Die Frau in Weiß
Die Aussage von Advocat Vincent Gilmore in Chancery-Lane, London
II.
Bei Tische trafen wir Alle wieder zusammen.
Sir Percival war bei so lauter, munterer Laune, daß ich ihn kaum als denselben Mann wieder erkannte, dessen ruhiger Takt, feine Bildung und klarer Verstand in der Unterredung am Morgen einen so günstigen Eindruck auf mich gemacht. Die einzige Spur seines früheren Selbst, die ich bemerken konnte, erschien hin und wieder in seiner Art und Weise gegen Miß Fairlie. Ein Blick oder ein Wort von ihr unterbrach seine heiterste Rede und genügte, daß er sofort seine ganze Aufmerksamkeit ihr zuwandte. Obgleich er sie nie offenbar in die Unterhaltung zu ziehen suchte, so ließ er doch auch nicht die geringste Gelegenheit vorübergehen, sie zufällig mit hineinzuziehen und ihr unter diesen günstigen Verhältnissen solche Worte zu sagen, wie ein Mann von weniger Tact und Zartgefühl ihr gerade in dem Augenblick gesagt hätte, wo sie ihm einfielen. Ziemlich zu meinem Erstaunen schien Miß Fairlie sich seiner Aufmerksamkeiten bewußt, ohne dadurch eben besonders berührt zu sein. Sie war von Zeit zu Zeit ein wenig verwirrt, wenn er sie ansah oder zu ihr sprach; aber sie wurde nie wärmer gegen ihn. Rang, Vermögen, feine Bildung, gutes Aussehen, die Achtung eines Gentleman und Verehrung eines Liebenden wurden ihr demüthig zu Füßen gelegt, aber, dem Anscheine nach, Alles vergebens.
Am folgenden Morgen, Dienstag, ging Sir Percival in Begleitung eines der Diener als Führer nach Todd’s Ecke. Seine Nachfragen, wie ich später erfuhr, blieben ohne Erfolg. Nach seiner Rückkehr hatte er eine Unterredung mit Mr. Fairlie, und Nachmittags ritt er mit Miß Halcombe aus. Nichts ereignete sich weiter, das des Erwähnens werth wäre. Der Abend verging wie gewöhnlich.
Die Post am Mittwoch brachte die Antwort von Mrs. Catherick. Ich nahm eine Abschrift von dem Documente, die ich hier anführen will. Es enthielt Folgendes:
»Madame!
Ich habe die Ehre, Ihnen den Empfang Ihres Briefes anzukündigen, in welchem Sie mich fragen, ob meine Tochter mit meinem Mitwissen und meiner Einwilligung unter ärztliche Aufsicht gestellt und ob Sir Percival Glyde’s Antheil an der Sache derart gewesen, daß er den Ausdruck meiner Dankbarkeit verdiente. Genehmigen Sie auf beide Fragen meine bejahende Antwort und erlauben Sie, daß ich mich zeichne
gehorsamst
Jane Anna Catherick.«
Kurz, und bestimmt: der Form nach für eine Frau fast zu sehr ein Geschäftsbrief, dem Inhalte nach die deutlichste Bestätigung der Angabe Sir Percivals. Dies war meine Ansicht und mit gewissen unbedeutenden Vorbehalten auch die von Miß Halcombe. Sir Percival schien über den kurzen, scharfen Ton des Briefes nicht erstaunt, als wir ihm denselben zeigten. Er sagte uns, Mrs. Catherick sei eine scharfsichtige, gerade, phantasielose Person, die ebenso kurz und deutlich schreibe wie sie spreche.
Die nächste Pflicht, die uns oblag, da jetzt die Antwort angelangt, war die, Miß Fairlie mit Sir Percivals Erklärung bekannt zu machen. Miß Halcombe hatte dies übernommen und das Zimmer verlassen, um zu ihrer Schwester zu gehen, als sie plötzlich wieder zurückkehrte und sich neben dem Lehnstuhle niedersetzte, in welchem ich die Zeitung las. Sir Percival war einen Augenblick vorher hinausgegangen, um sich die Pferdeställe anzusehen, und es war niemand als wir Beide im Zimmer.
»Wir haben also wirklich und getreulich Alles gethan, was wir thun konnten?« sagte sie, indem sie Mrs. Catherick’s Brief hin und her wandte.
»Wenn wir Sir Percivals Freunde sind, die ihn kennen und ihm trauen, so haben wir Alles, ja mehr als nothwendig war, gethan,« sagte ich etwas verdrießlich über die Rückkehr ihrer Zögerung. »Sind wir aber Feinde, die ihn beargwöhnen –«
»An eine solche Alternative ist nicht zu denken,« unterbrach sie mich, »wir sind Sir Percivals Freunde, und falls Großmuth noch etwas zu unserer Achtung für ihn hinzufügen konnte, so sollten wir sogar seine Bewunderer sein. Sie wissen, daß er gestern eine Unterredung mit Mr. Fairlie hatte und später mit mir ausritt?«
»Ich sah Sie zusammen fortreiten.«
»Wir unterhielten uns zuerst von Anna Catherick und der seltsamen Art und Weise, in der Mr. Hartright mit ihr zusammentraf. Sir Percival sprach dann in den uneigennützigsten Ausdrücken über sein Verhältniß zu Laura. Er sagte, er habe bemerkt, daß sie niedergeschlagen sei, und falls man ihn nicht von dem Gegentheil unterrichte, so müsse er dieser Ursache die Veränderung in ihrem Benehmen gegen ihn während seines gegenwärtigen Besuches zuschreiben. Falls jedoch dieser Veränderung eine ernstere Ursache zu Grunde liege, so beschwöre er mich sowohl als Mr. Fairlie, ihrer Neigung keinen Zwang anzuthun. Das Einzige, worum er sie in diesem Falle nur bitte, sei, daß sie sich zum letzten Male der Umstände erinnere, unter welchen ihre Verlobung stattgefunden und welcher Art sein Benehmens vom ersten Augenblicks derselben bis zu diesem gewesen sei. Falls sie nach reiflicher Ueberlegung dieser beiden Fragen wirklich wünsche, daß er seine Ansprüche auf die Ehre, ihr Gemahl zu werden, zurücknehme – und falls sie ihm dies mit ihren eigenen Lippen sagen wolle, so werde er sich selbst aufopfern und sie frei lassen.«
»Kein Mann konnte mehr sagen, Miß Halcombe. Soweit meine Erfahrung geht, würden wenige Männer so viel gesagt haben.«
Sie schwieg eine Weile, nachdem ich gesprochen, und sah mich mit einem seltsamen Ausdrucke der Verlegenheit und Betrübniß an.
»Ich beschuldige Niemanden und argwöhne Nichts,« rief sie plötzlich aus. »Aber ich kann die Verantwortlichkeit, Laura zu dieser Heirat zu überreden, nicht auf mich nehmen.«
»Nun, das ist ja gerade das Verfahren, das Sir Percival Sie einzuschlagen ersucht hat,« sagte ich erstaunt. »Er hat sie gebeten, ihrer Neigung keinen Zwang anzuthun.«
»Und indirect nöthigt er mich dazu, wenn ich ihr seine Botschaft sage.«
»Wie ist das möglich?«
»Befragen Sie Ihre eigenen Erfahrungen über Laura, Mr. Gilmore. wenn ich ihr sage, sich der Umstände ihrer Verlobung zu erinnern, wende ich mich an zwei der stärksten Gefühle ihrer Natur, an ihre Liebe zum Andenken ihres Vaters und an ihre unerschütterliche Wahrheitsliebe. Sie wissen, daß sie noch nie in ihrem Leben ein Versprechen gebrochen hat; Sie wissen, daß sie in diese Verlobung zu Anfang der tödlichen Krankheit ihres Vaters willigte, welcher auf seinem Sterbelager voll Hoffnung und Freude von ihrer Vermählung mit Sir Percival Glyde sprach.«
»Sie wollen doch sicherlich nicht darauf anspielen,« sagte ich, »daß Sir Percival, als er gestern zu Ihnen sprach, auf einen solchen Erfolg speculirt hätte?«
»Denken Sie, daß ich einen Augenblick in der Gesellschaft eines Mannes bleiben würde, den ich einer solchen Schlechtigkeit fähig hielte?« fragte sie aufgebracht.
Es that mir wohl, ihre tiefe Entrüstung auf mich herabblitzen zu fühlen. In meinem Berufe sieht man so viel Bosheit und so wenig wirkliche Entrüstung.
»In dem Falle,« sagte ich, »entschuldigen Sie mich, wenn ich Ihnen sage, daß Sie über den Bereich der Sache hinausgehen. Welcher Art auch die Folgen sein mögen, Sir Percival hat das Recht zu verlangen, daß Ihre Schwester ihre Verlobung von jedem Gesichtspunkte aus reiflich überlege, ehe sie fordert, daß man sie derselben entbinde. Falls jener unglückselige Brief sie gegen ihn eingenommen, so gehen Sie sogleich und sagen ihr, daß er sich in Ihren und meinen Augen gerechtfertigt hat. Was kann sie dann noch gegen ihn einzuwenden haben? Welche Entschuldigung kann sie möglicherweise dafür haben, wenn sie ihre Meinung über einen Mann ändert, den sie schon vor zwei Jahren als ihren künftigen Gemahl annahm?«
»In den Augen des Gesetzes und der Vernunft keine, Mr. Gilmore, das glaube ich wohl. Falls sie noch zögert, so müssen Sie unser sonderbares Betragen, wenn es Ihnen beliebt, in beiden Fällen der Laune zuschreiben, und wir müssen den Tadel ertragen, so gut wir eben können.«
Mit diesen Worten erhob sie sich plötzlich und verließ mich. Wenn einem vernünftigen Frauenzimmer eine ernste Frage vorgelegt wird und sie derselben durch eine leichtfertige Antwort ausweicht, so ist dies in neun und neunzig Fällen von hunderten ein sicheres Zeichen, daß sie Etwas zu verhehlen hat. Ich kehrte zu meiner Zeitung zurück, indem ich stark vermuthete, daß Miß Halcombe und Miß Fairlie ein Geheimniß hatten, das sie mir sowohl als Sir Percival verbargen. Mir schien dies hart gegen uns Beide, namentlich gegen Sir Percival.
Meine Zweifel, oder um mich richtiger auszudrücken, meine Ueberzeugung wurde durch Miß Halcombe’s Sprache und Benehmen bestätigt, als ich sie später am Tage wiedersah. Sie war mißtrauisch kurz und zurückhaltend, als sie mir den Erfolg ihrer Unterredung mit ihrer Schwester mittheilte, Miß Fairlie, wie es schien, hatte ihr ruhig zugehört, als sie ihr die Briefaffaire aus dem richtigen Gesichtspunkte vorlegte; als aber Miß Halcombe ihr darauf mittheilte; daß Sir Percival’s Besuch in Limmeridge den Zweck habe, sie zu bitten, den Tag für ihre Vermählung festzusetzen, that sie jeder ferneren Erwähnung des Gegenstandes Einhalt, indem sie um Zeit bat. Wenn Sir Percival sie jetzt noch verschonen wolle, so verpflichte sie sich, ihm vor Ablauf des Jahres noch ihre entscheidende Antwort zu geben. Sie hatte mit solcher Angst und Aufregung um diesen Verzug gefleht, daß Miß Halcombe ihr versprochen, nöthigenfalls ihren Einfluß geltend zu machen, um ihn für sie auszuwirken; und auf Miß Fairlie’s ernstliche Bitten hatte damit jede fernere Unterhaltung über die Heirathsfrage geendet.
Dieses rein temporäre Uebereinkommen mochte der jungen Dame gelegen genug sein; den Schreiber dieser Zeilen setzte es jedoch einigermaßen in Verlegenheit. Die Frühpost hatte mir einen Brief von meinem Compagnon gebracht, welcher mich nöthigte, am folgenden Tage mit dem Nachmittagszuge nach London zurückzukehren. Es war höchst wahrscheinlich, daß ich keine zweite Gelegenheit finden würde, um in dem Jahre noch einmal nach Limmeridge House zu kommen. Gesetzt nun, Miß Fairlie entschloß sich endlich, ihre Verlobung gelten zu lassen, so wurde in jenem Falle die nothwendige persönliche Unterredung mit ihr, ehe ich den Heirathscontract aufsetzte, fast eine Unmöglichkeit; und wir würden genöthigt sein, schriftlich über Sachen übereinzukommen, welche immer mündlich verhandelt werden sollten. Ich sagte Nichts von dieser Schwierigkeit, bis Sir Percival über den Verzug befragt worden. Er war ein zu galanter Mann, um nicht sofort ihren Wunsch zu gewähren. Als Miß Halcombe mich hiervon unterrichtete, sagte ich ihr, daß ich durchaus mit ihrer Schwester sprechen müsse, ehe ich Limmeridge verlasse; und es wurde daher bestimmt, daß ich Miß Fairlie am nächsten Morgen in ihrem Wohnzimmer sprechen solle. Sie kam nicht zu Tische, noch später Abends herunter. Unwohlsein wurde als Entschuldigung angegeben, und Sir Percival schien mir ein wenig verdrossen auszusehen, als er es hörte, wozu er gewiß Ursache hatte.
Am folgenden Morgen, sobald das Frühstück vorbei war, ging ich zu Miß Fairlie’s Wohnstube hinauf. Das arme Mädchen sah so blaß und traurig aus und kam mir so bereitwillig und hübsch entgegen, daß mein Entschluß, sie über ihre Laune und Unentschlossenheit auszuzanken, sofort wankte. Ich führte sie zu dem Sitze zurück, den sie verlassen, und setzte mich dann ihr gegenüber. Ihr mürrisches kleines Windspiel war in der Stube und ich war vollkommen auf einen knurrenden, bellenden Empfang von ihm vorbereitet. Seltsamerweise aber täuschte das wunderliche kleine Thier meine Erwartungen, indem es mir auf den Schooß sprang und seine spitze kleine Schnauze vertraulich in meine Hand steckte.
»Sie haben früher oft auf meinem Schooße gesessen, mein liebes Kind,« sagte ich, »und jetzt scheint Ihr kleiner Hund entschlossen, den von Ihnen verlassenen Thron einzunehmen. Ist diese hübsche Zeichnung von Ihnen?«
Ich deutete auf ein kleines Album, das neben ihr auf dem Tische lag, und in dem sie offenbar geblättert, als ich herein kam. Die Seite, an der es offen lag, zeigte eine sehr hübsch vollendete kleine Landschaft in Wasserfarbe. Dies war die Zeichnung, welche meine Frage dictirt hatte: eine allerdings sehr müßige Frage, aber wie hätte ich wohl, sowie ich meine Lippen öffnete, von Geschäften anfangen können?
»Nein,« sagte sie etwas verlegen von der Zeichnung hinwegblickend, »sie ist nicht von mir.«
Sie hatte eine unruhige Gewohnheit der Finger, deren ich mich aus ihrer Kindheit erinnerte, immer mit dem ersten Gegenstande, der ihr zur Hand kam zu spielen, wenn Jemand mit ihr sprach. Bei dieser Gelegenheit wanderten sie nach dem Album, und spielten zerstreut mit dem Rande der kleinen Wasserfarbenskizze. Der Ausdruck der Trauer auf ihrem Gesichte wurde tiefer. Sie sah weder mich noch die Zeichnung an. Ihre Augen bewegten sich unruhig von einem Gegenstande zum andern im Zimmer und verriethen deutlich, daß sie errathe, weshalb ich gekommen sei mit ihr zu sprechen. Da ich dies sah, hielt ich es für das Beste, mit möglichst geringem Zeitverluste zur Sache zu kommen.
»Einer der Zwecke, die mich zu Ihnen führen, mein liebes Kind,« begann ich, »ist, mich von Ihnen zu verabschieden. Ich muß heute nach London zurückkehren und ehe ich abreise, muß ich ein paar Worte über Ihre Angelegenheiten mit Ihnen sprechen.«
»Es thut mir sehr leid, daß Sie schon abreisen müssen, Mr. Gilmore,« sagte sie, mich liebevoll anblickend, »es erinnert mich an die alten, glücklichen Zeiten, Sie hier zu sehen.«
»Ich hoffe im Stande zu sein, wiederzukommen und jene glücklichen Erinnerungen noch einmal wieder zu erwecken,« fuhr ich fort; »da jedoch über die Zukunft immer eine Ungewißheit herrscht, so muß ich meine Gelegenheit benützen und jetzt gleich mit Ihnen reden. Ich bin Ihr alter Advocat und Freund und darf Sie wohl, ohne Sie zu verletzen, an die Möglichkeit Ihrer Vermählung mit Sir Percival Glyde erinnern.«
Sie nahm ihre Hand so schnell von dem kleinen Album, als ob es plötzlich glühend heiß geworden und sie verbrannt hätte. Sie faltete ihre Finger heftig auf ihrem Schooße, und ihre Augen senkten sich zu Boden; ein Ausdruck von Zwang ruhte auf ihrem Gesichte, der beinahe ein Ausdruck von Schmerz schien.
»Ist es durchaus nothwendig darüber zu sprechen?« fragte sie mit leiser Stimme.
»Es ist nothwendig,« entgegnete ich. »Lassen Sie uns einfach annehmen, daß Sie entweder heiraten oder nicht heiraten werden. In ersterem Falle muß ich vorbereitet sein, Ihren Contract abzufassen; und dies darf ich nicht thun, ehe ich als Sache der Höflichkeit Sie zu Rathe ziehe. Dies mag vielleicht meine einzige Gelegenheit sein, Ihre Wünsche über den Gegenstand zu vernehmen. Lassen Sie uns daher den Fall Ihrer Vermählung annehmen und erlauben Sie mir, Sie in möglichst wenigen Worten zu unterrichten, was Ihre Lage augenblicklich ist und was Sie in Zukunft aus derselben machen können, wenn es Ihnen gefällt.«
Ich erklärte ihr den Zweck eines Heiratscontractes und was ihre Aussichten seien – erstens, sobald sie mündig sein werde, und zweitens beim Ableben ihres Onkels – indem ich sie auf den Unterschied aufmerksam machte zwischen demjenigen Eigenthum, von dem sie nur den Nießbrauch haben und dem, welches ganz ihrer eigenen Willkür überlassen sein werde. Sie hörte mich aufmerksam, doch mit dem gezwungenen Ausdrucke im Gesichte an, während ihre Hände noch immer nervös gefaltet in ihrem Schooße lagen.
»Und jetzt,« sagte ich, indem ich schloß, »sagen Sie mir, ob – in dem soeben angenommenen Falle – Sie wünschen, daß ich irgend eine Bedingung für Sie mache, nachdem dieselbe natürlich Ihrem Vormunde zur Genehmigung vorgelegt worden, da Sie noch nicht mündig sind.«
Sie bewegte sich unruhig auf ihrem Stuhle, dann sah sie mir plötzlich sehr ernst in’s Gesicht.
»Wenn es geschieht,« begann sie leise; »wenn ich –«
»Wenn Sie sich verheiraten,« fügte ich ihr aushelfend hinzu.
»Geben Sie es nicht zu, daß er mich von Marianne trennt,« rief sie mit einem plötzlichen Ausbruche von Energie. »O, Mr. Gilmore, bitte, machen Sie es zum Gesetz, daß Marianne bei mir bleibt!«
Unter anderen Verhältnissen hätte mich diese so vollkommen weibliche Erklärung wahrscheinlich amüsirt. Aber ihre Blicke und der Ton, mit dem sie sprach, waren derart, daß sie mich mehr als ernst machten, mich betrübten. Ihre Worte, so wenige ihrer waren, verriethen ein verzweifeltes Festhalten an der Vergangenheit, das für die Zukunft Nichts Gutes prophezeite.
»Daß Marianne Halcombe bei Ihnen bleibt, kann leicht durch Privatübereinkunft bestimmt werden,« sagte ich. »Sie haben meine Frage kaum verstanden, glaube ich. Sie betraf Ihr Eigenthum, die Verfügung über Ihr Geld. Gesetzt, Sie machten ein Testament, sobald Sie mündig würden, wem möchten Sie Ihr Vermögen hinterlassen?«
»Marianne ist mir sowohl Mutter als Schwester gewesen,« sagte das liebe, zärtliche Mädchen, indem ihre schönen blauen Augen glänzten. »Darf ich es nur Mariannen hinterlassen, Mr. Gilmore.«
»Gewiß, liebes Kind,« entgegnete ich; »doch bedenken Sie, welch eine große Summe es ist. Möchten Sie Miß Halcombe das Ganze vermachen?«
Sie zögerte; die Farbe wechselte schnell auf ihren Wangen, und ihre Hand stahl sich nach dem kleinen Album zurück.
»Nicht das Ganze,« sagte sie, »es ist noch außer Mariannen Jemand –«
Sie schwieg und erröthete tiefer; und die Finger der Hand, die auf dem Album ruhten, schlugen leise auf den Rand der Zeichnung, als ob ihre Gedanken sie mechanisch nach der Erinnerung einer geliebten Melodie bewegten.
»Sie meinen außer Miß Halcombe noch ein anderes Mitglied der Familie?« sagte ich, da ich sah, daß sie verlegen darüber war, wie sie fortfahren sollte.
Tiefe Röthe verbreitete sich über Stirn und Nacken, und die nervösen Finger faßten plötzlich den Rand des Buches.
»Es ist noch Jemand da,« sagte sie, meine letzten Worte unberücksichtigt lassend, obwohl sie dieselben offenbar gehört hatte; »– es ist noch Jemand da – der vielleicht gern ein kleines Andenken hätte, wenn – wenn ich es vermachen dürfte. Es würde kein Unrecht darin sein; wenn ich vorher sterben sollte –«
Sie schwieg wieder. Die Farbe, die so plötzlich in ihre Wangen gestiegen, verließ dieselben ebenso plötzlich wieder. Die Hand auf dem Album ließ dasselbe los, zitterte ein wenig und legte Buch ein wenig weiter von ihr fort. Sie blickte mich einen Augenblick an – dann wandte sie den Kopf zur Seite. Ihr Taschentuch fiel zu Boden, als sie ihre Stellung veränderte, und plötzlich barg sie ihr Gesicht in den Händen.
Traurig! wenn man sich ihrer erinnerte, wie ich es that, als das lebhafteste, fröhlichste Kind, das den ganzen Tag hindurch jubelte, und sie jetzt so zu sehen, in der Blüthe ihrer Jugend und Schönheit, so gebrochen, so gebeugt!
In der Betrübniß, die sie mir verursachte, vergaß ich die Jahre, die vergangen waren, und die Veränderung, die sie in unserem Verhältnisse zu einander hervorgebracht hatten. Ich zog meinen Stuhl dicht an sie heran, nahm das Taschentuch vom Teppich auf und zog ihre Hände sanft von ihrem Gesichte herab. »Weine nicht, mein liebes Kind,« sagte ich, und trocknete die Thränen, mit denen sich ihre Augen füllten, als ob sie noch die kleine Laura Fairlie von vor zehn Jahren gewesen sei.
Es war die beste Art und Weise, sie ihrer Fassung wiederzugeben. Sie legte ihren Kopf auf meine Schulter und lächelte matt durch ihre Thränen hindurch.
»Es thut mir sehr leid, daß ich mich so vergessen habe,« sagte sie ungekünstelt. »Ich bin seit Kurzem sehr nervenschwach geworden und wenn ich allein bin, weine ich oft ohne alle Ursache. Mir ist jetzt besser; ich kann Ihnen jetzt antworten, wie ich sollte, Mr. Gilmore, gewiß, ich kann es.«
»Nein, nein, mein Kind,« erwiderte ich; »wir wollen die Sache für jetzt als abgemacht ansehen. Sie haben genug gesagt, um mich zu bevollmächtigen, Ihre Interessen nach Kräften zu wahren, und die Einzelheiten können wir bei Gelegenheit feststellen. Wir wollen von etwas Anderem reden.«
Ich leitete das Gespräch sofort auf andere Gegenstände. In zehn Minuten war sie in besserer Stimmung, und ich stand auf, um Abschied zu nehmen.
»Kommen Sie bald wieder,« bat sie ernstlich; »ich will versuchen, den gütigen Antheil, den Sie an mir nehmen, besser zu verdienen, wenn Sie nur wiederkommen wollen.«
Noch immer dieses Festhalten an der Vergangenheit – die Vergangenheit, die ich auf meine Art, wie Miß Halcombe auf die ihre für sie repräsentirte! Es betrübte mich tief, zu sehen, daß sie schon am Anfange ihrer Lebensbahn zurückblickte, wie ich am Ende der meinigen zurückblicke.
»Falls ich wiederkomme, so hoffe ich, Sie wohler zu finden,« sagte ich – »wohler und glücklicher. Gott segne Sie, mein liebes Kind.«
Sie antwortete, indem sie mir ihre Wange zum Kusse hinhielt. Sogar Advocaten haben Herzen, und meines that nur weh, als ich Abschied von ihr nahm.
Unsere ganze Unterredung hatte wenig länger als eine halbe Stunde gewährt – sie hatte in meiner Gegenwart nicht eine Silbe geäußert, um die offenbare Unruhe und Bangigkeit über die Aussicht ihrer Vermählung zu erklären – und doch hatte sie mich für ihre Ansicht der Frage gewonnen, ich wußte weder wie noch warum. Ich war mit dem Gefühle in’s Zimmer getreten, daß Sir Percival alle Ursache habe, über ihr Benehmen gegen ihn unzufrieden zu sein. Ich verließ es mit der heimlichen Hoffnung, daß sie ihn beim Worte nehmen und ihre Freigebung von ihm fordern möge. Ein Mann in meinen Jahren und von meinen Erfahrungen hätte klüger sein sollen, als auf diese unverständige Weise hin und her zu schwanken. Ich kann mich nicht entschuldigen; ich kann nur die Wahrheit sagen: es war einmal so.
Die Stunde meiner Abreise nahte jetzt heran. Ich ließ Mr. Fairlie sagen, ich wolle ihm, falls es ihm gefällig, meine Aufwartung machen, um ihm Adieu zu sagen, daß er mich jedoch entschuldigen müsse, falls ich in Eile sei. Er schickte mir einen mit Bleistift geschriebenen Zettel mit folgenden Zeilen: »Herzlichen Gruß und die besten Wünsche, lieber Gilmore. Jede Eile ist mir unbeschreiblich nachtheilig. Bitte, pflegen Sie sich. Adieu.«
Gerade ehe ich abreiste, sah ich Miß Halcombe einen Augenblick allein.
»Haben Sie Laura Alles gesagt, was Sie ihr zu sagen hatten?« fragte sie.
»Ja,« entgegnete ich, »sie ist sehr leidend und nervenschwach; ich bin froh, daß sie Sie hat, daß Sie sich ihrer annehmen können.«
Miß Halcombe’s scharfer Blick ruhte aufmerksam auf meinem Gesichte.
»Sie haben Ihre Meinung über Laura geändert,« sagte sie; »Sie sind heute bereitwilliger, Entschuldigungen für sie zu machen, als Sie gestern waren.«
Kein vernünftiger Mann läßt sich unvorbereitet auf ein Wortgefecht mit einem Weibe ein. Ich erwiderte blos:
»Lassen Sie mich wissen, was sich zuträgt. Ich will Nichts anfangen, bis ich von Ihnen höre.«
Sie sah mir noch immer scharf in’s Gesicht. »Ich wollte, es wäre Alles vorüber und glücklich vorüber, Mr. Gilmore – und dasselbe wünschen Sie.« Mit diesen Worten verließ sie mich.
Sir Percival bestand sehr höflich darauf, mich bis an den Wagenschlag zu begleiten.
»Falls Sie je in meine Nachbarschaft kommen, bitte ich Sie, nicht zu vergessen, daß ich aufrichtig unsere Bekanntschaft zu befestigen wünsche. Der erprobte und bewährte Freund dieser Familie wird mir stets ein willkommener Gast sein.«
Ein wahrhaft unwiderstehlicher Mann, höflich, rücksichtsvoll und auf eine bezaubernde Art frei von allem Stolze – jeder Zoll ein Gentleman. Als ich nach der Station abfuhr, fühlte ich, daß ich mit Freuden Alles thun könnte, um Sir Percival Glyde’s Interessen zu fördern – Alles in der Welt, nur nicht den Heiratscontract seiner Frau aufsetzen.
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