Die Frau in Weiß

Die Aussage Walter Hartrights in Clement's Inn zu London.

XIV.

Als wir zur Vorderseite des Hauses herum gingen, kam uns ein Fiaker von der Eisenbahnstation auf dem Fahrwege entgegen. Miß Halcombe wartete an der Hausthür, bis der Fiaker vor derselben hielt, und trat dann vor, um einen alten Herrn, der gewandt herausgesprungen, sowie der Tritt herabgelassen war, die Hand zu geben. Mr. Gilmore war angelangt.

Ich betrachtete ihn, als wir einander vorgestellt wurden, mit einem Interesse und einer Neugierde, die ich kaum verbergen konnte. Dieser alte Mann sollte in Limmeridge House bleiben, nachdem ich es verlassen hatte; er sollte Sir Percival Glyde’s Erklärung hören und Miß Halcombe’s Urtheil mit seiner Erfahrung zu Hilfe kommen; er sollte bleiben, bis die Heiratsfrage bestimmt sei, und seine Hand sollte, falls diese Bestimmung bejahend ausfiele, den Contract aufsetzen, der Miß Fairlie unwiderruflich an die von ihr eingegangene Verpflichtung band. Selbst damals schon, wo ich doch im Vergleiche zu dem, was ich jetzt weiß, erst sehr wenig wußte, betrachtete ich den Advocaten der Familie mit einem Interesse, wie ich es nie zuvor irgend einem Manne gegenüber gefühlt hatte, der mir so völlig fremd war.

Dem Aeußern nach war Mr. Gilmore gerade das Gegentheil von der conventionellen Idee, die man sich von einem alten Advocaten macht. Seine Gesichtsfarbe war blühend; sein weißes Haar ziemlich lang und sorgfältig gebürstet; sein schwarzer Rock, Weste und Beinkleid saßen ihm vortrefflich; sein weißes Halstuch war sorgfältig geknüpft, und seine lavendelfarbenen Handschuhe hätte ein Mode-Prediger tragen können – ohne Furcht und ohne Tadel. Sein Benehmen zeichnete sich angenehm durch die förmliche Anmuth und Feinheit der alten Schule der Höflichkeit aus, belebt durch die wohlthuende Schärfe und Leichtigkeit eines Mannes, den seine Geschäfte nöthigen, alle seine Fähigkeiten im Gange zu erhalten. Eine sanguinische Constitution und gute Aussichten bei seinem Eintritte in’s Leben; eine lange Carrière in rühmlichem und angenehmem Wohlstande; ein frohes, fleißiges, allgemein geachtetes Alter –: dies waren die allgemeinen Eindrücke, die er, als wir einander zuerst vorgestellt wurden, auf mich machte, und ich lasse ihm nur Gerechtigkeit widerfahren, wenn ich hinzufüge, daß meine spätere und längere Bekanntschaft nur dazu diente, sie zu bestätigen.

Ich ließ den alten Herrn allein mit Miß Halcombe in’s Haus gehen, damit sie sich, ungestört durch den Zwang der Gegenwart eines Fremden, von Familienangelegenheiten unterhalten könnten; mein Antheil an den Nachforschungen, welche der anonyme Brief gemacht hatte, war zu Ende.

Es konnte Niemandem als mir selbst ein Leid daraus erwachsen, wenn ich mein Herz während der kurzen Zeit, die mir noch blieb, von dem kalten, grausamen Zwange befreite, welchen die Nothwendigkeit mich gelehrt hatte, ihm aufzulegen, und von den Stellen Abschied nahm, die mit der kurzen Traumzeit meines Glückes und meiner Liebe in Beziehung gestanden hatten.

Ich wandte instinctmäßig meine Schritte nach dem Wege unter dem Fenster meines Ateliers, auf dem ich Laura Abends vorher mit ihrem kleinen Hunde hatte gehen sehen, und folgte dem Pfade, den ihre lieben Füße so oft betreten, bis ich an das kleine Pförtchen kam, das in den Rosengarten führte. Der kahle Winter lag jetzt kalt darüber ausgebreitet. Die Blumen, deren Namen sie mich gelehrt, die Blumen, die ich sie zeichnen gelehrt hatte – waren fort und die schmalen weißen Pfade, die sich von einem Beete zum anderen zogen, waren bereits feucht und grün. Ich wanderte nach der großen Baumallee, wo wir zusammen den warmen Duft der Augustabende geathmet; wo wir die Myriaden Combinationen von Schatten und Sonnenlicht, die den Boden zu unseren Füßen sprenkelten, miteinander bewundert hatten. Die Blätter stoben um mich her aus den ächzenden Zweigen, und der erdige Modergeruch in der Atmosphäre drang mir bis in’s Mark. Ein wenig weiter und ich hatte den Garten verlassen und folgte dem Pfade, der sich allmälig nach den nächsten Hügeln hinaufwand. Der alte Baumstumpf, auf dem wir ausgeruht hatten, war wasserhart von Regen, und der Busch von Farnkraut und Gräsern am Fuße der rohen Steinmauer vor uns, den ich für sie gezeichnet hatte, war, von einer fauligen Lache umgeben, eine im Kothe schwimmende Unkrautinsel geworden. Ich erreichte den Gipfel des Hügels und schaute auf die Aussicht, die wir in glücklichen Zeiten so oft bewundert hatten. Dieselbe war kalt und kahl – es war nicht mehr dieselbe Aussicht. Der Sonnenschein ihrer Gegenwart war fern; der Reiz ihrer Stimme liebkoste nicht mehr mein Ohr. Auf der Stelle, an der ich jetzt stand, hatte sie mir von ihrem Vater erzählt, der von ihren Eltern zuletzt gestorben war; wie sie einander so lieb gehabt und wie sehr er ihr noch immer fehle, wenn sie gewisse Zimmer des Hauses betrete und vergessene Beschäftigungen und Unterhaltungen wieder aufnehme, die sie an ihn erinnerten, war die Aussicht, auf die ich geschaut, als ich jenen Worten lauschte, dieselbe, die ich jetzt erblickte, wo ich allein auf der Höhe stand? Ich wandte mich ab und verließ sie; ich nahm meinen Weg zurück über die Haide um die Sandhügel herum nach dem Strande hinunter. Da war die weiße Wuth der Brandung, da war die ewig wechselnde Pracht der tanzenden Wellen; wo aber war die Stelle, wo sie einst scherzend mit ihrem Sonnenschirme Figuren in den Sand gezeichnet hatte; die Stelle, wo wir nebeneinander gesessen, während sie von mir selbst und von meiner Heimat zu mir sprach und mich mit der genauen Beobachtung der Frauen über meine Mutter und Schwester befragte und sich in unschuldsvollen Muthmaßungen erging, ob ich je meine einsame Junggesellenwohnung verlassen und eine Frau und ein eigenes Haus haben werde? Wind und Wellen hatten längst die Spur verwischt, welche in jenen Zeichen im Sande von ihr zurückblieb. Ich schaute auf die weite Einförmigkeit des Meeres hinaus, und die Stelle, an der wir Beide so glückliche, müßige, sonnige Stunden zugebracht hatten, war mir so verloren, als ob ich sie nie gekannt, so fremd, als stände ich schon an einem fernen Gestade. –

Die leere Stille am Meeresufer fiel kalt auf mein Herz. Ich kehrte zum Hause und Garten zurück, wo an jeder Stelle Spuren waren, die mir von ihr sprachen.

Auf dem westlichen Terrassengange begegnete mir Mr. Gilmore. Er hatte mich offenbar gesucht, denn er beschleunigte seine Schritte, als wir einander ansichtig wurden. Mein Gemüthszustand eignete sich nicht sehr für die Gesellschaft eines Fremden. Aber das Zusammentreffen war unvermeidlich, und ich ergab mich darein.

»Sie sind gerade Derjenige, den ich zu sehen wünschte,« sagte der alte Herr; »ich habe ein paar Worte mit Ihnen zu sprechen, mein lieber Herr, und wenn Sie Nichts dawider haben, will ich diese Gelegenheit dazu benützen. Um offen zu sein: Miß Halcombe und ich haben über Familienangelegenheiten verhandelt, um deretwillen ich hier bin, und im Verlaufe unserer Unterhaltung erwähnte sie natürlich diese unangenehme Geschichte von dem anonymen Briefe und des Antheils, den Sie bisher auf so lobenswerthe und paßliche Weise an den Nachforschungen genommen. Dieser Antheil läßt Sie, wie ich vollkommen begreife, ein Interesse daran nehmen – wie dies sonst wohl nicht der Fall gewesen wäre – zu wissen, daß die künftige Leitung der Nachforschungen, welche Sie begonnen haben, sicheren Händen übergeben werden soll. Seien Sie über diesen Punkt ohne alle Sorge, mein lieber Herr, dieselbe ist in meinen Händen.«

»Sie sind in jeder Hinsicht ein besserer Rathgeber und Beistand in der Sache, als ich bin, Mr. Gilmore. Wäre es eine Unbescheidenheit von mir, wenn ich Sie fragte, ob Sie Ihren Plan des Verfahrens bereits festgestellt haben?«

»Soweit es mir möglich ist, darüber zu bestimmen, Mr. Hartright, habe ich darüber bestimmt. Ich beabsichtige, eine Abschrift des Briefes mit einer Angabe der Umstände an Sir Percival Glyde’s Rechtsanwalt in London, mit dem ich ziemlich bekannt bin, einzusenden. Den Brief selbst werde ich hier behalten, um ihn Sir Percival zu zeigen, sowie er ankommt. Das Aufsuchen der beiden Frauenzimmer habe ich bereits besorgt, indem ich einen Diener Mr. Fairlie’s, der ein zuverlässiger Mensch ist, nach der Eisenbahnstation abgeschickt, um Erkundigungen einzuziehen. Der Mann hat Geld und Instructionen erhalten und wird den Frauen folgen, falls er ihre Spur findet. Das ist Alles, was wir thun können, bis Sir Percival selbst am Montag anlangt. Ich für meine Person hege keinen Zweifel, daß er uns bereitwillig jede Aufklärung geben wird, die man von einem Gentleman, einem Ehrenmanne erwarten kann. Sir Percival ist ein Mann von hoher Geburt, Sir – sein Ruf ist über allen Verdacht erhaben – und ich bin über den Erfolg vollkommen beruhigt; vollkommen beruhigt, wie ich Sie mit Vergnügen versichern darf. Derartige Sachen kommen mir in meinen Erfahrungen alle Tage vor. Anonyme Briefe – unglückliche Frauenzimmer – trauriger Zustand der menschlichen Gesellschaft. Ich leugne nicht, daß dieser Fall noch ein besonders verwickelter ist; aber der Fall selbst ist unglücklicherweise häufig, sehr häufig.«

»Ich fürchte, Mr. Gilmore, daß ich das Unglück habe, die Sache nicht ganz aus demselben Gesichtspunkte anzusehen, wie Sie.«

»Ganz recht, mein lieber Herr, ganz recht. Ich bin ein alter Mann und sehe die Sache von ihrem praktischen Gesichtspunkte an. Sie sind ein junger Mann, und Ihre Auffassung ist eine romantische. Lassen Sie uns unsere Ansichten nicht bestreiten. In meinem Berufe lebe ich in einer Atmosphäre von Streit, Mr. Hartright, und bin froh, wenn ich ihr entwischen kann, sobald ich hierher komme. Wir wollen die Sache abwarten – ja, ja, ja; wir wollen die Sache abwarten. Sehr angenehmer Ort dies. Gute Jagd? Wohl kaum. Mr. Fairlie’s Grund und Boden ist nirgends eingehegt, wie ich glaube. Aber doch ein sehr angenehmer Ort und charmante Leute. Sie zeichnen und malen, wie ich höre, Mr. Hartright? Beneidenswerthes Talent. In welchem Genre?«

wir verfielen in ein allgemeines Gespräch – oder vielmehr Mr. Gilmore sprach, und ich hörte zu. Meine Aufmerksamkeit war weit von ihm und den Gegenständen entfernt, von denen er so geläufig redete. Mein einsamer, zweistündiger Spaziergang hatte seine Wirkung auf mich gehabt – er hatte mich bestimmt, meine Abreise von Limmeridge House möglichst zu beschleunigen, warum sollte ich die bittere Prüfung des Abschiednehmens noch um eine unnöthige Minute verlängern? Wie konnte ich irgend Jemandem noch ferner von Nutzen sein? Ich konnte durch ferneres Bleiben in Cumberland keinem nützlichen Zwecke mehr dienen und in seiner Erlaubniß zu meiner Abreise hatte Mr. Fairlie mich auf keine Zeit beschränkt. Warum also nicht sofort der Sache ein Ende machen?

Ich beschloß dies zu thun. Der Tag war nicht zu Ende – und es lag kein Grund vor, daß ich meine Rückreise nach London nicht schon an demselben Nachmittage anträte. Ich machte Mr. Gilmore die erste höfliche Entschuldigung, welche mir einfiel, und kehrte zum Hause zurück.

Auf dem Wege nach meinem Zimmer begegnete mir Miß Halcombe auf der Treppe. Sie sah es meiner Eile und meinem geänderten Benehmen an, daß ich irgend eine neue Absicht hatte, und frug mich, was sich zugetragen habe.

Ich sagte ihr die Gründe, welche mich bewogen hatten, meine Abreise zu beschleunigen, gerade wie ich sie hier mitgetheilt habe.

»Nein, nein,« sagte sie dringend und herzlich, »verlassen Sie uns wie ein Freund; brechen Sie noch einmal Brot mit uns. Bleiben Sie zum Diner da; bleiben Sie und helfen Sie uns, den letzten Abend so glücklich wie möglich und den ersten Abenden so ähnlich wie möglich hinzubringen. Es ist meine Einladung, Mrs. Vesey’s Einladung –« sie zögerte ein wenig und fügte dann hinzu »und Lauras Einladung.«

Ich versprach zu bleiben. Gott weiß, daß ich auch nicht den Schatten eines schmerzlichen Eindruckes bei irgend einer von ihnen zurückzulassen wünschte.

Mein Zimmer war der beste Ort für mich, bis zu Tische geläutet wurde. Ich blieb dort, bis es Zeit war, in’s Gesellschaftszimmer hinunter zu gehen.

Ich hatte den ganzen Tag noch nicht mit Miß Fairlie gesprochen – ich hatte sie selbst noch nicht einmal gesehen. Unser erstes Zusammentreffen, als ich in’s Gesellschaftszimmer trat, war eine schwere Probe für ihre Selbstbeherrschung sowohl, wie für die meinige. Auch sie hatte ihr Möglichstes gethan, um den letzten Abend die goldene verflossene Zeit erneuern zu lassen – die Zeit, die nie zurückkehren konnte. Sie trug das Kleid, das ich mehr als jedes andere in ihrem Besitze zu bewundern pflegte, ein Kleid von dunkelblauer Seide, das eigenthümlich und hübsch mit altmodischen Spitzen verziert war. Sie kam mir mit all ihrer früheren Bereitwilligkeit entgegen und gab mir die Hand mit dem offenen, unschuldigen Wohlwollen glücklicherer Tage. Die kalten Finger, welche sich so zitternd um die meinigen schlossen; die bleichen Wangen, auf deren Mitte helle Fieberröthe glühte; das matte Lächeln, das sich auf den Lippen zu erhalten suchte und schon darauf erstarb, während ich sie anblickte, Alles dies sagte mir, mit welchen Opfern es ihr gelang, sich diese äußere Fassung zu bewahren. Ich konnte sie nicht inniger in’s Herz schließen, sonst hätte ich sie in diesem Augenblicke geliebt, wie noch nie zuvor.

Mr. Gilmore war uns von großem Nutzen. Er war in bester Laune und führte die Unterhaltung mit unermüdlicher Munterkeit. Miß Halcombe unterstützte ihn nach Kräften, und ich that Alles, was in meiner Macht lag, um ihrem Beispiele zu folgen. Die lieben blauen Augen, deren wechselnden Ausdruck ich so gut zu deuten gelernt hatte, sahen mich flehend an, als wir uns zu Tische setzten. Helfen Sie meiner Schwester – schien das gelbe Antlitz zu sagen – helfen Sie meiner Schwester und Sie werden mir helfen.

Wir kamen allem äußeren Anscheine nach wenigstens glücklich mit dem Mittagessen zu Ende. Als die Damen den Tisch verlassen und Mr. Gilmore und ich allein geblieben waren, bot sich unserer Aufmerksamkeit ein neues Interesse, welches mir die Gelegenheit verschaffte, mich durch einige Minuten der Ruhe und des willkommenen Schweigens wieder zu fassen. Der Diener, der ausgesandt worden, um die Spur von Anna Catherick und Mrs. Clements zu verfolgen, kehrte mit seinem Berichte zurück und wurde augenblicklich in’s Eßzimmer gebracht.

»Nun,« sagte Mr. Gilmore, »was haben Sie ausgespürt?«

»Ich habe ausfindig gemacht, Sir,« sagte der Mann, »daß die beiden Frauenzimmer auf unserer Station Billete nach Carlisle nahmen.«

»Sie gingen darauf natürlich nach Carlisle?«

»Ja wohl, Sir; aber ich muß leider sagen, daß ich auch nicht eine Spur weiter von ihnen entdecken konnte.«

»Sie erkundigten sich auf der Eisenbahn?«

»Ja, Sir.«

»Und in den verschiedenen Wirthshäusern?«

»Ja, Sir.«

»Und gaben den Bericht, den ich für Sie aufschrieb, auf der Polizei ab?«

»Ja wohl, Sir.«

»Nun, mein Bester, da haben Sie Alles gethan, was Sie konnten, und ich habe Alles gethan, was ich konnte, und da muß die Sache jetzt ruhen bis auf Weiteres. Wir haben unsere Trumpfkarten ausgespielt, Mr. Hartright,« fuhr der alte Herr fort, als der Diener das Zimmer verlassen hatte. »Für den Augenblick wenigstens haben die Frauenzimmer uns überlistet; und das Einzige, was uns noch übrig bleibt, ist jetzt zu warten, bis Sir Percival Glyde kommt. Wollen Sie Ihr Glas nicht noch einmal füllen? Sehr guter Portwein das – ein kräftiger, starker Wein. Uebrigens besitze ich besseren in meinem Keller.«

Wir kehrten ins Gesellschaftszimmer zurück, das Zimmer, in welchem ich die glücklichsten Abende meines Lebens zugebracht hatte und das ich nach diesem letzten Abende niemals wieder sehen sollte. Sein Anblick hatte sich verändert, seit die Tage kürzer und das Wetter kälter geworden. Die Glasthüren auf der Terrassenseite waren geschlossen und durch dichte Vorhänge verborgen. Statt des sanften Zwielichtes, in dem wir zu sitzen pflegten, blendete jetzt helles Lampenlicht meine Augen. Alles war anders – im Hause wie draußen, Alles so ganz anders!

Miß Halcombe und Mr. Gilmore setzten sich zusammen an den Kartentisch. Mrs. Vesey nahm ihren gewohnten Sitz ein. Sie fühlten keinen Zwang darüber, wie sie den Abend hinbringen sollten; und ich fühlte um so mehr den Zwang über die Art und Weise, ihn meinerseits hinzubringen. Ich sah Miß Fairlie am Notentischchen zögern. Es hatte eine Zeit gegeben, wo ich mich zu ihr gesellt hätte. Ich wartete unentschlossen, ich wußte nicht, wohin ich gehen, noch was ich beginnen sollte. Sie warf einen schnellen Blick nach mir hin, nahm ein Musikstück von dem Tischchen und kam von selbst zu mir hin.

»Soll ich Ihnen einige von den kleinen Melodien von Mozart vorspielen, die Sie so gern zu hören pflegten?« sagte sie, indem sie verwirrt das Heft öffnete und darauf niedersah, während sie sprach.

Ehe ich ihr noch danken konnte, eilte sie schon an’s Instrument. Der Sessel daneben, den ich immer einzunehmen pflegte, stand leer. Sie schlug ein paar Accorde an – schaute sich nach mir um und dann wieder auf ihre Noten.

»Wollen sie nicht an Ihren alten Platz kommen?« sagte sie sehr schnell und mit sehr leiser Stimme.

»An diesem letzten Abende darf ich ihn wohl noch einnehmen,« entgegnete ich.

Sie erwiderte Nichts, sondern richtete ihre ganze Aufmerksamkeit auf die Musik – eine Musik, die sie auswendig wußte, die sie in früheren Zeiten zu wiederholten Malen ohne das Musikheft gespielt hatte. Ich wußte nur, daß sie mich gehört hatte, daß sie meine Nähe gewahr geworden, als ich die rothe Stelle von ihren Wangen schwinden und ihr Gesicht gänzlich erbleichen sah.

»Es thut mir sehr leid, daß Sie abreisen,« sagte sie mit so leiser Stimme, daß es beinahe geflüstert war; sie heftete ihre Augen immer aufmerksamer auf die Noten, während ihre Finger mit einer seltsamen, fieberhaften Energie über die Tasten dahineilten, die ich noch nie zuvor an ihr bemerkt hatte.

»Ich werde mich dieser gütigen Worte erinnern, Miß Fairlie, lange nachdem der morgende Tag gekommen und vergangen ist.«

Die Blässe auf ihrem Gesichte wurde noch weißer, und sie wandte es noch mehr von mir ab.

»Sprechen Sie nicht von morgen,« sagte sie. »Lassen Sie die Musik in glücklicherer Sprache reden, als der unsrigen von heute Abend.«

Ihre Lippen bebten, ein schwacher Seufzer, den sie vergebens zu unterdrücken gesucht, entwand sich ihrer Brust. Ihre Finger glitten unsicher über die Tasten; sie schlug eine falsche Note an, verwirrte sich, indem sie dieselbe berichtigen wollte, und ließ die Hände ungeduldig auf den Schooß sinken. Miß Halcombe und Mr. Gilmore blickten erstaunt vom Kartentische herüber, und Mrs. Vesey erwachte durch das plötzliche Aufhören der Musik aus ihrem Schlummer und frug, was es gäbe.

»Spielen Sie Whist, Mr. Hartright?« frug mich Miß Halcombe, indem sie bedeutungsvoll nach meinem Platze hinblickte.

Ich wußte, was sie meinte, ich wußte, daß sie Recht hatte, und stand augenblicklich auf, um an den Kartentisch zu gehen. Als ich das Instrument verließ, schlug Miß Fairlie ein Blatt ihres Notenheftes um und spielte wieder mit sicherer Hand.

»Ich will es spielen,« sagte sie, fast leidenschaftlich anschlagend, »ich will es spielen – an diesem letzten Abend.«

»Kommen Sie, Mrs. Vesey,« sagte Miß Halcombe, »Mr. Gilmore und ich haben genug vom Ecarté – kommen Sie und seien Sie Mr. Hartright’s Partner beim Whist.«

Der alte Advocat lächelte satyrisch. Er war der Gewinnende gewesen und hatte gerade eben den König ausgespielt. Er schrieb Miß Halcombe’s plötzliche Veränderung in der Anordnung des Kartentisches offenbar der Laune einer Dame zu, die es nicht ertragen konnte, zu verlieren.

Der Rest des Abends verging ohne ein Wort oder einen Blick weiter von ihr. Sie blieb an ihrem Platze am Instrument und ich an dem meinigen am Kartentische. Sie spielte ununterbrochen, spielte, als ob sie in der Musik ihre einzige Zuflucht vor sich selber fände. Zuweilen berührten ihre Finger die Tasten mit einem Ausdrucke zögernder Liebe, einer sanften, klagenden, hinsterbenden Zärtlichkeit, der unaussprechlich schön und rührend war – und dann wieder glitten sie unsicher oder eilten mechanisch über die Tasten dahin, als ob ihre Aufgabe ihnen eine unerträgliche Last sei. Aber wie sie auch in ihrer Unsicherheit den Ausdruck verändern mochten, den sie der Musik verliehen, sie spielten entschlossen weiter. Sie erhob sich nicht eher von ihrem Platze, als da wir Alle aufgestanden und einander gute Nacht wünschten.

Mrs. Vesey war der Thür am nächsten und die Erste, welche mir die Hand gab.

»Ich werde sie nicht wieder sehen, Mr. Hartright,« sagte die alte Dame, »es thut mir aufrichtig leid, daß Sie schon fortgehen. Sie waren immer sehr freundlich und aufmerksam, und eine alte Frau, wie ich, empfindet Freundlichkeit und Aufmerksamkeit. Ich wünsche Ihnen Alles Gute, Sir – ich sage Ihnen ein herzliches Lebewohl.«

Dann kam Mr. Gilmore.

»Ich hoffe, wir werden künftig noch Gelegenheit finden, unsere Bekanntschaft fortzusetzen, Mr. Hartright. Sie verstehen doch vollkommen, daß jene kleine Angelegenheit in meinen Händen wohl aufbewahrt ist? Ja, ja, versteht sich. Mein Gott, wie kalt es schon ist! Ich will Sie nicht länger an der Thür zurückhalten. Bon voyage, mein lieber Herr, bon voyage, wie der Franzose sagt.«

Miß Halcombe war die Nächste.

»Morgen früh um halb acht Uhr,« sagte sie und fügte dann flüsternd hinzu, »ich habe mehr gesehen und gehört, als Sie glauben. Ihr Benehmen heute Abend hat mich auf Lebenszeit zu Ihrer Freundin gemacht.«

Miß Fairlie kam zuletzt. Ich wagte nicht, sie anzusehen, als ich ihre Hand nahm und an den nächsten Morgen dachte.

»Meine Abreise wird sehr früh stattfinden, Miß Fairlie,« sagte ich, »ich werde fort sein, ehe Sie –«

»Nein, nein,« unterbrach sie mich hastig, »nicht, ehe ich herunter komme. Ich werde mit Marianne zum Frühstück herunter kommen. Ich bin nicht so undankbar, kann die letzten drei Monate nicht so leicht vergessen –«

Ihre Stimme versagte ihr; ihre Hand schloß sich sanft um die meinige und ließ sie dann plötzlich fallen. Ehe ich noch »gute Nacht« sagen wollte, war sie verschwunden.

Das Ende kommt mir schnell entgegen, kommt unvermeidlich, wie das Licht des letzten Morgens in Limmeridge House.

Es war kaum halb acht Uhr, als ich hinunter ging, aber ich fand Beide bereits am Frühstückstisch, mich erwartend. In der kalten Luft, in dem trüben Lichte, in der finsteren Morgenstille setzten wir Drei uns an den Frühstückstisch und versuchten zu essen und zu sprechen. Der Kampf, den Schein zu bewahren, war hoffnungslos – war nutzlos; ich stand auf, um ihm ein Ende zu machen.

Als ich meine Hand ausstreckte und Miß Halcombe, die mir zunächst war, dieselbe nahm, wandte Miß Fairlie sich plötzlich ab und eilte aus dem Zimmer.

»Es ist besser so,« sagte Miß Halcombe, als die Thür sich hinter ihr schloß, »es ist besser so, für Sie und für Laura.«

Ich zögerte einen Augenblick, ehe ich sprechen konnte – es war so hart, sie zu verlieren ohne ein Abschiedswort oder einen Abschiedsblick. Ich faßte mich wieder und versuchte, mit passenden Worten Miß Halcombe Lebewohl zu sagen; aber alle Abschiedsworte, die ich hätte sprechen mögen, lösten sich in einem einzigen Satze auf:

»Verdiene ich, daß Sie mir schreiben!« war Alles, was ich sagen konnte.

»Sie Edelster, haben Alles verdient, was ich für Sie thun kann, so lange wir Beide leben. Was auch das Ende sei, Sie sollen es erfahren.«

»Und wenn ich jemals wieder von Nutzen sein kann, zu irgend einer künftigen Zeit, lange nachdem meine Anmaßung und Thorheit vergessen –«

Ich konnte nicht weiter. Die Stimme versagte mir, meine Augen wurden trübe, wie sehr ich auch dagegen ankämpfte.

Sie ergriff meine beiden Hände – sie drückte sie fest wie mit dem Griffe eines Mannes – ihre schwarzen Augen glänzten – ihre dunklen Wangen errötheten tief – die Kraft und Energie ihres Gesichtes glühte und wurde wunderschön in dem reinen inneren Lichte ihrer Großmuth und ihres Mitleids.

»Ich will Ihnen vertrauen, wenn jemals die Zeit kommt, da will ich Ihnen vertrauen, wie meinem Freunde und ihrem Freunde; wie meinem Bruder und ihrem Bruder.« Sie hielt inne, trat näher zu mir heran – das furchtlose, edle Weib berührte schwesterlich meine Stirn mit ihren Lippen und nannte mich bei meinem Vornamen.

»Gott segne Sie, Walter,« sagte sie, »warten Sie hier allein und fassen Sie sich – ich will um unsrer Beider willen lieber gehen; ich will Sie lieber vom Balcon herab abreisen sehen.«

Sie verließ das Zimmer. Ich wandte mich zum Fenster, wo Nichts als die einsame Herbstlandschaft meinen Blicken begegnete – ich wandte mich ab, um meine Bewegung zu bemeistern, ehe auch ich das Zimmer verließ – auf immer verließ.

Es verging eine Minute – es konnte kaum mehr gewesen sein, als ich die Thür noch einmal leise öffnen hörte, und es nahte sich nur das Rauschen eines Frauenkleides. Mein Herz schlug heftig, als ich mich umwandte. Miß Fairlie kam vom entgegengesetzten Ende des Zimmers auf mich zu.

Sie stand still und zögerte, als sich unsere Blicke begegneten und sie gewahr wurde, daß wir allein seien. Dann trat sie mit jenem Muthe, den die Frauen bei geringen Gelegenheiten so leicht, bei großen so selten verlieren, zu mir heran, mit einem seltsam bleichen, ruhigen Antlitze, indem sie eine Hand auf dem Tische nach sich zog, wie sie an demselben entlang ging, und in der anderen, die an ihrer Seite hing, etwas hielt, das die Falten ihres Kleides verbargen.

»Ich ging blos hinauf, um dies zu holen,« sagte sie. »Es wird Sie vielleicht an Ihren Besuch hier erinnern und an die Freunde, die Sie hier zurücklassen. Sie sagten mir, ich habe große Fortschritte gemacht, als ich es zeichnete – und ich dachte, Sie hätten vielleicht gern –«

Sie wandte das Gesicht ab und hielt mir eine kleine Zeichnung hin, ganz von ihrer eigenen Hand, eine Skizze des kleinen Gartenhäuschens, in dem wir uns zuerst gesehen. Das Papier zitterte in ihrer Hand, als sie es mir darreichte, es zitterte in der meinigen, als ich es nahm.

Ich wagte nicht zu sagen, was ich fühlte – ich entgegnete blos: »Dies soll mich nie verlassen; solange ich lebe, soll es der Schatz sein, der mir über Alles werth ist. Ich bin sehr dankbar dafür – und Ihnen sehr dankbar dafür, daß Sie mich nicht abreisen ließen, ohne Ihnen Lebewohl zu sagen.«

»O!« sagte sie mit ihrem unschuldsvollen Blicke, »wie hätte ich Sie so abreisen lassen können, nachdem wir so viele glückliche Tage zusammen verlebt!«

»Solche Tage mögen nimmer wiederkehren, Miß Fairlie; Ihr Weg im Leben und der meinige liegen sehr weit auseinander. Sollte aber jemals eine Zeit kommen, wo die Ergebenheit meines ganzen Herzens, meiner ganzen Kraft und ganzen Seele Ihnen einen Augenblick des Glückes verschaffen oder einen Augenblick des Kummers ersparen kann, wollen Sie sich da des armen Zeichenlehrers erinnern, der Ihnen Unterricht gab? Miß Halcombe hat versprochen, mir zu vertrauen, wollen Sie es mir auch versprechen?«

Die Abschiedstrauer der lieben blauen Augen leuchtete matt durch ihre Thränen hindurch.

»Ich verspreche es,« sagte sie in gebrochenen Tönen. »O, sehen Sie mich nicht so an! Ich verspreche es von ganzem Herzen!«

Ich wagte einen Schritt näher zu ihr heranzutreten und streckte meine Hand aus.

»Sie haben viele Freunde, die Sie lieben, Miß Fairlie. Ihre glückliche Zukunft ist ihre theuerste Hoffnung. Darf ich Ihnen zum Abschied sagen, daß sie auch mir die theuerste Hoffnung ist?«

Die Thränen strömten über ihre Wangen, sie stützte eine Hand auf den Tisch, um sich festzuhalten, während sie die andere mir reichte. Ich nahm sie und hielt sie fest in der meinigen. Ich beugte das Haupt – meine Thränen fielen darauf herab, ich drückte sie an meine Lippen – nicht in Liebe, o Gott, nein, nicht in Liebe, sondern in dem bitteren Selbstvergessen der Verzweiflung jenes letzten Augenblickes.

»O! um Gotteswillen, verlassen Sie mich!« sagte sie mit schwacher Stimme.

Das Bekenntniß des Geheimnisses ihres Herzens brach in tiefen flehenden Worten von ihren Lippen. Ich hatte nicht das Recht, sie zu hören, sie zu beantworten: sie waren die Worte, die mich im Namen ihrer heiligen Schwäche aus dem Zimmer verbannten. Es war Alles vorüber; ich ließ ihre Hand sinken und sagte Nichts mehr. Die Thränen entzogen mir ihren Anblick, und ich zerdrückte sie schnell, um sie zum letzten Male zu sehen. Noch einen Blick, als sie auf einen Sessel sank, ihre Arme auf den Tisch und auf sie ihr mattes Haupt fiel. Einen letzten Blick, und die Thür schloß sich – der große Abgrund der Trennung hatte sich zwischen uns aufgethan – Laura Fairlie’s Bild war schon eine Erinnerung vergangener Zeit.


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