Die Frau in Weiß

Die Aussage Walter Hartrights in Clement's Inn zu London.

VII.

Als ich in’s Zimmer trat, saßen Miß Halcombe und eine ältliche Dame bereits am Eßtische.

Die ältliche Dame erwies sich, als ich ihr vorgestellt wurde, als Miß Fairlie’s frühere Erzieherin, Mrs. Vesey, von der meine lebhafte Gefährtin am Frühstückstische mir die kurze Beschreibung gegeben, daß sie »alle Cardinaltugenden besitze und nicht mitgerechnet werde«. Ich kann wenig mehr als mein bescheidenes Zeugniß darbieten, daß Miß Halcombe’s Skizze von dem Charakter der alten Dame eine durchaus getreue war. Mrs. Vesey sah wie die personificirte menschliche Gemüthsruhe und weibliche Liebenswürdigkeit aus. Ruhiger Genuß eines ruhigen Daseins glänzte in schläfrigem Lächeln aus ihrem runden, friedlichen Gesichte.

Wenn Mrs. Vesey eine Leidenschaft hatte, so war es die, ihr Leben möglichst sitzend zuzubringen. Man mochte sie im Hause, im Garten oder sonst wo sehen – überall dieselbe Manie. Selbst auf Spaziergängen, zu denen sie dann und wann ihre Freunde vermochten, bediente sie sich eines Feldsessels, auf den sie sich stets zuvor, ehe sie einen Gegenstand in Augenschein nahm, niederließ; ja, um die einfachste Frage zu beantworten, war es nur mit Ja oder Nein, mußte sie sich zuvor niedersetzen – immer mit demselben ruhigen Lächeln auf den Lippen, derselben allezeit bereiten aufmerksamen Haltung des Kopfes, derselben gemüthlich bequemen Haltung ihrer Hände und Arme unter allen erdenklichen Wechseln häuslicher Verhältnisse. Eine milde, willfährige, durch und durch ruhige und harmlose alte Dame, bei der Einem nie der Gedanke kam, daß sie seit der Stunde ihrer Geburt jemals wirklich lebendig gewesen sei! Die Natur hat in dieser Welt so viel zu thun und ist mit der Erschaffung einer so unendlichen Mannigfaltigkeit von nebeneinander bestehenden Producten beschäftigt, daß sie gewiß nothwendigerweise hin und wieder zu verwirrt und zerstreut sein muß, um die verschiedenen Bildungsprocesse und Veranstaltungen, die sie immer zur selben Zeit unter den Händen hat, klar zu unterscheiden. Indem ich von diesem Gesichtspunkte ausgehe, wird es stets meine Ueberzeugung sein, daß die Natur mit der Herstellung von Kohlstauden beschäftigt war, als Mrs. Vesey geboren wurde, und daß die gute Dame unter den Folgen der damals vorzugsweise dem Gemüse geltenden Beschäftigung der Allmutter zu leiden hatte.

»Nun, Mrs. Vesey,« sagte Miß Halcombe und sah im Gegensatze zu der gelassenen alten Dame an ihrer Seite munterer, schärfer und geschäftiger aus, denn je, »was wollen Sie haben, eine Cotelette?«

Mrs. Vesey legte ihre gefalteten Hände auf den Rand des Tisches, lächelte mild und sagte: »Ja, meine Liebe.«

»Was ist das da vor Mr. Hartright? – Gesottenes Huhn, nicht wahr? Ich glaubte, Sie äßen gesottenes Huhn lieber als Coteletten, Mrs. Vesey?«

Mrs. Vesey nahm ihre weichen Hände vom Rande des Tisches und faltete sie statt dessen auf ihrem Schooße; dann nickte sie dem gesottenen Huhn freundlich zu und sagte: »Ja, meine Liebe.«

»Nun ja, aber welches von den Beiden wollen Sie heute haben? Soll Mr. Hartright Ihnen etwas Huhn geben, oder ich eine Cotelette?«

Mrs. Vesey legte eine ihrer weichen Hände wieder auf den Tisch, zögerte träumerisch und sagte: »Was Sie wollen, meine Liebe.«

»Um aller Barmherzigkeit willen! Es ist eine Frage für Ihren Geschmack, liebe Madame, nicht für den meinigen. Ich schlage vor, Sie nehmen von Beiden ein wenig und von dem Huhn zuerst, denn Mr. Hartright stirbt vor Sehnsucht, für Sie zu tranchiren.«

Mrs. Vesey legte auch die andere weiche Hand wieder auf den Rand des Tisches, verbeugte sich gehorsam und sagte: »Wenn ich bitten darf, Sir.«

Ganz gewiß eine milde, gefällige durch und durch ruhige und harmlose alte Dame, wie? Aber vielleicht haben wir für den Augenblick genug von Mrs. Vesey.

Unterdessen war noch immer keine Spur von Miß Fairlie zu sehen. Wir waren mit dem Gabelfrühstück zu Ende, und sie kam noch immer nicht. Miß Halcombe, deren Scharfsinne Nichts entging, bemerkte die Blicke, welche ich von Zeit zu Zeit der Thür zuwarf.

»Ich verstehe Sie, Mr. Hartright,« sagte sie; »Sie möchten wissen, was aus Ihrer anderen Schülerin geworden ist. Sie ist bereits heruntergekommen und ihr Kopfweh los geworden; aber ihr Appetit ist noch nicht so weit zurückgekehrt, daß sie an unserem Gabelfrühstück theilnehmen möchte, wenn Sie sich meiner Führung anvertrauen wollen, so denke ich, sie irgendwo für Sie auffinden zu können.«

Sie nahm einen Sonnenschirm von einem Stuhle neben ihr und führte mich durch eine große Glasthür am andern Ende des Zimmers auf den freien Gartenplatz. Es ist fast unnöthig zu sagen, daß Mrs. Vesey am Tische sitzen blieb, auf dessen Rande sie noch immer ihre weichen Hände gefaltet hielt, dem Anscheine nach nunmehr für den ganzen übrigen Theil des Nachmittags.

Als wir über den Rasenplatz schritten, sah Miß Halcombe mich bedeutungsvoll an und schüttelte den Kopf.

»Jenes geheimnisvolle Abenteuer, das Sie hatten, bleibt nach wie vor in ein angemessenes, mitternächtiges Dunkel gehüllt,« sagte sie. »Ich habe den ganzen Morgen meiner Mutter Briefe durchsucht und bis jetzt noch keine Entdeckungen gemacht. Doch seien Sie ohne Sorge, Mr. Hartright. Dies ist eine Sache der Neugierde, und Sie haben ein Weib zu Ihrem Verbündeten. Unter solchen Verhältnissen ist früher oder später der Erfolg gewiß. Ich habe noch nicht alle Briefe durchgelesen, es bleiben mir noch drei Paquete, und Sie können sich darauf verlassen, daß ich den ganzen Abend mit Durchsuchen derselben zubringen werde.«

Hier also war eine meiner Erwartungen noch unerfüllt geblieben. Ich war nun begierig zu erfahren, ob auch die Vorstellung, welche ich mir seit dem Frühstück von Miß Fairlie gemacht, mich täuschen werde.

»Und wie sind Sie mit meinem Onkel fertig geworden?« fragte Miß Halcombe, als wir den Rasenplatz verließen und in ein Gebüsch einbogen. »War er heute Morgens besonders nervenschwach? Sie brauchen Ihre Antwort nicht zu überlegen, Mr. Hartright. Es genügt mir schon, daß Sie überhaupt genöthigt sind, sie zu überlegen. Ich sehe es Ihrem Gesichte an, daß er besonders nervenschwach war, und da ich liebenswürdig genug bin, nicht zu wünschen, daß Sie in denselben Zustand gerathen, so fragte ich lieber gar nicht weiter.«

Während sie noch sprach, bogen wir in einen Schlangenweg ein und näherten uns einem hübschen Lusthäuschen, von Holz und in Form eines Schweizerhäuschens in Miniatur gebaut. In dem einzigen Stübchen dieses Lusthäuschens sahen wir, als wir die Stufen hinaufstiegen, eine junge Dame. Sie stand an einem ländlichen, aus Baumästen angefertigten Tische und schaute auf Haide und Hügel landeinwärts durch eine Lichtung in den Bäumen, wobei sie zerstreut in einem kleinen Skizzenbuche blätterte, das neben ihr lag.

Es war Miß Fairlie.

Wie kann ich sie beschreiben? Wie kann ich sie von meinen eigenen Gefühlen und von alledem trennen, was sich später ereignet? Wie kann ich sie wiedererblicken, wie sie aussah, als meine Augen zum erstenmale auf ihr ruhten – sowie sie den Augen Derer erscheinen soll, die sie jetzt durch diese Blätter kennen lernen?

Das kleine Aquarell, das ich zu einer späteren Zeit von Laura Fairlie in dieser Stellung und Umgebung malte, liegt vor mir auf meinem Pulte, während ich schreibe. Ich schaue es an und es dämmert mir auf dem grünlich braunen Hintergrunde des Gartenhauses eine leichte, jugendliche Gestalt entgegen in einem einfachen Musselinkleide, dessen Muster von breiten, abwechselnden hellblauen und weißen Streifen gebildet wurde. Ein Shawl von demselben Stoffe schmiegt sich leicht um ihre Schultern und ein kleiner, runder Strohhut von natürlicher Farbe und ein wenig mit Band garnirt, das mit dem Kleide harmonirt, bedeckt ihr Haupt und wirft seinen weichen Schatten auf den oberen Theil ihres Gesichtes. Ihr Haar ist von einem so matten, blassen Braun – nicht flachsfarben und doch beinahe so hell; nicht goldig und doch fast so glänzend – daß es hier und da mit dem Schatten ihres Hutes zu verschmelzen scheint. Es ist einfach gescheitelt und über die Ohren zurückgezogen, über der Stirn kräuselt es sich in einer natürlichen Wellenlinie. Die Augenbrauen sind etwas dunkler als das Haar und die Augen von jenem schmachtenden Himmelblau, das so oft von Dichtern besungen und so selten im wirklichen Leben gesehen wird. Liebliche Augen in Farbe, lieblich in Form – große, zärtliche, still gedankenvolle Augen – aber am schönsten durch die klare Wahrhaftigkeit des Blickes, die in ihrer innersten Tiefe ruht und durch alle Wechsel des Ausdruckes wie das Licht einer reineren und besseren Welt hindurch leuchtet. Der Reiz – so zart und doch so deutlich ausgedrückt – den sie über das ganze Gesicht gossen, verbirgt und verändert die kleinen sonstigen natürlichen menschlichen Mängel desselben dergestalt, daß es schwer ist, die beziehungsweisen Vorzüge und Fehler der anderen Züge zu beurtheilen. Es ist schwer zu erkennen, daß der untere Theil des Gesichtes nach dem Kinne zu fast zu zart gebildet ist, um zu dem oberen im richtigen Verhältnisse zu stehen; daß die Nase, indem sie dem Adlerbogen entging (der bei Frauen immer etwas Hartes und Grausames hat, wie vollkommen er an und für sich auch sein mag) ein wenig nach der entgegengesetzten Richtung hin abgewichen ist und die ideale Geradheit übertreten hat und daß die lieblichen, gefühlvollen Lippen an einem kleinen nervösen Zucken leiden, das sie, wenn sie lächelt, ein wenig auf einer Seite in die Höhe zieht. Man dürfte solche Fehler möglicherweise in dem Gesichte einer anderen Frau bemerken, aber in dem ihrigen beachtet man sie nicht leicht; sie sind dazu mit Allem, was in ihrem Ausdrucke individuell und charakteristisch ist, zu genau verbunden, und der Ausdruck selbst ist in seiner ganzen Lebendigkeit in allen anderen Zügen zu sehr von der lebendigen Sprache der Augen abhängig.

Zeigt meine arme Zeichnung, die minnigliche, mit aller Muße vollendete Arbeit langer, glücklicher Tage, mir Alles dies? Ach! wie wenig ist davon in der mechanischen Zeichnung zu sehen und wie viel in den Gedanken, mit denen ich sie betrachte! Ein zartes, schönes Mädchen in einem hübschen, hellen Kleide, das mit den Blättern eines Zeichenbuches spielt, indem sie dabei mit treuen, unschuldigen blauen Augen aufblickt: – das ist Alles, was die Zeichnung sagt; vielleicht auch Alles, was selbst die größere Ausdrucksweise der Gedanken und der Feder in ihrer Sprache zu sagen vermögen. Das Weib, das unseren schattenhaften Vorstellungen von Schönheit zum erstenmale Leben, Licht und Gestalt verleiht, füllt eine Leere in unserer geistigen Natur aus, die uns, bis wir sie sahen, unbewußt war. Sympathien, die zu tief liegen für Worte, zu tief fast für Gedanken, werden in solchen Augenblicken von anderen Reizen berührt, als denen, welche die Sinne fühlen oder die Hilfsquellen des Ausdruckes bezeichnen können. Das Geheimniß, das sich in der Schönheit der Frauen birgt, erhebt sich nicht eher über den Ausdruck hinaus, bis es Verwandtschaft mit dem tieferen Geheimnisse in unserer Seele beansprucht. Dann und nur dann erst, hat sie jenes enge Bereich überschritten, auf welche in dieser Welt Feder und Griffel Licht zu werfen vermögen.

Denke an sie, wie an jenes erste Weib, das Deine Pulse fliegen machte, über die bisher noch keine Andere ihres Geschlechtes Macht hatte. Laß die guten, offenen blauen Augen den Deinen begegnen, wie sie den meinen begegneten, mit dem einen unvergleichlichen Blicke, dessen wir uns Beide so wohl erinnern. Laß ihre Stimme in jener Musik sprechen, die Du einst so liebtest und die Deinem Ohre und dem meinen so harmonisch klang. Laß ihre Schritte, wie sie in diesen Blättern kommt und geht, gleich jenem Schritte sein, zu dessen leichtem Rauschen Dein Herz den Takt schlug. Nimm sie hin als den geträumten Pflegling Deiner eigenen Phantasie, und sie wird in einem so klaren Bilde vor dir stehen als das Weib, das in meiner Seele lebt.

Unter den Gefühlen, die sie mir aufdrängen, als ich sie zum ersten male erblickte – Gefühle, die wir Alle kennen, die in den meisten unserer Herzen aufleben, in so vielen sterben und in ihr schönes Dasein in so wenigen wieder erneuern – war eins, das mich beunruhigte und verwirrte; ein Gefühl, das in Bezug auf Miß Fairlie auf seltsame Weise nicht folgerichtig und durchaus nicht gerechtfertigt schien.

Mit dem lebhaften Eindrucke, den der Liebreiz ihres schönen Gesichtes und Kopfes, der sanfte Ausdruck ihrer Züge und die einnehmende Einfachheit ihrer Manieren hervorbrachten, vermischte sich ein anderer, der mich auf nebelhafte Weise einen Mangel fühlen ließ. Einen Augenblick schien es, als ob ihr etwas fehle, im nächsten als ob der Mangel in mir sei und mich verhinderte, sie zu verstehen, wie ich sie hätte verstehen sollen; und das Widersprechende an der Sache war, daß dieser Eindruck immer am stärksten schien, wenn sie mich ansah, oder mit anderen Worten, wenn ich mir des Reizes und der Harmonie ihres Gesichtes am deutlichsten bewußt und doch dabei durch die Ahnung einer Unvollständigkeit verwirrt ward, der ich durchaus nicht näher auf die Spur kommen konnte. Es fehlte etwas, das zu ergründen ich damals zu ohnmächtig war.

Die Wirkung der sonderbaren Laune meiner Einbildungskraft (wofür ich es damals hielt) war nicht danach, daß ich mich während dieses ersten Zusammentreffens mit Miß Fairlie hätte behaglich fühlen können. Die wenigen freundlichen Worte des Willkommens, welche sie sprach, fanden mich kaum gefaßt genug, um sie auf die übliche Weise zu erwidern. Da Miß Halcombe mein Zögern bemerkte und dasselbe ganz natürlicherweise einer augenblicklichen Blödigkeit zuschrieb, so nahm sie das Gespräch wieder so unbefangen und bereitwillig wie gewöhnlich auf.

»Sehen Sie, Mr. Hartright,« sagte sie, auf das Zeichenbuch und die kleine feine Hand, die noch immer mit demselben spielte, deutend. »Jetzt werden Sie doch bekennen, daß Sie endlich das Muster einer Schülerin gefunden haben? Sowie sie hört, daß Sie im Hause angelangt sind, ergreift sie ihr unschätzbares Zeichenbuch, sieht der allgemeinen Natur gerade in’s Gesicht und sehnt sich, den Anfang zu machen.«

Miß Fairlie lachte mit einer herzlichen Fröhlichkeit, die sich so hell über ihr liebliches Gesicht ausgoß, als ob sie ein Theil des Sonnenscheines über unseren Häuptern gewesen wäre.

»Ich darf mir kein Lob anmaßen, wo mir keines gebührt,« sagte sie, mit ihren klaren, treuen Augen abwechselnd Miß Halcombe und mich anblickend. »So gern ich auch zeichne, so bin ich doch so sehr von meiner Untüchtigkeit überzeugt, daß ich mich mehr fürchte als sehne, anzufangen. Jetzt, da Sie da sind, Mr. Hartright, ertappe ich mich darauf, daß ich meine alten Zeichnungen durchsehe, wie ich wohl als Kind meine Aufgaben durchlas in der Angst, daß ich sie nicht herzusagen im Stande sein werde.«

Sie legte dies Bekenntniß auf allerliebste, ungezierte Weise ab und zog das Zeichenbuch mit einem drolligen, kindischen Ernste nach ihrer Seite des Tisches herüber. Miß Halcombe zerschnitt sofort auf ihre entschlossene, offenherzige Weise den Knoten dieser kleinen Verlegenheit.

»Ob gut, ob schlecht oder mittelmäßig,« sagte sie, »die Zeichnungen der Schüler müssen durch die Feuerprobe eines Urtheiles des Meisters gehen – und damit Punctum. Ich schlage vor, Laura, daß wir sie auf unsere Spazierfahrt mitnehmen und Mr. Hartright sie unter dem störenden Einflusse fortwährender Unterbrechungen ansehen lassen. Falls wir ihn nur während der ganzen Fahrt zwischen der Natur, wie sie ist – wenn er auf die Aussicht schaut – und der Natur, wie sie nicht ist – wenn er wieder in Dein Zeichenbuch hineinblickt – verwirren können, so werden wir ihn zu der letzten verzweifelten Zuflucht treiben, uns Schmeicheleien zu sagen und ihm durch seine Künstlerfinger schlüpfen, ohne dabei im Geringsten die Federn unserer Eitelkeit zu zerknittern.«

»Ich hoffe nur, daß Mr. Hartright mir keine Schmeicheleien sagen wird,« sagte Miß Fairlie, als wir Alle das Lusthäuschen verließen.

»Darf ich fragen, warum Sie diese Hoffnung hegen?« fragte ich.

»Weil ich Alles glaube, was Sie mir sagen werden,« erwiderte sie einfach.

In diesen wenigen Worten gab sie mir unbewußterweise selbst den Schlüssel zu ihrem ganzen Charakter, all jenem großmüthigen Vertrauen gegen Andere, wie es bei ihr aus dem Gefühle ihrer eigenen Wahrhaftigkeit hervorging. Damals fühlte ich es nur heraus. Jetzt weiß ich es aus Erfahrung.

Wir warteten bloß so lange, als die gute Mrs. Vesey Zeit brauchte, von ihrem Platze am Frühstückstische aufzustehen, und setzten uns dann Alle in den offenen Wagen, um die versprochene Spazierfahrt zu unternehmen. Die alte Dame und Miß Halcombe nahmen den Fond ein, während Miß Fairlie und ich auf dem Rücksitze saßen und das Zeichenbuch zwischen uns hielten, das endlich meinen Künstleraugen anzusehen gestattet wurde. Alle ernste Kritik jedoch über die Zeichnungen selbst, falls ich mich zu einer solchen erboten hätte, wurde durch Miß Halcombe’s lebhaften Entschluß, nur die lächerliche Seite der schönen Künste, wie dieselben von ihr, ihrer Schwester und von Damen im Allgemeinen betrieben wurden, zu sehen, unmöglich gemacht. Es wird mir viel leichter, mich der Unterhaltung zu erinnern, als der Zeichnungen, welche ich mechanisch durchblätterte. Namentlich ist jener Theil des Gespräches, an dem Miß Fairlie Antheil nahm, mir noch so frisch im Gedächtnisse, als ob ich ihn erst vor wenigen Stunden gehört hätte.

Ja, laßt mich es nur bekennen, daß schon an diesem ersten Tage der Reiz ihrer Gegenwart mich die Erinnerung an mich selbst und an meine Tage aus dem Auge verlieren ließ. Die unbedeutendsten Fragen, die sie über die Art und Weise, ihren Bleistift zu gebrauchen oder ihre Farben zu mischen, an mich richtete – die geringste Veränderung des Ausdruckes in den lieben Augen, wenn sie mit dem ernstlichen Wunsche, Alles zu lernen, das ich ihr zeigen konnte, in die meinigen schauten, zogen meine Aufmerksamkeit mehr auf sich als die schönsten Landschaften, an denen wir vorüberfuhren, oder die großartigsten Abwechslungen von Licht und Schatten, die über der hügeligen Haide und dem flachen Strande ineinander schmolzen.

Ist es nicht zu jeder Zeit und unter allen Verhältnissen menschlichen Interesses seltsam zu sehen, wie wenig die Gegenstände der natürlichen Welt, in der wir leben, unsere Herzen und Gemüther festzuhalten vermögen?

Bei der Natur suchen wir Trost in Trübsal, Theilnahme in der Freude aber in Büchern.

Die Bewunderung der Schönheiten der leblosen Welt welche die moderne Dichtkunst auf so ausführliche und beredte Weise beschreibt, ist selbst in den Besten von uns kein ursprünglicher Instinct der Natur. Als Kinder fühlen wir sie nicht. Den Ungebildeten ist sie fremd. Diejenigen, welche am ausschließlichsten unter den immer wechselnden Wundern des Meeres und des Landes leben, sind zu gleicher Zeit die am wenigsten Empfänglichen dafür, sobald die Naturschönheiten nicht unmittelbar mit dem Interesse ihres eigenen Gewerbes in Verbindung stehen. Unsere Fähigkeit, die Schönheiten der Erde, auf der wir leben, zu schätzen, gehört in Wahrheit zu jener civilisirten Ausbildung, die wir Alle als eine Kunst lernen; und, was noch mehr ist, sie wird selten von uns in Anwendung gebracht, außer wenn unser Geist am trägsten und unthätigsten ist. Welchen Antheil haben wohl je die Schönheiten der Natur an unseren oder unserer Freunde angenehmen oder schmerzlichen Interessen gehabt? Welchen Raum nehmen sie in den tausend kleinen Mittheilungen über persönliche Erfahrungen ein, die wir täglich mündlich einander machen? Alles, was unser Geist erfassen, Alles, was unsere Herzen aufzunehmen im Stande sind, kann mit derselben Sicherheit, demselben Nutzen und derselben Befriedigung für uns sowohl in der dürftigsten als in der reichsten Landschaft, welche die Erde bietet, ausgerichtet werden. Es muß sicher einen Grund geben für diesen Mangel an angeborener Sympathie zwischen dem Geschöpfe und der Schöpfung, der vielleicht in den weit auseinander liegenden Bestimmungen des Menschen und seiner irdischen Sphäre zu finden wäre. Die großartigste Gebirgsaussicht, über die das Auge nur hinschweifen kann, ist der Vernichtung geweiht. Das kleinste menschliche Interesse, das ein reines Herz nur fühlen kann, ist der Unsterblichkeit vorbehalten.

Wir waren beinahe drei Stunden aus gewesen, als der Wagen wieder durch die Thore von Limmeridge House fuhr.

Auf dem Rückwege hatte ich die Damen selbst die Ansicht wählen lassen, welche sie am Nachmittag des folgenden Tages unter meiner Aufsicht zeichnen sollten. Als sie sich zurückgezogen hatten, um ihre Mittagstoilette zu machen, und ich in meiner kleinen Wohnstube allein war, schien mein Frohsinn mich plötzlich zu verlassen. Ich war unruhig und unzufrieden mit mir und wußte kaum warum, vielleicht wurde ich mir zum ersten Male bewußt, daß ich unsere Spazierfahrt mehr in der Eigenschaft eines Gastes als in der eines Zeichenlehrers genossen hatte. Vielleicht verfolgte mich noch immer jenes seltsame Gefühl eines Mangels in Miß Fairlie – oder in mir selbst – das sich mir aufgedrungen, als ich ihr zuerst vorgestellt wurde, jedenfalls aber war es mir eine große Erleichterung, als die Stunde des Mittagessens mich aus meiner Einsamkeit rief und wieder in die Gesellschaft der Damen des Hauses führte.

Als ich in den Salon trat, frappirte mich der sonderbare Kontrast mehr der Farbe als des Stoffes der Kleider, die sie jetzt trugen, während Mrs. Vesey und Miß Halcombe (Jede nach der Weise, wie es am besten zu ihrem Alter paßte) reich gekleidet waren – die Erstere in silbergrauer, die Zweite in blaßgelber Seide, welche so schön mit dunklem Haar und dunkler Hautfarbe harmonirt – trug Miß Fairlie blos ein einfaches, beinahe allzu schlichtes weißes Musselinkleid. Es war vom reinsten Weiß und wunderhübsch gearbeitet; aber es war bei alledem ein Kleid, wie es die Tochter eines armen Mannes hätte tragen können und gab der Erbin von Limmeridge House, was die äußere Erscheinung betraf, ein ärmeres Aussehen als das ihrer eigenen Erzieherin. Später, als ich Miß Fairlie’s Charakter näher kennen lernte, entdeckte ich, daß dieser sonderbare Contrast nach der verkehrten Seite hin aus ihrem natürlichen Zartgefühle und ihrer Abneigung gegen Alles Zurschautragen ihres Reichthums entsprang, weder Mrs. Vesey noch Miß Halcombe konnten sie je überreden, durch vorteilhaftere Kleidung die beiden Damen, die arm waren, in den Schatten, und ihre eigene Person, die reich war, in’s Licht zu stellen.

Als das Mittagessen vorüber war, kehrten wir Alle in den Salon zurück. Obgleich Mr. Fairlie (in Nachahmung der erhabenen Herablassung jenes Monarchen, der Titian’s Pinsel aufgehoben hatte) seinem Kellermeister Befehl gegeben, mich zu fragen, welchen Wein ich nach Tisch zu trinken wünsche, war ich entschlossen genug, der Versuchung, in einsamem Prunke unter Flaschen meiner eigenen Wahl zu sitzen, zu widerstehen und vernünftig genug, die Damen um Erlaubniß zu bitten, den Tisch nach Sitte anderer civilisirten Länder während meines Aufenthaltes in Limmeridge House mit ihnen zugleich verlassen zu dürfen.

Der Salon, in den wir uns jetzt für den Rest des Abends zurückgezogen hatten, lag zur ebenen Erde und war von derselben Größe wie das Frühstückszimmer. Große Glasthüren am unteren Ende führten auf eine Terrasse, die ihrer ganzen Länge nach mit einer Masse von schönen Blumen geschmückt war. Das sanfte, dürftige Zwielicht schattirte eben Blatt und Blüthe mit seinen ernsten Tönen zu sanfter Harmonie, als wir in den Salon traten, und der süße Abendduft der Blumen drang uns durch die offenen Glasthüren mit seinem lieblichen Willkommen entgegen. Die gute Mrs. Vesey (wie immer die Erste, die sich setzte) nahm Besitz von einem Armsessel in einer Ecke und schlummerte bald darauf ein. Auf meine Bitte setzte Miß Fairlie sich an’s Klavier. Als ich ihr zu einem Sitze neben dem Instrumente folgte, sah ich Miß Halcombe sich in die Vertiefung eines der Seitenfenster zurückziehen, um das Durchlesen der Briefe ihrer Mutter bei den letzten Strahlen des Abendlichtes fortzusetzen.

Wie lebhaft jenes friedliche, häusliche Bild des Salons wieder vor mir steht, während ich schreibe! Von der Stelle, an der ich saß, konnte ich Miß Halcombe’s graziöse Gestalt, halb in dem sanften Lichte und halb in dem geheimnisvollen Schatten, sich aufmerksam über die Briefe in ihrem Schooße beugen sehen, während neben mir das schöne Profil der Clavierspielerin sich ganz leicht auf dem Hintergrunde der inneren Wand des Zimmers abzeichnete. Draußen auf der Terrasse bewegten sich die Blumen, die Gräser und Schlingpflanzen so sanft in der leichten Abendluft, daß ihr Rauschen nicht bis zu uns drang. Der Himmel war ohne eine Wolke, und das dämmernde Geheimniß des Mondlichtes zitterte schon in den Regionen des östlichen Himmels. Das Gefühl von Frieden und Abgeschlossenheit lullte jeden Gedanken, jede Empfindung in eine verzückte, überirdische Ruhe und die balsamische Stille, welche tiefer wurde mit dem tieferen Zwielichte, schien mit noch sanfterem Einflusse über uns zu schweben, als die himmlische Zärtlichkeit von Mozart’s Musik sich durch sie hinstahl. Es war ein Abend unvergeßlicher Anblicke und Klänge.

Wir blieben Alle an den Plätzen sitzen, die wir uns gewählt hatten – Mrs. Vesey noch immer schlafend, Miß Fairlie am Clavier und Miß Halcombe bei ihren Briefen – bis das Licht schwand. Unterdessen hatte sich der Mond um die Terrasse herumgeschlichen, und blasse, geheimnisvolle Strahlen fielen über das untere Ende des Zimmers. Der Wechsel von dem Zwielichtdunkel war so schön, daß wir einstimmig die Lampen zurückwiesen, als der Diener sie hereinbrachte, und das große Zimmer unbeleuchtet ließen, außer von den beiden Kerzen auf dem Clavier.

Miß Fairlie setzte ihr Clavierspiel noch eine halbe Stunde fort. Dann aber verleitete sie die Schönheit der Mondlichtlandschaft, auf die Terrasse hinauszutreten, und ich folgte ihr. Als die Kerzen am Clavier angezündet worden, hatte Miß Halcombe ihren Platz verlassen, um bei ihrem Lichte die Untersuchung ihrer Briefe fortzusetzen. Sie hatte sich, als wir hinausgingen, auf einen niedrigen Sessel neben dem Instrumente gesetzt und war so in ihre Lectüre vertieft, daß sie unser Fortgehen nicht zu bemerken schien.

Wir waren wohl kaum fünf Minuten draußen vor der Glasthür gewesen und Miß Fairlie knüpfte eben auf meinen Rath ihr weißes Taschentuch, um sich gegen die Nachtluft zu schützen, um den Kopf, als ich Miß Halcombe’s Stimme – leise, eifrig und verschieden von ihrem natürlichen lebhaften Tone – meinen Namen aussprechen hörte.

»Mr. Hartright,« sagte sie, »wollen Sie einen Augenblick herkommen? Ich habe mit Ihnen zu sprechen.«

Ich trat augenblicklich wieder ins Zimmer. Das Clavier nahm etwa die Mitte an der inneren Wand entlang ein. An dem von der Terrasse am entferntesten Ende des Instrumentes saß Miß Halcombe, auf deren Schooße die Briefe zerstreut lagen, von denen sie einen in der Hand und dicht an’s Licht hielt. An dem Ende, das der Terrasse am nächsten war, stand ein niedriger Sessel, auf dem ich Platz nahm; ich war so nicht weit von der Glasthür und konnte deutlich Miß Fairlie sehen, wie sie wiederholt an derselben vorbei kam, indem sie langsam im hellen Glanze des Mondes von einem Ende der Terrasse bis zum anderen ging.

»Bitte, hören Sie den Schluß dieses Briefes,« sagte Miß Halcombe, »und sagen Sie mir, ob derselbe irgendwie Licht auf Ihr sonderbares Abenteuer auf der Straße nach London wirft. Der Brief ist von meiner Mutter an ihren zweiten Gemahl, Mr. Fairlie, und vor ungefähr elf oder zwölf Jahren geschrieben. Zu jener Zeit hatten Mr. und Mrs. Fairlie und meine Stiefschwester Laura schon jahrelang in diesem Hause gelebt, und ich war abwesend, um meine Erziehung in Paris zu vollenden.«

Ihre Sprache und ihr Aussehen waren ernst und, wie mir es schien, auch ein wenig unruhig. In dem Augenblicke, wo sie den Brief zum Lichte empor hielt, ehe sie anfing, ihn zu lesen, ging Miß Fairlie an der Glasthür vorüber und schaute einen Augenblick zu uns herein; da sie uns aber beschäftigt sah, ging sie langsam weiter.

Miß Halcombe fing zu lesen an, wie folgt:

»Es wird Dich langweilen, mein lieber Philipp, fortwährend von meinen Schulen und Schülerinnen zu hören. Aber ich bitte Dich, die langweilige Einförmigkeit unseres Lebens in Limmeridge und nicht mich deshalb zu tadeln. Uebrigens habe ich dir diesmal wirklich etwas Interessantes über eine neue Schülerin mitzutheilen.

Du kennst doch die alte Mrs. Kempe im Dorfladen. Nun, nach jahrelanger Kränklichkeit hat der Arzt sie endlich aufgegeben und sie stirbt jetzt langsam Tag für Tag dahin. Ihre einzige lebende Verwandte, eine Schwester, kam vorige Woche hier an, um sie zu pflegen. Diese Schwester kommt den langen Weg aus Hampshire her, sie heißt Mrs. Catherick. Vor vier Jahren besuchte mich Mrs. Catherick und brachte ihr einziges Kind mit, ein liebliches kleines Mädchen, etwa ein Jahr älter als unsere liebe kleine Laura –«

Bei dem Satze gerade ging Miß Fairlie wieder an der offenen Thür vorbei. Sie sang leise eine der Melodien vor sich hin, die sie zu Anfang des Abends gespielt hatte. Miß Halcombe wartete, bis sie ihrem Gesichtskreise entschwunden war, und fuhr dann mit dem Lesen ihres Briefes fort:

»Mrs. Catherick ist eine anständige, wohlgesittete, respectable Frau; sie ist in den mittleren Jahren und zeigt Ueberreste, nach denen sie einmal ziemlich, nur ziemlich gut ausgesehen hat. Doch ist etwas in ihren Manieren und ihrer Erscheinung, das ich nicht verstehen kann. In Bezug auf sich selbst ist sie zurückhaltend bis zur Heimlichthuerei, und in ihrem Gesichte hat sie einen Ausdruck – ich kann ihn nicht beschreiben – aber er verursacht mir ein Gefühl, als ob sie etwas auf dem Gewissen habe. Sie ist überhaupt, was man ein lebendiges Geheimniß nennen möchte. Was sie übrigens nach Limmeridge House führte, war einfach genug. Als sie Hampshire verließ, um die Pflege ihrer Schwester, Mrs. Kempe, in deren letzter Krankheit zu übernehmen, war sie genöthigt gewesen, ihre Tochter mitzunehmen, da sie zu Hause Niemanden hatte, dem sie die Sorge für das kleine Mädchen hätte anvertrauen können. Mrs. Kempe kann schon in einer Woche sterben oder auch noch monatelang daliegen; Mrs. Catherick kam daher, um mich zu bitten, ob nicht ihre kleine Tochter Anna an dem Unterrichte in meiner Schule theilnehmen dürfe, unter der Bedingung, daß sie nach Mrs. Kempe’s Tode dieselbe wieder verlassen und mit ihrer Mutter heimkehren dürfe. Ich willigte augenblicklich ein, und als Laura und ich unseren Spaziergang machten, brachten wir das kleine Mädchen (das eben elf Jahre alt ist) schon an demselben Tage nach der Schule.«

Miß Fairlie’s Gestalt, so hell und weich in ihrem schneeigen Musselinkleide – ihr Gesicht von den weißen Falten des Taschentuches eingerahmt – ging noch einmal im Mondlichte an uns vorbei. Miß Halcombe hielt abermals inne, um sie vorüber zu lassen, und fuhr dann fort:

»Ich habe eine große Zuneigung für meine neue Schülerin gefaßt, lieber Philipp, und zwar aus einem Grunde, den ich, um Dich zu überraschen, bis zuletzt aufbewahren will. Da ihre Mutter mir ebenso wenig über ihr Kind wie über sich selbst mitgetheilt hatte, war es mir überlassen, zu entdecken, daß des armen kleinen Mädchens Verstand nicht ganz so entwickelt ist, wie er es in ihrem Alter sein sollte. Da ich dies gewahr wurde (was schon am ersten Tage der Fall war), ließ ich sie am folgenden Tage zu mir kommen und kam mit dem Arzte überein, daß er sie beobachten, befragen und mir dann sagen solle, was er von ihr denke. Er ist der Ansicht, daß es sich ändern wird, wenn sie aufwächst. Aber er sagt, daß ihre sorgfältige Erziehung in der Schule gerade jetzt von großer Wichtigkeit sei, da ihre ungewöhnlich langsame Auffassung andeutet, daß sie alle Eindrücke, die sie jetzt in sich aufnimmt, mit ungewöhnlicher Treue festhalten wird. Du mußt nun nicht gleich denken, lieber Philipp, daß ich eine Vorliebe für eine Blödsinnige gefaßt habe. Diese arme kleine Anna Catherick ist ein liebes, zärtliches, dankbares kleines Mädchen und sagt die drolligsten, niedlichsten Sachen (wie Du sogleich nach einem Beispiele selbst urtheilen sollst) auf eine höchst eigenthümliche, plötzliche und halb erstaunte, halb erschrockene Art. Obgleich sie höchst sauber gekleidet ist, so zeigen doch ihre Kleider in Farbe und Muster einen betrübenden Mangel an Geschmack. Demzufolge ließ ich gestern einige von unserer lieben Laura Kleidchen und weißen Hütchen für Anna Catherick ändern und erklärte ihr, daß kleine Mädchen von ihrer Haut- und Haarfarbe sauberer und besser in weiß aussähen als in sonst einer Farbe. Sie stockte und sah einen Augenblick verwirrt aus; dann erröthete sie plötzlich und schien mich zu verstehen. Ihre kleine Hand erfaßte plötzlich die meine. Sie küßte sie, Philipp, und sagte (o so ernstlich!): ›Ich will immer weiß tragen, solange ich lebe. Es wird mir helfen, mich an Sie zu erinnern, Madame, und zu glauben, daß ich Ihnen noch gefalle, wenn ich schon fort sein und Sie nicht mehr sehen werde.‹ Dies ist nur ein Beispiel von den niedlichen Sachen, die sie auf so allerliebste Weise sagt. Arme, kleine Seele! Sie soll einen Vorrath von weißen Kleidern haben, wenn sie fortgeht, mit guten, tiefen Säumen zum Auslassen, wenn sie größer wird –«

Miß Halcombe hielt inne und blickte zu mir hinüber.

»Schien die verlassene Frau, der Sie auf der Landstraße begegneten, jung zu sein?« fragte sie. »Nicht älter als zwei- bis dreiundzwanzig Jahre?«

»Ja, Miß Halcombe, gerade in den Jahren.«

»Und sie war seltsamerweise von Kopf bis zu Füßen in Weiß gekleidet?«

»Von Kopf bis zu den Füßen in Weiß.«

Als diese Antwort über meine Lippen ging, schwebte Miß Fairlie zum dritten Male auf der Terrasse an uns vorüber. Anstatt ihren Gang fortzusetzen, stand sie stille, mit dem Rücken uns zugewandt, und indem sie sich über das Gitterwerk lehnte, schaute sie in den unten liegenden Garten hinab. Meine Augen hefteten sich auf den weißen Schimmer ihres Kleides und Kopftuches im Mondlichte, und es beschlich mich ein Gefühl, für das ich keinen Ausdruck habe – ein Gefühl, das meine Pulse fliegen und mein Herz zittern machte.

»Ganz in Weiß!« wiederholte Miß Halcombe. »Der wichtigste Theil des Briefes, Mr. Hartright, ist der am Schlusse, den ich Ihnen sogleich vorlesen will. Aber ich kann nicht umhin, ein wenig bei dem Zusammentreffen zwischen den weißen Kleidern des jungen Frauenzimmers, das Sie auf der Landstraße trafen, und den Kleidchen, welche die kleine Schülerin meiner Mutter ihrer seltsamen Antwort verdankte, zu verweilen. Der Arzt mag sich geirrt haben, als er den Mangel an Kopf in dem Kinde entdeckte und weissagte, daß sich das mit den Jahren verlieren werde. Sie mag ihm nie entwachsen sein, und die alte, dankbare Phantasie, sich immer in Weiß zu kleiden, die dem Kinde ein ernstes Gefühl war, mag der erwachsenen Frau noch dasselbe ernste Gefühl sein.«

Ich sagte ein paar Worte der Erwiderung – ich weiß kaum, was. Meine ganze Aufmerksamkeit war ausschließlich auf den weißen Schimmer von Miß Fairlie’s Musselinkleide gerichtet.

»Hören Sie die letzten paar Sätze des Briefes,« sagte Miß Halcombe, »ich glaube, sie werden Sie in Erstaunen setzen.«

Als sie den Brief zum Lichte erhob, wandte Miß Fairlie sich von dem Geländer, blickte zweifelhaft die Terrasse auf und ab, that einen Schritt nach der Glasthür zu und stand dann uns gegenüber still.

Unterdessen las Miß Halcombe nur die letzten Sätze vor, deren sie erwähnt hatte:

»Und jetzt, lieber Philipp, da ich an’s Ende meines Papiers gelangt bin, zu der wirklichen Ursache, der erstaunlichen Ursache meiner großen Liebe zu dieser kleinen Anna Catherick. Mein lieber Philipp, obgleich nicht halb so hübsch, ist sie dennoch in Folge eines jener sonderbaren Spiele des Zufalls mit Aehnlichkeiten wie man sie zuweilen sieht, in Haar, Hautfarbe, Farbe der Augen und Gesichtsform das leibhafte Ebenbild ……«

Ich sprang von meinem Sessel in die Höhe, ehe Miß Halcombe noch die nächsten Worte aussprechen konnte. Dasselbe Gefühl, welches mir die Berührung der Hand auf der einsamen Landstraße verursacht hatte, durchschauerte mich wieder.

Da stand Miß Fairlie, eine einsame Gestalt im Mondlichte, in ihrer Haltung und der ihres Kopfes, in ihrer Hautfarbe und ihrer Gesichtsform, in jener Entfernung und unter jenen Verhältnissen das lebendige Ebenbild der – Frau in Weiß. Der Zweifel, der mich stundenlang gequält hatte, wurde in einem Augenblicke zur Gewißheit. Das Etwas, was mir gefehlt hatte, war – mein eigenes Erkennen der ominösen Aehnlichkeit zwischen der aus der Irrenanstalt Entflohenen und der Erbin von Limmeridge House!

»Sie sehen es!« sagte Miß Halcombe. Sie ließ den Brief fallen, und ihre Augen blitzten, als sie den meinigen begegneten. »Sie sehen es jetzt, wie meine Mutter es vor elf Jahren sah!«

»Ich sehe es – und es betrübt mich mehr, als ich es sagen kann. Jene hilflose, freundlose, verlassene Frau auch nur durch eine zufällige Aehnlichkeit mit Miß Fairlie in Verbindung zu bringen, sieht aus, als ob man einen Schatten auf die Zukunft eines so strahlenden Wesens, wie das, welches jetzt vor uns steht, werfen wollte. Lassen Sie mich so schnell wie möglich den Eindruck los werden. Rufen Sie Miß Fairlie fort aus dem entsetzlichen Mondlichte – bitte, rufen Sie sie herein!«

»Mr. Hartright, Sie setzen mich in Erstaunen, was die Frauen auch immer sein mögen, die Männer, dachte ich, seien im neunzehnten Jahrhundert über den Aberglauben erhaben.«

»Bitte, rufen Sie sie herein!«

»Stille! stille! sie kommt schon von selbst. Sagen Sie Nichts in ihrer Gegenwart, lassen Sie die Entdeckung dieser Aehnlichkeit ein Geheimniß zwischen Ihnen und mir bleiben. Komm’ herein, Laura, komm’ herein und erwecke Mrs. Vesey mit Clavierspiel. Mr. Hartright bittet noch um etwas Musik, und zwar diesmal von der leichtesten und lebhaftesten Art.«


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