sie wandte sich mit einem Blick des Schreckens zu mir.
»Unsinn, mein Herz,« sagte ich. »Es ist kein Grund zur Unruhe vorhanden. Es ist Nichts, als das Blut eines verlaufenen kleinen Hundes.«
Alle waren erstaunt und richteten fragend ihre Blicke auf mich.
»Woher wissen Sie das?« frug Sir Percival, zuerst das Wort nehmend.
»Ich fand den Hund hier im Sterben an dem Tage, wo Sie Alle von der Reise ankamen,« erwiderte ich. »Das arme Thier hatte sich in die Anlagen verlaufen und wurde von Ihrem Wildwärter dafür erschossen.«
»Wem gehörte der Hund?« frug Sir Percival. »Es war doch nicht einer von den meinigen?«
»Versuchtest Du nicht, das arme Thierchen zu retten?« frug Laura mit ernstem Gesichte. »O gewiß, Marianne, Du versuchtest es doch?«
»Ja,« sagte ich, »die Haushälterin und ich thaten unser Möglichstes, aber der Hund war tödtlich verwundet und starb uns unter den Händen.«
»Wessen Hund war es?« wiederholte Sir Percival etwas gereizt. »Einer von den meinigen?«
»Nein, keiner von den Ihrigen.«
»Wessen also? Wußte die Haushälterin es?«
In dem Augenblicke, wo er die Frage that, fiel mir ein, daß die Haushälterin gesagt hatte, Mrs. Catherick wünsche nicht, daß Sir Percival Etwas von ihrem Besuch in Blackwater Park erfahre, und ich zweifelte halb an der Rathsamkeit, die Frage zu beantworten. Doch war ich in meiner Besorgniß, die allgemeine Unruhe zu beseitigen, unvorsichtigerweise zu weit gegangen um zurückzutreten, ohne dadurch Verdacht zu erregen, der die Sache nur noch verschlimmert hätte. Es blieb mir also Nichts weiter übrig, als sofort und ohne alle Rücksichtnahme auf etwaige Folgen zu antworten.
»Ja,« sagte ich. »Die Haushälterin kannte ihn. Sie sagte mir, er gehöre Mrs. Catherick.«
Sir Percival war bisher mit dem Grafen innerhalb des Boothauses geblieben, während ich von der Thüre aus zu ihm sprach. Aber sowie ich Mrs. Catherick’s Namen aussprach, drängte er sich ungehalten an dem Grafen vorbei und stellte sich unter dem hellen Tageslichte mir dicht gegenüber.
»Wie kam die Haushälterin dazu, zu wissen, daß der Hund Mrs. Catherick gehöre?« frug er, indem er die Augen mit einer finstern Aufmerksamkeit auf die meinigen heftete, die mich halb erzürnte und halb erschreckte.
»Sie wußte es,« sagte ich gelassen, »weil Mrs. Catherick den Hund mitbrachte.«
»Ihn mitbrachte? Wohin brachte sie ihn mit?«
»Ins Haus.«
»Was, zum Teufel, hatte Mrs. Catherick im Hause zu thun?«
Die Art und Weise, in welcher er die Frage that, war fast noch beleidigender als die Ausdrücke, deren er sich bediente.
Ich gab ihm meinen Unwillen darüber zu verstehen, indem ich mich schweigend von ihm abwandte.
In demselben Augenblick legte der Graf ihm seine Hand auf die Schulter und sagte in überredendem Tone:
»Mein lieber Percival! – sachte! sachte!«
Sir Percival blickte sich zornig um. Der Graf lächelte nur und wiederholte seine Beruhigungsformel:
»Sachte, mein guter Freund! sachte!«
Sir Percival zögerte, ging mir ein paar Schritte nach und machte mir zu meinem größten Erstaunen eine Entschuldigung.
»Ich bitte um Verzeihung, Miß Halcombe,« sagte er. »Mir ist in letzter Zeit nicht recht wohl gewesen, und ich fürchte, es hat mich etwas reizbar gemacht. Aber ich möchte gern wissen, was in aller Welt Mrs. Catherick hier wollte. Wann kam sie? War die Haushälterin die einzige Person, die sie sah?«
»Soviel ich weiß, war sie die einzige,« entgegnete ich.
Der Graf legte sich abermals dazwischen.
»In dem Falle würde ich die Haushälterin befragen,« sagte er. »Warum nicht gleich zur Quelle gehen, Percival?«
»Ganz recht!« sagte Sir Percival. »Natürlich ist die Haushälterin die rechte Person zu befragen. Sehr dumm von mir, das nicht gleich zu sehen.« Mit diesen Worten verließ er uns augenblicklich, um zum Hause zurückzukehren.
Des Grafen Beweggrund, den Vermittler zu machen, verrieth sich, sowie Sir Percival den Rücken gewandt hatte. Er hatte mir eine Masse Fragen über Mrs. Catherick und den Zweck ihres Besuches in Blackwater Park vorzulegen, die er in seines Freundes Gegenwart kaum hätte thun können. Ich machte meine Antworten so kurz, wie es die Höflichkeit zuließ, denn ich hatte bereits beschlossen, jeder Annäherung zu vertrauten Mittheilungen zwischen dem Grafen und mir von vorn herein entgegenzutreten Laura half ihm jedoch unbewußterweise, indem sie selbst mir Fragen vorlegte, die mir keine andere Wahl ließen, als entweder sie zu beantworten, oder allen Beiden in dem sehr falschen und wenig beneidenswerthen Charakter einer Mitwisserin von Sir Percival zu erscheinen. Das Ende davon war, daß in ungefähr zehn Minuten der Graf ebensoviel über Mrs. Catherick und über die Ereignisse wußte, die uns auf so seltsame Weise mit ihrer Tochter Anna in Verbindung gebracht hatten, als ich selbst, und zwar von dem Augenblicke an, wo Walter Hartright ihr begegnete, bis auf diesen Tag.
Die Wirkung dieser meiner Auskunft auf ihn war in einer Beziehung ziemlich bemerkenswerth. So intim er auch mit Sir Percival ist, und so gut er auch von dessen Privatangelegenheiten im Allgemeinen unterrichtet zu sein scheint, ist er doch offenbar ebenso weit entfernt wie ich, Etwas von der wahren Geschichte von Anna Catherick zu wissen. Das ungelöste Geheimniß in Bezug auf diese unglückliche Frau wird jetzt in meinen Augen doppelt verdächtig durch die feste Ueberzeugung, daß Sir Percival den Schlüssel zu demselben selbst seinem vertrautesten Freunde vorenthalten hat. Es war unmöglich, die eifrige Neugier in den Blicken und Manieren des Grafen zu mißdeuten, als er begierig jedem Worte lauschte, das von meinen Lippen fiel. Ich weiß wohl, daß es viele verschiedene Arten von Neugier giebt; aber die einer vollkommenen Ueberraschung ist unverkennbar, und falls ich sie jemals sah, so war dies in dem Augenblicke im Gesichte des Grafen.
Während dieser Fragen und Antworten waren wir Alle langsam durch die Anlagen zum Hause zurückgekehrt. Sowie wir hier anlangten, war das Erste, was wir sahen, Sir Percival’s Gig, das angespannt vor der Thüre hielt, und der Groom, der in seiner Stalljacke das Pferd hielt. Nach diesen unerwarteten Erscheinungen hatte das Verhör der Haushälterin bereits wichtige Erfolge gehabt.
»Ein schönes Pferd, mein Freund,« sagte der Graf mit der bezauberndsten Vertraulichkeit zum Reitknechte. »Ihr wollt ausfahren?«
»Ich fahre nicht, Sir,« sagte der Mann, auf seine Stalljacke blickend, in sichtbarem Verwundern, ob der ausländische Herr sie wohl für seine Livree halte. »Mein Herr fährt sich selbst.«
»Aha?« sagte der Graf. »In der That? Mich wundert’s, daß er sich die Mühe nimmt, da er doch Euch dazu hat. Wird er das schöne blanke Pferd mit einer langen Fahrt ermüden?«
»Ich weiß nicht, Sir,« entgegnete der Groom. »’S ist ein Mutterpferd, Sir, und das muthigste Thier, das wir im Stalle haben. Sie heißt die braune Molly, Sir, und geht bis sie umfällt. Sir Percival nimmt Isak von York gewöhnlich für kurze Entfernungen.«
»Und Eure blanke, muthige, braune Molly für die langen?«
»Ja wohl, Sir.«
»Der logische Schluß, Miß Halcombe,« sagte der Graf, sich schnell zu mir umwendend, »ist demnach, daß Sir Percival heute eine lange Fahrt vor hat.«
Ich erwiderte Nichts. Ich zog nach dem, was ich von der Haushälterin gehört und was ich vor mir sah, meine eigenen Schlüsse, und es lag mir nicht daran, dieselben mit Graf Fosco zu theilen.
Als Sir Percival in Cumberland war (dachte ich bei mir), machte er einen langen Spaziergang, um die Familie zu Todd’s Ecke über Anna auszufragen. Ist er etwa jetzt in Hampshire im Begriffe, eine noch längere Spazierfahrt zu machen, um Nachfragen über Anna bei Mrs. Catherick zu Welmingham anzustellen?
Wir gingen Alle ins Haus. Als wir über den Flur gingen, trat Sir Percival aus der Bibliothek uns entgegen. Er schien in Eile und sah blaß und sorgenvoll aus, war aber dessenungeachtet in seiner höflichsten Laune, als er uns anredete.
»Ich bedaure zu sagen, daß ich Euch verlassen muß,« begann er – »ich habe eine lange Fahrt vor – eine Sache, die ich nicht gut verschieben kann. Ich werde morgen bei guter Zeit wieder da sein; ehe ich aber gehe, möchte ich die kleine Geschäftsformalität beseitigen, von der ich heute Morgen sagte. Laura, willst Du in die Bibliothek kommen? Es wird Dich keine Minute aufhalten, eine blose Formalität. Darf ich Sie ebenfalls bemühen, Gräfin? Ich wünsche blos, daß Ihr, Du und die Gräfin, Zeugen einer Unterschrift seid, weiter Nichts. Kommt gleich und macht die Sache ab.«
Er hielt die Thür der Bibliothek für sie offen, bis sie Alle eingetreten waren, folgte ihnen und schloß sie leise hinter sich.
Ich blieb einen Augenblick allein in dem Flur stehen, während mein Herz heftig pochte und schlimme Ahnungen sich bei mir einschlichen. Dann wandte ich mich zur Treppe und stieg langsam hinauf nach meinem Zimmer.
Gerade als ich die Hand auf die Thürklinke gelegt, hörte ich Sir Percival’s Stimme, die mir von unten zurief:
»Ich muß Sie bitten, wieder herunter zu kommen« sagte er. »Es ist Fosco’s Schuld, nicht die meine, Miß Halcombe. Er hat irgend einen unsinnigen Einwand dagegen zu machen, daß seine Frau Zeugin ist und mich daher genöthigt, Sie zu bitten, zu uns in die Bibliothek zu kommen.«
Ich trat sofort mit Sir Percival ins Zimmer. Laura stand wartend beim Schreibtische und drehte ihren Gartenhut unruhig in den Händen herum. Die Gräfin saß neben ihr in einem Lehnstuhle, in ihren Zügen malte sich unerschütterliche Bewunderung für ihren Gemahl, welcher am andern Ende des Zimmers am Fenster stand und die welken Blätter von den Blumen ablas.
Sowie ich herein trat, kam der Graf mir entgegen, um mir seine Erklärung zu geben.
»Ich bitte tausendmal um Vergebung, Miß Halcombe,« sagte er »Sie wissen, welchen Charakter man in England meinen Landsleuten beilegt? Wir Italiener sind nach des guten John Bull’s Dafürhalten Alle von Natur hinterlistig und argwöhnisch. Nehmen Sie gütigst an, daß ich um Nichts besser bin als meine Landsleute. Ich bin ein hinterlistiger, argwöhnischer Italiener. Sie haben dies selbst schon gedacht, verehrte Dame, nicht wahr? Nun gut! Es macht einen Theil meiner Hinterlist und meines Argwohns aus, Etwas dawider zu haben, daß die Gräfin Zeugin von Lady Glyde’s Unterschrift sei, wenn ich selbst ein Zeuge bin.«
»Es giebt auch nicht den Schatten eines Grundes für seine Weigerung,« sagte Sir Percival. »Ich habe es ihm erklärt, daß das englische Gesetz seiner Frau sowohl als ihm gestattet, Zeugen bei derselben Unterschrift zu sein.«
»Ich gebe es zu,« sagte der Graf »Das Gesetz von England sagt Ja, aber Fosco’s Gewissen sagt Nein.« Er spreizte seine dicken Finger über seiner Brust aus und verbeugte sich feierlich, wie wenn er uns hiermit sein Gewissen als einen erhabenen Zuwachs der Gesellschaft vorstelle. »Was dies für ein Document sein mag, welches Lady Glyde zu unterzeichnen im Begriffe ist,« fuhr er fort, »weiß ich nicht, noch wünsche ich es zu erfahren. Ich sage blos, daß zu irgend einer Zeit der Zukunft die Umstände sich so gestalten können, daß Sir Percival sich genöthigt sehe, sich auf die beiden Zeugen zu berufen, in welchem Falle es sicherlich wünschenswerth ist, daß diese Zeugen zwei Ansichten verträten, die von einander völlig unabhängig wären. Dies kann nicht sein, wenn meine Frau mit mir unterzeichnet, denn zwischen uns Beiden giebt es nur eine Ansicht und das ist die meinige. Ich will nicht, daß man jemals sagen könne, die Gräfin habe auf meinen Befehl gehandelt und sei demzufolge eigentlich gar kein Zeuge. Ich spreche in Percival’s Interesse, wenn ich vorschlage, daß mein Name als der von Percival’s nächstem Freunde erscheine, und Miß Halcombe’s Name als der von seiner Gemahlin nächststehender Freundin. Ich bin ein Jesuit – wenn es Ihnen gefällt, so zu denken, ein Wortklauber, ein Kleinigkeitskrämer, ein Mann von Grillen und Scrupeln, aber ich hoffe, daß Sie mir aus Barmherzigkeit gegen meinen argwöhnischen italienischen Charakter und mein beunruhigtes italienisches Gewissen willfahren werden.« Er verbeugte sich abermals, trat ein paar Schritte von dem Tische zurück und entzog sein Gewissen unserer Gesellschaft so höflich, wie er es uns vorgestellt hatte.
Des Grafen Skrupel mochten rechtlich und vernünftig genug sein, aber in seiner Art und Weise, sie auszusprechen, lag Etwas, das meinen Widerwillen, mit der Unterschrift irgendwie zu thun zu haben, noch vermehrte. Keine Rücksicht von geringerer Wichtigkeit als meine Gefühle für Laura hätte mich bewogen, überhaupt Zeugin zu werden. Doch ein einziger Blick auf ihre beunruhigten Züge bestimmte mich, lieber Alles zu riskiren, ehe ich sie verließe.
»Ich bin bereit, dazubleiben,« sagte ich. »Und falls ich keine Gründe sehe, meinerseits Einwendungen zu machen, dürfen Sie auf mich als Zeugin rechnen.«
Sir Percival sah mich scharf an, als ob er Etwas zu sagen im Begriffe sei. In demselben Augenblicke aber zog die Gräfin seine Aufmerksamkeit auf sich, indem sie sich von ihrem Platze erhob. Sie hatte offenbar einen Blick vom Grafen erhalten, der ihr Befehl ertheilte, das Zimmer zu verlassen.
»Sie brauchen nicht zu gehen,« sagte Sir Percival.
Die Gräfin sah sich abermals nach Befehl von ihrem Gemahl um, erhielt ihn, sagte, sie ziehe es vor, uns unserem Geschäfte zu überlassen, und ging entschlossen hinaus. Der Graf zündete sich eine Cigarrette an, kehrte zu den Blumen am Fenster zurück und blies in einem Zustande tiefster Aufmerksamkeit, dem Tode der Insecten gewidmet, kleine Rauchwolken auf die Blätter.
Unterdessen öffnete Sir Percival eine Schublade unter einem der Bücherschränke und nahm aus derselben ein Document, das viele Male der Länge nach zusammengefaltet lag. Er legte es auf den Tisch, öffnete blos die letzte Falte und legte seine Hand auf das Uebrige. Aus dieser letzten Falte sah man ein Stück unbeschriebenen Papieres, auf das an gewissen Stellen Oblaten geklebt waren. Jede Zeile der Schrift war in dem Theile verborgen, den er mit der Hand bedeckt hielt. Laura und ich schauten einander an. Ihr Gesicht war bleich, doch zeigte es weder Unentschlossenheit noch Furcht.
Sir Percival tauchte eine Feder ins Tintenfaß und reichte sie seiner Frau·
»Schreibe Deinen Namen hierher,« sagte er, auf eine Stelle deutend. »Sie und Fosco werden hernach Ihre Namen hier diesen Oblaten gegenüber niederzuschreiben haben, Miß Halcombe. Komm’ her, Fosco! Man giebt nicht einen Zeugen bei einer Unterschrift ab, indem man aus dein Fenster gafft und Rauch auf die Blumen bläst.«
Der Graf warf seine Cigarrette fort und trat zu uns an den Tisch, indem er unbekümmert seine Hände in seinen rothen Gürtel steckte und seine Augen fest auf Sir Percival’s Gesicht geheftet hielt. Laura, die auf ihres Mannes anderer Seite stand, hielt die Feder in der Hand und blickte ihn ebenfalls an. Er stand zwischen ihnen, indem er das Document fest mit der Hand niederdrückte und mich, die ich ihm gegenübersaß, mit einer solchen Mischung von Argwohn und Verwirrung anblickte, daß er mehr das Aussehen eines Gefangenen vor den Gerichtsschranken, als das eines Edelmannes in seinem eignen Hause hatte.
»Unterschreibe hier,« wiederholte er, sich plötzlich zu Laura wendend und nochmals auf die Stelle deutend.
»Was ist es, das ich unterschreiben soll?« frug sie ruhig.
»Ich habe keine Zeit, es Dir auseinander zu setzen,« entgegnete er. »Das Gig ist vor der Thür und ich muß fort. Und übrigens, wenn ich auch die Zeit dazu hätte, Du würdest es doch nicht verstehen. Es ist eine bloße Form – und voller technischer Advokatenausdrücke und dergleichen. Komm’! komm’! unterschreibe, und laß uns mit der Sache zu Ende kommen, so schnell wir können.«
»Mir scheint, ich sollte doch wissen, was ich unterzeichne, Sir Percival, ehe ich meinen Namen unterschreibe?«
»Unsinn! Was wissen Weiber von Geschäften? Ich wiederhole Dir, Du würdest es nicht verstehen.«
»Laß mich doch wenigstens den Versuch machen, es zu verstehen. Wenn Mr. Gilmore Geschäfte mit mir zu verhandeln hatte, erklärte er sie mir stets zuvor, und ich verstand ihn immer.«
»Wohl möglich. Er war Dein Diener und daher genöthigt, es Dir zu erklären. Ich bin Dein Mann und nicht so verpflichtet. Wie lange beabsichtigst Du mich noch warten zu lassen? Ich sage Dir noch einmal, daß zum Lesen keine Zeit ist: das Gig ist vor der Thür. Ich frage Dich ein für allemal: willst Du unterschreiben oder nicht?«
Sie hielt noch immer die Feder in der Hand, ohne jedoch sich irgendwie zum Schreiben anzuschicken.
»Falls meine Unterschrift mich zu irgend Etwas verpflichtet, so habe ich doch gewiß das Recht, zu wissen, was diese Verpflichtung ist?« sagte sie.
Er nahm das Document und schlug zornig damit auf den Tisch.
»Nur heraus damit!« rief er. »Du hattest ja immer solch Talent, die Wahrheit zu sagen. Kehr’ Dich nicht an Miß Halcombe oder Fosco – sage nur gerade heraus, daß Du mich beargwöhnst.«
Der Graf nahm eine Hand aus seinem Gürtel und legte sie Sir Percival auf die Schulter. Sir Percival warf sie gereizt ab. Der Graf legte sie mit unverminderter Gelassenheit wieder hin.
»Beherrsche Deine unglückselige Heftigkeit, Percival,« sagte er. »Lady Glyde hat Recht.«
»Recht!« rief Sir Percival aus. »Eine Frau hat Recht, ihrem Manne zu mißtrauen?«
»Du bist ungerecht, mich des Mißtrauens gegen Dich zu beschuldigen,« sagte Laura. »Frage Marianne, ob ich nicht Recht habe zu verlangen, daß man mich mit dem Inhalte dieses Documents bekannt mache, ehe ich es unterschreibe?«
»Ich will durchaus nicht, daß an Miß Halcombe appellirt werde,« erwiderte Sir Percival; »Miß Halcombe hat mit der Sache Nichts zu thun.«
Ich hatte bisher nicht gesprochen und hätte es auch jetzt viel lieber nicht gethan. Aber der bekümmerte Ausdruck auf Laura’s Gesichte, als sie dasselbe zu mir wandte, sowie die impertinente Unbilligkeit im Betragen ihres Mannes, ließen mir keine andere Wahl, als um ihretwillen meine Meinung auszusprechen, sobald sie dieselbe forderte.
»Verzeihen Sie, Sir Percival,« sagte ich, »aber als eine der Zeugen der Unterschrift wage ich zu muthmaßen, daß ich allerdings Etwas mit der Sache zu thun habe. Laura’s Einwand scheint mir ein durchaus billiger, und was mich selbst betrifft, so kann ich nicht die Verantwortung einer Zeugenschaft übernehmen, wo sie nicht zuvor deutlich davon unterrichtet ist, was sie unterschreibt.«
»Eine trockene Erklärung, bei Gott!« rief Sir Percival aus. »Wenn Sie sich wieder einmal zu eines Mannes Hause einladen, so rathe ich Ihnen, Miß Halcombe, daß Sie nicht die Partei seiner Frau gegen ihn nehmen in einer Angelegenheit, die Sie Nichts angeht.«
Ich sprang auf, plötzlich – als ob er mich geschlagen hätte. Wäre ich ein Mann gewesen, so hätte ich ihn an der Schwelle seines eigenen Hauses zu Boden geschlagen und dasselbe verlassen, um es nie und unter keiner Bedingung wieder zu betreten. Aber ich war blos ein Weib – und liebte seine Frau so sehr!
Und diese treue Liebe half mir, Gott sei Dank, so daß ich mich ohne ein Wort zu sagen wieder setzte. Sie wußte was ich litt und unterdrückte, und eilte mit überströmenden Augen zu mir herum. »O, Marianne!« flüsterte sie; »und wäre meine Mutter am Leben gewesen, sie hätte nicht mehr für mich thun können!«
»Komm her und unterschreibe!« rief Sir Percival von der andern Seite des Tisches. ·
»Soll ich?« frug sie flüsternd. »Ich will’s thun, wenn Du mir’s sagst.«
»Nein,« entgegnete ich. »Das Recht und die Wahrheit sind auf Deiner Seite; unterschreibe Nichts, das Du nicht zuvor gelesen hast.«
»Komm her und unterschreibe!« wiederholte er in seinem lautesten, aufgebrachtesten Tone.
Der Graf, welcher Laura und mich mit schweigender Aufmerksamkeit beobachtet hatte, legte sich zum zweiten Male dazwischen.
»Percival!« sagte er, »ich bedenke, daß ich mich in der Gegenwart von Damen befinde. Sei so gut, Dich auch daran zu erinnern.«
Sir Percival wandte sich sprachlos vor Wuth gegen ihn. Des Grafen eiserne Hand faßte seine Schulter fester, und seine sichere Stimme wiederholte ruhig: »Sei so gut, wenn ich bitten darf, Dich auch daran zu erinnern.«
Sie blickten einander an. Sir Percival zog seine Schulter langsam unter des Grafen Hand fort, wandte langsam sein Gesicht von ihm ab, blickte eine Weile finster auf das Document, das auf dem Tische lag, und sprach dann mehr mit der verdrießlichen Unterwürfigkeit eines gezähmten Thieres, als der schicklichen Ergebung eines überzeugten Mannes·
»Ich wünsche Niemanden zu beleidigen,« sagte er. »Aber die Hartnäckigkeit meiner Frau würde einen Heiligen um seine Geduld bringen. Ich habe ihr gesagt, daß dies Document eine bloße Form ist, und was will sie weiter. Du magst sagen, was Du willst, aber es macht keinen Theil der Pflicht einer Frau aus, ihrem Manne zu trotzen. Noch einmal, und zwar zum letzten Male, Lady Glyde, wollen Sie unterzeichnen oder nicht?«
Laura kehrte an seine Seite zurück und nahm die Feder wieder auf.
»Ich will gern unterzeichnen,« sagte sie, »wenn Du mich nur wie ein urtheilsfähiges Wesen behandeln willst. Es ist mir einerlei, welches Opfer man von mir verlangt, so lange es sonst Niemanden schaden oder schlimme Erfolge haben –«
»Wer spricht von Opfern?« unterbrach er sie mit einer halb unterdrückten Wiederkehr seiner früheren Heftigkeit.
»Ich wollte nur sagen,« fuhr sie fort, »daß ich keine Zugeständnisse verweigern werde, die ich in Ehren machen kann. Warum sollte es Dich so heftig gegen mich aufbringen, wenn ich zögere, ein Document zu unterschreiben, über welches ich gar nichts weiß. Ich finde es ziemlich hart, daß Du so viel mehr Rücksicht auf Graf Fosco’s Skrupel nehmen solltest, als auf die meinigen.«
Diese unglückselige, wenngleich sehr natürliche Anspielung auf des Grafen merkwürdige Gewalt über ihren Gemahl ließ, so indirect sie auch war, Sir Percival’s in der Asche glühende Wuth wieder in hellen Flammen auflodern.
»Scrupel!« wiederholte er. »Deine Scrupel! Es ist etwas spät, damit jetzt anzufangen. Ich hätte gedacht, daß Du mit all derlei Schwächen fertig gewesen wärest, als Du aus der Nothwendigkeit eine Tugend machtest, indem Du mich heirathetest.«
Sowie er die Worte ausgesprochen, warf Laura die Feder hin, sah ihn mit einem Ausdrücke in ihren Augen an, den ich, so lange ich sie kannte, nie darin gesehen hatte, und wandte ihm in tiefem Schweigen den Rücken.
Diese starke Kundgebung ihrer offensten, bittersten Verachtung war ihr so ganz unähnlich, lag so wenig in ihrem Charakter, daß sie uns Alle zum Schweigen brachte. Es lag ohne Zweifel unter der bloßen oberflächlichen Grobheit der Worte ihres Mannes noch etwas Besonderes verborgen. Es mußte irgend eine lauernde Beleidigung darunter liegen, die ich nicht errathen konnte, die aber das Zeichen ihrer Entweihung so deutlich auf ihr Gesicht geprägt hatte, daß selbst ein Fremder es zu sehen vermocht hätte.
Der Graf, der kein Fremder war, sah es so deutlich wie ich. Als ich meinen Sessel verließ, um zu Laura zu treten, hörte ich, wie er Sir Percival »Du Blödsinniger!« zuflüsterte.
Laura ging vor mir der Thür zu, als ich mich ihr näherte, und zu gleicher Zeit redete Sir Percival sie noch einmal an..
»Du weigerst Dich also entschieden, mir Deine Unterschrift zu geben?« sagte er in dem veränderten Tone eines Mannes, der sich bewußt geworden, daß er sich durch seine ungezügelte Sprache ernstlichen Schaden zugefügt hat.
»Nach dem, was Du gesagt hast,« sprach sie mit fester Stimme, »verweigere ich meine Unterschrift, bis ich jedes Wort in jenem Documente von Anfang bis zu Ende desselben gelesen habe. Komm’, Marianne, wir sind lange genug hier gewesen«
»Einen Augenblick!« rief der Graf, ehe Sir Percival wieder sprechen konnte. »Einen Augenblick, Lady Glyde, ich bitte Sie!«
Laura würde das Zimmer verlassen haben können, ohne ihn zu beachten, doch hielt ich sie zurück.
»Mache Dir den Grafen nicht zum Feinde!« flüsterte ich ihr zu. »Was Du auch sonst thun magst, ihn mache Dir nicht zum Feinde!«
Sie gab mir nach. Ich schloß die Thür wieder, und wir blieben wartend daneben stehen. Sir Percival setzte sich am Tische nieder, stützte den Arm auf das Document und den Kopf auf die geballte Faust. Der Graf stand zwischen uns, Herr über die schreckliche Lage, in der wir uns befanden, wie er über Alles Herr ist.
»Lady Glyde,« sagte er mit einer Sanftmuth, die sich mehr an unsere verlassene Lage, als an uns selbst zu richten schien, »bitte, verzeihen Sie mir, wenn ich es wage, einen Vorschlag zu machen, und bitte, glauben Sie mir, daß meine Hochachtung und aufrichtige Freundschaft für die Herrin dieses Hauses meine Worte dictirt.« Er wandte sich scharf zu Sir Percival. »Ist es durchaus nothwendig,« frug er, »daß dies Ding da unter Deinem Ellenbogen heute unterschrieben werde?«
»Es ist nothwendig für meine Pläne und Wünsche,« war die verdrießliche Antwort; »aber diese haben, wie Du wahrscheinlich bemerkt hast, bei Lady Glyde kein Gewicht.«
»Beantworte meine bestimmte Frage deutlich. Kann das Geschäft der Unterschrift bis morgen verschoben werden – Ja oder Nein?«
»Ja – wenn Du darauf bestehst.«
»Wozu vergeudest Du da Deine Zeit hier? Laß die Unterschrift bis morgen warten – bis Du zurückkommst.«
Sir Percival blickte mit gerunzelter Stirn und einem Fluche in die Höhe.
»Du erlaubst Dir einen Ton gegen mich, der mir nicht gefällt,« sagte er, »und den ich mir von keinem Manne gefallen lassen werde.«
»Ich rathe Dir zu Deinem Besten,« sagte der Graf mit einem Lächeln ruhiger Verachtung. »Laß Dir Zeit und erlaube Lady Glyde, sich Zeit zu nehmen. Hast Du vergessen, daß ein Gig vor der Thür wartet. Mein Ton überrascht Dich – wie? Wohl möglich –– es ist der Ton eines Mannes, der sich beherrschen kann. Wie viele Dosen guten Raths habe ich Dir bereits eingegeben? Mehr als Du zählen kannst. Habe ich jemals Unrecht gehabt? Ich fordere Dich heraus, mir ein Beispiel davon zu geben. Geh! Fahr’ aus. Die Unterschrift hat Zeit bis morgen. Laß sie warten und komme darauf zurück, wenn Du wieder nach Hause kommst.«
Sir Percival zögerte und sah auf seine Uhr. Seine Besorgniß wegen der geheimen Reise, die er vorhatte, stritt, von des Grafen Worten auf’s Neue erregt, offenbar mit seiner Besorgniß, Laura’s Unterschrift zu erhalten. Er überlegte einen Augenblick und erhob sich dann von seinem Sessel.
»Es ist sehr leicht, mich zu überreden, wenn ich keine Zeit habe, um Dir zu antworten. Ich will Deinen Rath befolgen, Fosco, nicht weil ich seiner bedürfte oder ihn für gut hielte, sondern weil ich hier nicht länger warten kann.« Er hielte inne und wandte sich mit einem finstern Blicke zu seiner Frau. »Wenn Du mir nicht morgen, sobald ich zurückkomme, Deine Unterschrift giebst –!« Das Uebrige wurde durch das Geräusch übertönt, mit dem er den Schrank öffnete und das Document wieder verschloß. Dann nahm er Hut und Handschuhe vom Tische und wandte sich der Thür zu.
Laura und ich traten zurück, um ihn vorüber zu lassen. »Denk’ an morgen!« sagte er zu seiner Frau und ging hinaus.
Wir warteten, um ihn über den Flur gehen und fortfahren zu lassen. Der Graf trat zu uns heran, während wir an der Thür standen.
»Sie haben Percival soeben in seinem allerungünstigsten Lichte gesehen, Miß Halcombe,« sagte er. »Als sein alter Freund bedaure ich ihn, und schäme mich seiner. Als sein alter Freund aber verspreche ich Ihnen auch, daß er sich morgen nicht wieder auf so unwürdige Weise gebehrden soll wie heute.«
Laura hatte meinen Arm genommen, während er sprach, und sie drückte ihn bedeutungsvoll, als Fosco geendet hatte. Es wäre für jede Frau eine schwere Probe gewesen, dabei zu stehen, wenn ein Freund ihres Mannes sich anmaßte, in ihrem eigenen Hause Entschuldigungen für dessen Betragen zu machen, und eine solche war es für sie. Ich dankte dem Grafen höflich und führte sie hinaus. Ja! ich dankte ihm;– denn ich fühlte bereits mit einem Bewußtsein unaussprechlicher Hülflosigkeit und Demüthigung, daß es entweder sein Interesse oder seine Laune sei, mein Bleiben in Blackwater Park zu sichern, und ich wußte, daß ich, nach Sir Percival’s Benehmen gegen mich, ohne den Beistand, der in des Grafen Einfluß lag, nicht bleiben zu dürfen hoffen konnte. Sein Einfluß, der Einfluß, den ich von allen am meisten fürchtete, war jetzt die einzige Macht, die mich in der Stunde ihrer größten Noth an Laura hielt!
Wir hörten das Knirschen der Räder des Gig’s aus dem Kieswege, als wir in den Flur traten. Sir Percival war fortgefahren.
»Wo fährt er hin, Marianne?« flüsterte Laura. »Alles was er thut, scheint mich mit neuen Schrecken für die Zukunft zu erfüllen. Hast Du irgend welchen Verdacht?«
Nach dem, was sie diesen Morgen bereits durchgemacht hatte, mochte ich ihr Nichts von meinem Verdachte sagen.
»Wie sollte ich seine Geheimnisse kennen?« sagte ich ausweichend.
»Ob wohl die Haushälterin es weiß?« fuhr sie fort.
»Sicher nicht,« sagte ich,« sie wird darüber ganz so unwissend sein, wie wir.«
Laura schüttelte zweifelnd den Kopf. »Hörtest Du nicht von der Haushälterin, daß es in der Umgegend geheißen habe, Anna Catherick sei hier gesehen worden? Glaubst Du nicht, daß er vielleicht hingefahren ist, um sie zu suchen?«
»Ich möchte mich lieber beruhigen, Laura, indem ich gar nicht daran denke, und nach dem, was sich soeben zugetragen hat, wirst Du wohl daran thun, meinem Beispiele zu folgen. Komm’ mit in mein Zimmer, um Dich zu erholen und zu beruhigen.«
Wir setzten uns zusammen dicht an’s Fenster und ließen die frische Sommerluft unsere Wangen fächeln.
»Ich schäme mich, Dir ins Gesicht zu sehen, Marianne, nach Allem, was Du über Dich um meinetwillen unten hast ergehen lassen. O, meine herzige Schwester, es bricht mir das Herz, wenn ich daran denke! Aber ich will versuchen, es Dir zu vergelten – gewiß, das will ich!«
»Stille! stille!« entgegnete ich. »Rede nicht so. Was ist die elende Verletzung meines Stolzes gegen das fürchterliche Opfer Deines Glückes?«
»Du hörtest, was er zu mir sagte?« fuhr sie schnell und aufgeregt fort. »Du hörtest die Worte, aber Du weißt nicht, was er damit sagen wollte – weißt nicht, warum ich die Feder hinwarf und ihm den Rücken zuwandte.«
Sie stand heftig bewegt auf und ging in dem Zimmer umher.
»Ich habe Dir Manches verhehlt, Marianne, aus Furcht, Dich zu betrüben und Dich schon beim Beginne unseres neuen Lebens unglücklich zu machen. Du ahnst nicht, wie er mich behandelt hat – und doch solltest Du es wohl ahnen, da Du sahst, wie er mich heute behandelte. Du hörtest, wie er mich dafür verhöhnte, daß ich mir anmaße, Scrupel zu hegen; hörtest ihn sagen, ich habe aus der Nothwendigkeit eine Tugend gemacht, da ich ihn heirathete.« Sie setzte sich wieder, ihre Wangen glühten und ihre Finger bewegten sich eifrig auf ihrem Schooße. »Ich kann Dir jetzt nicht davon erzählen,« sagte sie, »ich müßte in Thränen ausbrechen, wenn ich es versuchte – später, Marianne, wenn ich gefaßter bin. Mein armer Kopf thut mir so weh’, so weh’, so weh’, mein Herz. Wo ist Dein Riechsalz. Laß uns von Dir sprechen. Ich wollte, ich hätte ihm meine Unterschrift gegeben, wollt’ es um Deinetwillen. Soll ich sie ihm morgen geben? Ich will lieber mich selbst, als Dich compromittiren. Nachdem Du meine Partie gegen ihn genommen hast, wird er Dir die Schuld beilegen, falls ich mich wieder weigere. Was können wir thun? O, hätten wir doch nur einen Freund, der uns rathen und helfen könnte! – einen Freund, dem wir wirklich vertrauen könnten!«
Sie seufzte bitterlich. Ich las es in ihrem Gesichte, daß sie an Walter Hartright dachte, und las es um so deutlicher, als ihre letzten Worte mich ebenfalls an ihn hatten denken lassen. Nach kaum sechs Monaten nach ihrer Vermählung bedurften wir schon der treuen Dienste, die er uns in seinen Abschiedsworten angeboten hatte. Wie wenig ließ ich mir damals träumen, daß wir ihrer jemals bedürfen würden!
»Wir müssen versuchen, uns selbst zu helfen,« sagte ich. »Laß uns ruhig darüber sprechen, Laura – laß uns unser Möglichstes thun, um uns für das Beste zu entscheiden.«
Da wir das, was sie über ihres Mannes Geldverlegenheiten wußte und was ich von seiner Unterhaltung mit dem Advokaten gehört hatte, zusammenhielten, kamen wir nothwendigerweise zu dem Schlusse, daß das Document, welches wir in der Bibliothek gesehen hatten, verfaßt war, um Geld zu borgen, und daß es nur durch Laura’s Unterschrift für Sir Percival’s Zwecke vollständig würde.
Die zweite Frage in Bezug auf die Beschaffenheit des gerichtlichen Contractes, durch welchen Geld verschafft werden sollte, und den Grad von Verantwortlichkeit, dem Laura sich unterzöge, falls sie ihn unterschriebe, ohne seine Bedingungen zu kennen, faßte Berücksichtigungen in sich, die weit über die Kenntniß und Erfahrung hinauslagen, welche wir Beide von der Sache besaßen. Ich war meinestheils überzeugt, daß das Document eine Verhandlung der niedrigsten und betrügerischsten Art enthielt.
Es war nicht Sir Percival’s Weigerung, die Schrift zu zeigen, gewesen, die mir diese Ueberzeugung aufdrang; denn diese Weigerung konnte ganz einfach die Folge seines widersetzlichen, herrschsüchtigen Charakters sein, Mein einziger Beweggrund, seiner Rechtlichkeit zu mißtrauen, entsprang aus der Veränderung seines ganzen Benehmens, seit ich ihn im Blackwater Park gesehen, eine Veränderung, die mich überzeugte, daß er während seiner ganzen Probezeit in Limmeridge House mit uns allen Comödie gespielt habe. Sein erkünsteltes Zartgefühl, seine ceremoniöse Höflichkeit, die einen so günstigen Eindruck auf Mr. Gilmore’s Ideen aus der alten Schule machte, seine Bescheidenheit Laura und seine Offenheit mir gegenüber, seine Mäßigung gegen Mr. Fairlie waren Alles Kunstgriffe eines gemeinen, listigen, brutalen Mannes, der die Maske abgeworfen, sobald seine Falschheit ihr Ende erreicht, und der sich heute in der Bibliothek uns in seinen wahren Farben gezeigt hatte. Ich sage Nichts von dem Schmerze, den mir diese Entdeckung um Laura’s willen machte, denn ich finde die Worte nicht, die ihn beschrieben. Ich erwähne seiner nur, weil er mich bestimmte, sie,was auch die Folgen davon sein mochten, vom Unterzeichnen der Schrift abzuhalten, falls sie sich nicht vorher mit dem Inhalte derselben vertraut gemacht habe.
Unter diesen Umständen würde unsere einzige Zuflucht morgen darin liegen, daß wir uns mit einem Einwande versahn, der auf hinreichend festen commerciellen oder gerichtlichen Gründen ruhte um Sir Percival’s Entschluß wankend zu machen und ihn vermuthen zu lassen, daß wir Frauen ganz so wohl unterrichtet seien von geschäftlichen Gesetzen und Verpflichtungen wie er selbst.
Nach einiger Ueberlegung beschloß ich, an den einzigen redlichen Mann, der uns zu Gebote stand und dem wir in unserer verlassenen Lage vertrauen durften, zu schreiben. Dies war Mr. Gilmore’s Compagnon, der dessen Geschäfte leitete, während unser Freund zur Pflege seiner Gesundheit von London abwesend war. Ich erklärte Laura, wie ich Mr. Gilmore als Gewährsmann dafür besitze, um in eines Compagnons Rechtlichkeit, Umsicht und genaue Kenntniß aller ihrer Angelegenheiten das unumschränkteste Vertrauen setzen zu können, und nahm dann im vollständigen Einverständniß mit ihr sofort die Feder zur Hand, um den Brief zu schreiben.
Ich begann damit, daß ich ihm genau unsere Lage auseinandersetzte, und bat ihn dann um seinen Rath, und zwar in deutlichen, unumwundenen Ausdrücken, um allen etwaigen gefährlichen Mißdeutungen oder Mißverständnissen vorzubeugen. Mein Brief war so kurz, wie ich mich nur fassen konnte und, wie ich hoffe, frei von allen unnützen Entschuldigungen und Einzelheiten.
Gerade als ich im Begriffe war, die Adresse auf das Couvert zu schreiben, fiel Laura ein Hinderniß ein, an das ich in meinem Eifer gar nicht gedacht hatte.
»Wie sollen wir aber die Antwort zur rechten Zeit bekommen?« frug sie. »Dein Brief wird vor morgen früh nicht in London abgegeben werden, und dann die Antwort mit der Post erst übermorgen hier sein.«
Die einzige Art und Weise, diese Schwierigkeit zu beseitigen, bestand darin, daß man uns die Antwort durch einen Expressen direct vom Geschäftslokale Mr. Gilmore’s überbringe. Ich schrieb eine Nachschrift dieses Inhaltes, indem ich den Boten mit dem um elf Uhr Morgens von dort weggehenden Zuge abzusenden bat, welcher ihn zwanzig Minuten nach ein Uhr an unsere Station bringen und ihn so in Stand setzen werde, spätestens um zwei Uhr in Blackwater Park einzutreffen. Er sollte nach mir fragen, keine Fragen von sonst irgend Jemandem beantworten und seinen Brief nur in meine eignen Hände geben.
»Sollte Sir Percival morgen schon vor zwei Uhr zurückkommen,« sagte ich zu Laura, »so wird das Rathsamste sein, daß Du den ganzen Morgen mit Deinem Buche oder Deiner Arbeit draußen in den Anlagen bleibst, bis der Bote Zeit gehabt hat, mit dem Briefe anzulangen. Ich will ihn den ganzen Morgen hier erwarten, um uns gegen Versehen oder unglückliche Zufälligkeiten zu sichern. Auf diese Weise glaube und hoffe ich, daß wir gegen Ueberraschung geschützt sein werden. Jetzt laß uns hinunter gehen. Es möchte Verdacht erregen, falls wir uns zu lange zusammen einschlössen.«
»Verdacht? wiederholte sie, »wessen Verdacht könnte es erregen, jetzt, da Sir Percival das Haus verlassen? Meinst Du Graf Fosco?«
»Vielleicht, Laura.«
»Du fängst an, eben solchen Widerwillen wie ich gegen ihn zu fühlen Marianne.«
»Nein, das nicht. Widerwille ist immer mehr oder weniger mit Verachtung verknüpft, und ich kann im Grafen nichts Verächtliches sehen.«
»Fürchtest Du ihn?«
»Vielleicht – ein wenig.«
»Was – nach seiner Vermittelung zu unseren Gunsten heute.«
»Ja. Ich fürchte mich mehr vor seiner Vermittlung, als vor Sir Percivals Heftigkeit. Denke an das, was ich in der Bibliothek zu Dir sagte. Was Du auch thust, Laura, mache Dir den Grafen nicht zum Feinde!«
Wir gingen hinunter. Laura ging ins Gesellschaftszimmer, während ich über den Flur ging, um meinen Brief in die Posttasche zu stecken, welche an der gegenüberliegenden Wand hing.
Die Hausthür war offen, und als ich daran vorbei kam, sah ich den Grafen und seine Frau draußen auf den Stufen stehen, mit den Gesichtern mir zugewandt.
Die Gräfin kam ziemlich eilig in den Flur und frug mich, ob ich fünf Minuten übrig habe, um allein mit ihr zu sprechen. Etwas erstaunt über eine solche Frage von einer solchen Person that ich meinen Brief in die Posttasche und erwiderte, daß ich ihr zu Diensten stehe. Sie nahm mit einer ungewohnten Freundschaftlichkeit und Vertraulichkeit meinen Arm, und anstatt mit mir in ein leeres Zimmer zu gehn, führte sie mich hinaus auf den Rasen, welcher den Fischteich umgab.
Als wir an dem Grafen vorüber gingen, lächelte er und verbeugte sich und ging dann sofort ins Haus, indem er die Hausthür hinter sich zuwarf, ohne sie jedoch ganz zu schließen.
Die Gräfin führte mich langsam um den Fischteich. Ich erwartete, zur Empfängerin einer wichtigen vertrauten Mittheilung gemacht zu werden, und war daher nicht wenig erstaunt, als ich gewahr wurde, daß der Gräfin Geheimniß einzig in ihrer Versicherung der aufrichtigsten Theilnahme nach dem, was sich heute Morgen in der Bibliothek zugetragen, bestand. Ihr Gemahl habe ihr Alles erzählt, was vorgegangen sei und wie impertinent Sir Percival sich gegen mich benommen habe. Dies habe sie in dem Grade um Laura’s und meinetwillen verletzt und betrübt, daß sie beschlossen, falls sich jemals wieder etwas der Art ereigne, Sir Percival ihren Unwillen über sein beleidigendes Betragen dadurch zu verstehen zu geben, daß sie augenblicklich das Haus verlasse. Der Graf stimme hierin ganz mit ihr überein und sie hoffe, daß ihr Entschluß auch meinen Beifall habe.
Mir erschien dies von Seiten einer so außerordentlich zurückhaltenden Frau, wie die Gräfin ist, als ein sehr auffallendes Verfahren, zumal nach dem Austausche spitzer Redensarten während unserer Unterhaltung im Boothause heute Morgen. Indessen war es offenbar meine Pflicht, ein höfliches, freundschaftliches Entgegenkommen von Seiten einer älteren Dame mit Höflichkeit und Freundlichkeit zu erwidern. Ich antwortete der Gräfin deshalb in diesem Geiste und versuchte dann, da es mir schien, daß Alles über den Gegenstand gesagt war, was nur darüber gesagt werden konnte, ins Haus zurückzukehren
Aber die Gräfin schien entschlossen, sich noch nicht von mir zu trennen, und zu meinem unaussprechlichen Erstaunen zur Unterhaltung aufgelegt. Nachdem sie sich bisher als die schweigsamste der Frauen gezeigt, verfolgte sie mich plötzlich mit den geläufigsten Gemeinplätzen über die Ehe im Allgemeinen, über Sir Percival und Laura’s Ehe im Besondern, über ihre eigene Glückseligkeit, über Mr. Fairlie’s Betragen in Bezug auf das Vermächtniß und über noch ein halb Dutzend andere Gegenstände, bis sie mich eine halbe Stunde aufgehalten hatte, um fortwährend mit ihr um den Fischteich herumzuspazieren und ich völlig erschöpft war. Ob sie dies gewahr wurde oder nicht, kann ich nicht sagen, aber ebenso plötzlich, wie sie ihre Vertraulichkeiten angefangen, hielt sie jetzt damit inne, blickte nach der Hausthür, nahm ihre gewohnte eisige Manier wieder an und ließ von selbst meinen Arm fallen, ehe ich mir noch einen Vorwand ausdenken konnte, um meine Freiheit von ihr zu erlangen.
Als ich die Thüre öffnete und in den Flur trat, sah ich mich plötzlich wieder dem Grafen gegenüber. Er war gerade im Begriffe, einen Brief in die Posttasche zu thun.
Nachdem er ihn hineingeworfen und die Tasche wieder verschlossen, fragte er mich, wo ich die Gräfin verlassen habe. Ich sagte es ihm, und er ging sogleich hinaus seiner Frau entgegen. Seine Art und Weise, als er zu mir sprach, war so ungewöhnlich ruhig und gedrückt, daß ich mich umwandte und ihm nachsah, indem ich mich in Muthmaßungen erging, ob er krank oder gar unglücklich sei.
Warum mein Nächstes war, geraden Wegs zur Posttasche zu gehen, meinen Brief herauszunehmen und ihn mit einem unbestimmten Argwohne zu betrachten, und warum mir dabei plötzlich die Idee kam, ihn der größern Sicherheit wegen lieber zu siegeln – sind Geheimnisse, die zu ergründen entweder zu tief oder zu flach für mich sind. Die Frauen, wie Jedermann weiß, handeln beständig nach Impulsen, die sie sich selbst meistens nicht zu erklären im Stande sind, und ich kann nur annehmen, daß ein solcher Impuls die verborgene Ursache meines unbegreiflichen Verfahrens bei dieser Gelegenheit war.
Was mich jedoch immer dazu bewogen haben mochte, ich fand Ursache, mir zu der Eingebung Glück zu wünschen, sowie ich mich, auf meinem Zimmer angelangt, anschickte, den Brief zu siegeln. Ich hatte das Couvert zuerst auf die gewöhnliche Weise zugemacht, indem ich die mit Gummi bestrichene Spitze anfeuchtete und dann fest herunterdrückte, und als ich jetzt, nach Verlauf von voll drei Viertelstunde, die Spitze mit dem Finger aufzuheben versuchte, öffnete sich das Couvert augenblicklich, ohne zu kleben oder zu zerreißen. Hatte ich es vielleicht nicht fest genug niedergedrückt? Oder war der Gummi nicht hinreichend klebrig gewesen?
Oder war vielleicht – nein! es ist schon empörend genug, dieser dritten Muthmaßung nur in meinem Geiste Eingang zu gestatten. Ich will sie mir lieber nicht in deutlichem Schwarz und Weiß gegenüber bringen.
Ich fürchte fast den morgenden Tag – es kommt so viel auf meine Klugheit und Selbstbeherrschung an. Jedenfalls werde ich zwei Vorsichtsmaßregeln nicht aus den Augen lassen. Die eine besteht darin, dem Grafen gegenüber wenigstens den Schein der Freundschaft zu bewahren, und die andere darin, wohl auf meiner Hut zu sein, wenn der Bote mit dem Briefe ankommt.
Als das Diner uns wieder versammelte, war der Graf wieder in seiner besten Laune. Er bemühte sich, uns zu unterhalten und zu belustigen, als ob er entschlossen sei, die unangenehme Erinnerung an das, was sich am Nachmittage in der Bibliothek zugetragen, aus unserm Geiste zu verwischen.
Lebhafte Beschreibungen seiner Reiseabenteuer, – belustigende Anekdoten von bemerkenswerthen Leuten, die ihm im Auslande begegnet waren, – drollige Vergleiche zwischen den gesellschaftlichen Sitten verschiedener Nationen, durch Beispiele erläutert, welche er ohne Unterschied Männern und Frauen im ganzen Europa entnahm, – humoristische Bekenntnisse der harmlosen Thorheiten seines Jugendlebens, als er in einer kleineren italienischen Provinzialstadt den Ton angab und für ein Provinzialblatt lächerliche Novellen nach französischem Muster schrieb: – Alles dies floß in so leichter, fröhlicher Aufeinanderfolge von seinen Lippen, und war unserer Neugier und unseren Interessen so direct und doch so zartfühlend angemessen, daß Laura und ich ihm mit ebenso großer Aufmerksamkeit und – so inconsequent dies auch scheinen mag – mit ebenso großer Bewunderung zuhörten, wie die Gräfin selbst. Die Frauen können der Liebe, dem Ruhme, dem persönlichen Aussehen, dem Gelde eines Mannes widerstehen, aber seiner Zunge, wenn er sie zu gebrauchen versteht, widerstehen sie nicht.
Nach dem Diner, während der günstige Eindruck, den der Graf auf uns zu machen gewußt, noch lebhaft in uns war, zog derselbe sich bescheiden in die Bibliothek zurück, um zu lesen. Laura schlug einen Spaziergang in den Anlagen vor, um die Frische des Abends zu genießen. Die Höflichkeit erforderte es, daß wir die Gräfin dazu einluden; doch diesmal hatte sie vorher ihre Weisungen erhalten und bat uns, sie zu entschuldigen.
»Der Graf wird wahrscheinlich einen frischen Cigarrettenvorrath verlangen,« sagte sie wie zur Entschuldigung, »und es macht sie ihm Niemand als ich zu Danke.« Ihr kaltes blaues Auge entzündete sich fast, als sie dies sagte – es sah aus, als ob sie förmlich stolz darauf sei, das dienstbare Werkzeug zu sein, durch welches ihr Herr und Meister sich den Genuß des geliebten Tabakskrautes vorbereiten lasse.
Laura und ich gingen allein zusammen aus.
Es war ein nebeliger, schwüler Abend. Es war ein Gefühl wie von Gifthauch in der Luft; die Blumen im Garten senkten die Häupter, die Erde war ausgedörrt und auf den Gräsern kein Thau. Der westliche Himmel, wie wir ihn über den ruhigen Bäumen sahen, hatte einen matten, gelblichen Schein, und die Sonne ging in einem Dunstkreise unter.
Es schien Regen in Aussicht zu stehen, der wahrscheinlich schon in der nächsten Nacht kommen mochte.
»Welche Richtung wollen wir einschlagen?« frug ich Laura.
»Nach dem See zu, wenn Du willst, Marianne?« entgegnete sie.
»Du scheinst eine mir unerklärliche Vorliebe für diesen melancholischen See zu haben, Laura.«
»Nein, nicht für den See, aber für die Umgebung. Der Sand, die Haide und die Tannen sind in diesem großen Parke das Einzige, was mich an Limmeridge erinnert. Aber wenn Du es vorziehst, wollen wir einen andern Weg einschlagen.«
»Ich habe in Blackwater Park keine Lieblingspromenaden, mein liebes Herz. Die eine ist wie die andere für mich. Laß uns nach dem See gehen – vielleicht finden wir es dort auf dem offenen Raume kühler als hier.«
Wir gingen schweigend durch die schattigen Baumanlagen. Die Schwere der Abendluft war uns Beiden drückend, und als wir beim Boothause anlangten, waren wir froh, uns drinnen setzen und ausruhen zu können.
Ein weißer Dunst lag tief über dem See. Die dichte braune Baumlinie auf dem gegenüberliegenden Ufer sah aus wie ein in der Luft schwebender Miniaturwald. Der sandige Boden, der sich von der Stelle, wo wir saßen, abwärts senkte, verlor sich geheimnißvoll in den äußeren Schichten des Dunstes. Die Stille hatte etwas Erschreckendes. Kein Rauschen in den Blättern, kein Vogelgesang im Holze, kein Kreischen der Wasservögel in dem verborgenen See. Selbst die Frösche hatten heute Abend aufgehört zu quaken.
»Es ist sehr finster und traurig,« sagte Laura, »aber wir sind hier ungestörter als anderswo.«
Sie sprach gefaßt und schaute mit ruhigem, gedankenvollen Blicke auf die Wildniß von Sand und Nebel hinaus. Ich konnte sehen, daß ihr Geist zu sehr mit seinen eignen Gedanken beschäftigt war, um sie den traurigen Eindruck der Umgebung fühlen zu lassen, der sich bereits in mein Gemüth geschlichen hatte.
»Ich versprach Dir, Marianne, Dir die Wahrheit über mein eheliches Verhältniß zu sagen, anstatt Dich noch länger dem Rathen zu überlassen,« sagte sie. »Es war dies das erste Geheimniß, das ich vor Dir hatte, meine Schwester, und ich bin entschlossen, daß es das letzte sei. Ich schwieg, wie Du weißt, um Deinetwillen und vielleicht auch ein wenig um meiner selbst willen. Es ist etwas sehr Bitteres für eine Frau, bekennen zu müssen, daß der Mann, dem sie ihr ganzes Leben gegeben hat, gerade der ist, der dies Geschenk am allerwenigsten schätzt. Wärst Du verheirathet, Marianne, und namentlich wenn Du glücklich verheirathet wärst, so würdest Du für mich fühlen, was eine unverheirathete Frau, wie treu und gut sie auch sei, niemals fühlen kann.«
Was konnte ich ihr antworten? Ich konnte blos ihre Hand fassen und ihr aus ganzer Seele ins Auge schauen, so gut meine feuchten Augen es mir gestatteten.
»Wie oft,« fuhr sie fort, »habe ich Dich lachen hören über das, was Du deine ›Armuth‹ zu nennen pflegtest! Wie oft hieltest Du mir komisch pathetische Glückwunschreden über meinen Reichthum! O, Marianne, lache nie wieder darüber. Danke Gott für Deine Armuth – sie läßt Dich Deine eigene Herrin bleiben, und hat Dich vor dem Loose geschützt, das auf mich gefallen ist.«
Ein trauriger Anfang für die Lippen einer jungen Frau – o so traurig durch seine ruhige, offene Wahrheit! Die wenigen Tage, welche wir Alle zusammen in Blackwater Park zugebracht hatten, waren mehr als hinreichend gewesen, um mir, um Jedem zu zeigen, für was ihr Mann sie geheirathet hatte.
»Ich will Dich nicht unglücklich machen, indem ich Dir sage, wie bald meine Täuschungen und Prüfungen begannen, – oder selbst, worin diese bestanden. Es ist schlimm genug, daß sie in meiner Erinnerung leben. Wenn ich Dir sage, wie er den ersten und letzten Versuch der Gegenvorstellung, den ich je an ihn richtete, aufnahm, so wirst Du wissen, wie er mich stets behandelt hat. – Es war eines Tages in Rom, als wir zusammen nach Cäcilia Metella’s Grabe geritten waren. Der Himmel war schön und klar, und die Erinnerung, daß einst die Liebe eines Mannes dies Monument dem Andenken seiner Gattin errichtet hatte, erfüllte mich mit einer bisher nie empfundenen Zärtlichkeit für meinen Mann. ›Würdest Du mir ein solches Grabmal setzen, Percival?‹ frug ich ihn; ›Du pflegtest zu sagen, Du liebtest mich, ehe wir verheirathet waren; aber seitdem –‹ ich konnte nicht fortfahren, Marianne, – er sah mich nicht einmal an! Ich ließ meinen Schleier herab, da ich es für besser hielt, ihn nicht meine Thränen sehen zu lassen. Ich dachte, er habe nicht auf das geachtet, was ich gesagt hatte, aber ich täuschte mich. Er sagte: ›Komm’, laß uns weiter reiten,‹ und lachte vor sich hin, indem er mir auf’s Pferd half. Dann bestieg er sein eigenes und lachte abermals, als wir davonritten. ›Falls ich Dir ein solches Grabmal setzte,‹ sagte er, ›so würde dies mit Deinem eigenen Gelde geschehen. Ich möchte wohl wissen, ob die Cäcilia Metella eine Erbin war und für das ihrige bezahlte?‹ Ich erwiderte Nichts – ich weinte zu sehr unter dem Schutze meines Schleiers, um sprechen zu können. ›Ach, Ihr blonden Weiber seid Alle starrköpfig,‹ sagte er. ›Was verlangst Du denn? Complimente und Schmeicheleien? Nun gut! ich bin heute Morgen gerade guter Laune; nimm die Complimente als gemacht an.‹ Die Männer ahnen nicht, wenn sie uns so bittere Sachen sagen, wie wenig wir sie vergessen und wie viel sie uns damit zu Leide thun. Es wäre besser für mich gewesen, wenn ich fortgefahren wäre zu weinen. Aber seine Verachtung trocknete meine Thränen und verhärtete mein Herz. Von diesem Augenblicke an, Marianne, unterdrückte ich nie mehr meine Gedanken an Walter Hartright. Ich ließ die Erinnerung an die glücklichen Tage, wo wir einander im Geheimen so innig lieb hatten, wieder in mein Herz einkehren, um mich zu trösten. Welchen andern Trost hatte ich noch zu erwarten? Wärst Du bei mir gewesen, so würdest Du mich auf bessere Dinge gebracht haben. Ich weiß, daß es unrecht von mir war, aber sage mir, liebes Herz, ob ich unrecht that, ohne zugleich auch Entschuldigungen dafür zu haben?«
Ich mußte mein Gesicht von ihr abwenden.
»Frage mich nicht!« sagte ich. »Habe ich gelitten, wie Du gelitten hast? Welches Recht habe ich, darüber zu urtheilen?«
»Ich pflegte an ihn zu denken,« fuhr sie mit leiserer Stimme und näher zu mir heranrückend fort, »ich pflegte an ihn zu denken, wenn Percival mich abends allein ließ und sich unter die Leute von der Oper begab. Ich pflegte mir auszumalen, was ich hätte sein können, falls es Gott gefallen hätte, mich mit Armuth zu segnen und ich sein Weib geworden wäre. Dann sah ich mich wohl in meinem einfachen billigen Kleide zu Hause sitzen und ihn erwarten, während er unsern Lebensunterhalt verdiente, zu Hause sitzen und arbeiten, mit um so innigerer Liebe zu ihm, weil ich für ihn arbeiten mußte, – sah, wie er ermüdet heim kam und ich ihm Hut und Stock abnahm, und Marianne – wie ich ihn bei Tische mit kleinen Speisen überraschte, die ich ihm zu Liebe selbst zubereitet hatte. – O Gott! ich hoffe, daß er nie einsam und traurig genug ist, um mich so zu sehen, und so zu sehen, wie ich an ihn dachte und ihn sah!«
Als sie diese kummervollen Worte sprach, bebte alle ihre ehemalige Zärtlichkeit in ihrer Stimme, verklärte all’ ihre frühere Schönheit wieder ihr Gesicht. Ihre Augen ruhten so liebend auf der wüsten, einsamen, ominösen Aussicht vor uns, als ob sie die befreundeten Hügel in dem unklaren drohenden Himmel erblickt hätten.
»Sprich nicht mehr von Walter,« sagte ich, sobald ich mich wieder gefaßt hatte. »O, Laura, erspare uns doch Beiden den Jammer, jetzt von ihm zu sprechen!«
Sie raffte sich auf und blickte mich zärtlich an.
»Ich will lieber auf ewig über ihn schweigen, als Dir nur einen Augenblick Kummer verursachen,« sagte sie.
»Ich spreche in Deinem Interesse,« sagte ich bittend, – »nur für Dein Bestes. Wenn Dein Mann Dich hörte –«
»Es würde ihn nicht überraschen, wenn er mich wirklich hörte.«
Sie gab diese sonderbare Antwort mit einer matten Ruhe und Kälte, und der veränderte Ton, in dem sie sprach, überraschte mich fast eben so sehr, wie die Antwort selbst.
»Ihn nicht überraschen!« wiederholte ich. »Laura! bedenke, was Du sagst – Du erschrickst mich!«
»Es ist die Wahrheit,« sagte sie, »und eben das, was ich Dir erzählen wollte, als wir heute Nachmittag in Deiner Stube saßen. Mein einziges Geheimniß, als ich ihm in Limmeridge mein Herz öffnete, war ein harmloses, – das sagtest Du selbst, Marianne. Der Name war das Einzige, was ich ihm verschwieg, und er hat ihn entdeckt.«
Ich hörte sie, aber ich konnte Nichts sagen. Ihre letzten Worte hatten die geringe Hoffnung vernichtet, die noch in mir gelebt hatte.
»Es war in Rom,« fuhr sie so matt und kalt fort wie sie vorher gesprochen hatte. »Wir waren in einer kleinen Gesellschaft, welche Bekannte von Sir Percival – Mr. und Mrs. Markland – den dort anwesenden Engländern gaben. Mrs. Markland hatte den Ruf, sehr schön nach der Natur zu zeichnen, und einige der Gäste bewogen sie, uns ihre Zeichnungen sehen zu lassen. Wir Alle bewunderten sie; doch lenkte eine Bemerkung von mir ihre besondere Aufmerksamkeit auf mich. ›Sie zeichnen gewiß auch?‹ sagte sie. ›Ich habe früher ein wenig gezeichnet,‹ erwiderte ich, ›aber habe es jetzt aufgegeben.‹ ›Wenn Sie früher gezeichnet haben,‹ sagte sie, ›so werden Sie es gewiß später einmal wieder anfangen, und in diesem Falle möchte ich Sie bitten, mir zu erlauben, Ihnen einen Zeichenlehrer empfehlen zu dürfen.‹ Ich entgegnete Nichts und versuchte die Unterhaltung auf etwas Anderes zu leiten, Du weißt wohl warum Marianne? Aber Mrs. Markland blieb dabei. ›Ich habe alle möglichen Lehrer gehabt,‹ fuhr sie fort, ›aber der beste von allen, der intelligenteste und aufmerksamste war ein Mr. Hartright Wenn Sie je wieder an zu zeichnen fangen, da nehmen Sie ihn zum Lehrer. Er ist ein junger Mann, bescheiden und ein Gentleman, – ich bin überzeugt, daß er Ihnen gefallen wird.‹ Denke Dir, daß ich öffentlich und in Gegenwart von Fremden, die geladen waren, das neuvermählte Paar kennen zu lernen, diese Worte hören mußte! Ich that mein Möglichstes, mich zu beherrschen, ich sagte Nichts und neigte mich tief über die Zeichnungen. Als ich den Kopf wieder aufzurichten wagte, begegneten meine Blicke denen meines Mannes, und ich wußte in dem Augenblicke, daß mein Gesicht mich ihm verrathen hatte. ›Wir wollen uns nach ihm umsehen,‹ sagte er, fortwährend mich anblickend, ›sobald wir nach England zurückkehren. Ich bin Ihrer Ansicht, Mrs. Markland, ich glaube, daß er Lady Glyde gefallen wird.‹ Er legte auf die letzten Worte seinen Nachdruck, der meine Wangen brennen und mein Herz pochen machte, daß mir war, als müsse ich ersticken. Es wurde Nichts weiter gesagt, und wir verließen die Gesellschaft früh. Während wir nach dem Hotel zurückfuhren, sagte er Nichts. Er half mir wie gewöhnlich aus dem Wagen und folgte mir, als ich die Treppe hinauf ging. Aber, sowie wir in unserem Wohnzimmer angelangt waren, verschloß er die Thür, stieß mich in einen Lehnstuhl und stand, mit beiden Händen auf meine Schultern gestützt, vor mir. ›Schon seit jenem Morgen in Limmeridge, als Du mir Deine unverschämten Bekenntnisse machtest, hat mich danach verlangt, des Mannes Namen zu erfahren,‹ sagte er, ›und heute Abend habe ich ihn in Deinem Gesichte gelesen. Es war Dein Zeichenlehrer, und sein Name ist Hartright. Ihr sollt es Beide bis ans Ende Eurer Tage bereuen. Jetzt geh’ zu Bett und sieh’ ihn, wenn Du willst, im Traume mit den Merkmalen meiner Hetzpeitsche auf seinem Rücken.‹ Sowie er jetzt in Zorn geräth, spielt er entweder mit einem Spotte oder einer Drohung auf das an, was ich ihm in Deiner Gegenwart bekannte. Ich habe nicht die Macht, ihn daran zu verhindern, daß er dem Vertrauen, das ich in ihn setzte, seine eigene abscheuliche Auslegung giebt. Ich kann ihn nicht bewegen, mir zu glauben oder zu schweigen. Du sahst erstaunt aus, als Du ihn heute sagen hörtest, ich habe eine Tugend aus der Nothwendigkeit gemacht, als ich ihn heirathete. Wenn Du ihn dies das nächste Mal, wo er in Zorn sein wird, wiederholen hörst, wirst Du nicht mehr darüber erstaunen – O Marianne! laß’ mich! laß’ mich! Du thust mir weh!«
Ich hielt sie in meinen Armen, welche der Stachel und die Qual des Gewissens wie eiserne Bande um sie schloß. Ja! bleiche Verzweiflung auf Walter’s Gesicht, als ich ihn im Lusthäuschen zu Limmeridge mit meinem grausamen Worte mitten ins Herz traf, erhob sich mit stummem, unerträglichem Vorwurfe vor mir. Meine Hand hatte ihm den Weg gezeigt, welcher den Mann, den meine Schwester liebte, Schritt für Schritt von seinem Vaterlande und seinen Lieben entfernte. Ich war zwischen die beiden jungen Herzen getreten und hatte sie auf immer von einander geschieden – und zum Zeugen der That lag sein Leben und ihr Leben verwüstet vor meinen Blicken. Dies hatte ich gethan, und zwar für Sir Percival Glyde.
Für Sir Percival Glyde.
Ich hörte sie sprechen und wußte aus dem Tone ihrer Stimme, daß sie sich bemühte mich zu trösten, – mich, die ich Nichts verdiente als die Vorwürfe ihres Schweigens! – Wie lange es währte, bis ich im Stande war, den verzehrenden Jammer meiner eigenen Gedanken zu bemeistern, kann ich nicht sagen. Das Erste, dessen ich mir bewußt wurde, waren ihre Küsse, und dann schienen meine Augen plötzlich zu dem Bewußtsein äußerer Gegenstände zu erwachen; denn ich wußte, daß ich mechanisch gerade vor mich hinauf den See blickte.
»Es wird spät,« hörte ich sie flüstern. »Es wird dunkel sein in den Baumanlagen.« Sie drückte meinen Arm und wiederholte: »Marianne! es wird dunkel sein unter den Bäumen.«
»Laß mich nur noch eine Minute,« sagte ich, – »nur noch eine Minute, um mich zu sammeln.«
Ich wagte sie noch nicht anzuschauen und richtete darum die Blicke fest auf die Aussicht.
Es war in der That spät geworden. Die dichte braune Baumlinie am Himmel sah jetzt in der Dunkelheit wie sich lang hin kräuselnder Rauch aus. Der Dunstkreis über dem See hatte sich allmälich ausgedehnt und war bis zu uns herangezogen. Das Schweigen war athemlos wie zuvor, doch war das Schauerliche desselben einer feierlichem geheimnißvollen Stille gewichen.
»Wir sind sehr weit vom Hause,« flüsterte Laura, »laß uns zurückkehren.«
Sie hielt plötzlich inne und wandte ihr Gesicht von mir ab auf den Eingang des Boothauses.
»Marianne!« sagte sie heftig zitternd, »Siehst Du Nichts? Sieh!«
»Wo?«
»Da unten, vor uns!«
Sie deutete mit der Hand vor sich, ich folgte der Richtung derselben, und dann sah auch ich es.
Eine lebende Gestalt bewegte sich in der Entfernung über die Ebene der Haide hin. Sie ging innerhalb unseres Gesichtskreises am Boothause vor uns vorüber und dann dunkel am Rande des Dunstkreises entlang. Sie stand in weiter Entfernung still, wartete und setzte ihren Weg wieder fort. Sie bewegte sich langsam, indem der weiße Rand des Nebels über ihr hing und ihr folgte, langsam, langsam weiter, bis sie über die Ecke des Boothauses hinweg glitt und wir sie nicht mehr sahen.
Unsere Nerven waren durch das, was während des Abends vorgegangen, erschüttert, und es vergingen daher einige Minuten, ehe Laura sich in die Baumanlagen hinauswagen wollte und ich mich entschließen konnte, sie ins Haus zurückzuführen.
»War es ein Mann oder eine Frau?« frug sie flüsternd, als wir endlich in die feuchte Nachtluft hinaustraten.
»Ich bin mir nicht sicher darüber.«
»Was glaubst Du?«
»Es sieht aus wie eine Frau.«
»Ich fürchtete, es möchte ein Mann in einem langen Mantel sein.«
»Es mag vielleicht ein Mann sein. In diesem undeutlichen Lichte ist es unmöglich, es mit Bestimmtheit zu sagen.«
»Warte, Marianne! Ich fürchte mich – ich kann den Weg nicht sehen. Wenn die Gestalt uns folgte!«
»Das ist durchaus nicht wahrscheinlich, Laura. Du brauchst Dich wirklich nicht zu ängstigen. Die Ufer des Sees sind nicht weit vom Dorfe und die Leute haben Erlaubniß daran spazieren zu gehen wann sie wollen, bei Tag oder bei Nacht. Ich wundere mich nur, daß wir nicht schon früher Leuten begegnet sind.«
Wir waren jetzt in den Anlagen. Es war sehr dunkel – so dunkel, daß es uns schwer wurde, den Pfad zu sehen. Ich gab Laura meinen Arm, und wir gingen so schnell wir konnten dem Hause zu.
Ehe wir noch zur Hälfte durch die Anlagen waren, stand sie stille und zwang mich ebenfalls still zu stehen. Sie horchte.
»Still!« flüsterte sie. »Ich höre Etwas hinter uns.«
»Welke Blätter,« sagte ich, um sie zu beruhigen, »oder vielleicht ein Zweig, der vom Baume fiel.«
»Es ist Sommer, Marianne, und es regt sich kein Lüftchen. Horch!«
Ich hörte es ebenfalls. Es klang wie ein leichter Schritt, der uns folgte.
»Einerlei, wer es ist oder was es ist,« sagte ich, »laß uns weiter gehen. In einer Minute werden wir dem Hause nahe genug sein, um gehört zu werden, falls uns irgend Etwas erschrecken sollte.«
Wir gingen schnell weiter, so schnell, daß, als wir beinahe zu Ende der Anlagen und in Sicht der hell erleuchteten Fenster angelangt waren, Laura außer Athem war.
Ich wartete einen Augenblick, um ihr Zeit zu geben, wieder zu Athem zu kommen. Gerade als wir im Begriffe waren, wieder weiter zu gehen, hielt sie mich abermals zurück und machte mir mit der Hand ein Zeichen zu horchen. Wir hörten Beide einen langen, schweren Seufzer hinter uns in dem schwarzen Dickicht der Bäume.
»Wer ist da?« rief ich aus.
Keine Antwort.
»Wer ist da?« wiederholte ich.
Eine kurze Stille folgte, und dann hörten wir die leichten Fußtritte wieder, wie sie schwächer und schwächer wurden, – immer leiser hinschwanden in der Finsterniß, und endlich sich in der Stille verloren.
Wir eilten aus den Bäumen hinaus, erreichten den offenen Rasenplatz, schritten schnell darüber hin und langten, ohne ein Wort weiter zu sprechen, im Hause an.
Im Lichte der auf dem Flur brennenden Lampe sah Laura mich mit bleichen Wangen und erschrockenem Auge an.
»Ich bin halb todt vor Angst,« sagte sie, »wer kann es nur gewesen sein?«
»Wir wollen morgen versuchen, es zu errathen,« entgegnete ich. »Unterdessen sage Niemandem Etwas von dem, was wir gehört und gesehen haben.«
»Warum nicht?«
»Weil Schweigen sicher ist, und weil wir in diesem Hause sehr der Sicherheit bedürfen.«
Ich bat Laura, sogleich auf ihr Zimmer zu gehen, wartete einen Augenblick, um meinen Hut abzulegen und mein Haar zu glätten, und ging dann sofort, unter dem Vorwande, daß ich ein Buch suchen wollte, in der Bibliothek meine Nachforschungen anzustellen.
Da saß der Graf und füllte mit seiner Person den geräumigsten Armstuhl im ganzen Hause aus; er rauchte und las in größtmöglichster Gemüthsruhe, wobei seine Füße auf einem Sessel ruhten, seine Cravatte über seinen Knien lag und sein Halskragen weit geöffnet war. Und da, zu seinen Füßen, saß die Gräfin, wie ein artiges Kind und machte Cigarretten für ihn. Weder er, noch seine Gemahlin konnten möglicherweise spät draußen gewesen und eben erst zum Hause zurückgeeilt sein. Ich fühlte, sowie ich sie nur erblickte, daß der Zweck, der mich nach der Bibliothek führte, erreicht sei.
Als ich eintrat, erhob sich Graf Fosco in höflicher Verwirrung und band seine Cravatte um·
»Bitte, lassen Sie sich nicht durch mich stören,« sagte ich, »ich kam nur, um mir ein Buch zu holen.«
»Alle unglücklichen Leute meines Umfanges leiden von der Hitze,« sagte der Graf, sich voll Ernst mit einem großen grünen Fächer Erfrischung zufächelnd. »Ich wollte, ich könnte mit meiner vortrefflichen Gemahlin tauschen. Sie ist in diesem Augenblicke so kühl wie einer von den Fischen draußen im Teiche.«
Die Gräfin ließ sich herab, unter dem Einflusse des scherzhaften Vergleiches anfzuthauen.
»Mir ist niemals warm, Miß Halcombe,« sagte sie mit der bescheidenen Miene einer Person, die eines ihrer Verdienste zugiebt.
»Sind Sie und Lady Glyde heute Abend draußen gewesen?« frug der Graf, während ich, um den Schein zu bewahren, ein Buch aus dem Schranke nahm.
»Ja, wir gingen hinaus, um etwas frische Luft zu genießen.«
»Darf ich fragen, nach welcher Richtung hin?«
»Nach dem See zu – bis zum Boothause.«
»Aha – bis zum Boothause?«
Unter anderen Verhältnissen hätte mich seine Neugier wahrscheinlich verdrossen. Heute Abend aber war sie mir als ein Beweis willkommen, daß weder er noch seine Frau mit der geheimnißvollen Erscheinung am See etwas zu thun hatten.
»Es sind Ihnen doch keine Abenteuer weiter zugestoßen?« fuhr er fort, »keine ferneren Entdeckungen, wie Ihre Entdeckung des blessirten Hundes?«
Er heftete seine unergründlichen grauen Augen mit jenem kalten, klaren, unwiderstehlichen Glanze auf mich, der mich stets zwingt, ihn anzusehen und mir dabei ein beängstigendes Gefühl verursacht. Es beschleicht mich bei solchen Gelegenheiten ein unaussprechlicher Verdacht, daß sein Geist in dem meinigen späht, und auch diesmal beschlich mich derselbe.
»Nein,« sagte ich kurz, »weder Abenteuer noch Entdeckungen.«
Ich versuchte von ihm hinwegzublicken und das Zimmer zu verlassen, – doch, so seltsam dies auch scheinen mag, ich glaube nicht, daß mir dies gelungen wäre, falls nicht die Gräfin mir unbewußterweise geholfen hätte, indem sie den Grafen nöthigte, seine Stellung zu verändern und zuerst fortzublicken.
»Du läßt Miß Halcombe stehen, Graf,« sagte sie.
Sowie er sich umwandte, um mir einen Stuhl zu geben, ergriff ich die Gelegenheit, dankte ihm, entschuldigte mich und schlüpfte hinaus.
Eine Stunde später, als Laura’s Kammerjungfer im Zimmer war, sagte ich beiläufig etwas von der Schwüle des Abends, in der Absicht, von ihr zu erfahren, wie und wo die Dienerschaft den Abend zugebracht hatte.
»Habt ihr die Hitze unten sehr gefühlt?« frug ich sie.
»Nein, Miß,« sagte sie, »nicht, daß es der Rede werth wäre.«
»Dann waret Ihr wohl draußen im Holze?«
»Einige von uns dachten daran, hinauszugehen, aber die Köchin sagte, sie werde sich einen Stuhl in den kühlen Hof tragen, und da machten wir Uebrigen es ebenso.«
Die Haushälterin war jetzt die Einzige, über die Auskunft zu erholen mir noch übrig blieb.
»Ist Mrs. Michelson schon zu Bette gegangen?« fragte ich.
»Sie denkt nicht daran, Miß,« sagte das Mädchen lächelnd. »Es ist viel wahrscheinlicher, daß sie jetzt aufsteht, anstatt zu Bette zu gehen.«
»Warum? wie so? Ist Mrs. Michelson schon den Tag über im Bette gewesen?«
»Nein, Miß, das gerade nicht, aber doch etwas Aehnliches. Sie hat den ganzen Abend in ihrer Stube auf dem Sopha gelegen.«
Wenn ich das, was ich in der Bibliothek beobachtet, mit dem zusammenhalte, was ich soeben von dem Mädchen gehört habe, so scheint mir daraus nur Eins zu schließen möglich. Die Gestalt, die wir am See gesehen, war weder die des Grafen, noch der Gräfin, noch irgend Jemandes von der Dienerschaft. Die Schritte, die wir hinter uns gehört, rührten von Niemandem aus dem Hause her.
Wer konnte es gewesen sein?
Es scheint nutzlos, Nachfragen darüber anzustellen. Ich kann selbst nicht einmal bestimmen, ob die Gestalt die eines Mannes war oder die einer Frau. Ich kann nur sagen, daß ich glaube, sie war eine weibliche.
Den 4. Juli.
Der Schmerz der Selbstvorwürfe, den ich gestern Abend nach dem erlitt, was Laura mir im Boothause erzählt hatte, kehrte mir in der Einsamkeit der Nacht mit doppelter Gewalt zurück und verhinderte mich viele Stunden lang am Schlafen.
Ich zündete endlich ein Licht an und sah dann meine alten Tagebücher durch, um mich zu überzeugen, welchen Antheil ich eigentlich an dem unglückseligen Mißgriffe dieser Heirath gehabt, und was ich einst hätte thun können, um sie zu verhindern. Der Erfolg beruhigte mich einigermaßen, denn er zeigte mir, daß ich, so blind und unwissend ich auch gewesen, doch nach meinem besten Urtheile gehandelt hatte. Das Weinen schadet mir gewöhnlich, – gestern that es dies nicht; ich glaube im Gegentheil, daß ich etwas Erleichterung darin fand. Ich stand diesen Morgen mit beruhigtem Gemüthe und einem gefaßten Entschlusse auf. Ich will mich nie wieder durch irgend Etwas, das Sir Percival sagen oder thun mag, reizen lassen, oder auch nur einen Augenblick darüber vergessen, daß ich, jeglichen Aergernissen, Beleidigungen und Drohungen Trotz bietend, in Laura’s Diensten und aus Liebe zu Laura hier bleibe.
Die Muthmaßungen, in denen wir uns diesen Morgen über die Gestalt am See und die Schritte in den Baumanlagen ergangen haben möchten, sind alle in einem unbedeutendem Unfalle untergegangen, der Laura großes Bedauern verursacht. Sie hat die kleine Broche verloren, die ich ihr am Tage vor ihrer Vermählung als Andenken schenkte. Da sie sie trug, als wir gestern Abend ausgingen, so können wir nur annehmen, daß sie entweder im Boothause oder auf unserem eiligen Heimwege aus ihrem Kleide gefallen ist. Die Diener sind bereits dagewesen, um nachzusuchen, jedoch ohne Erfolg zurückgekehrt. Und jetzt ist Laura selbst gegangen, um sie zu suchen. Ob sie die Broche übrigens nun finde oder nicht, so wird der Verlust uns doch eine Entschuldigung für ihre Abwesenheit vom Hause bieten, falls Sir Percival zurückkehren sollte, ehe der Brief von Mr. Gilmore’s Compagnon in meine Hände gegeben sein wird.
Es hat soeben ein Uhr geschlagen. Ich überlege, ob es besser sein wird, wenn ich die Ankunft des Boten aus London hier erwarte, oder wenn ich ruhig hinausschlüpfe und ihm bis jenseits der Thorhüterwohnung entgegengehe.
Mein Verdacht gegen Alles und Jeden im Hause macht mich geneigt, das letztere als das Klügere anzunehmen. Vor dem Grafen bin ich sicher, denn ich hörte ihn, als ich vor zehn Minuten die Treppe hinauflief, durch die offene Thür des Frühstückszimmers dort seine Canarienvögel exerciren.
»Kommt heraus auf meine Finger, meine Piep-Piep- Piepvögelchen! Kommt heraus! Hüpf’ hinauf! Eins – zwei – drei – oben! Drei – zwei – eins – und wieder unten! Eins – zwei – drei –·– zirp – zirp – zirp – ziiirp!« Die Vögel brachen wie gewöhnlich in ihren Jubelgesang aus und der Graf zirpte und pfiff dazu, wie wenn er selbst ein Vogel gewesen wäre. Meine Stubenthür ist offen, und ich kann das gellende Zirpen und Pfeifen hier oben hören. Wenn ich hinausschlüpfen will, so ist jetzt der geeignetste Augenblick dazu.
Vier Uhr. – Ich kehre mit Gefühlen zu diesen Blättern zurück, die es mir unmöglich ist zu beschreiben. Die drei Stunden, die seit den letzten Zeilen vergangen sind, haben den ganzen Gang der Ereignisse in Blackwater Park in eine neue Richtung geleitet. Ob zum Guten oder zum Schlimmen, kann ich weder, noch wage ich es zu bestimmen.
Ich muß zu der Stelle zurückkehren, an der ich abbrach, sonst werde ich in der Verwirrung meiner Gedanken ganz den Faden verlieren.
Ich ging, wie ich mir vorgenommen hatte, um dem Boten, der mir den Brief aus London bringen sollte, zu begegnen. Auf der Treppe sah ich Niemanden. Im Flur angelangt, hörte ich den Grafen noch immer seine Vögel exerciren. Als ich aber über den Hof ging, sah ich dort die Gräfin ihre Lieblingsrunde um den Fischteich herum machen. Ich hemmte sofort meine Schritte, um den Schein zu meiden, als ob ich in Eile sei, und ging Vorsicht halber sogar so weit, sie zu fragen, ob sie vor dem Gabelfrühstück noch auszugehen gedenke. Sie lächelte mir auf das Freundlichste zu, sagte, sie ziehe es vor, in der Nähe des Hauses zu bleiben, nickte mir zu und ging wieder ins Haus zurück. Ich schaute zurück und sah, daß sie die Hausthür schloß, ehe ich noch das Pförtchen neben dem großen Wagenthor geöffnet hatte.
In weniger als einer Viertelstunde war ich bei der Thorhüterwohnung angelangt.
Der Weg jenseits derselben machte eine plötzliche Biegung nach links, ging dann auf ungefähr hundert Ellen gerade aus und bog dann wieder rechts in die Hauptstraße ein.
Zwischen diesen beiden Biegungen, die mich auf der einen Seite der Beobachtung von der Thorhüterwohnung und auf der anderen vom Wege nach der Station aus entzogen, ging ich wartend auf und ab. Auf beiden Seiten des Weges waren hohe Hecken, und während zwanzig Minuten nach meiner Uhr sah und hörte ich Nichts. Nach Ablauf derselben fiel das Geräusch von herannahenden Rädern auf mein Ohr, und als ich der zweiten Biegung des Weges zuschritt, kam mir eine Droschke von der Eisenbahnstation entgegen. Ich machte dem Kutscher ein Zeichen, zu halten. Als er mir gehorchte, steckte ein anständig aussehender Mann den Kopf zum Fenster hinaus, um zu sehen, was es gebe.
»Ich bitte um Verzeihung,« sagte ich, »aber habe ich nicht Recht, wenn ich vermuthe, daß Sie nach Blackwater Park wollen?«
»Ja wohl, Madame.«
»Daß Sie an Jemand dort einen Brief abzugeben haben?«
»An Miß Halcombe, Madame.«
»Sie können ihn mir geben. Ich bin Miß Halcombe.« Der Mann nahm den Hut ab, stieg sofort aus dem Wagen und gab mir den Brief. Ich öffnete ihn augenblicklich und las folgende Zeilen. Ich schreibe ihn hier ab (indem ich die Adresse an mich und die Unterschrift des Schreibers weglasse), da ich es für das Beste halte, das Original Vorsicht halber zu vernichten.
»Verehrtes Fräulein!
Ihr Brief, den ich diesen Morgen erhalten, hat mir große Besorgniß verursacht. Ich will ihn so kurz und so deutlich beantworten, wie mir dies möglich ist.
Meine sorgfältige Erwägung der mir von Ihnen gemachten Mittheilung und meine Kenntniß der Lage von Lady Glyde, wie sie aus dem Contracte hervorgeht, lassen mich zu meinem Bedauern zu dem Schlusse kommen, daß man eine Anleihe auf das bei Sir Percival gemachte Depositum (oder mit andern Worten, auf die zwanzigtausend Pfund, die einen Theil von Lady Glyde’s Vermögen ausmachen) aufzunehmen beabsichtigt, und daß man sie an der Sache betheiligen will, um sich ihrer Zustimmung in einem abscheulichen Wortbruche zu versichern und zu dem Zwecke sich ihre Unterschrift zu verschaffen sucht, falls sie sich später darüber beschweren sollte. Nach irgend einer anderen Voraussetzung ist es unmöglich, sich zu erklären, wie man in der Lage, in der sie sich befindet, überhaupt ihrer Unterschrift bedürfen kann.
Falls Lady Glyde ein solches Document, wie ich die in Frage stehende Schrift zu sein vermuthen muß, unterzeichnete, würden ihre Curatoren dadurch ermächtigt sein, Sir Percival aus ihren zwanzigtausend Pfund Summen vorzuschießen. Würde die Anleihe nicht zurückgezahlt, und falls Lady Glyde Kinder hätte, so würde das Vermögen derselben um die so vorgeschossene Summe, ob groß oder klein, vermindert sein. Um mich noch deutlicher auszudrücken, mag die Verhandlung, wenn Lady Glyde nicht Beweise vom Gegentheile hat, ein Betrug gegen ihre ungebornen Kinder sein.
Unter diesen ernsten Umständen möchte ich empfehlen, daß Lady Glyde ihren Wunsch, das Document erst mir, als dem Geschäftsführer ihrer Familie (in Mr. Gilmore’s Abwesenheit) vorzulegen, als Grund ihrer Weigerung es zu unterschreiben angäbe. Es können gegen ein solches Verfahren keine vernünftigen Einwendungen gemacht werden, denn falls die Verhandlung eine ehrenhafte ist, so wird natürlich meiner Zustimmung Nichts entgegenstehen.
Mit der aufrichtigen Versicherung meiner Bereitwilligkeit, Ihnen auch ferner mit Rath und That zu dienen, habe ich die Ehre, verehrtes Fräulein –
– –«
Ich las diesen freundlichen und verständigen Brief voll Dankbarkeit durch. Er lieferte Laura einen Grund, sich der Unterschrift zu widersetzen, gegen den Nichts einzuwenden war, und den wir Beide vollkommen zu verstehen im Stande waren. Der Bote wartete, während ich las, um sobald ich zu Ende gelesen, meine Befehle entgegenzunehmen.
»Wollen Sie nur gütigst sagen, daß ich den Brief verstehe und herzlich dafür danke?« sagte ich zu ihm. »Weiter ist für den Augenblick Nichts zu bestellen.«
Gerade in dem Augenblicke, in dem ich diese Worte sagte und den Brief offen in der Hand hielt, kam Graf Fosco um die Ecke der Hauptstraße und stand vor mir, als ob er aus der Erde emporgeschossen wäre.
Sein plötzliches Erscheinen an einem Orte, an dem ich ihn in der ganzen Welt am wenigsten zu sehen erwartete, machte mich sprachlos vor Erstaunen. Der Bote empfahl sich und stieg wieder in die Droschke – ich konnte kein Wort zu ihm sagen, sogar nicht einmal seinen Gruß erwidern. Ich war wie versteinert durch die Ueberzeugung, daß ich entdeckt sei, und noch dazu von diesem Manne unter allen andern.
»Kehren Sie zum Hause zurück, Miß Halcombe?« frug er, ohne das geringste Zeichen der Ueberraschung von seiner Seite und ohne der Droschke nachzublicken, welche davonfuhr, als er mich anredete.
Ich sammelte mich hinreichend, um ein Zeichen der Bejahung zu machen.
»Ich gehe ebenfalls zurück,« sagte er, »bitte, gestatten Sie mir das Vergnügen, Sie begleiten zu dürfen. Darf ich Ihnen meinen Arm anbieten? Sie scheinen erstaunt, mich zu sehen!«
Ich nahm seinen Arm. Das Erste, was mir von meinem zerstreuten Bewußtsein wiederkehrte, war, daß ich lieber Alles opfern müsse, ehe ich ihn uns zum Feinde machte.
»Sie scheinen erstaunt, mich zu sehen?« wiederholte er mit seiner ruhigen Beharrlichkeit.
»Es schien mir, daß ich Sie mit Ihren Vögeln im Frühstückszimmer beschäftigt sah, Graf Fosco,« sagte ich so ruhig und fest, als mir dies möglich war.
»Allerdings. Aber meine gefiederten kleinen Kinder, theure Dame, sind nur zu sehr andern Kindern gleich. Sie haben ihre Tage des Eigensinns, und von diesen ist der heutige Morgen einer. Meine Frau kam herein, als ich sie eben wieder in ihren Bauer setzte, und sagte mir, Sie seien soeben allein auf einen Spaziergang ausgegangen. Sie sagten ihr dies, nicht wahr?«
»Gewiß.«
»Nun, Miß Halcombe, das Vergnügen, Sie zu begleiten, war eine Versuchung für mich; der ich nicht zu widerstehen vermochte. In meinem Alter liegt doch nichts Böses in diesem Geständnisse, wie? Ich ergriff meinen Hut und eilte, mich Ihnen als Begleiter anzutragen. Selbst ein so dicker, alter Mann wie Fosco scheint mir besser als gar keine Begleitung, wie? Ich schlug den verkehrten Weg ein, kehrte in Verzweiflung wieder um, und hier bin ich endlich – darf ich es sagen? – auf dem Gipfel meines Glückes.«
In diesem complimentenreichen Schwunge redete er fort, und zwar mit einer Geläufigkeit, die mir keine weitere Anstrengung überließ, als die, meine Fassung zu bewahren. Er deutete auch nicht im Entferntesten auf das hin, was er auf dem Wege gesehen hatte, noch auf den Brief, den ich immer noch in der Hand hielt. Diese bedeutungsvolle Discretion half, mich davon zu überzeugen, daß er durch die allerehrlosesten Mittel das Geheimniß meines Schreibens in Laura’s Interesse entdeckt haben mußte, und daß er jetzt, nachdem er sich von der heimlichen Art und Weise, in der ich die Antwort empfangen, überzeugt hatte, für seine Zwecke genug wußte und es sich jetzt nur angelegen sein ließ, den Argwohn einzuschläfern, den er in mir erweckt zu haben gewiß sein konnte. Ich war unter diesen Umständen klug genug, keinen Versuch zur Erklärung zu machen, und Weib genug, um ungeachtet meiner Furcht vor ihm zu fühlen, daß meine Hand dadurch befleckt werde, daß sie auf seinem Arme ruhte.
Vor dem Hause begegneten wir dem Gig, das nach dem Stalle zurückgefahren wurde. Sir Percival war soeben zurückgekehrt. Er kam an die Hausthür, um uns zu begrüßen. Welche sonstige Erfolge seine Reise auch gehabt haben mochte, seine Laune hatte sie nicht verbessert.
»O, hier sind endlich Zwei von der Gesellschaft,« sagte er mit finsterem Blicke.
»Was soll es heißen, daß das ganze Haus leer ist? Wo ist Lady Glyde?«
Ich erzählte ihm von dem Verluste der Broche und daß Laura hinausgegangen sei, um sie zu suchen.
»Broche oder nicht,« brummte er verdrießlich, »ich empfehle ihr, nicht zu vergessen, daß ich sie in einer halben Stunde in der Bibliothek erwarte.«
Ich zog meine Hand von des Grafen Arm hinweg und stieg langsam die Stufen hinan. Er beehrte mich mit einer seiner süperben Verbeugungen und wandte sich dann fröhlich zu dem mürrischen Herrn des Hauses.
»Sage mir, Percival,« begann er, »hast Du eine angenehme Fahrt gemacht? Und ist Deine hübsche, blanke, braune Molly auch ermüdet zurückgekommen?«
»Zum Henker mit der braunen Molly – und mit der Fahrt ebenfalls! Ist das Frühstück fertig? Mich hungert.«
»Und ich möchte mich erst auf fünf Minuten allein mit Dir unterhalten,« entgegnete der Graf, »fünf Minuten mein Freund, hier auf dem Rasen.«
»Worüber?«
»Ueber Sachen, die ganz außerordentlich Dich betreffen.«
Ich zögerte lange genug, indem ich durch die Hausthür ging, um diese Frage und Antwort zu hören, auch zu sehen. wie Sir Percival mit verdrießlichem Zaudern die Hände in die Tasche steckte.
»Wenn Du mir noch mehr von Deinen verwünschten Scrupeln aufzutischen hast,« sagte er, »so will ich sie nicht hören. Mich hungert.«
»Komm’ her und höre, was ich Dir zu sagen habe,« wiederholte der Graf, ohne sich durch Sir Percival’s grobe Reden im Geringsten reizen zu lassen.
Sir Percival ging die Stufen hinunter. Der Graf nahm ihn beim Arm und führte ihn langsam fort. Die »Sachen,« die ihn betrafen, bezogen sich, wie ich überzeugt war, auf die Unterschrift. Sie sprachen ohne allen Zweifel von Laura und mir. Ich fühlte, wie ich vor Sorge förmlich schwach wurde. Es durfte für uns von der größten Wichtigkeit sein, zu wissen, was sie in diesem Augenblicke zusammen sprachen, und doch war es eine Unmöglichkeit, auch nur ein Wort davon aufzufangen.
Ich ging im Hause umher von einem Zimmer ins andere mit dem Briefe des Advokaten im Kleide (denn ich fürchtete mich bereits, selbst im Verschlusse ihn aufzubewahren), bis mich der Druck der Erwartung beinahe wahnsinnig machte. Es war noch immer Nichts von Laura zu sehen, und ich dachte schon daran, hinauszugehen und sie aufzusuchen. Aber die Angst und Besorgniß, in der ich den ganzen Morgen gelebt, hatten mich so erschöpft, daß mich jetzt die Hitze ganz überwältigte, und als ich versuchte zur Thüre zu gehen, war ich genöthigt umzukehren und mich im Salon auf das nächste Sopha zu legen, um mich erst wieder zu erholen.
Es gelang mir eben etwas ruhiger zu werden, als die Thür leise geöffnet wurde, und der Graf hereinschaute.
»Ich bitte tausendmal um Vergebung, Miß Halcombe,« sagte er, »ich wage nur die Thür zu öffnen, weil ich gute Nachricht für Sie habe. Percival, der, wie Sie wissen; in Allem capriciös ist, hat sich herabgelassen, im letzten Augenblicke seine Meinung zu ändern, und das Geschäft mit der Unterschrift ist einstweilen verschoben. Eine große Erleichterung für uns Alle, wie ich mit Vergnügen in Ihrem Gesichte lese, Miß Halcombe. Bitte, machen Sie Lady Glyde meine hochachtungsvolle Empfehlung, wenn Sie ihr diesen angenehmen Wechsel der Verhältnisse mittheilen.«
Er verließ mich, ehe ich mich noch von meinem Erstaunen erholen konnte. Es konnte keinem Zweifel unterliegen, daß diese merkwürdige Veränderung in Bezug auf die Unterschrift seinem Einflusse zuzuschreiben war, und daß seine Entdeckung meines gestrigen Schreibens nach London und der heute von mir in Empfang genommenen Antwort auf dasselbe ihm die Mittel geboten hatte, sich mit sicherem Erfolge ins Mittel zu legen.
Ich fühlte dies, doch schien mein Geist die Erschöpfung meines Körpers zu theilen, denn ich war nicht im Stande, diese Gedanken zusammenhängend weder mit der zweifelhaften Gegenwart, noch mit der drohenden Zukunft in Verbindung zu bringen. Ich versuchte zum zweiten Male hinauszugehen, um Laura zu suchen, aber es wurde mir schwindelig und die Kniee zitterten mir, so daß mir nichts weiter. übrig blieb, als wieder zum Sopha zurückzukehren und mich sehr wider Willen abermals niederzulegen.
Die Stille im Hause und das leise Summen der Sommerinsekten draußen vor den Fenstern beruhigten mich. Meine Augen schlossen sich von selbst, und ich versank allmälich in einen seltsamen Zustand, der kein Wachen war – denn ich wußte Nichts von dem, was um mich her vorging – und auch kein Schlaf, denn ich war mir meiner eigenen Ruhe bewußt. In diesem Zustande entfloh mir mein fieberhaft erregter Geist, während mein müder Körper ruhte, und in dieser Art von Erstarrung oder wachem Träumen – ich weiß nicht, wie ich es nennen soll – sah ich Walter Hartright. Ich hatte, seit ich diesen Morgen ausgestanden war, nicht wieder an ihn gedacht; Laura hatte kein Wort gesprochen, das entweder direct oder indirect Bezug auf ihn gehabt hätte – und doch sah ich ihn jetzt so deutlich, wie wenn die Vergangenheit wieder zurückgekehrt und wir Beide wieder in Limmeridge gewesen wären.
Er erschien mir mitten unter vielen andern Männern, von deren Gesichtern ich keins unterscheiden konnte. Sie lagen alle auf den Stufen eines ungeheuren verfallenen Tempels. Riesige tropische Bäume, um deren Stämme sich endlose Schlingpflanzen zogen und hinter deren Aesten und Blättern scheußliche steinerne Götzenbilder glitzerten und grinsten, umgaben den Tempel, schlossen den Blick auf den Himmel aus und warfen einen trüben Schatten über die schlummernden Männer auf den Stufen. Weiße Dünste stiegen kräuselnd und heimlich aus dem Erdboden empor, näherten sich wie kleine Rauchwolken den Schläfern, berührten sie, und streckten sie einen nach dem andern todt auf der Stelle hin, auf der sie lagen. Die Todesangst des Mitleids für Walter löste meine Zunge, und ich flehte ihn an zu entfliehen.
»Komm zurück! o komm zurück!« sagte ich. »Erinnere Dich des Versprechens, daß Du ihr und mir gegeben hast. Kehr zu uns zurück, ehe die Pest Dich ereilt und Dich todt zu den Uebrigen legt.«
Er blickte mich mit überirdischer Ruhe im Gesichte an. »Warte!« sagte er, »ich werde zurückkehren. Jene Nacht, in der ich dem verlassenen Weibe auf der Landstraße begegnete, war die, welche mein Leben zum Werkzeuge eines Zweckes erwählte, den ich bis jetzt noch nicht erkenne. Hier einsam in der Wildniß, oder dort bewillkommt im Lande meiner Heimath, wandere ich immer auf dem dunkeln Pfade hin, der mich und Dich und die Schwester Deiner und meiner Liebe einer unbekannten Vergeltung, einem unvermeidlichen Ende zuführt. Warte und schaue. Die Pest, welche die Andern dahin streckt, wird an mir vorüber gehen.«
Ich sah ihn zum zweiten Male. Er war noch in dem Walde, und die Zahl seiner Gefährten war auf ganz wenige zusammengeschmolzen. Der Tempel war fort und die Götzenbilder, und statt ihrer lauerten mörderisch hinter den Blättern und Zweigen dunkle zwerghafte Männer, die in ihren Händen gespannte Bogen hielten. Mir bangte wieder um Walter, und ich schrie auf, um ihn zu warnen, und abermals wandte er sich mit derselben unerschütterlichen Ruhe im Gesichte zu mir. »Noch ein Schritt auf dem dunkeln Pfade,« sagte er. »Warte und schaue. Die Pfeile, welche, die Andern treffen, werden mich unberührt lassen.«
Ich sah ihn zum dritten Male in einem gescheiterten Schiffe, das an einem wilden, sandigen Ufer gestrandet war. Die überladenen Boote machten sich von ihm fort dem Lande zu und ließen ihn allein auf dem Schiffe zurück, um mit demselben zu sinken. Ich rief ihm zu, das letzte Boot zurückzurufen und eine letzte Anstrengung zu machen, um sein Leben zu retten. Das unbewegliche Gesicht schaute mich abermals an, und die ruhige Stimme gab mir die unveränderliche Antwort »Noch ein Schritt auf dem dunkeln Pfade. Warte und schaue. Die See, welche die Andern verschlingt, wird mich verschonen.«
Ich sah ihn zum letzten Male. Er kniete an einem Grabmale von weißem Marmor, und der Schatten einer verschleierten Frau stieg aus dem Grabe empor und stand wartend an seiner Seite. Die überirdische Ruhe in seinem Gesichte hatte sich in überirdischen Kummer verwandelt. Doch die furchtbare Sicherheit seiner Worte blieb dieselbe.
»Immer dunkler und immer weiter,« sagte er. »Der Tod nimmt die Guten, die Schönen und die Jungen – und mich verschont er. Die Pest, die verwüstet, der Pfeil, welcher trifft, die See, welche verschlingt, das Grab, das sich über Liebe und Hoffnung schließt, sind Schritte auf meiner Wanderung und bringen mich dem Ende näher und immer näher.«
Mein Herz sank mir unter einer Angst, für die es keine Worte, einem Kummer, für den es keine Thränen giebt. Die Finsterniß umhüllte den Pilger am Marmorsteine, die verschleierte Frau aus dem Grabe, und die Träumerin, die auf sie hinblickte. Ich sah und hörte Nichts weiter.
Ich erwachte, indem ich fühlte, wie sich mir eine Hand auf die Schulter legte. Es war Laura’s Hand.
Sie war neben dem Sopha niedergekniet – ihr Gesicht war erhitzt und bewegt, und ihre Augen begegneten den meinen mit einem verwirrten, aufgeregten Blicke. Ich fuhr in die Höhe, sowie ich sie erblickte.
»Was hat sich zugetragen?« frug ich. »Was hat Dich erschreckt?«
Sie blickte sich um nach der halb geöffneten Thür, brachte ihre Lippen dicht an mein Ohr und antwortete flüsternd:
»Marianne! – die Gestalt am See – die Schritte gestern Abend – ich habe sie soeben gesehen! ich habe soeben mit ihr gesprochen!«
»Mit wem, um Gotteswillen?«
»Mit Anna Catherick.«
– Ich war so erschrocken über Laura’s verstörtes Gesicht und aufgeregtes Wesen und durch die ersten wachen. Eindrücke meines Traumes so außer Fassung gebracht, daß ich nicht im Stande war, die Offenbarung zu erfassen, die sich mir aufthat, als der Name Anna Cathericks von ihren Lippen fiel. Ich konnte nur wie angewurzelt dastehen und sie in athemlosem Schweigen anschauen.
Sie war zu sehr mit dem, was sich zugetragen hatte, beschäftigt, um die Wirkung ihrer Antwort auf mich zu bemerken. »Ich habe Anna Catherick gesehen! Ich habe mit Anna Catherick gesprochen!« wiederholte sie, als ob ich sie nicht gehört habe. »O Marianne, ich habe Dir so viele Dinge zu erzählen! Komm mit – wir könnten hier gestört werden – komm gleich auf mein Zimmer!«
Mit diesen eifrigen Worten ergriff sie meine Hand und führte mich durch die Bibliothek in das Eckzimmer im Erdgeschoß, das zu ihrem besondern Gebrauch hergerichtet worden. Keine dritte Person außer ihrer Kammerjungfer hätte einen Vorwand finden können, um uns hier zu überraschen. Sie schob mich vor sich hinein, verschloß die Thür und zog die Glanzkattun-Vorhänge, die auf der Innenseite derselben hingen, darüber hin.
Das seltsame, betäubte Gefühl, das mich ergriffen hatte, dauerte noch immer fort. Aber die wachsende Ueberzeugung, daß das Gewebe, das sich schon so lange um uns zu ziehen gedroht hatte, uns Beide plötzlich fest gefangen hielt, begann sich jetzt meinem Geiste aufzudrängen. Ich konnte dies nicht mit Worten ausdrücken – kaum, daß ich mir dessen selbst unklar bewußt wurde. »Anna Catherick!«, flüsterte ich mit unnützen hülfloser Wiederholung vor mich hin – Anna Catherick!«
Laura zog mich zu dem nächsten Sitze, einem viereckigen Sopha mitten in der Stube, hin »Sieh!« sagte sie; »sieh her!« und deutete auf ihre Brust.
Ich sah zum erstenmale, daß die Broche wieder an ihrer Stelle stak. In dem Anblicke lag etwas Wirkliches und im Berühren derselben etwas Faßliches, das dem Strudel meiner Gedanken Einhalt zu thun schien und, mir half mich zu sammeln.
»Wo fandest Du Deine Broche?« Die ersten Worte, die ich in diesem wichtigen Augenblicke sprechen konnte, waren die, welche diese unerhebliche Frage enthielten.
»Sie fand sie, Marianne!«
»Wo?«
»Am Boden im Boothause. O, wie soll ich anfangen, – wie soll ich Dir Alles erzählen! Sie sprach so seltsam zu mir, sah so entsetzlich leidend aus, verließ mich so plötzlich – –«
Ihre Stimme wurde lauter, als der Aufruhr ihrer Erinnerungen ihre Gedanken drängte. Der eingewurzelte Argwohn, der in diesem Hause Nacht und Tag meinen Geist bedrückt, erhob sich schnell in mir, um sie zu warnen – gerade wie der Anblick der Broche einen Augenblick vorher mich so schnell veranlaßt hatte, sie zu befragen.
»Sprich leise,« sagte ich »Das Fenster ist offen, und es zieht sich ein Gartensteig darunter hin. Fange von vorn an, Laura. Sage mir Wort für Wort, was sich zwischen Dir und jener Frau zugetragen hat.«
»Soll ich zuvor das Fenster schließen?«
»Nein; nur sprich leise: bedenke, daß Anna Catherick unter dem Dache Deines Mannes ein gefährlicher Gegenstand ist. Wo sahst Du sie zuerst?«
»Im Boothause, Marianne. Ich ging, wie Du weißt, hinaus, um meine Broche zu suchen und schritt langsam den Weg durch die Anlagen entlang, indem ich bei jedem Schritte sorgfältig zu beiden Seiten auf den Boden blickte So langte ich nach ziemlich langer Zeit im Boothause an, und sobald ich drin war, kniete ich nieder und suchte auf dem ganzen Boden nach der Broche.
Ich suchte noch immer, mit dem Rücken dem Eingange zugewandt, als ich eine sanfte fremde Stimme hinter mir ›Miß Fairlie!‹ rufen hörte.«
»Miß Fairlie!«
»Ja – meinen alten Namen – den lieben, bekannten Namen, von dem ich auf immer geschieden zu sein glaubte. Ich sprang auf – nicht erschrocken, denn die Stimme war zu sanft und angenehm, um irgend Jemanden erschrecken zu können – aber sehr überrascht. Da am Eingange stand eine Frau, deren Gesicht ich nie zuvor gesehen zu haben mich erinnerte, und sah mich an.«
»Wie war sie gekleidet?«
»Sie trug ein sauberes, hübsches weißes Kleid und darüber ein ärmliches, dünnes dunkles Tuch. Ihr Hut war von braunem Stroh und ebenso ärmlich und abgetragen, wie der Shawl. Mich frappirte der Unterschied zwischen ihrem Kleide und ihrem übrigen Anzuge, und sie sah, daß ich ihn bemerkte. ›Sehen Sie meinen Hut und mein Tuch nicht an,‹ sagte sie mit schnellem, athemlos plötzlichem Wesen; ›wenn ich nicht Weiß tragen kann, ist mir’s einerlei, was ich trage. Sehen Sie mein Kleid an, soviel Sie wollen; seiner schäme ich mich nicht.‹ War es nicht seltsam? Ehe ich noch etwas Begütigendes sagen konnte, streckte sie eine Hand aus, und ich sah meine Broche darin. Ich war so froh und glücklich darüber, daß ich ganz nahe an sie heran trat, um ihr zu sagen, was ich wirklich fühlte. ›Sind Sie dankbar genug, um mir eine kleine Gefälligkeit zu erzeigen?‹ frug sie. ›Ja gewiß!‹ sagte ich, ›ich will mit Freuden Alles für Sie thun, was in meiner Macht liegt.‹ ›Dann lassen Sie mich die Broche jetzt, da ich sie gefunden habe, auch an Ihrem Kleide befestigen.‹ Ihre Bitte war so unerwartet, und sie sprach sie mit einem solchen Eifer aus, daß ich ein paar Schritte zurückwich, Marianne, und nicht recht wußte, was ich thun sollte. ›Ach!‹ sagte sie, ›Ihre Mutter hätte sich die Broche von mir anstecken lassen!‹ Es lag in ihrer Stimme und ihrem Blicke sowohl, als in der vorwurfsvollen Weise, in der sie des Namens meiner Mutter erwähnte, Etwas, das mich über mein Mißtrauen beschämt machte. Ich nahm ihre Hand, in der sie die Broche hielt, und legte sie sanft auf meine Brust. ›Sie kannten meine Mutter?‹ sagte ich. ›War es vor sehr langer Zeit? Habe ich Sie früher gesehen?‹ Ihre Hände waren beschäftigt, die Broche zu befestigen; dann drückte sie dieselben auf meine Brust. ›Sie erinnern sich wohl nicht eines schönen Frühlingstages zu Limmeridge,‹ sagte sie, ›wo Ihre Mutter den Pfad zur Schule entlang ging und an jeder Seite ein kleines Mädchen hatte? Ich habe seit der Zeit an nichts Anderes zu denken gehabt, und ich erinnere mich dessen wohl. Sie waren das eine von den beiden kleinen Mädchen, und ich war das andere. Die hübsche, kluge Miß Fairlie und die arme dumme Anna Catherick standen einander damals näher, als jetzt!‹«
»Erinnertest Du Dich ihrer, Laura, als sie Dir ihren Namen sagte?«
»Ja – ich erinnerte mich, daß Du mich eines Tages in Limmeridge nach Anna Catherick und darnach fragst, ob ich mich entsänne, daß man eine Aehnlichkeit zwischen uns gefunden habe.«
»Was erinnerte Dich daran, Laura?«
»Sie erinnerte mich daran. Während ich sie anschaute, als sie ganz dicht vor mir stand, fuhr es mir plötzlich durch den Sinn, daß wir einander ähnlich seien! Ihr Gesicht war bleich, mager und kummervoll, aber der Anblick desselben ließ mich zusammenzucken, weil es war, als ob es mein eigenes Gesicht gewesen wäre, das ich nach langer Krankheit im Spiegel sah. Die Entdeckung erschütterte mich so – ich weiß kaum warum – daß ich einen Augenblick nicht im Stande war, zu ihr zu sprechen.«
»Schien sie sich durch Dein Schweigen verletzt zu fühlen?«
»Ich fürchte es. ›Sie haben weder das Gesicht noch das Herz Ihrer Mutter,‹ sagte sie. ›Das Gesicht Ihrer Mutter war dunkel, und Ihrer Mutter Herz, Miß Fairlie, war das eines Engels.‹ ›Gewiß, ich will Ihnen herzlich wohl,‹ sagte ich, »obgleich ich nicht im Stande sein mag, dies auszudrücken, wie ich wohl sollte. Warum nennen Sie mich Miß Fairlie –?‹ ›Weil ich den Namen Fairlie liebe und den Namen Glyde hasse,‹ rief sie mit Heftigkeit aus. Ich hatte bisher Nichts an ihr wahrgenommen, das wie Wahnsinn ausgesehen hätte; jetzt aber dünkte mich, daß ich etwas der Art in ihren Augen sah. ›Ich dachte nur, Sie wüßten vielleicht nicht, daß ich verheirathet sei,‹ sagte ich, indem ich des Briefes gedachte, den sie in Limmeridge an mich geschrieben hatte, um sie zu besänftigen. Sie seufzte schwer auf und wandte sich von mir ab. ›Ich sollte nicht wissen, daß Sie verheirathet sind!‹ wiederholte sie. ›Ich bin ja nur hier, weil sie verheirathet sind. Ich bin hier, um Ihnen Genugthuung zu geben, ehe ich hingehe und Ihrer Mutter begegne dort in der Welt über dem Grabe.‹ Sie zog sich immer weiter von mir zurück, bis sie ganz außerhalb des Boothauses war, und dann stand sie und horchte eine kleine Weile. Als sie sich wieder umwandte, um zu sprechen, blieb sie stehen, wo sie war und sah mich an, während sie sich zu beiden Seiten des Einganges mit einer Hand festhielt. ›Sahen Sie mich gestern Abend am See?‹ sagte sie, ›hörten Sie, wie ich Ihnen durch’s Holz folgte? Ich habe schon seit vielen Tagen gewartet, um Sie allein zu sprechen, Miß Fairlie, ich habe die einzige Freundin, die ich in der Welt besitze, in Sorge und Kummer um mich verlassen, ich habe es darauf ankommen lassen, wieder im Tollhause eingesperrt zu werden, und dies Alles für Sie, Miß Fairlie – Alles für Sie.‹ Ihre Worte erschreckten mich, Marianne, und doch lag in ihrem Wesen Etwas, das mir tiefes Mitleiden einflößte. Ich fühle, daß mein Mitleiden aufrichtig war; denn es gab mir Muth genug, um sie zu bitten, wieder in’s Boothaus zu kommen und sich zu mir zu setzen.«
»That sie es?«
»Nein. Sie schüttelte den Kopf und sagte, sie müsse bleiben, wo sie sei, um aufzupassen und zu horchen, damit wir nicht von einer dritten Person überrascht würden. Und da blieb sie stehen von Anfang bis zu Ende unserer Unterredung, auf jeder Seite sich mit einer Hand an dem Eingange haltend, wobei sie einmal sich schnell hineinbeugte, um mit mir zu sprechen, und dann wieder plötzlich hinaus, um sich umzuschauen. ›Ich war gestern, ehe es dunkel wurde, hier und hörte Sie und die Dame, die bei Ihnen war, zusammen sprechen. Ich hörte, wie Sie ihr von Ihrem Gemahl erzählten. Ich hörte Sie sagen, daß Sie nicht die Macht hätten, ihn zu bewegen, Ihnen zu glauben, noch zu schweigen. Ach! ich wußte, was jene Worte bedeuteten, mein eigenes Gewissen sagte mir es, während ich lauschte. Warum ließ ich es zu, daß Sie ihn heiratheten! O meine Furcht, meine tolle, jämmerliche, gottlose Furcht –‹ sie barg ihr Gesicht hinter ihrem ärmlichen, abgetragenen Tuche und stöhnte und murmelte hinter demselben zu sich selbst. Ich begann zu fürchten, sie möchte in wilde Verzweiflung ausbrechen, die dann weder sie, noch ich zu bemeistern im Stande sein würden. ›Suchen Sie sich zu fassen,‹ sagte ich, ›versuchen Sie, mir zu sagen, auf welche Weise Sie meine Heirath hätten verhindern können.‹ Sie nahm das Tuch von ihrem Gesichte fort und sah mich mit einem zerstreuten Blicke an. ›Ich hätte den Muth haben sollen, in Limmeridge zu bleiben,« sagte sie. ›Ich hätte mich nicht durch die Nachricht, daß er kommen werde, fortschrecken lassen sollen. Ich hätte Sie warnen und retten sollen, ehe es zu spät war. Warum hatte ich blos Muth genug, um Ihnen jenen Brief zu schreiben? Warum richtete ich nur Unheil an, da ich doch gut und recht handeln wollte? O, meine tolle, jämmerliche, gottlose Furcht – –‹ sie wiederholte diese Worte und barg abermals ihr Gesicht in ihrem Tuche. Es war schrecklich, sie anzusehen und anzuhören.«
»Du frugst sie doch natürlich, Laura, was es für eine Furcht war, auf die sie so ernstlich zurückkam?«
»Ja, ich frug sie.«
»Und was sagte sie?«
»Sie fragte mich, ob ich mich nicht vor einem Manne fürchten würde, der mich in ein Tollhaus gesperrt hätte und wieder einsperren würde, sobald es ihm möglich sei. Ich sagte: ›Fürchten Sie sich noch davor? Sie würden aber nicht hier sein, wenn Sie sich jetzt noch davor fürchteten?‹ ›Nein,‹ sagte sie, ›jetzt fürchte ich mich nicht mehr.‹ Ich frug: ›Warum nicht?‹ Sie beugte sich plötzlich vorwärts in’s Boothaus hinein und sagte: ›Können Sie’s nicht errathen?‹ Ich schüttelte den Kopf. ›Sehen Sie mich an,‹ fuhr sie fort. Ich sagte ihr, es schmerze mich, zu bemerken, daß sie sehr krank und leidend aussehe. Sie lächelte zum erstenmale. ›Krank!‹ wiederholte sie. ›Ich bin im Sterben. Jetzt wissen Sie, warum ich mich nicht länger vor ihm fürchte. Glauben Sie, daß ich Ihre Mutter im Himmel sehen werde? Wird sie mir dann vergeben?‹ Ich war so erschrocken und erschüttert, daß ich Nichts erwidern konnte. ›Ich habe hieran fortwährend gedacht,‹ fuhr sie fort, ›während der ganzen Zeit, daß ich mich vor Ihrem Manne versteckte, und während meiner ganzen Krankheit. Meine Gedanken haben mich hergetrieben, ich muß es wieder gut machen, ich muß all das Unheil, das ich angerichtet habe, wieder gut machen.‹ Ich bat sie so ernstlich wie möglich, mir zu sagen, was sie meine. Sie sah mich wieder mit starren geistesabwesenden Blicken an. ›Soll ich es wieder gut machen?‹ sagte sie zweifelhaft zu sich selbst. ›Sie haben Verwandte, die Ihnen beistehen werden. Wenn Sie sein böses Geheimniß kennen, so wird er sich vor Ihnen fürchten, er wird es nicht wagen, gegen Sie zu handeln, wie er gegen mich gehandelt hat. Er muß Sie um seiner selbst willen gütig behandeln, wenn er sich vor Ihnen und Ihren Verwandten fürchtet. Und wenn er Sie gütig behandelt, und ich dann sagen kann, daß es durch mich geschehen –‹ ich lauschte eifrig, aber sie schwieg nach diesen Worten.«
»Du suchtest sie doch zu bewegen, fortzufahren?«
»Ja, ich versuchte es; aber sie zog sich nur noch weiter von mir zurück und legte ihre Arme und ihr Gesicht gegen die Wand des Boothauses. ›O!‹ hörte ich sie mit einer fürchterlichen, wahnsinnigen Zärtlichkeit in der Stimme sagen, ›o, wenn ich doch neben Ihrer Mutter begraben werden könnte! wenn ich doch an ihrer Seite erwachen könnte, wenn des Engels Trompete schmettern und das Grab seine Todten herausgeben wird bei der Auferstehung!‹ Marianne! ich zitterte am ganzen Körper, es war fürchterlich, sie anzuhören. ›Aber das darf ich nicht hoffen,‹ sagte sie, sich ein wenig aufrichtend, um mich wieder anzusehen, – ›das darf eine arme Fremde, wie ich, nicht hoffen. Ich werde nicht unter dem Marmorkreuze ruhen, das ich mit meinen Händen wusch und um ihretwillen so weiß und rein machte. O nein! o nein! Gottes Barmherzigkeit, nicht der Menschen, wird mich zu ihr führen, wo die Bösen sich nicht mehr betrüben und wo die Müden Ruhe finden.‹ Sie sprach diese Worte ruhig, aber kummervoll und mit einem schweren, hoffnungslosen Seufzer und schwieg dann eine kleine Weile. Ihr Gesicht war unruhig und verwirrt, sie schien nachzudenken oder wenigstens dies zu versuchen. ›Was war’s, das ich eben sagte?‹ frug sie nach einer kurzen Pause. ›Wenn Ihre Mutter in meinen Gedanken ist, so flieht alles Andere aus ihnen. Was sagte ich? was sagte ich doch?‹ Ich erinnerte das arme Wesen so sanft und schonend, wie es mir möglich war. ›Ach ja, ja,‹ sagte sie noch ebenso zerstreut wie zuvor. ›Sie sind hülflos mit Ihrem gottlosen Manne. Ja, und ich muß thun, was ich zu thun herkam, muß wieder gut machen gegen Sie, daß ich mich einst gefürchtet habe zu sprechen, da es noch Zeit war.‹ ›Was ist es, das Sie mir zu sagen haben?‹ frug ich. ›Ein Geheimniß,‹ antwortete sie, ›das Geheimniß, das Ihr grausamer Mann fürchtet.‹ Ihr Gesicht wurde finster und ihr Blick hart und zornig. Sie begann, mir auf sonderbar nichtssagende Weise mit der Hand zu winken. ›Meine Mutter kennt das Geheimniß,‹ sagte sie, wobei sie zum erstenmal langsam sprach und jedes Wort erwog, ehe sie es aussprach. ›Meine Mutter hat ihre halbe Lebenszeit unter dem Geheimnisse dahingesiecht. Eines Tages, als ich erwachsen war, sagte sie es mir; Ihr Gemahl erfuhr, daß sie es mir gesagt hatte, erfuhr es zu meinem Schaden. Ach, ich Arme! er wußte, wußte, wußte es.‹
»Ja! ja! was sagte sie weiter?«
»Sie schwieg abermals, Marianne, nach solchen Worten –«
»Und sagte Nichts weiter?«
»Sie lauschte eifrig. ›Still!‹ flüsterte sie, mir wieder mit der Hand zuwinkend, ›still!‹ und verließ den Eingang seitwärts gehend, langsam, leise, Schritt für Schritt, bis ich sie nicht mehr sah.«
»Du folgtest ihr doch?«
»Ja, meine Begierde mehr zu erfahren, machte mich kühn genug, um aufzustehen und ihr zu folgen. Als ich gerade beim Eingange anlangte, erschien sie plötzlich wieder um die Ecke des Boothauses. ›Das Geheimniß!‹ flüsterte ich ihr zu. ›Bleiben Sie und sagen Sie mir das Geheimniß!‹ Sie erfaßte meinen Arm und sah mich mit wilden, geängstigten Blicken an. ›Jetzt nicht,‹ sagte sie, ›wir sind nicht allein, man belauscht uns. Kommen Sie morgen um diese Zeit wieder her, aber allein, hören Sie? allein.‹ Sie schob mich hastig ins Boothaus zurück, und ich sah sie nicht mehr.«
»O Laura, Laura, wieder eine Gelegenheit verloren! Wäre ich nur bei Dir gewesen, sie hätte uns nicht wieder so entwischen sollen. Nach welcher Seite zu verlorst Du sie aus den Augen?«
»Nach der linken Seite zu, wo der Boden abwärts geht, und das Holz am dichtesten ist.«
»Liefst Du nicht hinaus und riefst sie zurück?«
»Wie konnte ich es wohl? Ich war zu sehr erschrocken, um mich zu rühren oder zu sprechen.«
»Aber als Du doch endlich aufstandest, als Du herauskamst –?«
»Eilte ich nach Hause, um Dir zu erzählen, was sich zugetragen.«
»Sahst oder hörtest Du irgend Jemanden in den Anlagen?«
»Nein, es schien Alles still und ruhig, als ich durch’s Holz kam.«
Ich schwieg einen Augenblick, um zu überlegen. War diese dritte Person, die bei der Unterredung zugegen gewesen sein sollte, eine Wirklichkeit oder nur eine Schöpfung von Anna Cathericks erregter Phantasie? Es war unmöglich, dies mit Bestimmtheit zu sagen. Das einzige Gewisse ist, daß wir, schon an der Schwelle des Geheimnisses, wieder unsern Zweck verfehlt haben – und zwar vollkommen und unwiederbringlich, wenn nicht Anna Catherick morgen ihr Wort hält und nach dem Boothause kommt.
»Bist Du ganz sicher, mir Alles erzählt zu haben, das sich zutrug. Jedes Wort, das gesprochen wurde?« frug ich.
»Ja, ich denke es,« entgegnete Laura. »Mein Gedächtniß ist nicht wie Deins, Marianne. Aber es machte Alles solch tiefen Eindruck auf mich, daß mir Nichts, das von Wichtigkeit wäre, entgangen sein kann.«
»Meine liebe Laura, die geringsten Kleinigkeiten sind von Wichtigkeit, wo wir mit Anna Catherick zu thun haben. Denke noch einmal nach. Erwähnte sie nicht ganz zufällig des Ortes, wo sie sich augenblicklich aufhält?«
»Nicht, daß ich mich entsänne«
»Auch nicht einer Begleiterin und Freundin, einer Frau, die Mrs. Clements heißt?«
»O doch! ja! das vergaß ich. Sie sagte mir, Mrs. Clements wünsche so sehr, nach den Seen mit ihr zu reisen, um sie zu pflegen, und bitte sie inständigst, sich nicht mehr allein in diese Gegend zu wagen.«
»War das Alles, was sie über Mrs. Clements sagte?«
»Ja, das war Alles.«
»Sie sagte Dir Nichts darüber, wohin sie geflohen seien, nachdem sie Todd’s Ecke verließen?«
»Nichts – das weiß ich gewiß.«
»Auch nicht, wo sie sich seitdem aufgehalten und was ihre Krankheit gewesen sei?«
»Nein, Marianne, kein Wort. Sage mir, o sage mir, was Du darüber denkst. Ich weiß nicht, was ich jetzt denken oder thun soll.«
»Dies, mein Herz: Du mußt morgen auf jeden Fall nach dem Boothause gehen. Es ist unmöglich, zu wissen, was Alles davon abhängt, daß Du die Arme wiedersiehst. Doch sollst Du nicht zum zweiten Male Dir selbst überlassen bleiben. Ich will Dir in sicherer Entfernung folgen. Niemand soll mich sehen; aber ich will innerhalb Hörweite von Dir bleiben, sollte sich irgend Etwas ereignen. Anna Catherick ist Walter Hartright entschlüpft und Dir. Was aber auch danach kommen möge, mir soll sie nicht entgehen.«
Laura’s Augen lasen aufmerksam in den meinigen, während ich sprach.
»Du glaubst also an das Geheimniß, vor dem mein Mann sich fürchtet?«
»Ja, ich glaube daran.«
»Anna Catherick’s Wesen war wild, und ihre Augen blickten unstät und geistesabwesend als sie jene Worte sagte, Marianne. Würdest Du ihr in andern Dingen trauen?«
»Ich vertraue auf Nichts, als auf meine eignen Beobachtungen über Deines Mannes Benehmen, Laura. Ich beurtheile Anna Cathericks Worte nach seinen Handlungen und glaube daher, daß er allerdings ein Geheimniß hat.«
Ich sagte weiter Nichts und stand auf, um das Zimmer zu verlassen Mich beunruhigten Gedanken, die ich ihr vielleicht mitgetheilt hätte, wären wir noch länger zusammen geblieben, und die zu wissen gefährlich für sie hätte sein können. Der Einfluß des entsetzlichen Traumes, aus dem sie mich erweckt hatte, hing sich düster und schwer an jeden neuen Eindruck, den der Fortgang ihrer Erzählung in meinem Gemüthe hervorbrachte. Ich fühlte die drohende Zukunft herannahen, mich mit einem unaussprechlichen Entsetzen erfüllen und mir die Ueberzeugung von einem unbekannten Ziele in den langen Reihen von Verwickelungen aufdrängen, die sich allmälich um uns zogen. Ich dachte an Hartright, wie ich ihn körperlich gesehen hatte, als er Lebewohl sagte, und geistig in meinem Traume, und auch mich beschlich der Gedanke, ob wir nicht unbewußt einem vorherbestimmten, unvermeidlichen Ende entgegentrieben.
Indem ich Laura allein die Treppe hinaufsteigen ließ, ging ich hinaus, um mich in den Steigen unmittelbar am Hause umzuschauen. Die Umstände, unter welchen Anna Catherick von ihr geschieden war, hatten in mir den heimlichen Wunsch, zu erfahren, wo und wie der Graf den Nachmittag zugebracht habe, und zugleich einen heimlichen Argwohn erregt in Bezug auf die Erfolge jener einsamen Reise, von der Sir Percival vor wenigen Stunden heimgekehrt war.
Nachdem ich mich nach allen Richtungen hin nach ihnen umgeschaut hatte, ohne Etwas von ihnen zu sehen, kehrte ich ins Haus zurück und ging durch alle Stuben im Erdgeschosse. Sie waren alle leer. Ich kam wieder in den Flur hinaus, um hinauf zu gehen und zu Laura zurückzukehren. Die Gräfin öffnete die Thür, als ich an ihrer Stube vorbeikam, und ich stand still, um sie zu fragen, ob sie wisse, wo ihr Gemahl und Sir Percival seien. Ja, sie hatte sie Beide vor mehr als einer Stunde vom Fenster aus gesehen. Der Graf habe mit seiner ihm eigenen Freundlichkeit hinaufgeblickt und ihr mit seiner gegen sie selbst in Kleinigkeiten gezeigten Aufmerksamkeit gesagt, daß er und sein Freund im Begriffe seien, einen langen Spaziergang zu machen.
Einen langen Spaziergang! Sie waren, so lange ich sie kannte, noch nie zu dem Zwecke zusammen gewesen. Sir Percival liebte keine andere Bewegung als die des Reitens, und der Graf (ausgenommen wenn er die Höflichkeit hatte, sich mir zur Begleitung anzutragen) war gar kein Freund von Bewegung
Als ich zu Laura kam, fand ich, daß sie sich während meiner Abwesenheit der schwebenden Frage in Bezug auf die Unterschrift erinnert hatte, welche wir in dem Interesse, mit dem wir ihre Unterredung mit Anna Catherick besprochen, ganz vergessen hatten. Ihre ersten Worte, als ich in ihr Zimmer trat, drückten ihr Erstaunen darüber aus, daß die gedachte Ladung, in der Bibliothek vor Sir Percival zu erscheinen, auf sich warten ließe.
»Ueber diesen Punkt darfst Du Dich beruhigen,« sagte ich, »für’s Erste wenigstens wird weder Deine, noch meine Entschlossenheit auf die Probe gestellt werden. Sir Percival hat seinen Plan verändert, und die Unterschriftsangelegenheit ist verschoben.«
»Verschoben?« wiederholte Laura, über die Maßen erstaunt. »Wer sagt das?«
»Ich weiß es durch den Grafen Fosco. Ich glaube,wir haben es seiner Vermittelung zu danken, daß Dein Mann so plötzlich anderen Sinnes geworden ist.«
»Es scheint unmöglich, Marianne. Falls der Zweck meiner Unterschrift, wie wir vermutheten, der war, Sir Percival Geld zu verschaffen, das er nothwendig brauchte, wie kann sie da verschoben werden?«
»Ich glaube, Laura, daß wir im Stande sein werden, diesen Zweifel zu beseitigen. Hast Du die Unterhaltung vergessen, die ich zwischen Sir Percival und seinem Geschäftsmann anhörte, als sie zusammen über den Flur gingen?«
»Nein, aber ich entsinne mich nicht –«
»Aber ich. Der Advokat schlug zwei Alternativen vor. Die eine war die, Deine Unterschrift zu dem Documente zu erlangen, die andere, Zeit zu gewinnen, indem man Wechsel auf drei Monate ausstellte. Dieses letztere Hülfsmittel ist offenbar das, nach dem Sir Percival jetzt gegriffen hat, und wir haben somit Hoffnung, auf einige Zeit wenigstens mit seinen Geldverlegenheiten verschont zu bleiben.«
»O, Marianne, das klingt zu gut, um wahr zu sein!«
»Denkst Du das, mein Herz? Du machtest mir vorhin Complimente über mein gutes Gedächtniß, aber jetzt scheinst Du es in Zweifel zu ziehen. Ich will mein Tagebuch holen, und dann werden wir sehen, ob ich Recht oder Unrecht habe.«
Ich ging sofort und holte das Buch, und als wir zurückblätterten bis zum Besuche des Advokaten, fanden wir, daß meine Erinnerung von der von ihm vorgeschlagenen Alternativen eine durchaus richtige war. Es war mir fast eine ebenso große Erleichterung, als es für Laura war, zu sehen, daß mein Gedächtniß mir bei dieser Gelegenheit mit gewohnter Treue gedient hatte. In der gefährlichen Unsicherheit unserer jetzigen Lage ist es schwer zu sagen, welche künftigen Interessen nicht von der Regelmäßigkeit und Genauigkeit meines Tagebuches abhängen mögen.
Laura’s Gesicht und Manier verriethen mir, daß sich letztere Betrachtung ihr sowohl als mir aufgedrängt hatte. Uebrigens ist es ja nur eine Kleinigkeit, und ich schäme mich fast, hier Etwas davon zu schreiben – es stellt die Verlassenheit unserer Lage in ein so unselig grelles Licht. Es muß uns in der That wenig übrig bleiben, auf das wir uns verlassen können, wenn die Entdeckung, daß mein Gedächtniß noch ein treues ist, von uns mit einer Freude begrüßt wird, als ob wir einen neuen Freund gefunden hätten!
Das erste Läuten zu Tische trennte uns. Als es eben aufgehört hatte, kehrten Sir Percival und der Graf von ihrem Spaziergange zurück. Wir hörten den Herrn des Hauses gegen den Diener lostoben, weil man das Diner um fünf Minuten verspätet hatte, und der Freund des Herrn legte sich, wie gewöhnlich, zu Gunsten der Schicklichkeit, der Geduld und des Friedens ins Mittel.
– – – – – – – – – – –
Der Abend ist zu Ende. Es hat sich nichts Besonderes zugetragen. Aber ich habe gewisse Eigenthümlichkeiten in Sir Percival’s und des Grafen Benehmen wahrgenommen, die mich mit Besorgniß um Anna Catherick und die Erfolge erfüllen, welche der kommende Tag uns bringen mag. Ich kenne Sir Percival jetzt hinlänglich, um zu wissen, daß er niemals falscher und somit niemals mehr zu fürchten ist, als wenn er einmal höflich auftritt. Der lange Spaziergang mit seinem Freunde hatte eine merkliche Veränderung in seinem Benehmen hervorgebracht, namentlich in seinem Benehmen gegen seine Frau. Zu Laura’s heimlichem Erstaunen und meiner heimlichen Bestürzung nannte er sie bei ihrem Vornamen, frug sie, ob sie kürzlich von ihrem Onkel gehört habe, wann Mrs. Vesey ihre Einladung nach Blackwater Park erhalten solle, und erzeigte ihr so viele andere kleine Aufmerksamkeiten, daß er uns fast an die Tage seiner hassenswerthen Probezeit in Limmeridge House erinnerte. Dies war zugleich ein schlechtes Zeichen; und von noch schlimmerer Vorbedeutung schien es mir, daß er sich gleich nach Tische im Gesellschaftszimmer stellte, als ob er schlafe, wobei seine Augen listigerweise mir und Laura folgten, wenn er glaubte, daß wir ihn beargwöhnten. Ich habe es vom ersten Augenblicke an nicht bezweifelt, daß seine plötzliche, einsame Reise ihn nach Welmingham führte, um dort Mrs. Catherick auszufragen – aber meine Erfahrungen von heute Abend lassen mich fürchten, daß sie keine vergebliche gewesen, und daß er alle Auskunft erhalten, um deretwillen er uns verließ. Wenn ich nur wüßte, wo Anna Catherick zu finden ist, da würde ich morgen mit der Sonne aufstehen, um sie zu warnen.
Während Sir Percival’s Auftreten heute Abend leider mir nur ein zu bekanntes war, zeigte sich mir der Graf hingegen in einem ganz neuen Charakter. Er ließ mich ihn heute Abend zum ersten Male als einen Mann von Gefühl kennen lernen – ein Gefühl, das ich für ein wirkliches, nicht für die Gelegenheit angenommenes halte.
Er war ruhig und schweigsam; in seinen Augen und seiner Stimme sprach sich eine unterdrückte Empfindsamkeit aus. Er trug (als ob eine verborgene Verbindung zwischen seinen schönsten Kleidern und tiefsten Gefühlen stattfinde) die süperbste Weste, in der er sich noch bisher gezeigt – sie war von blaßgrüner Seide und sehr geschmackvoll mit feiner Silberschnure besetzt. Seine Stimme bewegte sich in den zärtlichsten Modulationen, und sein Lächeln drückte eine gedankenvolle, väterliche Bewunderung aus, wenn er Laura oder mich anredete. Er drückte unter dem Tische die Hand seiner Frau, als sie ihm für eine geringfügige Aufmerksamkeit dankte. Er trank ihr Wohlsein. »Auf Dein Wohl und Dein Glück, mein Engel!« sagte er mit liebendem, feuchtem Blicke. Er aß wenig oder gar nichts und seufzte und sagte, »Du guter Percival!« wenn sein Freund ihn verlachte. Nach Tische nahm er Laura’s Hand, und frug, ob sie »so lieb sein wolle, ihm Etwas vorzuspielen.« Sie willigte aus bloßer Ueberraschung ein. Er setzte sich neben dem Clavier nieder, und seine Uhrkette fiel in Schlangenringeln auf das wassergrüne Gebirge seiner Weste. Sein ungeheurer Kopf neigte sich schmachtend nach einer Seite, und zwei seiner gelblich weißen Finger schlugen leise den Tact. Er zollte der Musik hohen Beifall und sprach sich mit zärtlicher Bewunderung über Laura’s Spielweise aus – nicht wie der arme Walter sie zu loben pflegte: mit einer unschuldigen Freude an den lieblichen Tönen, sondern mit einem klaren, wohlgebildeten, eingehenden Verständnisse der Verdienste der Composition einestheils und der Verdienste des Vortrages anderntheils. Als es später wurde, bat er, daß das schöne, hinsterbende Tageslicht noch nicht durch Lampen entweiht werden möge. Er kam mit seinem entsetzlichen stillen Tritte an das entlegene Fenster, an dem ich stand, um ihm möglichst ferne zu sein und ihn nicht zu sehen, er kam, um mich zu bitten, seinen Protest gegen Lampen zu unterstützen. Hätte eine derselben ihn in diesem Augenblicke zu Asche verbrennen können, so würde ich sie selbst aus der Küche geholt haben.
»Gewiß, Sie müssen dieses bescheidene, zitternde englische Zwielicht lieben?« sagte er leise. »Ach! ich liebe es. Ich fühle die mir innewohnende Bewunderung alles Schönen und Großen sich an einem Abende wie diesem in dem Hauch des Himmels reinigen. Die Natur besitzt für mich solche unvergängliche Reize, solche unauslöschliche Liebe! Ich bin ein dicker, alter Mann, und Reden, die Ihren Lippen wohl anstehen würden, klingen, von den meinigen ausgesprochen, wie Hohn und Spott. Es ist hart, in meinen Gefühlsaugenblicken verlacht zu werden, als ob meine Seele mit meinem Körper alt und plump geworden sein müßte. Schauen Sie, theure Dame, welches Licht auf den Bäumen zittert! Durchdringt es Ihr Herz, wie es das meine durchdringt?«
Er hielt inne – sah mich an und recitirte Dante’s berühmte Strophen auf den Abend mit einem melodischen, tiefgefühlten Ausdrucke, welcher der unvergleichlichen Schönheit der Poesie einen ganz besonderen Zauber verlieh.
»Bah!« rief er plötzlich, als die letzte Strophe dieser schönen italienischen Worte auf seinen Lippen erstarb, »ich mache mich zu einem alten Narren und langweile Sie blos Alle! Wir wollen die Fenster unserer Herzen schließen und zur Alltagswelt zurückkehren. Percival! ich genehmige die Einführung der Lampen. Lady Glyde, Miß Halcombe, Eleonore, mein geliebtes Weib, wer von Ihnen will mir die Freude machen, eine Partie Domino mit mir zu spielen?«
Er sprach zu uns Allen, aber er sah nur Laura dabei an. Sie hatte gelernt, wie ich, daß sie ihn zu beleidigen fürchten müsse und willigte daher ein. Ich hätte dies in diesem Augenblicke nicht thun können. Um Nichts in der Welt hätte ich mich mit ihm an denselben Tisch setzen können. Seine Augen schienen in dem sinkenden Zwielichte bis in meine innerste Seele zu blicken. Seine Stimme ließ jeden Nerv meines Körpers erzittern und mich abwechselnd heiß und kalt werden. Das Geheimnißvolle und Erschreckende meines Traumes, das mich in Zwischenräumen den ganzen Abend verfolgt hatte, lag jetzt wie eine untrügliche Vorahnung auf meinem Gemüthe. Ich sah wieder das weiße Grabmal und die verschleierte Frau an Walter’s Seite. Der Gedanke an Laura entsprang wie eine Quelle in der Tiefe meines Herzens und füllte es mit bitteren Wassern, die es nie, nie zuvor gekannt. Ich faßte ihre Hand, als sie auf ihrem Wege dem Tische zu an mir vorüber ging, und küßte sie, als ob diese Nacht uns auf ewig scheiden sollte. Während Alle mich erstaunt anblickten, lief ich schnell durch das vor mir offen stehende niedrige Fenster in den Garten hinaus um mich in der Dunkelheit vor ihnen zu verbergen – vor mir selber zu verbergen.
Wir gingen diesen Abend später als gewöhnlich auseinander. Gegen Mitternacht unterbrach das Rauschen eines leisen melancholischen Windes in den Bäumen die Sommerstille. Wir fühlten Alle die plötzliche Kühle in der Luft, aber der Graf war der Erste, der das heimliche Steigen des Windes wahrnahm. Während er mein Licht für mich anzündete, hielt er plötzlich inne und erhob wie warnend die Hand:
»Horch!« sagte er »morgen werden wir anderes Wetter bekommen.«
Den 5. Juli.
Die gestrigen Ereignisse warnten mich, früher oder später mich auf das Schlimmste gefaßt zu machen. Der heutige Tag ist noch nicht zu Ende, und das Schlimmste ist bereits eingetreten.
Nach der genauesten Zeitberechnung, die Laura und ich zu machen im Stande waren, schlossen wir, daß es halb drei Uhr gewesen sein mußte, als Anna Catherick gestern Nachmittag im Boothause ankam. Ich kam daher mit Laura überein, daß sie sich beim Frühstück eben am Tische nur zeigen und bei der ersten Gelegenheit hinausschlüpfen sollte; und daß ich zurückbliebe, damit man keinen Verdacht schöpfe, und ihr folge, sobald mir dies gelingen würde. Auf diese Weise würde sie, falls sich keine Hindernisse in den Weg legten, im Stande sein, vor halb drei Uhr im Boothause anzulangen, und ich (sobald ich meinerseits den Tisch verlassen) konnte bereits vor drei Uhr einen sichern Posten im Holze einnehmen.
Die Veränderung im Wetter, auf die der Wind von gestern Abend uns vorbereitet hatte, kam mit dem Morgen. Es regnete heftig, als ich aufstand, und fuhr so fort bis Mittag, wo die Wolken sich zerstreuten, der Himmel wieder blau erschien, und die Sonne mit dem Versprechen eines schönen Nachmittags hell hervortrat.
Meine Unruhe, zu erfahren, wie Sir Percival und der Graf den Morgen hinbringen würden, verminderte sich keineswegs, wenigstens in Bezug auf Sir Percival, als er uns gleich nach dem Frühstück verließ und ungeachtet des Regens ausging. Er sagte uns weder, wohin er gehe, noch wann wir ihn zurückerwarten dürften. Wir sahen ihn eilig am Fenster des Frühstückzimmers vorübergehen, in hohen Stiefeln und wasserdichtem Rocke, und das war Alles.
Der Graf verbrachte den Morgen ruhig im Hause, zum Theil in der Bibliothek, zum Theil im Gesellschaftszimmer, wo er kleine, abgerissene Melodien spielte und vor sich hin summte Dem Anscheine nach war er noch immer beharrlich entschlossen, die sentimentale Seite seines Charakters herauszukehren. Er war schweigsam und empfindsam und seufzte oft und gewichtig (wie nur corpulente Leute seufzen können) bei der geringsten Gelegenheit
Die Zeit des Frühstücks kam, und Sir Percival war noch nicht zurückgekehrt. Der Graf nahm seines Freundes Platz bei Tische ein, verspeiste mit kläglichen Mienen den größeren Theil einer Obstpastete, die er in einer kleinen See von Sahne ersäufte, und setzte uns dann die vollen Verdienste dieses Kunststückes auseinander.
»Ein Geschmack an Süßigkeiten,« sagte er mit seiner sanftesten, zärtlichsten Stimme, »ist die unschuldige Schwäche von Frauen und Kindern. Ich freue mich, dieselbe mit ihnen zu theilen, es ist ein neues Band zwischen Ihnen und mir, theuerste Damen.«
Laura verließ nach zehn Minuten den Tisch. Ich fühlte mich sehr versucht, sie zu begleiten. Wären wir aber Beide zugleich hinausgegangen, so hätten wir unfehlbar Verdacht erregt, und, was noch schlimmer gewesen wäre, falls Anna Catherick Laura in Begleitung einer zweiten Person gesehen, die ihr fremd war, hätten wir aller Wahrscheinlichkeit nach, ihr Vertrauen verscherzt und es dann nie wieder gewonnen.
Ich wartete daher so geduldig, wie mir dies möglich war, bis der Diener kam, um den Tisch abzudecken Als ich das Zimmer verließ, sah ich weder im Hause noch draußen irgend ein Zeichen von Sir Percival’s Rückkehr. Als ich ging, sah ich den Grafen mit einem Stückchen Zucker zwischen den Lippen, zu dem der boshafte Kakadu über die Weste hin emporkletterte, während die Gräfin, ihrem Gemahl gegenüber sitzend, seine Manöver und die des Vogels mit einer Aufmerksamkeit beobachtete, als ob sie dergleichen nie zuvor in ihrem Leben gesehen habe. Auf meinem Wege nach den Baumanlagen hielt ich mich sorgfältig außerhalb des Gesichtskreises vom Fenster der Frühstücksstube. Es sah mich und folgte mir Niemand. Es war auf meiner Uhr ein Viertel vor drei Uhr.
Sowie ich unter den Bäumen anlangte, schritt ich schnell vorwärts, bis ich über die Hälfte des Weges zurückgelegt hatte Dann ging ich langsamer und vorsichtiger weiter, doch sah ich Niemanden und hörte keine Stimmen. Nach und nach kam ich in Sicht der Rückseite des Boothauses – stand still und horchte – dann ging ich weiter, bis ich ganz dicht dahinter war und nothwendigerweise die Stimmen hören mußte, falls man darinnen sprach. Es herrschte tiefe Stille – nah und fern war kein Anzeichen eines lebenden Wesens weder zu hören noch zu sehen.
Nachdem ich erst auf der einen, dann auf der anderen Seite des Hauses entlang gegangen war, ohne irgend Etwas zu entdecken, wagte ich mich zur Vorderseite hinaus und schaute hinein. Es war leer.
Ich rief »Laura!« zuerst leise und dann immer lauter. Niemand antwortete, und Niemand kam. Soviel ich sehen oder hören konnte, war in der Nachbarschaft des See’s und der Anlagen kein menschliches Wesen außer mir.
Mein Herz fing heftig an zu pochen; doch setzte ich meine Nachsuchungen fort, zuerst im Boothause und dann auf dem Boden vor demselben, um ein Zeichen zu entdecken, das mir Sicherheit geben würde, ob Laura dort gewesen oder nicht. Ich fand Nichts im Boothause, das hierauf hingedeutet hätte, draußen aber im Sande entdeckte ich Fußspuren.
Ich unterschied die Fußspuren von zwei Personen – ziemlich große, wie die eines Mannes, und kleinere, von denen ich, als ich sie mit meinen eigenen Füßen maß, überzeugt war, daß sie von Laura’s Füßen herrührten. Der Boden war gerade vor dem Boothause von Vielen solchen unregelmäßigen Spuren gezeichnet. Dicht an der einen Wand, unter dem Schutze des überhängenden Daches, entdeckte ich ein kleines Loch im Sande, ein künstlich gemachtes, daran war nicht zu zweifeln. Ich bemerkte es blos und wandte mich dann ab, um sofort den Fußspuren, so weit ich konnte, nachzugehen.
Sie führten mich, von der linken Seite des Boothauses ausgehend, eine Strecke von etwa dreihundert Ellen am Rande der Bäume entlang, und dann verschwand ihre Spur im Sande. Ueberzeugt, daß Diejenigen, deren Fußspuren ich jetzt folgte, hier ins Holz hineingegangen sein mußten, betrat ich dasselbe ebenfalls. Zuerst konnte ich keinen Pfad entdecken, endlich aber fand ich einen solchen, schwach zwischen den Bäumen angedeutet, und ging dann ihm nach. Er führte mich eine Strecke in der Richtung dem Dorfe zu, bis ich an einer Stelle stand, wo er von einem andern Fußpfade durchschnitten wurde. Dicke Dornbüsche wuchsen zu beiden Seiten dieses letzteren Pfades; ich stand unschlüssig, welche Richtung ich zunächst einschlagen solle, als ich umherschauend an einem Zweige in dem Dornbusche ein Stückchen von den Fransen eines Damenshawls erblickte. Genauere Untersuchung der Fransen überzeugte mich, daß sie von einem Laura gehörigen Shawl abgerissen seien, worauf ich augenblicklich den Pfad einschlug. Derselbe brachte mich endlich zu meiner großen Erleichterung zur Hinterseite des Hauses. Ich sage »zu meiner großen Erleichterung«, weil ich daraus schloß, daß Laura aus irgend einem mir unbekannten Beweggrunde auf diesem Umwege nach Hause zurückgekehrt sei, ohne mich zu erwarten. Ich ging über den Hof und durch die Nebengebäude hinein. Die erste Person, die mir begegnete, als ich an der Gesindestube vorbeiging, war Mrs. Michelson, die Haushälterin.
»Wissen Sie zufällig, ob Lady Glyde von ihrem Spaziergange heimgekommen ist oder nicht?« frug ich sie.
»Mylady kam vor einer kleinen Weile mit Sir Percival nach Hause,« entgegnete die Haushälterin »Ich fürchte, Miß Halcombe, daß sich irgend etwas sehr Betrübendes zugetragen haben muß.«
Mir sank das Herz »Sie meinen doch keinen Unfall?« sagte ich mit matter Stimme.
»Nein, nein – Gott sei Dank, kein Unfall. Aber Mylady lief weinend auf ihr Zimmer, und Sir Percival hat mir befohlen, Fanny in einer Stunde aus dem Hause zu schicken.«
Fanny ist Laura’s Kammerjungfer, ein gutes, anhängliches Wesen, das bereits jahrelang in ihren Diensten gewesen, und ist sie zugleich die einzige Person im Hause, auf deren Treue und Ergebenheit wir uns verlassen können.
»Wo ist Fanny?« frug ich.
»In meinem Zimmer, Miß Halcombe. Das Mädchen ist ganz außer sich, und so sagte ich ihr, sie sollte sich setzen und sich zu fassen suchen.«
Ich ging nach Mrs. Michelson’s Zimmer und fand dort Fanny, die in einer Ecke saß und bitterlich weinte; ihr Reisekoffer stand neben ihr.
Sie konnte mir nicht die geringste Erklärung über die Ursache ihrer plötzlichen Verabschiedung geben. Sir Percival hatte befohlen, daß man ihr, anstatt ihr einen Monat vorher den Dienst zu kündigen, den Lohn eines Monats gebe und sie fortschicke. Es war ihr hierfür kein Grund angegeben worden, noch hatte man ihr irgendwie Tadel über ihr Betragen ausgesprochen. Man hatte ihr verboten, ihrer Herrin Vermittelung anzusprechen, ja sogar, sie einen Augenblick zu sehen, um Abschied von ihr zu nehmen Sie sollte ohne Erklärung oder Lebewohl fort, und zwar augenblicklich.
Nachdem ich den Schmerz des armen Mädchens durch ein paar freundliche Worte beschwichtigt, frug ich sie, wo sie zu übernachten beabsichtige. Sie entgegnete, daß sie die Nacht in dem kleinen Wirthshause im Dorfe zuzubringen gedenke, indem die Wirthin desselben eine achtbare Frau und der Dienerschaft von Blackwater Park wohl bekannt sei. Sie hoffe dann, am nächsten Morgen direct nach Cumberland zu ihren Verwandten zurückkehren zu können, ohne sich in London aufzuhalten, wo sie vollkommen unbekannt sei.
Es fiel mir sogleich ein, daß Fanny’s Abreise uns ein sicheres Mittel böte, um Nachrichten nach London und Limmeridge-House zu schicken, welches zu benutzen von der größten Wichtigkeit für uns sein konnte. Demzufolge sagte ich ihr, daß sie erwarten dürfe, im Verlaufe des Abends entweder von ihrer Herrin oder von mir zu hören, und daß sie sich darauf verlassen möge, daß wir Beide in ihrem Unglücke mit dem plötzlichen Dienstverluste Alles für sie thun würden, was nur in unserer Macht läge. Dann gab ich ihr die Hand und ging die Treppe hinauf.
Die Thür, welche nach Laura’s Zimmer führte, war die eines Vorzimmers, das seinerseits auf den Vorsaal führte, Als ich sie zu öffnen versuchte, wurde ich gewahr, daß sie von Innen Verriegelt war.
Ich klopfte, worauf die Thür von derselben schwerfälligen Hausmagd geöffnet wurde, deren Dummheit mich bereits an dem Tage, wo ich den verwundeten Hund gefunden, so unbeschreiblich geärgert hatte. Ich hatte seitdem erfahren, daß ihr Name Margarethe Porcher, und sie selbst die ungeschickteste, halsstarrigste und unordentlichste Dienerin im ganzen Hause sei.
Als sie die Thür öffnete, trat sie sogleich auf die Schwelle und stand, mich in dummem Schweigen angrinsend, da.
»Wozu stehst Du da?« sagte ich. »Siehst Du nicht, daß ich hinein will?«
»Ja, aber Sie dürfen nicht herein,« war die Antwort, von einem noch breiteren Grinsen begleitet.
»Wie kannst Du Dich unterstehen, mir eine solche Antwort zu geben? Geh augenblicklich auf die Seite.«
Sie streckte zu beiden Seiten eine große rothe Hand aus, um mir den Weg zu sperren, und nickte mir einfältig zu.
»Befehl vom Herrn,« sagte sie und nickte abermals.
Es bedurfte meiner ganzen Selbstbeherrschung, um davon abzulassen, den Gegenstand mit ihr zu bestreiten und mich zu erinnern, daß meine nächsten Worte an ihren Herrn gerichtet sein müßten. Ich wandte mich von ihr ab und ging schnell die Treppe hinunter, um ihn zu suchen. Mein Entschluß, mich durch keine der Beleidigungen aufbringen zu lassen, die Sir Percival mir bieten möge, war jetzt – ich gestehe es zu meiner Schande – so vollständig vergessen, als ob ich ihn nie gefaßt gehabt. Es war mir eine Wohlthat, ja, nach Allem, was ich in diesem Hause bereits erduldet und unterdrückt hatte, war es mir eine förmliche Wohlthat, zu fühlen, wie zornig ich war.
Das Gesellschaftszimmer wie das Frühstückszimmer waren beide leer. Ich ging in die Bibliothek, und hier fand ich Sir Percival, sowie den Grafen und die Gräfin Fosco. Alle Drei standen dicht neben einander und Sir Percival hielt ein kleines Papierzettelchen in der Hand. Als ich die Thür öffnete, hörte ich den Grafen sagen: »Nein – tausendmal Nein!«
Ich ging gerade auf Percival zu und sah ihm fest in’s Gesicht.
»Muß ich annehmen, Sir Percival, daß das Zimmer Ihrer Gemahlin ihr Gefängniß, und Ihre Hausmagd ihre Gefängnißwärterin ist?« frug ich.
»Ja; allerdings dürfen Sie das annehmen,« entgegnete er. »Nehmen Sie sich in Acht, daß ich meiner Gefangenwärterin nicht doppelte Pflichten auferlege, indem ich Ihr Zimmer ebenfalls zum Gefängnisse mache.«
»Nehmen Sie sich in Acht in der Behandlung Ihrer Frau, ehe Sie sich unterstehen, mir zu drohen,« brach ich in der Hitze meines Zornes los. »England hat Gesetze, um Frauen gegen Grausamkeit und Beleidigungen zu schützen. Falls Sie es wagen, auch nur ein Haar auf Laura’s Haupte zu krümmen, oder mir meine Freiheit zu nehmen, so werde ich, was auch immer danach kommen möge, jene Gesetze zu unserem Schutze anrufen.«
Anstatt mir zu antworten, wandte er sich zum Grafen.
»Was sagte ich Dir?« frug er. »Was sagst Du nun?«
»Was ich vorhin sagte,« erwiderte der Graf, »Nein!«
Ungeachtet meines heftigen Zornes fühlte ich seine kalten, ruhigen, grauen Augen auf meinem Gesichte ruhen. Sie wandten sich von mir, sobald er gesprochen hatte, und blickten bedeutungsvoll seine Frau an. Die Gräfin trat dicht an meine Seite und redete Sir Percival an, ehe weder er noch ich das Wort wieder ergreifen konnten.
»Schenken Sie mir gütigst einen Augenblick Ihre Aufmerksamkeit,« sagte sie mit ihrer klaren, eisigen Stimme »Ich habe Ihnen für Ihre Gastfreundschaft zu danken, Sir Percival, und von jetzt an darauf zu verzichten. Ich kann nicht in einem Hause bleiben, in welchem man Damen behandelt, wie Ihre Gemahlin und Miß Halcombe heute behandelt worden sind.«
Sir Percival that einen Schritt rückwärts und starrte sie in tiefem Schweigen an. Die Erklärung, welche er soeben gehört hatte, und die, wie er wußte – ebenso gut wie ich – die Gräfin nimmer ohne ihres Gemahls Erlaubniß gemacht haben würde, schien ihm fast zu versteinern. Der Graf stand daneben und schaute mit wahrhaft begeisterter Bewunderung auf seine Frau.
»Sie ist sublim!« sagte er vor sich hin. Dann trat er zu ihr hin und zog ihre Hand durch seinen Arm. »Ich stehe Dir zu Diensten, Eleanor,« fuhr er mit einer ruhigen Würde fort, die ich noch nie an ihm wahrgenommen hatte, »und stehe Miß Halcombe zu Diensten, falls sie mir die Ehre erzeigen will, den Beistand anzunehmen, den ich ihr anzubieten im Stande bin.«
»Zum Teufel! was meinst Du damit,« rief Sir Percival aus, als der Graf ruhig mit seiner Frau der Thür zuschritt.
»Gewöhnlich meine ich, was ich sage, diesmal aber, was meine Frau sagt,« erwiderte der unerschütterliche Italiener. »Wir haben für diesmal die Rollen vertauscht, Percival, und der Gräfin Ansicht ist ganz – die meine.«
Sir Percival zerknitterte das Papier in seiner Hand, und sich vor den Grafen drängend, stellte er sich mit einem zweiten Fluche zwischen ihn und die Thür.
»Du sollst Deinen Willen haben,« sagte er mit verhaltener Wuth und mit leiser, flüsternder Stimme – »Du sollst Deinen Willen haben und dann sehen, was danach kommt.« Mit diesen Worten verließ er das Zimmer.
Die Gräfin schaute ihren Mann fragend an. »Er ist plötzlich gegangen,« sagte sie, »was hat das zu bedeuten?«
»Das bedeutet, daß wir Beide den heftigsten Mann in ganz England zu Verstande gebracht haben,« antwortete der Graf. »Es bedeutet, Miß Halcombe, daß der Lady Glyde zugefügten groben Beschimpfung ein Ende gemacht wird, und Sie keine Wiederholung der unverzeihlichen Beleidigung, die Ihnen zu Theil geworden, zu befürchten, haben. Gestatten Sie mir, Ihnen meine Bewunderung für Ihr Benehmen und Ihren Muth in einem außerordentlich schwierigen Augenblicke auszusprechen.«
»Aufrichtige Bewunderung,« meinte die Gräfin.
»Aufrichtige Bewunderung,« rief der Graf ihr wie ein Echo nach.
Ich hatte nicht länger die Kraft meines ersten zornigen Widerstandes gegen Schimpf und Beleidigung, um ruhig und gefaßt zu bleiben. Der herzbeklemmende Wunsch, Laura zu sehen, sowie meine hülflose Unkenntniß dessen, was sich im Boothause zugetragen, lagen mit einem unerträglichen Gewichte auf meinem Gemüthe. Ich versuchte, mit dem Grafen und der Gräfin in dem Tone zu sprechen, den sie für gut erachtet, gegen mich anzunehmen. Doch erstarben mir die Worte auf der Zunge, ich athmete mühsam und schnell, und meine Augen wandten sich sehnsüchtig der Thür zu. Der Graf, der meine Besorgniß begriff, öffnete sie, ging hinaus und schloß sie wieder hinter sich. In demselben Augenblicke hörte ich Sir Percival’s schweren Tritt die Treppe herunter kommen. Ich hörte dann Beide draußen zusammen flüstern, während die Gräfin mir mit ihrer ruhigsten Alltagsstimme die Versicherung gab, daß sie sich um unser Aller willen freue, daß Sir Percival sie und ihren Gemahl nicht durch sein Betragen gezwungen habe, Blackwater Park zu verlassen. Ehe sie noch geendet hatte, hörte das Flüstern auf, die Thüre öffnete sich, und der Graf trat herein.
»Miß Halcombe,« sagte er, »es macht mich glücklich, Sie benachrichtigen zu können, daß Lady Glyde wieder Herrin ihres eignen Hauses ist. Ich glaubte, es dürfte Ihnen weniger unangenehm sein, diesen günstigen Wechsel von mir zu hören, als von Sir Percival, und kam dieserhalb ausdrücklich zurück, um Sie davon in Kenntniß zu setzen.«
»Unvergleichliches Zartgefühl,« sagte die Gräfin, dem Grafen seine Lobsprüche in gleicher Münze und auf gleiche Manier zurückgebend. Er lächelte und verbeugte sich, wie wenn ihm irgend ein Fremder ein höfliches Compliment gesagt hätte, und trat dann auf die Seite, um mich vorübergehen zu lassen.
Sir Percival stand in dem Flur. Als ich die Treppe hinauf eilte, hörte ich, wie er dem Grafen ungeduldig zurief, aus der Bibliothek zu kommen.
»Wozu wartest Du da noch?« sagte er. »Ich habe mit Dir zu sprechen.«
»Und ich habe erst noch allein zu überlegen,« entgegnete der Andere. »Warte bis später, Percival, warte bis später.«
Weder er noch sein Freund sprachen ferner. Ich war oben angelangt und lief den Corridor entlang. In meiner Hast und Aufregung ließ ich die Thür des Vorzimmers offen, doch schloß ich die des Schlafzimmers, sowie ich eingetreten war.
Laura saß allein am andern Ende des Zimmers, ihre Arme ruhten müde auf dem Tische und ihr Gesicht in ihren Händen. Als sie mich erblickte, sprang sie mit einem matten Freudenausrufe empor.
»Wie bist Du hergekommen?« frug sie. »Wer gab Dir Erlaubniß dazu? Gewiß nicht Sir Percival?«
In meiner überwältigenden Bangigkeit über das, was sich zugetragen, konnte ich ihr nicht antworten, sondern blos Gegenfragen an sie richten. Doch erwies sich Laura’s Begier, zu wissen, was unten vorgegangen sei, zu stark, um sich abweisen zu lassen. Sie wiederholte beharrlich ihre Fragen.
»Natürlich der Graf,« sagte ich ungeduldig, »wer sonst besäße im Hause wohl Einfluß genug –?«
Sie unterbrach mich mit einer Bewegung des Widerwillens.
»Sprich nicht von ihm!« rief sie aus, »der Graf ist der elendeste Mensch, den es auf Erden giebt! Der Graf ist ein nichtswürdiger Spion –!«
Ehe weder die Eine noch die Andere von uns ein Wort hinzufügen konnte, wurden wir Beide durch ein leises Klopfen an der Thür beunruhigt.
Ich hatte mich noch nicht gesetzt, und ging daher, um zu sehen, wer es sei. Als ich die Thür öffnete, stand die Gräfin, mein Taschentuch in der Hand haltend, vor mir.
»Sie ließen dies unten fallen, Miß Halcombe,« sagte sie, »und da ich auf meinem Wege nach meinem Zimmer hier vorbeikam, wollte ich es Ihnen gleich überbringen.« Ihr Gesicht, welches von Natur blaß ist, war so gespenstisch weiß in diesem Augenblicke, daß es mich förmlich erschreckte. Ihre Hände, sonst so sicher und ruhig, zitterten heftig, und ihre Augen blickten durch die geöffnete Thür an mir vorbei und hefteten sich mit einem wolfartigen Ausdrucke auf Laura.
Sie hatte gehorcht, ehe sie klopfte! Das sah ich in ihrem weißen Gesichte, in ihren zitternden Händen, in ihrem wilden Blicke.
Nachdem sie eine Minute gezögert, wandte sie sich um und ging langsam fort.
Ich schloß die Thür wieder. »O Laura, Laura! wir werden Beide den Tag zu bereuen haben, an dem Du jene Worte sprachst!«
»Du hättest sie selbst gesprochen, Marianne, hättest Du gewußt, was ich weiß. Anna Catherick hatte Recht. Es war in der That gestern eine dritte Person bei unserer Unterredung zugegen, und diese war –«
»Weißt Du es gewiß, daß es der Graf war?«
»Ganz gewiß. Er war Sir Percival’s Spion, Sir Percival’s Berichterstatter. Er bewog Sir Percival, Anna Catherick und mir den ganzen Morgen aufzulauern.«
»Haben sie Anna gefunden? Sahst Du sie am See?«
»Nein, sie hat sich gerettet, indem sie ausblieb. Als ich im Boothause anlangte, war dort kein Mensch.«
»Ja? nun?«
»Ich ging hinein, setzte mich und wartete einige Minuten. Doch ließ mich meine Unruhe wieder aufstehen und umhergehen. Als ich hinaus trat, sah ich dicht vor dem Boothause Spuren im Sande. Ich bückte mich, um genauer hinzusehen und fand ein Wort mit großen Buchstaben in den Sand geschrieben. Dies Wort war »Suchet!«
»Und Du scharrtest den Sand fort und machtest ein Loch in die Erde?«
»Woher weißt Du das, Marianne?«
»Ich sah es, als ich Dir nach dem Boothause gefolgt war. Aber fahre fort – fahre fort!«
»Ja, ich scharrte den Sand fort, und nach einer kleinen Weile fand ich einen Streifen beschriebenen Papiers. Das Geschriebene war mit Anna Catherick’s Anfangsbuchstaben unterzeichnet.«
»Wo ist es?«
»Sir Percival hat es mir genommen.«
»Erinnerst Du Dich, was auf dem Papier geschrieben stand? Glaubst Du, daß Du es mir genau wiederholen könntest?«
»Den Inhalt kann ich Dir genau sagen, Marianne, denn er war sehr kurz. Du hättest es Wort für Wort im Gedächtnisse behalten.«
»Versuche, mir den Inhalt zu sagen, ehe wir weiter gehen.«
Sie that es. Ich schreibe die Zeilen gerade so hier nieder, wie sie mir dieselben hersagte. Sie lauteten folgendermaßen:
»Wir wurden gestern von einem großen, starken, alten Manne zusammen gesehen, und ich mußte laufen, um mich zu retten. Er war nicht flink genug auf den Füßen und verlor mich unter den Bäumen. Ich wage nun nicht, heute um dieselbe Zeit wieder hieher zu kommen. Ich schreibe dies, um Sie hiervon zu unterrichten, um sechs Uhr Morgens und werde es im Sand verbergen. Wenn wir das nächste Mal von Ihres gottlosen Gemahls Geheimnisse sprechen, da muß es an einem sicheren Orte sein oder gar nicht. Suchen Sie sich in Geduld zu fassen. Ich verspreche Ihnen, daß Sie mich wiedersehen sollen, und zwar bald.
A. C.«
Die Worte »großer, starker, alter Mann« (von deren Richtigkeit Laura überzeugt war) ließen keinen Zweifel übrig in Bezug auf die Identität des Störers. Ich entsann mich, daß ich Sir Percival in Gegenwart des Grafen gesagt hatte, Laura sei nach dem Boothause gegangen, um ihre Broche zu suchen. Wahrscheinlich war er ihr in seiner zudringlichen Dienstfertigkeit dorthin gefolgt, um sie, gleich nachdem er mir im Gesellschaftszimmer Sir Percival’s Sinnesänderung in Bezug auf das Document mitgetheilt, ebenfalls darüber zu beruhigen. In diesem Falle konnte er jedoch erst in dem Augenblicke, wo Anna Catherick ihn entdeckte, beim Boothause angelangt sein. Die verdächtige Eile, in der sie Laura verließ, hatte ihn wahrscheinlich zu dem fruchtlosen Versuche, ihr zu folgen, bewogen – aber von der vorher stattgehabten Unterredung konnte er Nichts gehört haben. Die Entfernung vom Hause bis zum See und die Zeit, zu der er mich im Salon verließ, verglichen mit der, zu welcher Laura sich mit Anna Catherick unterhielt, ließen hierüber wenigstens keinen Zweifel obwalten.
Da ich hierüber ziemlich einig mit mir geworden, war mein nächstes Interesse darauf gerichtet, zu erfahren, welche Entdeckungen Sir Percival gemacht habe, nachdem der Graf ihm seine Mittheilungen gemacht.
»Wie bist Du des Briefes verlustig geworden?« frug ich sie. »Was machtest Du damit, nachdem Du ihn im Sande gefunden hattest?«
»Nachdem ich ihn ein Mal durchgelesen,« sagte sie, »nahm ich ihn mit mir ins Boothaus, um mich zu setzen und ihn nochmals zu lesen. Während ich dies that, fiel ein Schatten auf das Papier. Ich blickte auf und sah Sir Percival im Eingange stehen und mich beobachten.«
»Versuchtest Du, den Brief zu verbergen?«
»Ja, ich versuchte es, aber er verhinderte mich. ›Du brauchst Dich nicht zu bemühen, das da zu verstecken,‹ sagte er, ›ich habe es bereits gelesen.‹ Ich konnte Nichts sagen, sondern ihn blos hülflos anschauen. ›Verstehst Du mich?‹ fuhr er fort; ›ich habe es gelesen. Ich scharrte es vor zwei Stunden aus dem Sande, grub es dann wieder ein, schrieb das Wort wieder darüber und ließ es bereit für Dich liegen. Jetzt kannst Du Dich nicht aus Deinen Schlichen herauslügen. Du hast gestern heimlich Anna Catherick gesprochen, und in diesem Augenblicke hältst Du ihren Brief in der Hand. Sie habe ich noch nicht erwischt, aber Dich habe ich. Gieb den Brief her.‹ Er trat dicht zu mir heran – ich war allein mit ihm, Marianne – was konnte ich machen? Ich gab ihm den Brief«
»Was sagte er, als Du ihm denselben gabst?«
»Zuerst sagte er Nichts. Er faßte mich beim Arme, führte mich aus dem Boothause und schaute sich nach allen Seiten hin um, als ob er fürchte, daß man uns hören oder sehen könne. Dann drückte er meinen Arm fest mit seiner Hand und flüsterte: ›Was hat Anna Catherick Dir gestern gesagt? – Ich befehle Dir, mir jedes Wort von Anfang bis zu Ende zu wiederholen!‹«
»Sagtest Du es ihm?«
»Ich war allein mit ihm, Marianne, seine grausame Hand kniff meinen Arm – was konnte ich thun?«
»Ist die Stelle noch auf Deinem Arm zu sehen? Zeige sie mir.«
»Wozu willst Du sie sehen?«
»Ich will sie sehen, Laura, weil heute unser Dulden ein Ende haben und unser Widerstand beginnen muß. Jene Stelle ist eine Waffe, mit der wir ihn treffen können. Laß’ sie mich gleich sehen, vielleicht werde ich sie später zu beschwören haben.«
»O, Marianne, blicke nicht so! sprich nicht so! Es thut mir jetzt nicht mehr weh’!«
»Zeige mir’s!«
Sie zeigte mir die Stelle. Ich war jetzt über den Gemüthszustand hinweg, in dem ich über den Anblick geklagt, geweint und geschaudert hätte. Man sagt, wir Frauen seien entweder besser oder schlechter denn die Männer. Wäre die Versuchung, die sich manchen anderen Frauen geboten und sie schlechter gemacht hat, in diesem Augenblick mir entgegengetreten – – – Gott sei Dank; mein Gesicht verrieth Nichts, das seine Frau hätte lesen können. Das sanfte, unschuldige, liebende Herz glaubte nur, ich fürchte für sie und härme mich um sie – und dachte an weiter Nichts.
»Denke nicht zu strenge darüber, Marianne,« sagte sie ruhig, indem sie den Aermel ihres Kleides wieder über die Stelle zog. »Es schmerzt jetzt nicht mehr.«
»Ich will Deinetwegen ruhig daran zu denken versuchen, mein liebes Herz. – Schon gut! schon gut! Also Du sagtest ihm Alles, was Anna Catherick Dir gesagt hatte – Alles, was Du mir erzählt hast?«
»Ja, Alles. Er bestand darauf – Ich war allein mit ihm – ich konnte ihm Nichts verschweigen.«
»Sagte er Etwas, als Du geendet?«
»Er sah mich an und lachte bitter vor sich hin. ›Ich will auch das Uebrige noch aus Dir herausbringen,‹ sagte er, ›hörst Du? auch das Uebrige.‹ Ich erklärte ihm mit feierlichen Worten, daß ich ihm Alles gesagt habe, was ich wisse ›Fällt Dir nicht ein!‹ sagte er; ›Du weißt mehr, als es Dir zu sagen beliebt. Du willst nicht heraus damit, aber Du sollst es! Ich will Dir’s schon zu Hause auspressen, wenn mir’s hier nicht gelingt.‹ Dann führte er mich auf einem mir unbekannten Pfade durch die Anlagen, ein Pfad, auf dem keine Aussicht war, Dir zu begegnen, und sagte Nichts mehr, bis wir das Haus sehen konnten. Dann stand er still und sagte: ›Wenn ich Dir noch einmal Gelegenheit gebe, willst Du Dich eines Bessern besinnen? Willst Du mir das Uebrige sagen?‹ Ich konnte blos die Worte wiederholen, die ich bereits vorher zu ihm gesprochen. Er fluchte meiner Hartnäckigkeit, setzte dann seinen Weg fort uns führte mich ins Haus. ›Du kannst mich nicht hintergehen,‹ sagte er; ›Du weißt mehr, als Dir zu sagen beliebt. Ich will aber Dein Geheimniß noch aus Dir heraus haben und aus Deiner Schwester ebenfalls. Es soll kein Complottiren und Flüstern mehr zwischen Euch stattfinden. Ihr sollt Euch einander nicht eher wiedersehen, als bis Ihr mir die Wahrheit gebeichtet habt. Ich will Euch Tag und Nacht bewachen lassen, bis Ihr die Wahrheit gesteht.‹ Er war taub gegen Alles, was ich sagen konnte, und führte mich sofort auf mein Zimmer. Hier saß Fanny, mit einer Arbeit für mich beschäftigt; er schickte sie augenblicklich hinaus. ›Ich will wenigstens dafür sorgen, daß Sie nicht auch mit in die Verschwörung gezogen werden,‹ sagte er. ›Sie werden noch heute das Haus verlassen. Wenn Ihre Herrin einer Jungfer bedarf, so soll es eine sein, die ich ihr aussuche.‹ Er schob mich ins Zimmer und verschloß die Thür hinter mir, dann stellte er jenes dumme Mädchen draußen als Wache auf, Marianne! Er sah aus und sprach wie ein Wahnsinniger; Du wirst es kaum begreifen, aber es ist wirklich wahr.«
»Ich begreife es, Laura. Er ist in der That wahnsinnig – wahnsinnig aus Furcht vor dem Verrath seines gottlosen Geheimnisses. Jedes Deiner Worte überzeugt mich fester und fester, daß, als Anna Catherick Dich gestern verließ, Du im Begriffe warst, ein Geheimniß zu entdecken, das Deines elenden Mannes Untergang sein könnte, und er denkt, daß Du es bereits erfahren hast. Nichts, das Du sagen oder thun kannst, wird dieses schuldbewußte Mißtrauen beseitigen, oder seine falsche Natur von der Wahrhaftigkeit der Deinigen überzeugen. Ich sage dies nicht, Liebe, um Dich zu beunruhigen. Ich sage es nur, um Dir die Augen zu öffnen, damit Du Deine Lage begreifst, und um Dich von der dringenden Nothwendigkeit zu überzeugen, daß ich handeln und Dich nach Kräften schützen muß, so lange uns noch die Gelegenheit dazu bleibt. Des Grafen Vermittelung hat mir heute den Zutritt zu Dir verschafft; morgen aber mag er schon seine Fürsprache zurücknehmen. Sir Percival hat bereits Fanny entlassen, weil sie ein gescheidtes Mädchen und Dir von Herzen ergeben ist, und ihre Stelle einer Person gegeben, die sich nichts um Dich kümmert, und deren Verstandeskräfte mit denen des Kettenhundes unten im Hofe auf gleicher Stufe stehen. Es ist unmöglich zu sagen, welche gewaltsame Maßregeln er zunächst ergreifen wird, falls wir nicht den besten Gebrauch von der uns noch bleibenden Gelegenheit machen.«
»Was können wir thun, Marianne? O, wenn wir doch nur dies Haus verlassen könnten, um es niemals wiederzusehen!«
»Höre mich an, liebe Laura, und suche Dich davon zu überzeugen, daß Du nicht ganz hülflos bist, solange ich bei Dir bin.«
»Das will ich, das thue ich. Aber vergiß nicht die arme Fanny ganz, indem Du Dich mit mir beschäftigst. Auch sie bedarf der Hülfe und des Trostes.«
»Ich werde sie nicht vergessen, Ich habe mit ihr gesprochen, ehe ich zu Dir heraufkam, und bin mit ihr einig geworden, sie heute Abend noch von mir hören zu lassen. In der Posttasche sind unsere Briefe hier in Blackwater Park nicht sicher, und ich werde heute zwei in Deinen Angelegenheiten zu schreiben haben, die durch keine anderen, als Fanny’s Hände gehen müssen.«
»Was für Briefe?«
»Ich beabsichtige erstens an Mr. Gilmore’s Compagnon zu schreiben, Laura, da er uns für jede neue Verlegenheit seine Hülfe angetragen hat. So wenig ich auch das Gesetz kenne, so sicher bin ich dessenungeachtet, daß es eine Frau gegen solche Behandlung schützen kann, wie sie Dir heute von diesem rohen Wütherich geworden ist. Ich will in keine Einzelheiten über Anna Catherick eingehen, weil ich hierüber keine bestimmten Mittheilungen zu machen habe. Aber der Advokat soll von jener Stelle auf Deinem Arme und von der Gewaltthätigkeit wissen, die man Dir in diesem Zimmer angethan – und zwar ehe ich eine Nacht vorher schlafe!«
»Aber bedenke nur das Aufsehen, Marianne!«
»Ich rechne darauf. Sir Percival hat mehr davon zu fürchten als Du. Die Aussicht auf Blosstellung mag ihn vielleicht zur Vernunft bringen, wenn dies durch sonst Nichts geschehen kann.«
Ich stand auf, indem ich sprach, aber Laura bat mich dringend, sie nicht zu verlassen.
»Du wirst ihn zur Verzweiflung treiben,« sagte sie, »und unsere Gefahren noch um das Zehnfache vergrößern.«
Ich fühlte das Wahre, das entmuthigend Wahre dieser Worte. Aber ich vermochte es nicht über mich, ihr dies offen zu bekennen. In unserer schrecklichen Lage gab es keine Hülfe oder Hoffnung für uns, als indem wir das Schlimmste wagten. Ich sagte ihr dies mit vorsichtigen Worten. Sie seufzte bitterlich, doch machte sie keine Einwendungen. Dann frug sie nach dem zweiten Briefe, den ich zu schreiben beabsichtige. Für wen war er bestimmt?
»Für Deinen Onkel,« sagte ich. »Mr. Fairlie ist Dein nächster männlicher Verwandter und das Haupt der Familie. Er muß und soll sich ins Mittel legen.«
Laura schüttelte traurig den Kopf.
»Ja, ja,« fuhr ich fort, »ich weiß wohl, daß Dein Onkel ein schwacher, selbstsüchtiger, weltlich gesinnter Mensch ist. Aber er ist immer noch nicht Sir Percival Glyde und hat keinen solchen Freund um sich, wie den Grafen Fosco. Ich erwarte Nichts von seiner Güte oder Liebe zu Dir oder zu mir. Aber er wird Alles thun, um seiner Trägheit zu fröhnen, und seine Ruhe zu sichern. Laß mich ihn überzeugen, daß er sich dadurch, daß er sich jetzt ins Mittel legt, für später unvermeidliche Mühe, Unannehmlichkeit und Verantwortlichkeit erspart, und er wird sich um seiner selbst willen schon rühren. Ich weiß, wie man ihn nehmen muß, Laura, ich habe einige Uebung darin gehabt.«
»Wenn Du ihn nur dazu bewegen könntest, mich wieder auf eine Weile nach Limmeridge zurückkommen und dort ruhig mit Dir leben zu lassen, Marianne, da könnte ich fast wieder so glücklich sein, wie ich vor meiner Heirath war!«
Diese Worte gaben meinen Gedanken eine neue Richtung. Wäre es vielleicht möglich, Sir Percival zwischen die beiden Alternativen zu stellen, daß er sich entweder der Blosstellung gerichtlicher Dazwischenkunft zu Gunsten seiner Frau unterziehe oder sonst ihr gestatten müsse, ihn auf eine Weile unter dem Vorwande eines Besuches bei ihrem Onkel, zu verlassen? Und durfte man in diesem Falle mit Zuversicht darauf rechnen, daß er Letzteres wählen werde? Es war zweifelhaft – mehr als zweifelhaft. Und dennoch – so hoffnungslos das Experiment auch erschien, war es nicht eines Versuches werth? Ich beschloß, ihn zu machen – aus bloser, verzweifelter Rathlosigkeit.
»Dein Onkel soll von Deinem Wunsche unterrichtet werden,« sagte ich, »auch will ich den Advokaten darüber zu Rathe ziehen. Es mag und wird, wie ich hoffe, Gutes danach kommen«
Mit diesen Werten erhob ich mich nochmals und nochmals versuchte Laura, mich zurückzuhalten.
»Verlaß mich nicht,« sagte sie mit unruhigem Blicke »Mein Schreibepult steht ja hier auf dem Tische. Du kannst hier schreiben.«
Es ging mir durch’s Herz, es ihr zu verweigern, ungeachtet dies in ihrem eigenen Interesse geschah. Aber wir waren bereits zu lange zusammen eingeschlossen gewesen. Unsere Aussicht, einander wieder zu sehen, hing vielleicht ganz davon ab, daß wir keinen ferneren Verdacht erregten. Es war reichlich an der Zeit, daß ich ruhig und unbekümmert vor den Bösewichtern erschiene, die vielleicht in diesem Augenblicke unten an uns dachten und über uns sprachen. Ich erklärte Laura diese schlimme Nothwendigkeit und vermochte sie, dieselbe, wie ich, anzuerkennen.
»Ich will in einer Stunde oder noch früher wieder bei Dir sein, liebes Herz,« sagte ich. »Das Schlimmste ist für heute vorbei. Verhalte Dich ruhig und fürchte Nichts«
»Ist der Schlüssel in der Thür, Marianne? Kann ich mich von innen einschließen?«
»Ja, hier ist der Schlüssel. Verschließe Deine Thür und öffne Niemandem, bis ich wieder zurückkomme.«
Ich küßte sie und ging. Es verursachte mir ein Gefühl der Erleichterung, als ich sie die Thür von innen verschließen hörte und somit wußte, daß ihr Alleinbleiben in ihrer eigenen Gewalt sei.
Ich war kaum bis an die Treppe gelangt, als mich das Verschließen der Thür von Laura’s Zimmer daran erinnerte, daß es vielleicht gerathen sein möchte, wenn auch ich die meinige verschlösse und den Schlüssel bei mir trüge, so lange ich nicht in meinem Zimmer sei. Mein Tagebuch war bereits nebst anderen Papieren in meinem Tischauszuge verschlossen, aber meine Schreibmaterialien lagen noch offen da. Unter diesen befand sich ein Petschaft, das die sehr gewöhnliche Wappenfigur zweier Tauben, die aus einer Schale trinken, trug, und einige Bogen Löschpapier, auf denen noch der Abdruck der letzten Zeilen, die ich gestern Abend in diese Blätter eintrug, zu sehen war. Unter dem Einflusse des Argwohns, der jetzt ein Theil meines Selbst geworden zu sein schien, erhielten selbst solche Kleinigkeiten, wie diese, ein zu gefährliches Ansehen, als daß sie ohne Schutz gelassen werden durften – sogar der verschlossene Tischauszug schien mir in meiner Abwesenheit nicht hinlänglich verwahrt, bis nicht auch die Mittel, dazu zu gelangen, sorgfältig abgeschlossen waren.
Ich fand kein Anzeichen, daß irgend Jemand in meiner Stube gewesen wäre, während ich mich mit Laura unterhalten hatte. Meine Schreibmaterialien (welche anzurühren ich dem Stubenmädchen streng untersagt hatte) lagen ziemlich wie gewöhnlich über den Tisch zerstreut. Der einzige Umstand, der mir in Bezug hierauf etwas auffiel, war, daß das Petschaft ordentlich neben Bleistiften und Siegellack in der kleinen Cristallmulde lag. Es war (wie ich zu meinem Bedauern gestehe) nicht meine Gewohnheit, es hier so ordentlich hineinzulegen, noch erinnerte ich mich, dies gethan zu haben. Da ich mich jedoch auf der anderen Seite nicht entsinnen konnte, wo ich es hingeworfen, und ob ich es nicht vielleicht ganz mechanischer und zufälliger Weise diesmal an die rechte Stelle gethan, ließ ich mich durch diese Kleinigkeit nicht noch mehr verwirren, als ich es in Folge der Ereignisse des Tages bereits war. Ich schloß die Thür ab, steckte den Schlüssel in die Tasche und ging hinunter.
Die Gräfin war allein auf dem Flur und betrachtete das Wetterglas.
»Es fällt noch immer,« sagte sie, »ich fürchte, wir müssen noch mehr Regen erwarten.«
Ihr Gesicht trug wieder seinen gewohnten Ausdruck und seine gewohnte Farbe. Aber die Hand, mit der sie auf den Zeiger des Wetterglases deutete, zitterte noch. Konnte sie ihrem Manne erzählt haben, daß sie gehört, wie Laura ihn mir als einen »Spion« bezeichnet hatte? Mein starker Verdacht, daß sie es ihm gesagt haben mußte, meine unüberwindliche Angst (die durch ihre Unbestimmtheit um so überwältigender wurde) vor den Folgen, die dies haben konnte; meine feste Ueberzeugung, welche durch verschiedene kleine unwillkürliche Gefühlskundgebungen von Seiten der Gräfin (die Frauen so schnell aneinander wahrnehmen) in mir wach gerufen, daß sie, ungeachtet all ihrer äußerlich angenommenen Höflichkeit, es ihrer Nichte nie verziehen habe, daß sie das unschuldige Hinderniß war, welches zwischen ihr und dem Legate von zehntausend Pfund stand: Alles dies schoß mir plötzlich durch den Sinn, und drängte mich zu sprechen, in der eitlen Hoffnung, durch meinen Einfluß und meine Ueberredungskraft im Stande zu sein, Laura’s Fehler wieder gut zu machen.
»Darf ich von Ihrer Güte, Gräfin, hoffen, daß sie mich entschuldigen wird, falls ich es wage, über einen höchst peinlichen Gegenstand mit Ihnen zu sprechen?«
Sie faltete ihre Hände vor sich und neigte feierlich den Kopf, ohne ein Wort zu sagen, und ohne den Blick von mir zu verwenden.
»Als Sie so freundlich waren, mir mein Taschentuch zu bringen,« fuhr ich fort, »müssen Sie, wie ich sehr fürchte, zufällig Etwas gehört haben, das Laura sagte, welches ich ungern wiederholen möchte und nicht zu entschuldigen versuchen will. Darf ich nur zu hoffen wagen, daß es Ihnen von zu geringer Wichtigkeit erschien, um den Grafen davon zu unterrichten?«
»Es hat nicht die geringste Wichtigkeit in meinen Augen,« sagte die Gräfin Fosco schnell und scharf. »Aber,« fuhr sie fort, indem sie augenblicklich wieder in ihr eisiges Wesen verfiel, »ich verschweige meinem Manne nie Etwas, selbst Kleinigkeiten nicht. Als er soeben bemerkte, daß ich bekümmert aussähe, war es meine peinliche Pflicht, ihm die Ursache hiervon zu sagen, und ich gestehe Ihnen offen, Miß Halcombe, daß ich es ihm nicht verschwiegen habe.«
Ich war hierauf vorbereitet gewesen, und doch durchrieselte es mich eisig, als sie diese Worte sagte.
»Lassen Sie mich es Ihnen, Gräfin, und auch dem Grafen ernstlich an’s Herz legen, daß Sie die traurige Lage berücksichtigen, in der meine Schwester sich augenblicklich befindet. Sie sprach unter dem Einflusse des Schmerzes, den ihr die Beschimpfung und Ungerechtigkeit ihres Mannes verursacht hatten, und sie war außer sich, als sie jene unbedachten Worte sprach. Darf ich hoffen, daß sie rücksichtsvoll und großmüthig vergeben sind?«
»Ganz gewiß,« sagte des Grafen ruhige Stimme hinter mir. Er hatte sich mit seinem geräuschlosen Schritte, mit einem Buche in der Hand aus der Bibliothek zu uns herangeschlichen.
»Als Lady Glyde jene übereilten Worte sprach,« fuhr er fort, »beging sie eine Ungerechtigkeit gegen mich, die ich beklage und vergebe. Lassen Sie uns des Gegenstandes nie wieder erwähnen, Miß Halcombe, lassen Sie uns Alle einander gegenseitig geloben, ihn von diesem Augenblicke an zu vergessen.«
»Sie sind sehr freundlich,« sagte ich, »es ist mir eine unbeschreibliche Erleichterung –«
Ich wollte fortfahren, aber seine Augen waren auf mich geheftet; sein tödtliches Lächeln, das Alles verbirgt, lag fest und hart auf seinem großen glatten Gesichte. Die Ahnung, die ich von seiner unergründlichen Falschheit hatte, das Gefühl meiner Erniedrigung, indem ich mich herabließ, zu versuchen, ihn und seine Frau mit uns auszusöhnen, dies Alles drückte und verwirrte mich dergestalt, daß mir die nächsten Worte auf den Lippen erstarben und ich schweigend dastand.
»Ich bitte Sie auf meinen Knien, Miß Halcombe, kein Wort weiter darüber zu sagen, – es ist mir ernstlich schmerzlich, daß Sie es für nothwendig hielten, überhaupt Etwas darüber zu erwähnen.« Mit diesen höflichen Worten ergriff er meine Hand, o, wie ich mich verachte! wie geringen Trost ich in dem Bewußtsein finde, daß ich es nur um Laura’s willen erduldete! – er faßte meine Hand und führte sie an seine giftigen Lippen. Noch nie bis zu diesem Augenblicke war ich mir meines ganzen Widerwillens gegen ihn bewußt geworden. Diese harmlose Vertraulichkeit machte mein Blut kriechen, als ob es die größte Beschimpfung gewesen wäre, die ein Mann mir hätte anthun können. Und dennoch verbarg ich ihm meinen Widerwillen, ich versuchte zu lächeln; ich, die ich sonst erbarmungslos den Betrug in Frauen verdammte, war jetzt so falsch, wie die falscheste unter ihnen, so falsch wie der Judas, dessen Lippen meine Hand berührt hatten.
Ich hätte nicht meine erniedrigende Fassung behalten können – und dies Bewußtsein ist das Einzige, was mir einigermaßen meine Selbstachtung wiedergiebt – hätte er noch fortgefahren, mich mit seinen Blicken zu fixiren. Die tigerartige Eifersucht seiner Frau kam zu meiner Erlösung herbei und zwang ihn, sowie er meine Hand ergriffen hatte, seine Aufmerksamkeit von mir abzuziehen. Ihre kalten blauen Augen fingen Feuer, ihre mattweißen Wangen erglühten, und in einem Augenblicke sah sie um viele Jahre jünger aus.
»Graf!« sagte sie. »Die englischen Frauen verstehen dergleichen ausländische Höflichkeitsformen nicht.«
»Ich bitte um Vergebung, mein Engel! Die beste und theuerste aller englischen Frauen versteht sie.« Mit diesen Worten ließ er ruhig meine Hand sinken und erhob statt ihrer die seiner Frau an seine Lippen.
Ich eilte zurück die Treppe hinaus, um eine Zuflucht in meinem Zimmer zu suchen. Wäre Zeit zum Denken übrig gewesen, so würden mir meine Gedanken, sobald ich mich allein sah, bittere Schmerzen verursacht haben. Aber es blieb mir dazu keine Zeit, zum Glücke für die Bewahrung meiner Ruhe und meines Muthes war zu nichts Anderem, als zum Handeln Zeit.
Ich hatte noch die Briefe an den Advokaten und an Mr. Fairlie zu schreiben, und ich setzte mich daher, ohne einen Augenblick zu zögern, um mich mit ihnen zu beschäftigen. Es standen mir wenig Hülfsmittel zu Gebote – es gab durchaus Niemanden in der Nähe, auf den ich mich hätte verlassen können, außer mir. Sir Percival besaß weder Bekannte noch Verwandte in der Umgegend, deren Vermittelung ich hätte ansprechen können. Er stand den Familien seines Standes, die in seiner Nachbarschaft lebten, auf dem kältesten, in einigen Fällen auf dem feindseligsten Fuße gegenüber. Wir beide Frauen hatten weder einen Vater, noch einen Bruder, welcher hätte ins Haus kommen und uns in Schutz nehmen können. Es blieb mir keine andere Wahl, als diese beiden zweifelhaften Briefe zu schreiben, oder, indem wir Blackwater Park heimlich verließen, Laura sowohl wie mich, in eine falsche Lage zu bringen und jedes friedliche Arrangement für die Zukunft unmöglich zu machen. Nichts, als die drohendste Gefahr hätte dieses letztere Verfahren rechtfertigen können. Die Briefe mußten zuerst versucht werden, und so schrieb ich sie denn.
Ich erwähnte gegen den Advokaten Nichts über Anna Catherick, weil (wie ich dies Laura bereits begreiflich gemacht hatte) dieser Umstand mit einem Geheimnisse verknüpft war, das wir noch nicht aufklären konnten, und dessen Erwähnung deshalb in meinem Briefe an einen Rechtsgelehrten durchaus unnütz gewesen wäre. Ich überließ es meinem Correspondenten, Sir Percival’s unerhörtes Betragen neuen Streitigkeiten über Geldfragen zuzuschreiben, falls es ihn beliebte, und zog ihn ganz einfach über die Möglichkeit zu Rathe, wie Laura gerichtlicher Schutz zu verschaffen sein würde, sollte sich ihr Mann ihrem Wunsche, Blackwater Park auf eine Weile zu verlassen und mit mir nach Limmeridge zurückzukehren, widersetzen. Ich verwies ihn wegen der Einzelheiten dieses Arrangements an Mr. Fairlie, versicherte ihn, daß ich mit Laura’s Genehmigung schreibe, und bat ihn dringend, in ihrem Namen, mit der äußersten Anwendung all seiner Macht und mit möglichst wenigem Zeitverluste zu handeln.
Dann kam der Brief an Mr. Fairlie. Ich schrieb ihm, indem ich die Sache in einem Lichte darstellte, von dem ich, wie ich schon Laura gesagt hatte, am ersten erwarten durfte, daß es ihn zum Handeln treiben werde; ich schloß ihm eine Abschrift meines Briefes an den Advokaten bei, damit er daraus entnehmen möge, wie ernstlicher Natur die Sache sei, und erklärte ihm, daß unser Uebersiedeln nach Limmeridge der einzige Vergleich sei, durch welchen man es verhindern könne, daß nicht das Gefahrvolle und Betrübende von Laura’s gegenwärtiger Lage in kurzer Zeit auch ihren Onkel erreichte.
Als ich damit zu Ende war und die beiden Briefe versiegelt und adressirt hatte, nahm ich sie mit mir zu Laura, um ihr zu zeigen, daß es geschehen sei.
»Hat Dich irgend Jemand belästigt?« frug ich, als sie mir die Thür öffnete.
»Es hat Niemand angeklopft,« entgegnete sie, »aber ich hörte Jemand im Vorzimmer.«
»War es ein Mann oder ein weibliches Wesen?«
»Letzteres. Ich hörte das Rauschen ihres Kleides.«
»Ein Rauschen wie von Seide?«
»Ja, wie Seide.«
Die Gräfin hatte offenbar draußen gelauscht. Das Unheil, welches sie selbst anzurichten im Stande, war wenig zu fürchten. Aber das, welches sie uns als bereitwilliges Instrument in den Händen ihres Mannes zufügen konnte, war zu entsetzlicher Natur, um von uns übersehen zu werden.
»Was wurde aus dem Rauschen des Kleides, als Du es nicht mehr im Vorzimmer hörtest?« frug ich. »Hörtest Du es an Deiner Wand den Corridor entlang gehen?«
»Ja. Ich verhielt mich ruhig und lauschte, und hörte es ziemlich deutlich.«
»Nach welcher Richtung hin ging es?«
»Nach Deinem Zimmer zu.«
Ich überlegte nochmals. Ich hatte Nichts gehört; doch das bewies Nichts, denn ich war sehr in meine Briefe vertieft gewesen; dabei schreibe ich mit schwerer Hand und einer Gänsefeder, welche geräuschvoll auf dem Papiere kratzt. Deshalb war es wahrscheinlicher, daß die Gräfin das Kratzen meiner Feder hörte, als daß ich das Rauschen ihres Kleides vernahm. Wieder ein Grund (hätte ich noch eines solchen bedurft), um meine Briefe nicht der Posttasche anzuvertrauen.
Laura sah, wie ich überlegte. »Noch mehr Schwierigkeiten!« sagte sie mit müder Stimme; »immer mehr Schwierigkeiten und Gefahren!«
»Keine Gefahren,« entgegnete ich, »einige kleine Schwierigkeiten wohl. Ich denke darüber nach, wie ich die Briefe am sichersten in Fanny’s eigene Hände geben kann.«
»Du hast sie also wirklich geschrieben? O, Marianne, setze Dich keiner Gefahr aus, ich bitte Dich!«
»Nein, nein – sei ohne Furcht. Laß sehen, wie viel Uhr es ist?«
Es war ein Viertel vor sechs Uhr. Demnach hatte ich Zeit, nach der Dorfschenke zu eilen und noch vor Tisch wieder zurück zu sein. Falls ich bis später am Abend wartete, mochte ich keine zweite Gelegenheit finden, um das Haus in Sicherheit zu verlassen.
»Laß den Schlüssel umgedreht im Schlosse, Laura« sagte ich, »und besorge Nichts für mich. Falls man nach mir fragen sollte, so rufe durch die Thür und sage, daß ich auf einen Spaziergang aus bin.«
»Wann wirst Du wieder zurück sein?«
»Vor Tische, ganz sicher. Muth, Liebe, morgen um diese Zeit wird bereits ein umsichtiger, zuverlässiger Mann für Dich handeln. In Mr. Gilmore’s Abwesenheit ist sein Compagnon unser bester Freund.«
Als ich wieder allein war, schien es mir nach kurzer Ueberlegung rathsam, nicht in Hut und Shawl hinunterzugehen, bis ich mich überzeugt habe, was im unteren Theile des Hauses vorgehe. Ich wußte noch nicht, ob Sir Percival im Hause oder draußen war.
Das Singen der Canarienvögel in der Bibliothek und der Geruch von Tabaksrauch, welcher durch die offene Thür drang, sagten mir sogleich, wo der Graf sei. Als ich an der Thür vorüberschritt blickte ich über meine Schulter und sah zu meinem Erstaunen, daß er mit seiner einnehmendsten Höflichkeit der Haushälterin die Gelehrigkeit seiner Vögel zeigte. Er mußte sie ausdrücklich dazu hereingeladen haben, denn sie hätte nie daran gedacht, unaufgefordert in die Bibliothek zu gehen. Jeder, auch der anscheinend geringfügigsten Handlung dieses Mannes lag ein verborgener Zweck zum Grunde Welchen Zweck konnte er hierbei haben?
Es war jedoch dies nicht der Augenblick, danach zu forschen. Ich sah mich zunächst nach der Gräfin um und fand sie auf ihrer Lieblingspromenade um den Fischteich herum. Ich war etwas zweifelhaft darüber, wie sie mir wohl nach dem Eifersuchtsausbruche begegnen werde, dessen Ursache ich vor erst so kurzer Zeit gewesen. Aber ihr Mann hatte sie inzwischen wieder gezähmt, so daß sie wieder mit ihrer gewohnten Höflichkeit mit mir sprach. Mein einziger Zweck, indem ich sie anredete, war, zu erfahren, ob sie wisse, was aus Sir Percival geworden sei. Ich erwähnte seiner auf indirecte Weise, und nach einigen Umwegen und Ausflüchten von beiden Seiten sagte sie endlich daß er ausgegangen sei.
»Welches Pferd hat er genommen?« frug ich in möglichst unbekümmertem Tone.
»Gar keins«, entgegnete sie. »Er ging vor zwei Stunden zu Fuße fort. Falls ich ihn recht verstand, so ging er, um fernere Nachforschungen über die Frau anzustellen – die Anna Catherick, glaube ich. Er scheint mir zu ihrer Wiederauffindung einen ganz übertriebenen Eifer an den Tag zu legen. Wissen Sie vielleicht, Miß Halcombe, ob ihr Wahnsinn ein gefährlicher ist?«
»Ich weiß es nicht, Gräfin.«
»Gehen Sie hinein?«
»Ja, ich denke wohl. Es wird bald Zeit sein, Mittagstoilette zu machen.«
Wir gingen zusammen ins Haus. Die Gräfin ging langsam in die Bibliothek und schloß die Thür hinter sich. Ich eilte, mir meinen Hut und meinen Shawl zu holen. Jede Sekunde war von Wichtigkeit, wenn ich Fanny in der Dorfschenke aufsuchen und noch zu Tische zurück sein wollte.
Als ich wieder über den Flur schritt, war hier Niemand zu sehen, und das Singen der Vögel in der Bibliothek hatte aufgehört. Ich konnte mich nicht mit neuen Nachforschungen aufhalten, sondern mußte mich damit begnügen, den Weg rein zu finden und das Haus mit meinen beiden Briefen, die sicher in meiner Tasche waren, zu verlassen.
Auf meinem Wege nach dem Dorfe bereitete ich mich auf die Möglichkeit vor, Sir Percival zu begegnen. Solange ich übrigens nur mit ihm allein zu thun hatte, war ich sicher, meine Geistesgegenwart nicht zu verlieren. Ein Weib, das sich auf ihren Kopf verlassen kann, ist stets einem Manne gewachsen, der seine Leidenschaften nicht zu bemeistern vermag. Ich hatte vor Sir Percival nicht die Furcht, welche der Graf mir einflößte. Anstatt mich zu ängstigen, hatte es mich hingegen beruhigt, als ich hörte, daß er ausgegangen sei. Solange er so sehr damit beschäftigt war, Anna Catherick’s Spur nachzuforschen, durften Laura und ich hoffen, daß er sich fernerer thätlicher Verfolgungen gegen uns enthalten werde. Indessen hoffte und betete ich aus tiefster Seele sowohl um ihret- als um unserer selbst willen, daß sie ihm nicht in die Hände fallen möge.
Ich schritt so schnell dahin, als es mir in der Hitze möglich war, bis ich zu dem Kreuzwege kam, welcher ins Dorf führte, und indem ich mich von Zeit zu Zeit umblickte, um zu sehen, ob mir auch Jemand folgte. Doch war auf der ganzen Straße Nichts weiter hinter mir, als ein leerer Frachtwagen. Das Geräusch der schweren, klappernden Räder war mir zuwider, und als ich sah, daß der Wagen, wie ich, den Weg nach dem Dorfe einschlug, stand ich still, um ihn vorbeifahren zu lassen, bis ich ihn nicht mehr hörte. Als ich etwas aufmerksamer hinsah, schien es mir, als ob ich hin und wieder die Füße eines Mannes hinter dem Wagen hergehen sähe, der Fuhrmann selbst ging vorne bei seinen Pferden. Jener Theil des Weges aber, den ich eben hinter mir gelassen, war so enge, daß der Wagen auf beiden Seiten das Heckengesträuch streifte, und um mich von der Richtigkeit meiner Muthmaßung zu überzeugen, mußte ich warten, bis er an mir vorüber gefahren war. Doch schien es, daß ich mich getäuscht hatte, denn als der Wagen vorbei war, sah ich Niemandem auf dem ganzen Wege.
Ich langte, ohne Sir Percival zu begegnen oder sonst noch irgend etwas zu bemerken, im Wirthshause an, und freute mich, zu sehen, daß die Wirthin Fanny mit der größten Freundlichkeit aufgenommen hatte. Man hatte ihr ein kleines Zimmer angewiesen, wo sie nicht durch das Geräusch der Schenkstube belästigt wurde, und außerdem ein sauberes kleines Schlafgemach im oberen Theile des Hauses. Bei meinem Anblicke brach sie wieder in Thränen aus und sagte, – das arme Kind! mit vollkommener Wahrheit, es sei zu schrecklich, so aus dem Hause und in die Welt hinausgeschickt zu werden, als ob sie sich eines unverzeihlichen Vergehens schuldig gemacht, während ihr doch von Niemandem Etwas vorgeworfen werden konnte, und zwar von ihrem Herrn, welcher sie fortschickte, am allerwenigsten.
»Suche Dich darüber hinwegzusetzen, Fanny,« sagte ich, »Deine Herrin und ich werden Deine Freundinnen bleiben und dafür sorgen, daß Niemand Dir Schlimmes nachsagt. Jetzt höre mich an. Ich habe sehr wenig Zeit übrig und bin im Begriffe, Dir eine Sache von größter Wichtigkeit anzuvertrauen. Ich wünsche, daß Du mir diese beiden Briefe besorgst. Den, welcher die Postmarke trägt, wirst Du morgen in London auf die Post geben. Den andern aber, welcher an Mr. Fairlie adressirt ist, wirst Du ihm selbst übergeben, sobald Du in Limmeridge ankommst. Behalte beide Briefe bei Dir und lasse sie Dir von Niemandem abnehmen. Sie sind von der größten Wichtigkeit für das Wohl Deiner Herrin.«
Fanny steckte die beiden Briefe in den Busen ihres Kleides und sagte: »Da sollen sie bleiben, Miß, bis ich mit ihnen thue, wie Sie mir befohlen haben.«
»Sieh ja zu, daß Du morgen bei guter Zeit auf der Station bist,« fuhr ich fort, »und wenn Du die Haushälterin in Limmeridge siehst, so grüße sie von mir und sage ihr, daß Du in meinem Dienste bist, bis Lady Glyde Dich wieder in den ihrigen nehmen kann. Vielleicht sehen wir uns schon früher wieder, als Du denkst. Also laß den Muth nicht sinken und verfehle nicht den Zug um sieben Uhr morgen früh.«
»Danke, Miß, ich danke recht sehr. Es giebt einem ordentlich Muth, Ihre Stimme wieder zu hören. Bitte, wollen Sie so gut sein und mich Mylady empfehlen und ihr sagen, daß ich Alles so ordentlich machte, wie es mir in der kurzen Zeit möglich war. O, mein lieber Gott! wer wird sie nur heute zu Tische ankleiden? Es bricht mir das Herz, wenn ich daran denke!«
Als ich zu Hause anlangte, blieb mir nur noch eine Viertelstunde, um Toilette zu machen und ein paar Worte zu Laura zu sprechen, ehe ich zu Tische hinunter ginge.
»Die Briefe sind in Fanny’s Händen,« flüsterte ich durch die Thür ihr zu. »Wirst Du zu Tische hinunter kommen?«
»O nein, nein! Um Alles in der Welt nicht!«
»Ist irgend Etwas vorgefallen? Ist Jemand bei Dir gewesen?«
»Ja, soeben, Sir Percival –«
»Kam er herein?«
»Nein; er erschreckte mich, indem er heftig draußen an die Thür klopfte. Ich frag: ›Wer ist da?‹ und er antwortete: ›Hast Du Dich eines Bessern besonnen? Du sollst es noch! Früher oder später will ich es doch noch aus Dir herausbringen. Du weißt, wo Anna Catherick sich in diesem Augenblicke aufhält!‹ ›Gewiß, gewiß!‹ sagte ich, ›ich weiß es nicht!‹ ›Doch! Du weißt es!‹ rief er zurück. ›Ich will Dir schon Deine Halsstarrigkeit austreiben, denk’ an mich, ich hab’s gesagt!‹ Und dann ging er fort, Marianne, mit diesen Worten, vor kaum fünf Minuten!«
Er hatte sie also nicht gefunden, für diese Nacht wenigstens waren wir geborgen, er hatte sie noch nicht gefunden!
»Du gehst hinunter, Marianne? Komm nach Tische wieder herauf!«
»Ja, ja. Beunruhige Dich nicht, wenn ich erst spät kommen sollte, ich muß mich in Acht nehmen, keinen Anstoß zu geben, indem ich sie zu früh verlasse.«
Es wurde zu Tische geläutet und ich eilte hinunter.
Sir Percival führte die Gräfin zu Tische, und der Graf bot mir seinen Arm. Er sah roth und erhitzt aus und war nicht mit seiner üblichen Sorgfalt gekleidet. War auch er etwa vor Tische ausgewesen und erst spät zurückgekehrt? oder litt er blos etwas mehr als gewöhnlich von der Hitze?
Doch sei dem wie ihm wolle, es war nicht daran zu zweifeln, daß ihn eine heimliche Sorge oder Unannehmlichkeit quälte, die er trotz all seiner Verstellungskunst nicht ganz verbergen konnte. Während des ganzen Diners war er fast ebenso schweigsam wie Sir Percival und blickte von Zeit zu Zeit seine Frau mit einem Ausdrucke verstohlener Unruhe an, wie ich sie, solange ich ihn kannte, noch nie an ihm bemerkt hatte. Die einzige gesellschaftliche Pflicht, welcher er mit seiner gewohnten Sorgfalt nachzukommen im Stande schien, war die seiner Höflichkeit und Artigkeit mir gegenüber. Ich kann immer noch nicht entdecken, welchen abscheulichen Zweck er im Auge hat, – aber welcher Art er auch sei, unveränderliche Höflichkeit gegen mich, unveränderliche Ergebenheit gegen Laura und unveränderlicher Widerstand (auf jede Gefahr hin) gegen Sir Percival’s beleidigende Heftigkeitsausbrüche sind die Mittel gewesen, deren er sich zur Erreichung seines Zweckes bedient hatte, seitdem er zuerst den Fuß in dies Haus setzte. Ich vermuthete dies an jenem Tage, wo uns in der Bibliothek das Document zur Unterschrift vorgelegt wurde und er sich zu unsern Gunsten dazwischen legte, jetzt aber bin ich überzeugt davon.
Als die Gräfin und ich den Tisch verließen, erhob sich der Graf ebenfalls, um uns nach dem Gesellschaftszimmer zu begleiten.
»Wozu gehst Du?« frug Sir Percival, »Dich meine ich, Fosco.«
»Ich gehe, weil ich genug gespeist und getrunken habe,« entgegnete der Graf. »Sei so gütig, Percival, mich in Rücksicht auf meine ausländischen Gewohnheiten zu entschuldigen, wenn ich mit den Damen den Tisch verlasse, wie ich mit ihnen Platz daran genommen.«
»Unsinn! Ein Glas Bordeaux mehr wird Dir keinen Schaden thun. Setze Dich wieder her, wie ein vernünftiger Engländer. Ich habe eine halbe Stunde ruhig mit Dir zu sprechen, und wir können das beim Weine thun.«
»Ich will mich mit Vergnügen ruhig mit Dir unterhalten, nur nicht jetzt und nicht beim Weine. Später, wenn Dir’s beliebt, später.«
»Sehr höflich!« sagte Sir Percival mit einem wüthendem Blicke, »sehr höfliches Benehmen, wahrhaftig, gegen einen Mann, bei dem man sich als Gast aufhält!«
Ich hatte ihn, während wir bei Tische saßen, den Grafen zu wiederholten Malen unruhig anblicken sehen und dabei bemerkt, daß der Graf seinen Blicken sorgfältig zu begegnen vermied. Dieser Umstand, gepaart mit Sir Percival’s Wunsche, sich ungestört mit dem Grafen zu unterhalten, und des Letzteren hartnäckige Weigerung, sich wieder zu ihm zu setzen, riefen mir Sir Percival’s Bitte von heute Nachmittag an seinen Freund, aus der Bibliothek zu ihm zu kommen, da er mit ihm zu sprechen habe, wieder ins Gedächtniß. Der Graf hatte die Erfüllung dieser Bitte um eine ungestörte Unterhaltung schon nachmittags verschoben, und jetzt, da sie zum zweiten Mal an ihn gerichtet wurde, verschob er sie abermals. Was immer der Gegenstand der beabsichtigten Unterredung sein mochte, für Sir Percival war derselbe jedenfalls von Wichtigkeit, und nach des Grafen Ansicht vielleicht gar ein gefährlicher, wenn man nach seinem offenbaren Widerstreben, sich ihm zu nähern, urtheilen durfte.
Diese Betrachtungen drängten sich mir auf, während wir vom Eßzimmer in den Salon gingen. Sir Percival’s zornige Bemerkung darüber, daß sein Freund ihn allein ließ, hatte nicht die geringste Wirkung auf ihn gehabt. Der Graf begleitete uns beharrlich an den Theetisch, blieb ein paar Minuten im Zimmer, ging dann in den Vorsaal hinaus und kehrte mit der Posttasche in der Hand zurück. Es war gerade acht Uhr, die Stunde, um welche die Briefe von Blackwater Park abgesandt wurden.
»Haben Sie Briefe für die Post, Miß Halcombe?« frug er, mit der Posttasche zu mir hintretend.
Ich sah, wie die Gräfin, die den Thee machte, mit der Zuckerzange in der Hand still stand und auf meine Antwort lauschte.
»Nein, Graf, ich danke Ihnen. Ich habe heute keine Briefe;‹
Er gab dem Diener, der eben in die Stube trat, die Tasche, setzte sich an’s Clavier und wiederholte zweimal die Melodie eines munteren neapolitanischen Straßenliedes, »La mia Carolina.« Seine Frau, deren Bewegungen für gewöhnlich von der allergemessensten Art waren, machte den Thee so schnell, wie ich selbst ihn gemacht hätte, trank ihre Tasse in zwei Minuten und glitt leicht aus dem Zimmer. Ich stand auf, um ihr zu folgen; theils, weil ich sie im Verdacht hatte, daß sie irgend einen Verrath gegen Laura auszuüben im Sinne habe, und theils, weil ich entschlossen war, nicht mit ihrem Mann allein im Zimmer zu bleiben. Ehe ich noch die Thür erreichen konnte, rief der Graf mich durch die Bitte um eine Tasse Thee zurück. Ich reichte ihm dieselbe und versuchte wieder zu gehen. Er hielt mich abermals davon ab, diesmal, indem er plötzlich an’s Clavier zurückkehrte und eine musikalische Frage an mich richtete, die, wie er behauptete, die Ehre seines Landes betraf.
Ich berief mich vergebens auf meine totale Unkenntniß und meinen totalen Mangel an Urtheil in solchen Sachen. Er wiederholte seine Rede blos mit einer Heftigkeit, die jedem Widerstande von meiner Seite Trotz bot. Die Engländer und die Deutschen (erklärte er mit Entrüstung) schmähten stets die Italiener und beschuldigten sie, keine Musik höheren Ranges produciren zu können. Wir Engländer schwatzten beständig von unseren Oratorien und die Deutschen von ihren Symphonien. Hatten wir und hatten sie seinen unsterblichen Freund und Landsmann Rossini vergessen? Was anderes als ein Oratorium sei »Mose in Egitto«, nur mit dem Unterschiede, daß man es auf der Bühne aufführte, anstatt es kalt im Concertsaale abzusingen. Was anderes als eine Symphonie (unter einem anderen Namen) sei die Ouverture zum Guillaume Tell? Hatte ich den Moses in Egypten gehört? Wollte ich nur dies und dies und dies anhören und ihm dann sagen, ob je ein Sterblicher etwas Erhabeneres, Heiligeres und Großartigeres componirt habe? Und ohne ein Wort der Einwilligung oder der Weigerung von meiner Seite abzuwarten, und mir fortwährend fest ins Gesicht sehend, griff er in das Instrument und sang mit lauter und hoher Begeisterung, wobei er sich nur von Zeit zu Zeit unterbrach, um mir mit fortgesetzter Entrüstung die Namen der verschiedenen Musikstücke zuzurufen: »Chor der Egyptier in der Finsterniß, Miß Halcombe!« – »Moses’ Recitativ bei den Gesetzestafeln!« – »Gebet der Israeliten beim Durchgange durch’s rothe Meer. Aha! aha! ist das nicht etwa erhaben? ist das nicht etwa heilig?« Das Clavier erbebte unter seinen gewaltigen Händen, und die Theetassen tanzten auf dem Tische, als seine mächtige Baßstimme die Melodien donnerte und sein schwerer Fuß den Takt dazu stampfte. Es lag etwas wahrhaft Fürchterliches, etwas Wildes und Dämonisches in dem Ausbruche seines Entzückens über seinen eigenen Gesang und sein Spiel, und in dem Triumphe, mit welchem er die Wirkung desselben auf mich gewahrte, als ich mich näher nach der Thür hin zurückzog. Endlich aber wurde ich erlöst, doch nicht durch meine eigene Anstrengung, sondern durch Sir Percival’s Dazwischenkunft. Er öffnete die Thür des Eßzimmers und rief zornig hinein, »was der verwünschte Lärm bedeuten solle.« Der Graf erhob sich augenblicklich vom Clavier. »Ah! wenn Percival kommt,« sagte er, »so hat sowohl Harmonie wie Melodie ein Ende. Die Muse der Musik flieht voll Entsetzen, Miß Halcombe, und ich, der dicke alte Troubadour, athme den Rest meiner Begeisterung in der freien Luft aus!« Er schritt auf die Veranda hinaus, steckte seine Hände in die Taschen und wiederholte draußen im Garten mit leiser Stimme Moses’ Recitativ.
Ich hörte, wie Sir Percival ihm durch das Fenster des Eßzimmers zurief. Aber er beachtete es nicht: er schien entschlossen, nicht zu hören. Die lange verschobene ruhige Unterredung sollte noch immer verschoben bleiben, es sollte gewartet werden, bis es dem Grafen belieben würde, sie zu genehmigen.«
Er hatte mich beinahe eine halbe Stunde von dem Augenblicke, wo seine Frau uns verlassen, im Salon zurückgehalten. Wo war sie inzwischen gewesen und was hatte sie gethan?
»Ich ging hinaus, um mich davon zu überzeugen, doch entdeckte ich Nichts, und als ich Laura frug, fand ich, daß auch sie nichts gehört hatte. Es hatte sie Niemand gestört, sie hatte nicht das leiseste Rauschen eines seidenen Kleides vernommen, weder im Vorzimmer noch im Corridor.
Es fehlten jetzt zwanzig Minuten an neun Uhr. Nachdem ich in mein Zimmer gegangen, um mein Tagebuch zu holen, kehrte ich zu Laura zurück, wo ich schrieb und von Zeit zu Zeit inne hielt, um mit ihr zu reden. Es störte uns Niemand, und es ereignete sich Nichts. Wir blieben bis zehn Uhr zusammen. Dann stand ich auf, sprach ein paar letzte ermuthigende Worte und wünschte ihr gute Nacht. Sie verschloß ihre Thür wieder, nachdem wir übereingekommen waren, daß ich morgen, sobald ich aufgestanden, gleich zu ihr kommen solle.
Ich hatte, ehe ich selbst schlafen ging, noch einige wenige Sätze zu dem bereits in meinem Tagebuche Eingetragenen hinzuzufügen, und als ich in den Salon hinunterging, nachdem ich Laura an diesem traurigen Tage zum letztenmale verlassen, beschloß ich, mich dort nur zu zeigen, um, meine Entschuldigung zu machen, indem ich mich heute eine Stunde früher als gewöhnlich zurückzöge.
»Ich fürchte, Sie befinden sich nicht ganz so wohl, wie gewöhnlich, Gräfin?« sagte ich.
»Ganz dieselbe Bemerkung, die ich von Ihnen zu machen im Begriffe war, meine Liebe.«, entgegnete sie.
Meine Liebe! Es war das erste Mal, daß sie sich dieses vertraulichen Ausdruckes gegen mich bediente! Auch lauerte in ihren Zügen ein impertinentes Lächeln, als sie sprach.
»Ich habe mein böses Kopfweh«, sagte ich kalt.
»Ach wirklich? Sie machen sich wahrscheinlich nicht Bewegung genug? Ein Spaziergang vor Tische würde Ihnen gewiß gut gethan haben.« Sie sprach dies mit seltsamem Nachdrucke. Hatte sie mich etwa ausgehen sehen? Einerlei – die Briefe waren jetzt sicher in Fanny’s Händen.
»Komm’ und laß uns eine Cigarre zusammen rauchen, Fosco«, sagte Sir Percival aufstehend und mit wiederholtem unruhigen Blicke auf seinen Freund.
»Mit Vergnügen, Percival, sobald die Damen sich zurückgezogen haben werden«, entgegnete der Graf.
»Entschuldigen Sie mich, Gräfin, wenn ich Ihnen hierin das Beispiel gebe«, sagte ich. »Das einzige Heilmittel für ein solches Kopfweh, wie das meinige, ist im Schlafengehen.«
Ich verabschiedete mich. Als ich ihr die Hand gab, sah ich dasselbe impertinente Lächeln in ihrem Gesicht. Sir Percival nahm keine Notiz von mir. Er blickte ungeduldig nach der Gräfin, die keine Anstalten machte, das Zimmer mit mir zu verlassen. Der Graf lächelte hinter seinem Buche vor sich hin. Die ungestörte Unterredung mit Sir Percival war nochmals verschoben, und die Gräfin war diesmal das Hinderniß.
Sobald ich in meinem Zimmer anlangte, öffnete ich diese Blätter und schickte mich an, den mir noch übrig bleibenden Theil meines Tagesberichtes niederzuschreiben.
Etwa zehn Minuten oder etwas länger saß ich müßig mit der Feder in der Hand da und ging in Gedanken die letztverflossenen zwölf Stunden wieder durch. Als ich meine Aufgabe endlich beginnen wollte, wurde mir dies so schwer, wie es noch nie zuvor der Fall gewesen war. Ungeachtet meiner Bemühungen, meine Gedanken auf meine Beschäftigung zu heften, wanderten dieselben mit der seltsamsten Hartnäckigkeit immer wieder in der Richtung von Sir Percival und dem Grafen von ihr ab, und das ganze Interesse, das ich auf mein Tagebuch zu concentriren versuchte, richtete sich statt dessen auf die Privatunterredung zwischen ihnen; die den ganzen Tag verschoben war und jetzt in der Einsamkeit der Nacht stattfinden sollte.
In diesem widerspenstigen Geisteszustande war ich nicht im Stande, mich klar dessen zu erinnern, was sich seit dem Morgen zugetragen hatte, und es blieb mir nichts Anderes übrig, als mein Tagebuch zu schließen und es eine kleine Weile ruhen zu lassen.
Ich öffnete die Thüre, welche von meinem Schlafzimmer in mein Wohnzimmer führte, und zog sie wieder hinter mir zu, um, da das Licht auf meinem Toilettentische brannte, etwaiger Feuersgefahr welche durch den Zug entstanden wäre, vorzubeugen. Das Fenster in meiner Wohnstube war offen, und ich lehnte mich gedankenlos hinaus, um in die Nacht zu schauen.
Alles war dunkel und stille. Es waren weder Mond noch Sterne sichtbar. In der stillen, schweren Luft war ein Geruch wie von Regen, und ich streckte die Hand hinaus, um ihn zu fühlen. Doch nein. Der Regen drohte erst – er war noch nicht gekommen.
Ich blieb fast eine Viertelstunde so aus dem Fenster gelehnt und sah in die schwarze Finsterniß hinaus. Es war Nichts zu hören, außer hin und wieder die Stimmen der Diener, oder der ferne Schall einer Thüre, die im untern Theile des Hauses geschlossen wurde.
Eben als ich im Begriffe war, mich ermüdet vom Fenster abzuwenden und in mein Schlafzimmer zurückzukehren, um nochmals einen Versuch zu machen, meinen Tagesbericht zu vollenden, verspürte ich plötzlich einen Tabaksgeruch, der sich auf der schweren Nachtluft zu mir emporstahl.
Im nächsten Augenblicke sah ich in der dichten Finsterniß einen kleinen rothen Funken vom andern Ende des Hauses herkommen. Ich hörte keine Schritte und konnte Nichts weiter sehen, als den Funken. Dieser wanderte in der Nacht daher, ging an dem Fenster vorüber, an welchem ich stand, und blieb dem meines Schlafzimmers gegenüber stehen, wo ich das Licht auf meinem Toilettentische hatte brennen lassen.
Der Funken blieb einen Augenblick unbeweglich, dann bewegte er sich nach derselben Richtung hin zurück, in der er gekommen war. Als ich ihm mit den Augen folgte, sah ich einen zweiten rothen Funken, etwas größer als den ersten, aus der Ferne herankommen. Beide begegneten sich in der Dunkelheit. Indem ich mich erinnerte, wer Cigarren und wer Cigarretten rauchte, schloß ich augenblicklich, daß der Graf zuerst herausgekommen, um unter meinem Fenster zu beobachten und zu horchen, und daß Sir Percival ihm später gefolgt sei. Sie mußten Beide auf dem Rasen gegangen sein, sonst hätte ich sicher Sir Percival’s schwere Schritte hören müssen, obgleich des Grafen leichter Tritt meinem Ohre selbst auf dem Kieswege hätte entgehen können.
Ich wartete ruhig am Fenster, überzeugt, daß sie mich in der Dunkelheit des Zimmers nicht sehen würden·
»Was giebt’s,« hörte ich Sir Percival mit leiser Stimme sagen. »Warum kommst Du nicht herein und setzest Dich ruhig zu mir?«
»Ich muß das Licht in diesem Zimmer da erst auslöschen sehen«, entgegnete der Graf leise.
»Was kann Dir das Licht schaden?«
»Es beweist, daß sie noch nicht zu Bette gegangen ist. Sie ist schlau genug, um etwas zu argwöhnen, und verwegen genug, um herunterzukommen und zu horchen, wenn sie es möglich machen kann. Geduld, Percival, Geduld.«
»Unsinn! Mit Deinem ewigen Geschwätz von Geduld!«
»Ich werde in wenigen Minuten von etwas Anderem reden. Mein guter Freund, Du stehst am Rande Deines häuslichen Abgrundes, und falls ich es zulasse, daß Du den Frauen noch eine einzige Gelegenheit dazu giebst, auf mein heiliges Ehrenwort! da werden sie Dich hinabstoßen.«
»Was zum Henker willst Du damit sagen?«
»Wir wollen unsere Erklärungen anfangen, Percival, sobald das Licht da aus dem Fenster verschwunden sein wird, und ich einen kleinen Blick in die Stuben zu beiden Seiten der Bibliothek und auf die Treppe geworfen habe.«
Sie bewegten sich langsam fort, und ihre Unterhaltung (welche durchweg in demselben leisen Tone geführt worden) wurde mir unhörbar. Doch war dies einerlei. Ich hatte genug gehört, um den Entschluß zu fassen, des Grafen Meinung von meiner Schlauheit und Verwegenheit zu rechtfertigen. Ehe mir noch die beiden rothen Funken aus dem Gesichte waren, hatte ich bereits bei mir selbst bestimmt, daß jene Beiden bei ihrer Unterhaltung einen Zuhörer haben sollten, und daß, ungeachtet aller Vorsichtsmaßregeln des Grafen dies zu verhüten, ich selbst dieser Zeuge sein werde. Ich bedurfte nur eines einzigen Beweggrundes, um eine solche Handlung in meinem Gewissen zu billigen und mir den Muth zu geben, sie auszuführen, und diesen Beweggrund hatte ich. Laura’s Ehre, Laura’s Glück und vielleicht Laura’s Leben sogar mochten in dieser Nacht von meinem scharfen Gehöre und meinem treuen Gedächtnisse abhängen.
Ich hatte den Grafen sagen hören, daß er die Zimmer zu beiden Seiten der Bibliothek sowohl, wie die Treppe untersuchen werde, ehe er sich mit Sir Percival auf Erklärungen einließe. Dies genügte natürlich, um mich seine Absicht verstehen zu lassen, daß er nämlich die Bibliothek als den Ort für die bevorstehende Unterredung gewählt hatte. Die eine Minute, in der ich zu diesem Schlusse gekommen, hatte genügt, mir auch zugleich das Mittel zu zeigen, wie ich seine Vorsichtsmaßregeln vereiteln konnte, oder mit anderen Worten, wie ich würde hören können, was er mit Sir Percival sprach, ohne überhaupt in den untern Theil des Hauses hinunter zu gehen.
In meiner Beschreibung der Zimmer im Erdgeschosse habe ich einer Veranda erwähnt, auf die man vermittelst französischer Fenster (oder Flügelfenster) hinaustrat, welche vom Karnieß auf den Boden reichten. Das Dach dieser Veranda war ein flaches, und das Regenwasser wurde durch Röhren davon ab und in Gruben geleitet welche das Haus mit Wasser versehen halfen. Auf dem schmalen Bleidache, welches sich vor den Schlafstuben hinzog und das, glaube ich, etwas weniger als drei Fuß unter den Fenstern lag, stand eine Reihe von Blumentöpfen in großen Zwischenräumen aufgestellt, welche durch ein zierliches Eisengitter am äußeren Rande des Daches davor geschützt war, vom Winde umgeworfen zu werden.
Der Plan, der mir nun eingefallen, war: durch mein Wohnstubenfenster auf dieses Dach zu steigen, geräuschlos darauf entlang zu schleichen, bis ich an die Stelle kam, die sich unmittelbar über dem Bibliothekzimmer befand, und dann zwischen den Blumentöpfen und mit dem Ohre am Eisengitter niederzukauern. Falls Sir Percival und der Graf sich heute Abend zum Rauchen hinsetzten, wie ich sie schon manchen Abend hatte sitzen sehen, nämlich dicht an den offenen Fenstern, wobei ihre Füße auf den gußeisernen Gartensesseln ruhten, welche in der Veranda standen, so mußte jedes Wort, das sie lauter als im Flüstertone mit einander sprachen (und jeder Mensch weiß, daß eine lange Unterhaltung nicht im Flüstertone fortgesetzt werden kann) unfehlbar bis zu meinen Ohren dringen. Sollten sie aber heute Abend vorziehen, mehr im Inneren des Zimmers zu sitzen, so hatte ich Aussicht, wenig oder Nichts zu hören, und mußte in diesem Falle die weit ernstlichere Gefahr laufen, sie unten zu überlisten zu suchen.
So sehr ich mich auch durch das Verzweifelte unserer Lage in meinem Entschlusse bestärkt fühlte, so hoffte ich doch von ganzem Herzen, dieser letzteren Nothwendigkeit zu entgehen. Mein Muth war doch immer nur Frauenmuth, und er verließ mich beinahe, als ich daran dachte, mich in stiller Nacht ins Erdgeschoß hinunter zu wagen und der Möglichkeit auszusetzen, von Sir Percival und dem Grafen überrascht zu werden.
Ich kehrte leise in mein Schlafzimmer zurück, um das weniger gefährliche Experiment auf dem Dache der Veranda zuerst zu versuchen.
Eine vollständige Veränderung in meinem Anzuge war unumgänglich nothwendig, und zwar aus verschiedenen Gründen. Ich legte erstens mein seidenes Kleid ab, weil das geringste Rauschen desselben mich in der stillen Nacht verrathen hätte; dann die weißen und schwerfälligen Unterkleider, an deren Stelle ich einen Rock von dunklem Wollenzeuge anzog und darüber einen dunklen Reisemantel, dessen Kappe ich über den Kopf zog. In meiner gewöhnlichen Abendtoilette nahm ich Raum für wenigstens drei Männer ein, in meinem gegenwärtigen Costume dagegen hätte ich jedem Manne durch die engsten Räume folgen können. Der geringe Raum auf dem Dache der Veranda zwischen den Blumentöpfen und den Fenstern des Hauses machte dies zur unerläßlichen Bedingung. Wer konnte sagen, was die Folgen sein würden, falls ich irgend Etwas umstieß oder das geringste Geräusch machte?
Nachdem ich Zündhölzchen neben das Licht gestellt, löschte ich dasselbe aus und schlich im Finstern wieder in mein Wohnzimmer zurück. Ich verschloß die Thüre, wie ich schon die meines Schlafzimmers verschlossen hatte, dann stieg ich leise aus dem Fenster und setzte die Füße vorsichtig auf die Bleiplatten der Veranda. Meine beiden Zimmer lagen an dem inneren Ende des neuen Flügels, welchen wir Alle bewohnten, und ich mußte an fünf Fenstern vorbei, um zu der Stelle zu gelangen, die unmittelbar über der Bibliothek lag. Das erste Fenster war das eines Fremdenzimmers, welches augenblicklich unbewohnt war. Die beiden nächstfolgenden gehörten zu Laura’s, das vierte zu Sir Percival’s und das fünfte zum Zimmer der Gräfin. Die übrigen, an denen ich nicht mehr vorbei zu gehen brauchte, waren die Fenster in des Grafen Ankleidezimmer, der Badestube und der zweiten leeren Fremdenstube.
Kein Laut ließ sich vernehmen – tiefe Finsterniß umgab mich, als ich die Füße auf die Veranda gesetzt hatte, ausgenommen an der Stelle, über welcher das Fenster der Gräfin lag. Da, gerade an der Stelle über der Bibliothek, wo ich meinen Posten nehmen mußte, gerade da sah ich einen Lichtstrahl. Die Gräfin war noch nicht zu Bette gegangen.
Es war zu spät, um umzukehren, und keine Zeit, um zu warten. Ich beschloß, auf alle Gefahr hin weiter zu schreiten und meiner Vorsicht und der Dunkelheit der Nacht zu vertrauen. »Es geschieht für Laura!« dachte ich bei mir selbst, indem ich den ersten Schritt auf dem Dache vorwärts that, wobei ich mit der einen Hand meinen Mantel fest um mich hielt und mit der anderen meinen Weg an der Wand entlang fühlte. Lieber konnte ich mit den Kleidern an die Wand streifen, als mich der Gefahr aussetzen, mit den Füßen an die Blumentöpfe zu stoßen, welche nur wenige Zoll auf der anderen Seite von mir entfernt waren.
Ich ging an dem dunklen Fenster des Fremdenzimmers vorüber, indem ich, ehe ich es wagte, mit meinem ganzen Gewichte auf dem Bleidache zu ruhen, erst mit dem Fuße die Sicherheit desselben untersuchte. Dann kam ich an Laura’s dunklem Fenster vorbei (»o, Gott, segne sie und erhalte sie in dieser Nacht!«) und dann an Sir Percival’s dunklem Fenster. Dann aber stand ich einen Augenblick still; darauf kniete ich nieder, stützte mich mit den Händen auf den Boden und kroch so unter dem Schutze der niedrigen Mauer zwischen dem Dache der Veranda und dem hellen Fenster unter dem Letzteren dahin.
Als ich zum Fenster hinauf zu blicken wagte, sah ich, daß nur das obere Fenster offen und das Rouleau inwendig herabgelassen war. Während ich noch hinschaute, sah ich den Schatten der Gräfin auf dem weißen Felde des Rouleau’s vorübergleiten und dann langsam wieder zurückschweben. Bis hierher konnte sie mich noch nicht gehört haben, oder der Schatten hätte sicherlich am Rouleau stille gestanden, selbst wenn es ihr an Muth gefehlt hätte, aus dem Fenster zu sehen.
Ich stellte mich mit der Seite gegen das Eisengitter, nachdem ich mich zuvor, indem ich nach ihnen fühlte, von der Stellung der Blumentöpfe unterrichtet hatte. Es war gerade Raum genug, daß ich zwischen ihnen niederkauern konnte. Die duftenden Blüthen zu meiner Linken streiften mein Gesicht, als ich leise den Kopf an das Gitter legte.
Die ersten Laute, welche von unten zu mir heraufdrangen, wurden durch das Oeffnen oder Schließen (wahrscheinlich das letztere) dreier Thüren nacheinander verursacht – ohne Zweifel der des Vorsaals und der zwei anderen, die von der Bibliothek in die daneben liegenden Zimmer führten, welche der Graf sich zu untersuchen anheischig gemacht hatte. Das Nächste, was ich sah, war wieder der Funke, welcher abermals in der Dunkelheit unter der Veranda hervorkam, nach meinem Fenster hin schwebte, einen Augenblick dort wartete und dann zu der Stelle zurückkehrte, von welcher er ausgegangen war.
»Zum Henker mit Deiner Unruhe! Wann gedenkst Du Dich einmal zu setzen?« brummte Sir Percival’s Stimme unter mir.
»Puh! Welch eine Hitze!« sagte der Graf mit einem Seufzer der Erschöpfung.
Seinem Ausrufe folgte das Knirschen der Gartenstühle auf dem Pflaster der Veranda, welches aus Kieselsteinen besteht – ein willkommenes Geräusch, daß mir sagte, daß sie sich, wie gewöhnlich, dicht an’s Fenster zu setzen im Begriff waren. Bis hierher war das Glück mir günstig. Die Uhr im Thurme schlug ein Viertel vor zwölf, als sie sich auf ihren Plätzen niederließen. Ich hörte durch’s Fenster, wie die Gräfin gähnte, und sah dann ihren Schatten nochmals auf dem weißen Felde des Rouleau’s hinschweben.
Inzwischen fingen Sir Percival und der Graf unten ihre Unterhaltung an, indem ihre Stimmen hin und wieder etwas leiser wurden, aber nie bis zum Flüstern sanken. Die Seltsamkeit und Gefahr meiner Lage, sowie die Furcht vor der Gräfin erleuchtetem Fenster, welche ich nicht bemeistern konnte, machten es mir schwer, ja fast unmöglich, gleich zu Anfang meine Geistesgegenwart zu behalten und meine Aufmerksamkeit ausschließlich auf die unten vor sich gehende Unterhaltung zu richten. Während einiger Minuten gelang es mir bloß, den allgemeinen Inhalt derselben zu erfassen. Ich verstand, daß der Graf sagte, das eine helle Fenster sei das seiner Frau; daß im Erdgeschosse Alles ruhig sei, und sie sich jetzt ohne Furcht vor Störung oder Unfall unterhalten könnten. Sir Percival antwortete hierauf, indem er seinem Freunde vorwarf, den ganzen Tag auf die unverantwortlichste Weise seine Wünsche unberücksichtigt gelassen und sein Interesse vernachlässigt zu haben, wogegen der Graf sich vertheidigte, indem er erklärte, daß er von gewissen Unruhen und Besorgnissen erfüllt gewesen, die seine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch genommen hätten, und daß seiner Ansicht nach die einzige sichere Zeit zu einer Unterredung zwischen ihnen die sei, wo sie weder Störer, noch Lauscher zu befürchten hätten. »Wir stehen vor einer wichtigen Krisis in unseren Angelegenheiten, Percival,« sagte der Graf, »und wenn wir überhaupt einen Entschluß über die Zukunft fassen wollen, so muß dies heimlich in dieser Nacht geschehen.«
Diese Rede des Grafen war das Erste, was meine Aufmerksamkeit gerade so, wie sie gesprochen wurde, zu erfassen vermochte. Von diesem Punkte an heftete sich mein ganzes Interesse mit gewissen kurzen Unterbrechungen fest und athemlos auf die Unterhaltung, und ich folgte ihr Wort für Wort.
»Krisis?« wiederholte Sir Percival, »Ja, und zwar eine schlimmere Krisis, als Du Dir denkst, kann ich Dir sagen!«
»So sollte man nach Deinem Betragen während der letzten paar Tage allerdings vermuthen«, entgegnete der Andere trocken. »Aber warte einen Augenblick. Ehe wir zu dem schreiten, was ich nicht weiß, laß uns ganz klar darüber sein, was ich weiß. Laß uns erst sehen, ob ich in Bezug auf die Vergangenheit vollkommen unterrichtet bin, ehe ich Dir Vorschläge über die Zukunft mache.«
»Warte, bis ich erst den Rum und das Wasser bringe. Trinke auch ein Glas.«
»Ich danke Dir, Percival. Frisches Wasser mit Vergnügen, dazu einen Löffel und etwas Zucker. Zuckerwasser, mein Freund, Nichts weiter.«
»Zuckerwasser für einen Mann in Deinen Jahren! – Da! mach Dir Deine abscheuliche Mischung. Ihr Ausländer seid doch Einer wie der Andere.«
»Jetzt höre mich an, Percival; ich will Dir unsere Lage so klar vorlegen, wie ich sie verstehe, und dann sollst Du mir sagen, ob ich Recht oder Unrecht habe. Wir Beide kehrten vom Festlande in dieses Haus zurück in Geldverlegenheiten sehr ernster Natur –«
»Mach’s kurz! Ich brauchte einige Tausende und Du einige Hunderte, und ohne das Geld hatten wir Beide die schönste Aussicht, schmählich auf den Hund zu kommen. Das ist unsere Lage. Mache d’raus, was Du kannst, und fahre fort.«
»Nun gut, Percival, wie Du Dich in Deinem soliden Englisch ausdrückst: Du brauchtest einige Tausende und ich einige Hunderte, und die einzige Art und Weise, sie zu erhalten, war die, das Geld mit Hülfe Deiner Frau für Deine eigenen Bedürfnisse aufzunehmen (mit einem schmalen Rande für meine armen kleinen Hunderte). Was habe ich Dir auf unserm Heimwege nach England über Deine Frau gesagt? und was habe ich Dir gesagt, als wir hierher kamen und ich selbst im Stande war zu beurtheilen, was für eine Art von Charakter Miß Halcombe sei?«
»Was weiß ich davon? Du hast natürlich wie gewöhnlich Alles in Grund und Boden geschwatzt.«
»Ich sagte dies: der menschliche Scharfsinn, mein Freund, hat bis dato erst zweierlei Weisen entdeckt, in denen ein Mann ein Weib regieren kann. Die eine derselben besteht darin, sie zu Boden zu schlagen, eine Methode, die unter der brutalen niedern Klasse des Volkes großen Anklang findet, den höheren und gebildeten Ständen aber im höchsten Grade ein Greuel ist. Die andere Weise (die viel langsamer, viel schwieriger ist, aber nichts destoweniger ebenso sicher zum Ziele führt) ist die, sich niemals durch ein Weib aufreizen zu lassen. Dies schlägt bei Thieren an und bei Kindern und Weibern, welche Letzteren nichts Anderes sind, als ausgewachsene Kinder. Ruhige Entschlossenheit ist diejenige Eigenschaft, die sowohl Thieren und Kindern, als den Frauen fehlt. Sowie es ihnen gelingt, diese überlegene Eigenschaft in ihrem Meister zu erschüttern, so bemeistern sie ihn. Falls ihnen aber dies niemals gelingt, so regiert er sie. Ich sagte zu Dir: Denke an diese einfache Wahrheit, wenn Du Dir durch Deine Frau das Geld verschaffen lassen willst. Ich sagte: Denke doppelt und dreifach daran in Gegenwart von der Schwester Deiner Frau, von Miß Halcombe. Hast Du daran gedacht? Nicht ein einziges Mal in all’ den Verwickelungen, die sich um uns herum gezogen haben, seitdem wir in diesem Hause sind. Du hast keine einzige Gelegenheit unbenutzt vorüber gehen lassen, Dich von Deiner Frau oder Miß Halcombe reizen zu lassen. Durch Deine tolle Heftigkeit verlorst Du die Unterschrift zum Documente, verlorst das baare Geld, triebst Miß Halcombe das erste Mal, an ihren Advokaten zu schreiben –«
»Das erste Mal? Was willst Du damit sagen«?
»Dies: Miß Halcombe hat heute zum zweiten Male an den Advokaten geschrieben.«
Unten auf dem Pflaster der Veranda fiel ein Stuhl um – mit einem Krachen, als ob er absichtlich wüthend umgestoßen oder geschleudert worden. Es war ein Glück für mich, daß des Grafen Mittheilung Sir Percival in diesem Grade in Wuth versetzte, denn als ich hörte, daß ich abermals verrathen, verließ mich im kritischen Augenblicke alle Selbstbeherrschung, und ich fuhr dermaßen zusammen, daß das Gitter, an das ich mich lehnte, laut krachte. Wie, in des Himmels Namen, hatte er dies erfahren? Die Briefe hatten meine Tasche keine Sekunde verlassen, bis ich sie im Wirthshause Fanny’s Händen übergab.
»Du kannst Deinem Glücksterne danken, daß Du mich im Hause hast«, hörte ich den Grafen sagen, »um das Unheil ebenso schnell wieder gut zu machen, wie Du es anrichtest. Danke Deinem Glückssterne, daß ich Nein sagte, als Du tollerweise davon sprachst, Miß Halcombe einzusperren, wie Du in Deiner unheilvollen Narrheit schon Deine Frau eingesperrt hattest. Wo hast Du Deine Augen? Kannst Du Miß Halcombe anschauen und nicht sehen, daß sie die Entschlossenheit und Umsicht eines Mannes besitzt? Hätte ich das Weib zur Freundin, da schlüge ich der ganzen Welt ein Schnippchen. Da sie aber meine Feindin ist, so wandle ich, Fosco, der ich schlau bin wie der Teufel selbst – wie Du mir zu hunderten von Malen wiederholt hast – auf Eierschalen, wie Ihr in England sagt! Und dieses superbe Weib – ich trinke ihr Wohlsein hiermit in Zuckerwasser – dieses superbe Weib, das in der Kraft seiner Liebe und seines Muthes fest wie ein Felsen zwischen uns Beiden und Deiner erbärmlichen, hübschen Blondine von Frau steht – dieses herrliche Wesen, das ich von ganzer Seele bewundere, obgleich ich ihm in Deinem Interesse und dem meinigen entgegenarbeite, treibst Du auf’s Aeußerste, als ob es um Nichts schlauer oder kühner wäre als die Uebrigen seines Geschlechts. Percival! Percival! Du verdienst, daß es Dir mißlänge, und es ist Dir mißlungen.«
Es trat eine Pause ein. Ich schreibe des Elenden Worte über mich selbst, weil ich sie nicht vergessen will, und weil ich noch auf den Tag hoffe, an welchem ich werde sprechen und sie ihm Wort für Wort in die Zähne zurückwerfen können.
Sir Percival war der Erste, welcher das Schweigen wieder brach.
»Ja wohl; Du magst bramarbasiren und poltern, soviel Du Lust hast«, sagte er mürrisch; »die Geldverlegenheit ist nicht unsere einzige Schwierigkeit. Du würdest ebenfalls für strenge Maßregeln mit den Weibern sein, wenn Du wüßtest, was ich weiß.«
»Wir wollen seiner Zeit auch auf diese zweite Schwierigkeit kommen«, fuhr der Graf fort. »Du magst Dich selbst nach Belieben verwirrt machen, Percival, mich aber mußt Du damit verschonen. Laß uns zuerst die Geldfrage erledigen. Habe ich Dich von Deiner Halsstarrigkeit überzeugt? Habe ich Dir’s klar gemacht, daß Deine Heftigkeit Dir nichts helfen wird? Oder muß ich wieder von vorn anfangen und (wie Du Dich in Deinem geliebten, offenen Englisch ausdrückst) noch ein wenig mehr bramarbasiren und poltern?«
»Bah! Es ist leicht genug, über mich zu schelten. Sage lieber, was dabei zu thun ist, das ist doch ein wenig schwerer.«
»So? meinst Du? Bah! Dies ist dabei zu machen: Du giebst von heute Abend an die ganze Leitung der Sache in meine Hände und überläßt sie ihnen für die Zukunft. Ich spreche zu einem praktischen Britten, wie? Nun, praktischer Britte, was sagst Du dazu?«
»Was beabsichtigst Du zu thun, falls ich es Dir überlasse?«
»Beantworte mir erst meine Frage. Giebst Du die Sache in meine Hände oder nicht?«
»Angenommen, sie wäre in Deinen Händen – was dann?«
»Erlaube mir erst ein paar Fragen, Percival; ich muß ein wenig warten, um mich durch die Umstände leiten zu lassen, und muß nach jeder Richtung hin wissen, welcher Art diese Umstände wahrscheinlicherweise sein können. Es ist keine Zeit zu verlieren. Ich habe Dir bereits gesagt, daß Miß Halcombe heute schon zum zweiten Male an den Advocaten geschrieben hat.«,
»Wie bist Du dahinter gekommen? Was hat sie ihm geschrieben?«
»Wenn ich Dir das erzählte, Percival, so würden wir am Ende nur zu dem Punkte zurückkommen, an dem wir jetzt stehen. Genüge es, daß ich dahinter gekommen bin, und die Mittel hierzu waren es, die mich den ganzen Tag mit Besorgniß erfüllten und zugleich mich Dir so unzugänglich machten. Jetzt aber gilt es, mein Gedächtniß in Bezug auf Deine Angelegenheiten aufzufrischen, es ist schon ziemlich lange her, daß ich mit Dir darüber sprach. Das Geld ist in Ermangelung der Unterschrift von Deiner Frau vermittelst Wechsel, die in drei Monaten fällig werden, aufgenommen worden, und zwar mit einem Verluste, daß sich bei dem Gedanken daran mein armes ausländisches Haar sträubt! Wenn nun diese Wechsel fällig werden, giebt es dann wirklich und wahrhaftig in der ganzen Welt kein anderes Mittel für Dich, sie zu bezahlen, als mit Hülfe Deiner Frau?«
»Keins.«
»Was! Hast Du gar kein Geld bei Deinem Banquier?«
»Ein paar hundert Pfund, für die ich gerade so viele Tausend gebrauche.«
»Hast Du keine einzige andere Sicherheit zu bieten, auf die Du borgen könntest?«
»Keinen Fetzen!«
»Was hast Du in der Wirklichkeit augenblicklich mit Deiner Frau bekommen?«
»Nichts als die Zinsen von ihren zwanzigtausend Pfund – kaum genug für unsere täglichen Ausgaben.«
»Was hast Du noch von ihr zu erwarten?«
»Dreitausend Pfund jährliche Renten, wenn ihr Onkel stirbt.«
»Ein hübsches Vermögen, Percival. Was für eine Art von Mensch ist dieser Onkel? Alt?«
»Nein – weder alt noch jung.«
»Ein munterer, gut lebender Mann? Verheirathet? Nein – mich dünkt, meine Frau hat mir gesagt, daß er nicht verheirathet ist.«
»Natürlich nicht. Wenn er verheirathet wäre und einen Sohn hätte, so wäre ja Lady Glyde nicht die nächste Erbin der Güter. Ich will Dir sagen, was er ist. Er ist ein kläglicher, egoistischer Narr und langweilt alle Leute, die ihm zu nahekommen, mit seinem Gesundheitszustande zu Tode.«
»Die Art Leute leben lange, Percival, und wenn man es am wenigsten erwartet, heirathet er aus reiner Bosheit. Ich gebe Dir nicht viel für Deine Aussicht auf die Dreitausend des Jahres, mein Freund. Bringt Deine Frau Dir sonst Nichts mit?‹
»Nichts.«
»Durchaus gar Nichts?«
»Durchaus gar Nichts – ausgenommen falls sie stirbt«
»Aha! falls sie stirbt also?«
Es trat nochmals eine Pause ein. Der Graf trat von der Veranda auf den Kiesweg hinaus. Ich konnte dies nach seiner Stimme beurtheilen. »Da ist endlich der Regen,« hörte ich ihn sagen. In der That, es hatte zu regnen angefangen. Der Zustand meines Mantels bewies mir, daß es bereits eine kleine Weile ziemlich heftig geregnet haben mußte.
Der Graf kehrte unter die Veranda zurück, ich hörte den Stuhl unter seinem Gewichte knarren, als er seinen Platz wieder einnahm.
»Nun, Percival,« sagte er, und was bekommst Du, falls Lady Glyde stirbt?«
»Wenn sie keine Kinder hinterläßt –«
»Was nicht wahrscheinlich ist?«
»Was im höchsten Grade wahrscheinlich ist –«
»Nun?«
»Nun, dann bekomme ich ihre zwanzigtausend Pfund.«
»Baar ausgezahlt?«
»Baar ausgezahlt.«
Sie schwiegen abermals. Als ihre Stimmen aufhörten, verdunkelte der Schatten der Gräfin nochmals das Rouleau. Anstatt aber vorüber zu gleiten, blieb er diesmal stehen. Ich sah ihre Finger sich um die eine Kante des Rouleaus stehlen und dasselbe zur Seite ziehen. Der undeutliche, blasse Umriß ihres Gesichtes erschien gerade über mir hinter dem Fenster – ich verhielt mich ganz ruhig, vom Kopf bis zu den Füßen in meinen schwarzen Mantel gehüllt. Der Regen, welcher mich durchnäßte, schlug an das Fenster und verwehrte ihr die Aussicht. »Noch mehr Regen!« hörte ich sie zu sich selbst sprechen. Dann ließ sie das Rouleau wieder fallen, und ich athmete freier.
Unten wurde die Unterhaltung fortgesetzt, diesmal aber vom Grafen wieder aufgenommen.
»Percival! hältst Du viel von Deiner Frau?«
»Fosco! Die Frage scheint mir sehr offen.«
»Ich bin ein offener Mann und wiederhole sie.«
»Was, zum Henker, siehst Du mich so an?«
»Du willst mir nicht antworten? Nun denn, wir wollen annehmen, Deine Frau stürbe, ehe der Sommer vorüber ist –«
»Laß das, Fosco!«
»Nehmen wir an, Deine Frau stürbe –«
»Laß das, sage ich Dir!«
»In dem Falle würdest Du zwanzigtausend Pfund gewinnen; und verlieren würdest Du –«
»Die Aussicht auf dreitausend Pfund jährliche Renten.«
»Die entfernte Aussicht, Percival – nur die entfernte Aussicht. Und Du brauchst sofort Geld. Der Gewinn ist in Deiner Lage gewiß – der Verlust zweifelhaft.«
»Sprich für Dich sowohl, als für mich. Ein Theil des Geldes, das ich brauche, wurde für Dich geborgt. Und wenn Du doch von Gewinn sprichst, so würde der Tod meiner Frau der Deinigen zehntausend Pfund in die Tasche spielen. So pfiffig Du auch bist, so scheinst Du doch bei dieser Gelegenheit das Legat der Gräfin Fosco vergessen zu haben. Sieh mich nicht so an! Ich verbitte es mir! Es überläuft mir die Haut wahrhaftig ganz eisig bei Deinen Blicken und Reden!«
»Die Haut? Bedeutet Haut etwa im Englischen: Gewissen? Ich spreche von dem Tode Deiner Frau, wie von einer Möglichkeit. Und warum wohl nicht? Die achtungswerthen Advocaten, die Eure Urkunden und Testamente kritzeln und kratzen, sehen doch dem Tode lebender Leute gerade ins Gesicht. Machen Die Euch die Haut schaudern? Warum sollte ich sie Dir also schaudern machen? Ich habe es mir heute Abend zur Aufgabe gemacht, mir Deine Lage so auseinanderzusetzen, daß ich kein Versehen machen kann, und jetzt bin ich damit zu Ende. Dies ist Deine Lage: falls Deine Frau am Leben bleibt, so bezahlst Du jene Wechsel mit ihrer Unterschrift. Stirbt sie, so bezahlst Du sie mit ihrem Tode.«
Während er sprach, erlosch das Licht im Zimmer der Gräfin, und die ganze zweite Etage des Hauses lag jetzt in Dunkelheit da.
»Wie Du faselst!« brummte Sir Percival; »wenn man Dich anhört, sollte man denken, daß wir die Unterschrift meiner Frau bereits in der Tasche hätten.«
»Du hast die Sache in meine Hände gegeben,« entgegnete der Graf; ich habe mehr als zwei Monate vor mir, um mich umschauen zu können. Sprich für jetzt nicht weiter darüber. Sobald die Wechsel fällig werden, wirst Du sehen, ob mein ›Faseln‹ zu Etwas nütze ist, oder nicht. Und jetzt, Percival, da die Geldgeschäfte für heute Abend abgemacht sind, stelle ich Dir meine Aufmerksamkeit zu Diensten, falls Du mich über jene zweite Schwierigkeit zu Rathe zu ziehen wünschest, die sich in unsere kleinen Verlegenheiten gemischt und Dich seit Kurzem so ungünstig verändert hat, daß ich Dich kaum wieder erkenne. Sprich, mein Freund, und verzeihe mir, wenn ich nochmals Deine hitzigen nationalen Gefühle verletze, indem ich mir noch ein Glas Zuckerwasser mische.«
»Es ist Alles ganz gut, wenn Du sagst: sprich,« erwiderte Sir Percival in einem weit ruhigeren und höflicheren Tone, als er sich noch bisher anzuschlagen bequemt; »aber es ist nicht so leicht zu wissen, wie man anfängt.«
»Soll ich Dir helfen?« sagte der Graf. »Soll ich dieser Deiner Privatverlegenheit einen Namen geben? Wie wär’s, wenn ich sie – Anna Catherick nennte?«
»Sieh’ her, Fosco, wir Beide kennen einander seit langer Zeit; und wenn Du mir schon ehedem ein paar Mal aus der Klemme geholfen hast, so habe ich meinerseits mein Möglichstes gethan, um Dir Gegendienste zu leisten, soweit Geld mich dazu in Stand setzte. Wir haben einander, soviel wir Männer nur können, gegenseitige Freundschaftsdienste geleistet; aber wir haben natürlich auch unsere Geheimnisse vor einander gehabt, – wie?«
»Du hast allerdings ein Geheimniß vor mir gehabt, Percival. Du hast hier in Blackwater Park so ein Skelett im Schranke, das während dieser letzten paar Tage schon Anderen, außer Dir, ins Gesicht gesehen hat.«
»Nun gesetzt, das wäre der Fall. Wenn es aber Dich Nichts angeht, brauchst Du nicht neugierig darauf zu sein, wie?«
»Sehe ich aus, als ob ich neugierig darauf wäre?«
»Ja, das thust Du.«
»So! so! also mein Gesicht spricht die Wahrheit? Welch eine unbeschreiblich gute Grundlage in der Natur eines Mannes sein muß, der mein Alter erreicht, und dessen Gesicht noch immer die Gewohnheit, die Wahrheit zu sprechen, bewahrt! – Komm, Glyde, laß uns offen gegen einander sein. Dies Dein Geheimniß hat mich aufgesucht, anstatt daß ich es aufgesucht hätte. Wir wollen annehmen, ich sei neugierig, bittest Du mich, als Deinen alten Freund, Dein Geheimniß zu achten und es ein für allemal Dir selbst zu überlassen?«
»Ja, das ist eben, warum ich ausdrücklich bitte.«
»Dann ist meine Neugier zu Ende. Sie stirbt von diesem Augenblicke an in mir.«
»Meinst Du das im Ernste?«
»Warum zweifelst Du daran?«
»Ich habe einige Erfahrung in Deinen Schlichen und Umwegen, Fosco, und bin mir nicht sicher, daß Du es nicht doch noch einmal aus mir herauszerrst.«
Der Stuhl unten krachte abermals laut, und ich fühlte, wie der Gitterpfeiler unter mir erbebte. Der Graf war aufgesprungen und hatte voll Entrüstung mit der Hand dagegen geschlagen.
»Percival! Percival!« rief er aufgeregt. »Kennst Du mich noch nicht besser? Hat all’ Deine Erfahrung Dir noch Nichts von meinem Charakter gezeigt? Ich bin ein Mann nach dem Typus des Alterthums! Ich bin der erhabensten, tugendhaftesten Handlungen fähig, wenn ich Gelegenheit dazu habe. Es ist das Unglück meines Lebens gewesen, wenige solche Gelegenheiten zu finden. Meine Auffassung von der Freundschaft hat etwas Göttliches! Ist es meine Schuld, daß Dein ›Skelett‹ mich angeschaut hat? Warum bekenne ich meine Neugier? Du armer, oberflächlicher Engländer! nur, um meine Selbstbeherrschung zu zeigen. Ich könnte, wenn ich es wollte, Dein Geheimniß aus Dir herausziehen, wie ich diesen Finger durch meine Handfläche hinziehe – das weißt Du auch recht gut! Aber Du hast meine Freundschaft angerufen, und die Pflichten der Freundschaft sind mir heilig. Sieh her, ich trete meine erniedrigende Neugier mit Füßen. Meine großen Gefühle heben mich darüber hinweg. Erkenne sie an, Percival! Ahme sie nach, Percival! Gieb mir die Hand, ich vergebe Dir.«
Seine Stimme bebte bei den letzten Worten – bebte, wie wenn er Thränen vergösse!
Sir Percival suchte sich voll Verwirrung zu entschuldigen. Aber der Graf war zu hochherzig, um ihn ausreden zu lassen.
»Nein!« sagte er, »wenn mein Freund mich verletzt hat, so kann ich ihm vergeben, ohne daß er mir Entschuldigungen macht. Sage mir mit einfachen Worten, ob Du meiner Hülfe bedarfst?«
»Ja, und zwar sehr.«
»Und Du kannst sie von mir fordern, ohne Dich und Dein Geheimniß bloszustellen.«
»Ich kann es wenigstens versuchen.«
»Versuche es also.«
»Nun, die Sache steht so: ich sagte Dir heute, daß ich mein Möglichstes gethan, um Anna Catherick zu finden, und daß es mir nicht gelungen.«
»Ja; ganz recht.«
»Fosco! ich bin verloren, wenn ich sie nicht finde.«
»Ha! Ist die Sache so ernsthaft?«
Ein kleiner Lichtstrom kam unter die Veranda und fiel auf den Kiespfad. Der Graf hatte die Lampe aus dem Innern des Zimmers geholt, um das Gesicht seines Freundes deutlicher zu sehen.
»Ja!« sagte er. »Diesmal spricht Dein Gesicht die Wahrheit. Sehr ernsthaft – fast ebenso ernsthaft wie die Geldverlegenheit.«
»Weit ernsthafter! So wahr ich hier sitze – weit ernsthafter!«
Das Licht verschwand wieder, und die Unterhaltung wurde fortgesetzt.
»Ich zeigte Dir doch den Brief an meine Frau, den Anna Catherick für sie im Sande versteckte,« fuhr Sir Percival fort; »in dem Briefe prahlt sie nicht, Fosco, sie kennt das Geheimniß!«
»Sage in meiner Gegenwart so wenig wie möglich von dem Geheimnisse, Percival. Weiß sie es durch Dich?«
»Nein, durch ihre Mutter.«
»Zwei Weiber im Besitze Deines Geheimnisses – schlimm, schlimm, schlimm, guter Freund! Erlaube mir hier eine Frage, ehe wir weiter gehen. Dein Beweggrund, indem Du die Tochter ins Irrenhaus sperrtest, ist mir jetzt klar genug, aber die Art und Weise ihrer Flucht ist mir nicht ganz so klar. Hast Du die Leute, deren Sorgfalt sie übergeben war, im Verdacht, auf Ersuchen irgend eines Feindes, der sie dafür bezahlen konnte, absichtlich die Augen geschlossen zu haben?«
»Nein, sie war die folgsamste und ruhigste aller Patientinnen der Anstalt, und man war dumm genug, ihr zu trauen. Sie ist gerade wahnsinnig genug, um eingesperrt werden zu können, und gerade vernünftig genug, um mich zu verderben, wenn sie in Freiheit – falls Du dies verstehen kannst?«
»Ich verstehe es. Nun, Percival, komm gleich zur Sache, und dann werde ich wissen, was ich zu thun habe. Wo steckt augenblicklich die Gefahr Deiner Lage?«
»Anna Catherick ist in der Nachbarschaft und in Verbindung mit Lady Glyde, das ist die Gefahr, und mir scheint sie klar genug. Wer kann wohl den Brief lesen, den sie im Sande versteckte, und nicht daraus sehen, daß meine Frau im Besitz des Geheimnisses ist, wie sehr sie es auch leugnen mag?«
»Einen Augenblick, Percival. Falls Lady Glyde wirklich das Geheimniß kennt, so muß sie zugleich wissen, daß es ein compromittirendes für Dich ist. Als Deine Frau liegt es doch natürlich in ihrem Interesse, es zu bewahren?«
»So? meinst Du? Ich werde gleich darauf kommen. Es läge vielleicht in ihrem Interesse, wenn sie sich einen Pfifferling um mich scheerte. Aber ich bin zufälligerweise einem andern Manne im Wege. – Sie war in ihn verliebt, ehe sie mich heirathete, sie ist noch jetzt in ihn verliebt, ein verdammter Vagabonde von einem Zeichnenlehrer – Hartright heißt er.«
»Mein bester Freund? Was ist denn daran so Außerordentliches? Sie sind Alle in einen andern Mann verliebt. Wer hätte wohl je das Erste von dem Herzen eines Weibes bekommen? In allen meinen Erfahrungen bin ich noch keinem Ehemanne begegnet, der Numero Eins gewesen wäre.Zuweilen wohl Numero Zwei; und Numero Drei, Vier und Fünf häufig. Aber Numero Eins nie! Es existirt natürlich, aber begegnet bin ich ihm nie!«
»Warte! ich bin noch nicht zu Ende. Wer, glaubst Du wohl, half Anna Catherick den Vorsprung gewinnen, als die Leute aus dem Irrenhause hinter ihr her waren? – Hartright. Wer, glaubst Du wohl, sah sie hernach in Cumberland wieder? –·Hartright. Beide Male sprach er allein mit ihr! Halt! unterbrich mich nicht. Der Schuft ist ebenso vernarrt in meine Frau, wie sie in ihn. Er weiß das Geheimniß, und sie weiß es. Laß sie einmal wieder zusammenkommen, so ist es ihr Beider Interesse, ihre Kenntniß desselben als Waffe gegen mich zu richten.«
»Sachte, Percival, sachte! Vergißt Du die Tugend von Lady Glyde?«
»Kein Schuß Pulver für die Tugend von Lady Glyde! Ich glaube an Nichts in ihr, als an ihr Geld. Siehst Du denn nicht, wie die Sachen stehen? Allein mag sie noch harmlos genug sein, aber sobald sie und der Vagabonde, der Hartright –«
»Ja, ja, ich sehe schon. Wo ist Mr. Hartright?«
»Außer Landes. Und wenn er eine heile Haut auf seinen Knochen behalten will, so rathe ich ihm, sobald nicht wieder zurückzukommen.«
»Weißt Du es gewiß, daß er außer Landes ist?«
»Ganz gewiß. Ich ließ ihn von dem Augenblicke an, wo er Cumberland verließ, bis zu dem, wo er sich einschiffte, beobachten. O, ich bin vorsichtig gewesen, kann ich Dir sagen! Anna Catherick war zum Besuche bei Leuten, die auf einem Gehöfte nahe bei Limmeridge wohnten. Ich ging selbst zu ihnen, nachdem sie schon wieder entflohen war, und überzeugte mich, daß sie nichts wußten. Ich gab ihrer Mutter einen Brief abzuschreiben und ihn Miß Halcombe zu schicken, in welchem sie mich von jedem schlechten Beweggrunde frei sprach, als ich die Tochter unter Aufsicht gestellt hatte. Ich habe schon so viel Geld ausgegeben, um sie aufzufinden, daß ich nicht daran denken mag. Und trotz Allem erscheint sie plötzlich hier und entgeht mir wieder auf meinem eignen Grund und Boden! Wie kann ich wissen, wen sie noch sonst sehen oder mit wem sie noch sonst sprechen mag? Der Hartright, der spionirende Schuft, kann zurückkommen, ohne daß ich es erfahre, und schon morgen Gebrauch von ihr machen –«
»Nein, Percival, das wird er nicht! So lange ich hier bin, und jenes Frauenzimmer in unserer Nachbarschaft, verpflichte ich mich, sie vor Mr. Hartright aufzufinden, selbst wenn er zurückkommen sollte. Ich sehe! ja, ja, ich sehe! Die erste Nothwendigkeit ist die, Anna Catherick aufzufinden, um das Uebrige kannst Du Dich beruhigen. Deine Frau ist hier in Deinen Händen. Miß Halcombe ist unzertrennlich von ihr und darum ebenfalls in Deinen Händen; und Mr. Hartright ist außer Landes. Diese unsichtbare Anna ist Alles, woran wir für’s Erste zu denken haben. Du hast Deine Erkundigungen eingezogen?«
»Ja, ich bin bei ihrer Mutter gewesen; ich habe das ganze Dorf durchstöbert, und Alles ohne Erfolg.«
»Kann man sich auf ihre Mutter verlassen?«
»Ja.«
»Sie hat einmal Dein Geheimniß verrathen?«
»Sie wird es nicht zum zweitenmale versuchen.«
»Warum nicht? Ist ihr eigenes Interesse damit verbunden, sowohl wie das Deinige?«
»Ja, eng damit verknüpft.«
»Es freut mich um Deinetwillen, Percival, das zu hören. Laß den Muth nicht sinken, mein Freund. Unsere Geldangelegenheiten lassen mir reichlich Zeit, in der ich mich umschauen kann, wie ich Dir schon sagte; und vielleicht bin ich morgen glücklicher in meinen Nachforschungen nach Anna Catherick, als Du heute gewesen bist. Noch eine letzte Frage, ehe wir schlafen gehen.«
»Was ist es?«
»Dies: Als ich nach dem Boothause ging, um Lady Glyde zu benachrichtigen, daß die kleine Schwierigkeit wegen der Unterschrift aufgeschoben sei, führte der Zufall mich zu rechter Zeit hin, um ein fremdes Frauenzimmer auf sehr verdächtige Weise von Deiner Frau scheiden zu sehen. Aber der Zufall ließ mich nicht nahe genug heran kommen, um das Gesicht der Fremden deutlich zu unterscheiden. Ich muß wissen, woran ich unsere unsichtbare Anna zu erkennen habe. Wie sieht sie aus?«
»Wie sie aussieht? Nun! das will ich Dir mit zwei Worten beschreiben. Sie ist ein krankes Ebenbild meiner Frau.«
Der Stuhl knarrte und der Pfeiler bebte abermals. Der Graf war wieder aufgesprungen – diesmal vor Erstaunen.
»Was!!!« rief er aus.
»Denke Dir meine Frau nach einer schweren Krankheit mit einem Anfluge von Geistesverwirrung, und Du hast Anna Catherick,« antwortete Sir Percival.
»Sind sie mit einander verwandt?«
»Nicht im Geringsten.«
»Und doch einander so ähnlich?«
»Ja. Worüber lachst Du?« rief Sir Percival aus.
»Vielleicht über meine eigenen Gedanken, mein bester Freund. Sieh mir meinen italienischen Humor nach, gehöre ich nicht der berühmten Nation an, welche die Vorstellungen des Polichinel erfand? Schön, schön, schön, ich werde Anna Catherick erkennen, wenn ich sie sehe, und somit genug für heute Abend. Beruhige Dich, Percival. Schlafe, mein Sohn,·schlafe den Schlaf des Gerechten und sieh, was ich für Dich thun werde, wenn das Tageslicht kommt, um uns Beiden zu helfen. Ich habe meine Pläne und Projekte hier in meinem großen Kopfe. Du sollst diese Wechsel bezahlen und Anna Catherick finden, mein heiliges Ehrenwort darauf, daß Du es sollst! Bin ich nun ein Freund, den man im besten Winkel des Herzens tragen sollte, oder nicht? Verdiene ich jene Geldvorschüsse, an die Du mich auf so zartfühlende Weise vorhin erinnertest? Was Du auch thun mögest, verletze nie wieder meine Gefühle. Erkenne sie an, Percival, und ahme sie nach, wenn Du kannst! Ich vergebe Dir nochmals! Gieb mir noch einmal die Hand. Gute Nacht!«
Kein Wort wurde weiter gesprochen. Ich hörte den Grafen die Thür der Bibliothek schließen und Sir Percival die Eisenstangen vor die Fensterläden legen. Es hatte die ganze Zeit hindurch geregnet. Meine Glieder waren durch die so lange unverändert gebliebene, gezwungene Lage krampfhaft zusammen gezogen und durch die Nässe und Kälte wie erstarrt. Als ich zuerst mich zu rühren versuchte, war die Anstrengung so schmerzhaft, das ich genöthigt war, es aufzugeben. Ich versuchte es zum zweitenmale, und es gelang mir, mich auf dem nassen Dache auf meine Knie zu erheben.
Als ich an die Wand kroch und mich an derselben aufrichtete, schaute ich zurück, und sah, wie sich das Fenster in des Grafen Ankleidezimmer erhellte. Mein sinkender Muth flackerte wieder in mir auf und fesselte meine Blicke an sein Fenster, während ich mich Schritt für Schritt an der Mauer wieder zurückschlich. Die Uhr im Thurme schlug das Viertel nach ein Uhr, als ich meine Hände auf die Fensterschwelle meines Zimmers legte. Ich hatte Nichts gesehen oder gehört, das mich vermuthen ließ, daß irgend Jemand meinen Rückzug entdeckt hätte.
– – – – – – – – – – –
Den 6. Juli.
Acht Uhr. Die Sonne steht hell an dem klaren Himmel. Ich bin keinen Augenblick im Bette gewesen, habe nicht ein einziges Mal meine müden matten Augen geschlossen. Durch dasselbe Fenster, durch das ich gestern Abend auf die Finsterniß hinausschaute, blicke ich jetzt in die helle Stille des Morgens.
Ich zähle die Stunden, welche verflossen sind, seitdem ich den Schutz dieses Zimmers verließ, nach meinen Empfindungen – und diese Stunden erscheinen mir wie Wochen.
Wie kurze Zeit und doch wie lang für mich – seit ich in der Finsterniß hier zu Boden sank, bis auf die Haut durchnäßt, starr an allen Gliedern, kalt bis ins Mark, ein nutz- und hülfloses, angstergriffenes Geschöpf.
Ich weiß kaum, wann ich wieder zu mir kam. Ich erinnere mich kaum, wann ich mich in mein Schlafzimmer zurückschleppte, ein Licht anzündete und (zuerst mit einer sonderbaren Ungewißheit darüber, wo ich danach suchen müßte) mir trockene Kleider holte, um mich wieder zu erwärmen. Ich erinnere mich wohl, Alles dies gethan zu haben, aber nicht, wann es geschah.
Kann ich mich sogar entsinnen, wann das Gefühl der starren Kälte der glühenden Hitze wich?
Es muß vor Sonnenaufgang gewesen sein, – ja, ich hörte es drei Uhr schlagen. Ich erinnere mich dieser Zeit nach der plötzlichen Helle und Klarheit, nach der fieberhaften Aufregung all’ meiner Kräfte, welche mit ihr kamen. Ich erinnere mich meines Entschlusses, mich zu beherrschen, geduldig eine Stunde nach der andern zu warten, bis sich eine Gelegenheit bieten würde, Laura, ohne Furcht vor der augenblicklichen Entdeckung und Verzweiflung, aus diesem entsetzlichen Orte hinwegzuführen. Ich erinnere mich, wie sich meinem Geiste allmälig die Ueberzeugung aufdrang, daß das, was jene Beiden zusammen gesprochen hatten, uns nicht allein rechtfertigen würde, indem wir das Haus verließen, sondern auch uns mit Waffen der Vertheidigung gegen sie versehen mußte. Ich entsinne mich des Impulses, der mich trieb, ihre Worte, so lange meine Zeit noch mir gehörte, und sie noch frisch in meinem Gedächtnisse waren, schriftlich und genau so aufzubewahren, wie sie gesprochen wurden. Alles dessen erinnere ich mich noch ganz klar: es ist noch keine Verwirrung in meinem Geiste. Ich erinnere mich deutlich, wie ich vor Sonnenaufgang mit Feder, Tinte und Papier aus meinem Schlafzimmer hier hereintrat – wie ich mich an das weit geöffnete Fenster setzte, um möglichst viele kühle Luft zu fühlen – wie ich unaufhörlich immer schneller und schneller schrieb, immer heißer und heißer glühte, immer wacher und wacher wurde, während der schrecklichen Zwischenzeit, ehe es sich im Hause wieder regte, – wie klar es Alles vor mir ist, vom Anfange beim Lampenlichte bis zum Ende auf der vorhergehenden Seite im hellen Sonnenschein des neuen Tages!
Wozu sitze ich noch immer hier? Wozu ermüde ich meine heißen Augen und meinen glühenden Kopf, indem ich noch immer weiter schreibe? Warum lege ich mich nicht nieder und ruhe aus, und suche im Schlafe das Feuer zu löschen, das mich verzehrt? Ich wage nicht, es zu versuchen. Eine nie gefühlte Furcht hat mich ergriffen. Ich ängstige mich um diese Gluth, die mir die Haut austrocknet, und um das Klopfen und Hämmern in meinem Kopfe. Wie kann ich wissen, wenn ich mich niederlege, ob ich die Kraft und die Besinnung haben werde, wieder aufzustehen?
O, der Regen, der Regen – der grausame Regen, der mich in der Nacht erstarrte!
– – – – – – – – – – –
Neun Uhr. Schlug es neun soeben oder acht? Neun, gewiß? Ich schaudere wieder, – schaudere am ganzen Körper in der Sommerluft. Habe ich hier gesessen und geschlafen? – Ich weiß nicht, was ich gemacht habe.
O, mein Gott! werde ich krank?
Krank, zu einer solchen Zeit!
Mein Kopf – ich fürchte so sehr für meinen Kopf. Ich kann schreiben, aber die Zeilen verschwimmen alle in einander. Ich sehe die Wörter. Laura – ich kann Laura schreiben und es lesen. Acht oder neun, was war es?
So kalt, so kalt – o, dieser Regen gestern Abend! Und die Schläge der Uhr; die Schläge, die ich nicht zählen kann, sie schlagen fortwährend in meinem Kopfe –
– – – – – – – – – – –
Anmerkung.
(An dieser Stelle fängt das ins Tagebuch Eingetragene an unleserlich zu werden. Die zwei oder drei noch folgenden Zeilen enthalten bloße Bruchstücke von Wörtern, die durch Kleckse und Federstriche entstellt sind. Die letzten Zeichen auf dem Papiere gleichen den Anfangsbuchstaben (L und A) von Lady Glyde’s Namen.
Auf der nächsten Seite des Tagebuches findet sich eine andere Schrift. Es ist die Handschrift eines Mannes, groß, entschlossen, fest und regelmäßig; das Datum ist »Den 7. Juli.« Sie lautet folgendermaßen:)
»(Postscriptum eines aufrichtigen Freundes.)
Die Krankheit unserer vortrefflichen Miß Halcombe hat mir die Gelegenheit zu einem unerwarteten geistigen Genusse verschafft.
Ich meine die Durchsicht dieses interessanten Tagebuches, welche ich soeben beendet habe.
Es sind hier viele hundert Seiten. Ich kann, die Hand aufs Herz gelegt, gestehen, daß jede Seite mich interessirt, erquickt und entzückt hat.
Für einen Mann von meinen Gefühlen ist es unaussprechlich erfreulich, dies sagen zu können.
Bewunderungswürdiges Weib!
Ich meine Miß Halcombe.
Erstaunliche Anstrengung!
Ich meine das Tagebuch.
Ja! Diese Blätter sind erstaunlich. Der Tact, den ich hier finde, die Umsicht, der seltene Muth, die wunderbare Gedächtnißkraft, die genaue Beobachtungsgabe, die bezaubernden Ausbrüche weiblichen Gefühls, haben meine Bewunderung für dieses göttliche Wesen, für diese süperbe Marianne ganz unendlich vermehrt Die Darstellung meines eigenen Charakters ist über alle Beschreibung meisterhaft. Ich bezeuge von ganzem Herzen die Treue des Portraits. Ich fühle, welch einen lebhaften Eindruck ich gemacht haben muß, um in so kräftigen, glänzenden, pastösen Farben dargestellt zu werden. Ich beklage von Neuem die grausame Nothwendigkeit, welche unsere Interessen einander feindlich gegenüberstellt. Wären die Verhältnisse glücklicherer Art gewesen, wie würdig wäre Miß Halcombe meiner gewesen.
Die Gefühle, welche mein Herz bewegen, versichern mich, daß die Zeilen, welche ich soeben geschrieben habe, eine hohe Wahrheit ausdrücken.
Diese Gefühle erheben mich über bloße persönliche Rücksichten. Ich bezeuge auf die unparteiischste Weise die Vortrefflichkeit der Kriegslist, durch welche dieses unvergleichliche Weib bei der heimlichen Unterredung zwischen Percival und mir zugegen war, wie auch die wunderbare Genauigkeit ihres Berichtes über die ganze Unterhaltung von Anfang bis zu Ende derselben.
Diese Gefühle haben mich bewogen, dem unzugänglichen Arzte, der sie behandelt, meine umfassende Kenntniß der Chemie und meine glänzenden Erfahrungen in den noch weit feineren Hülfsquellen, welche die medicinische und magnetische Wissenschaft der Menschheit zu Gebote stellen, anzutragen. Doch hat er es bis jetzt ausgeschlagen, sich meines Beistandes zu bedienen. Elender Mann!
Endlich dictiren jene Gefühle diese Zeilen – dankbare, theilnehmende, väterliche Zeilen. Ich schließe das Buch. Mein strenges Rechtlichkeitsgefühl legt es (vermittelst der Hände meiner Gattin) wieder an seinen Platz auf den Tisch der Schreiberin. Die Ereignisse treiben mich fort. Die Verhältnisse leiten mich zu ernsten Ausgängen. Umfassende Perspectiven des Erfolges öffnen sich vor meinen Blicken. Ich erfülle mein Geschick mit einer Ruhe, die mir selbst fürchterlich erscheint. Nichts als der Tribut meiner Bewunderung ist mein eigen. Ich lege ihn mit huldigender Zärtlichkeit zu Miß Halcombe’s Füßen nieder.
Ich bete für ihre Genesung.
Ich bezeige ihr mein innigstes Bedauern über das unvermeidliche Mißlingen jedes Planes, den sie für das Wohl ihrer Schwester gemacht hat. Zugleich aber bitte ich sie, mir zu glauben, daß die Kenntniß, welche ich ihrem Tagebuche entnommen, in keiner Weise zu diesem Mißlingen beitragen wird. Dieselbe bestärkt mich ganz einfach in dem Plane, den ich mir zuvor gebildet hatte. Ich habe es diesen Blättern zu danken, daß sie die feinsten Empfindungen meiner Natur erweckt haben, weiter Nichts.
Einem Wesen, das gleicher Empfindungen fähig ist, wird diese einfache Aussage Alles erklären und Alles bei ihm entschuldigen.
Miß Halcombe ist ein Wesen, das gleicher Empfindungen fähig ist.
In dieser Ueberzeugung zeichne ich mich
Fosco.«
2 - Französische Fenster werden in England solche genannt, die sich wie bei uns mit zwei Flügeln (à deux battans) nach Außen oder nach Innen öffnen lassen. Die englischen Fenster werden bekanntlich in ihren Rahmen vermittelst eines Zugwerks in die Höhe geschoben, die Art, die man in Frankreich »fenêtres à guillotine« nennt. – Anmerkung der Uebersetzerin.