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Neuntes Kapitel - Die Rache

Weder rechts noch links blickend, weder wissend wo er war, noch sorgend wo er hinkam, rann Matthias Grice eilig fort. Es fügte sich, dass er in die Straße kam, welche in die entlegene Vorstadt führte, wo Mr. Blyth wohnte. Mat folgte mechanisch dieser Straße, warf weder einen Blick auf des Malers Wohnung, als er vorbeiging, noch auf die Droschke mit Gepäck, welche vor dessen Gartentür anhielt. Hätte er nur im geringsten hingeschaut, so würde er Valentin darin haben sitzen und das Fahrgeld zählen sehen.

Aber er wanderte fort gerade aus und beachtete gar nichts. Der Regenschauer war beinah vorüber und durch Nebel und Wolken drangen die Strahlen des wiederkehrenden Sonnenlichts belebend und erwärmend in sein Angesicht

Obgleich er sich selbst beherrschte und nichts äußerlich wahrnehmen ließ, so tobte dennoch eine heftige Gemütsaufregung in seinem Innern. Der Name Zack war öfters auf seinen Lippen, dabei variierte er beständig in seinem Gange, jetzt eilend, dann langsam und schlaff. Es war bereits Abend, als er erst die Richtung nach seiner Wohnung nahm, und bereits Nacht, bevor er an Zacks Bette saß.

»Mir ist jetzt ein Teil besser, Mat«, sagte Zack in Beantwortung der ersten Frage. »Blyth ist zurückgekommen und hat ein paar Stunden neben mir gesessen. Wo seid Ihr die ganze Zeit her gewesen, alter rastloser Eisenmann?« fragte Zack in seiner leichtherzigen Manier.

»Es ist ein Brief für Euch angekommen, die Hauswirtin sagte, sie wolle ihn auf die Tafel im Vorderzimmer legen.«

Matthias fand und öffnete den Brief, welcher zwei Schreiben enthielt. Das eine war an Mr. Blyth adressiert und das andere hatte keine Adresse. Die Handschrift war ihm fremd, er blickte ans Ende und las den Namen Thorpe. »Warte ein wenig«, sagte er, als Zack zu sprechen begann, »ich will erst meinen Brief lesen, dann wollen wir reden.«

Der Inhalt, den er für sich las, war folgender: ——

»Einige Stunden sind verflossen, seit Sie mein Haus verließen. Ich habe etwas Zeit gehabt, wieder ein klein wenig Kraft und Fassung zu gewinnen, und habe solchen Rat und Beistand erhalten, welcher mich befähigte, Nutzen daraus zu ziehen. Jetzt, wo ich weiß, dass ich ruhig schreiben kann, sende ich Ihnen diesen Brief. Ich will Sie nicht fragen, wodurch Sie Kenntnis von dem schuldvollen Geheimnis erhielten, das ich vor jedermann, —— ganz besonders vor meiner Frau —— verborgen hielt, —— sondern Ihnen eine Erklärung und ein solches Bekenntnis geben, wie Sie das Recht haben, von mir zu verlangen. Ich bestreite dies Recht nicht, —— ich gestehe es Ihnen zu, ohne einen weiteren Beweis zu verlangen, als Ihre Handlungen, Ihre grausamen Worte und das Haarbracelet mir schon gegeben haben.

Es ist schicklich, Ihnen zuvor zu sagen, dass der angenommene Name, unter dem ich in Dibbledean bekannt war, seinen Ursprung in einem törichten Scherze hatte, —— in einer Wette, dass mich einige Bekannte —— welche meine Neigung zum Botanisieren lächerlich machten und mich stets verfolgten, um mich in meiner Beschäftigung zu stören —— nicht auffinden und meine Spur in meiner ländlichen Zurückgezogenheit nicht zu entdecken vermöchten. Ich ging nach Dibbledean, weil dessen Nachbarschaft durch seltene Spezies Farnkräuter berühmt war, welche ich zu besitzen wünschte. Daher nahm ich den Namen an, um ganz sicher zu sein, nicht von meinen Freunden aufgefunden und gestört zu werden. Nur mein Vater war in das Geheimnis eingeweiht und besuchte mich einige mal in meiner Zurückgezogenheit. Ich habe keine Entschuldigung dafür, dass ich meinen falschen Namen noch zu einer Zeit fortführte, wo ich genötigt und verpflichtet war, redlich und offen über mich und meine Lebensstellung zu sein. Mein Betragen war unverzeihlich und strafbar in dieser Hinsicht, wie in noch andern Verhältnissen.

Was sich in Dibbledean ereignete, darüber kann ich nicht sprechen —— Scham und Reue gestattet mir nicht, darüber zu schreiben.

Mein Aufenthalt in dem Landhaus währte viel länger als mein Vater erlaubt haben würde, wenn ich ihn nicht getäuscht hätte und wenn er nicht zu sehr durch unvorhergesehene Geschäftsschwierigkeiten mit einem fremden Kaufmanne in Anspruch genommen worden wäre.

Diese Schwierigkeiten häuften sich zuletzt so sehr, dass seine Gesundheit darunter brach. Seine Gegenwart, oder die Gegenwart einer dazu besonders qualifizierten Person, welche ihn in Deutschland —— wo eines seiner Geschäftshäuser durch einen Agenten geführt ward —— zu vertreten vermochte, war durchaus notwendig. Ich war sein einziger Sohn; er hatte mich als Teilnehmer in seinem Londoner Hause aufgenommen und mir dennoch erlaubt, viele Monate lang abwesend zu sein, um meine Lieblingsbeschäftigung treiben zu können. Als er mir aber schrieb, dass ein großer Teil unseres Eigentums verloren ginge, wenn ich nicht eine Reise nach Deutschland unternähme, woran er durch sein Unwohlsein verhindert sei —— so hatte ich keine andere Wahl, als mich ihm sogleich zur Verfügung zu stellen.

Ich reiste mit dem Gedanken ab, dass meine Abwesenheit nicht länger als drei bis vier Monate höchstens dauern würde. Ich schrieb Ihrer Schwester beständig; denn obgleich ich indelikat und leichtsinnig mit ihr umgegangen war, so kam doch niemals ein Gedanke in mein Herz, sie zu verlassen: meine teuersten Hoffnungen jener Zeit waren darauf gesetzt, ihr Gatte zu werden. Nicht einer meiner Briefe ward beantwortet. Ich ward in Deutschland so lange zurückgehalten, als ich ursprünglich zugestanden hatte. In meiner Angst wagte ich, zweimal an Ihren Vater zu schreiben. Aber beide Briefe blieben ebenfalls unbeantwortet. Als ich dann wieder zurück nach England kam, sandte ich sogleich eine zuverlässige Person nach Dibbledean, um Nachforschungen anzustellen, welche ich aus Angst und Furcht nicht zu machen wagte. Mein Bote ward mit der schrecklichen Nachricht —— von Ihrer Schwester Flucht und Tod —— vor der Haustür abgefertigt.

Es entstand in mir sogleich der Verdacht, dass meine Briefe unterschlagen worden seien. Die Heftigkeit meines Grams und meiner Verzweiflung, welche mir das Ereignis hinsichtlich Ihrer Schwester verursachte, war zu groß, und ich betrachtete dies als die Folge meiner Sünden. Es mag Ihnen befremdend erscheinen, dass dieser Gedanke nicht früher in mir entstand. Es würde Ihnen aber vielleicht nicht länger mehr so erscheinen, wenn ich Ihnen das eigentümliche System der heimischen Erziehung speziell schildern könnte. Mein Vater war sehr streng und gewissenhaft bestrebt, mich —— mehr als alle andern jungen Menschen —— nicht mit der moralisch gesunkenen Welt in Berührung kommen zu lassen. Doch es wäre nutzlos, hierbei noch länger zu verweilen. Keine Erklärungen vermögen die vergangenen Begebenheiten zu ändern und die Schuld zu mindern.

Ängstlich besorgt— obgleich geheim und unter Zittern und Zagen —— veranstaltete ich Nachforschungen, um Gewissheit zu erlangen, ob das Kind noch lebe oder nicht. Sie wurden lange fortgesetzt, aber erfolglos; —— erfolglos vielleicht, wie ich jetzt in bitterer Betrübnis denke, weil ich das Nachforschen andern anvertraute und nicht den Mut hatte, es öffentlich zu tun.

Zwei Jahre später verheiratete ich mich unter Umständen nicht gewöhnlicher Art, —— unter was für Umständen —— haben Sie wohl nicht Anspruch zu fragen. Jene Lebensperiode ist mein und meiner Frau Geheimnis, und gehört nur uns allein an.

Ich habe nun lange genug dabei verweilt, Sie über den Anteil meiner schweren Schuld in den vergangenen Ereignissen aufzuklären. Jetzt habe ich noch einige Worte über die Gegenwart und Zukunft mit Ihnen zu reden.

Sie haben erklärt, dass ich meine Schuld büßen soll, indem Sie mein schmachvolles Geheimnis allen meinen Freunden mitteilen wollen, wie sehr ich Ihre Schwester geschändet und ihr qualvolle Leiden verursacht habe.

Mein ganzes Leben war bisher eine lange Büßung für das begangene Unrecht. Meine zerrüttete Gesundheit, meine geheimen Sorgen, mein schmerzlich tiefer Kummer, ohne Trost und Teilnahme einer vertrauten Seele —— haben mich seit Jahren härter bestraft und vor der Zeit mehr gealtert, als Sie wohl denken mögen. Wünschen Sie mich noch viel schmerzlicher, noch grauenhafter leiden zu sehen? Wenn das ist, so mögen Sie den siegreichen Triumph genießen, dass sie es bereits verhängt und schon bewirkt haben. Ihre Drohungen, von denen ich glaube, dass Sie der Mann dazu sind, sie auszuführen —— werden mich in wenig Stunden aus der sozialen Sphäre treiben, in welcher ich bisher gelebt habe und wo ich noch heute von meinen teuersten Freunden so hoch geehrt wurde. Sie werden mich gerade in dem Moment aus meiner Heimat treiben, wo mein Sohn mich zärtlich gebeten hat, ihn in mein Haus zurück zu nehmen.

Diese Prüfungen, so schwer sie auch sind, bin ich bereit, zu ertragen, sie in Demut zu empfangen und als Sühneopfer meiner Sünden zu betrachten. Aber mehr, ich habe nicht die Kraft zu einem nochmaligen Begegnen. Ich kann nicht einer solchen Bloßstellung gegenüber stehen, womit Sie mich niederschmettern. Die Sorge, ja ich kann wohl sagen, die Schwäche meines Lebens ist gewesen, die Achtung von andern zu gewinnen und zu erhalten. Sie sind in Begriff, durch Enthüllung des Verbrechens, das meine Tugend entehrt, meinen guten Ruf zu vernichten. Ich kann es über mich ergehen lassen als einen wohlverdienten Teil meiner Strafe, aber ich habe nicht den Mut zu warten und Ihre Vollziehung mit anzusehen. Mein Inneres sagt mir, dass ich nicht mehr lange zu leben habe, aber meine Überzeugung versichert mir, dass ich mich nicht schicklich zum Tode vorbereiten kann, bevor ich nicht weit, weit von weltlichen Interessen, weltlichem Leid und Schmerz entfernt bin. Das Entsetzen und der Schrecken der öffentlichen Schande ist mehr als ich ertragen kann, ist das Ende meines qualvollen Leben. Wir haben uns zum letzten mal gesehen in dieser Welt. Die Minuten meines Daseins sind gezählt! Noch in dieser Nacht werde ich jenseits Ihrer Rache sein; noch in der Nacht werde ich zu einer Zufluchtsstätte reisen, wo der Rest meines qualvollen Lebens vor Ihnen und vor allen Menschen verborgen sein wird.

Jetzt bleibt mir nur noch eine Erwähnung der zwei eingeschlossenen Briefe.

Der erste ist an Mr. Blyth adressiert. Mögen Sie denselben in seine Hände bringen, denn ich wage aus Scham nicht direkt mit ihm zu korrespondieren. Wenn das, was Sie über mein Kind sagten, die Wahrheit ist und ich kann es nicht bezweifeln —— dann habe ich in meiner Unwissenheit von ihrer Identität, durch meine Entfremdung von Mr. Blyths Hause, seitdem sie dort eingetreten ist, unwissentlich eine große Beleidigung gegen Mr. Blyth begangen, welche keine Reue angemessen auszusöhnen vermag. Jetzt in der Tat fühle ich, wie dünkelhaft unbarmherzig mich die Schändlichkeit meiner eigenen Sünde verleitet hat, andere damit zu beschuldigen. Jetzt also weiß ich, dass, wenn Sie die Wahrheit gesprochen, ich mich sehr gegen Mr. Blyth vergangen habe, als er das letzte mal in meinem Hause war —— Ich häufte die Schande meines eigenen verlassenen Kindes auf den braven Mann, welcher so edel und zärtlich gegen sie war und ihr ein Asyl in seinem eigenen Hause gab. Der unaussprechliche Schrecken und die Angst darüber wären allein fähig, mir den Tod zu geben. Ich wundere mich jetzt, dass ich mich sobald wieder von dem Schauder erholt habe.

Es steht Ihnen frei, in Mr. Blyths Brief zu blicken, wenn es Ihnen beliebt; ich habe Ihnen denselben anvertraut. Außer dem Bekenntnis meiner Scham, meines Kummers und meiner aufrichtigen Reue, enthält derselbe einige Fragen an Mr. Blyth, welche er in seiner christlichen Mildherzigkeit gewiss bereitwillig beantworten wird. Die Fragen beziehen sich auf des Kindes Idealität, und die darin verzeichnete Adresse ist die meines Rechtsanwaltes und Agenten in London. Er wird mir die Dokumente besorgen und mit Mr. Blyth ein Arrangement treffen, auf welche Art seinem Adoptivkind ein Teil meines Vermögens zugesichert werden kann. Er hat ihre Liebe verdient, daher überlasse ich ihm dankerfüllten Herzens das Kind. Ich selbst bin nicht wert, ihr nur in das Angesicht zu sehen.

Der zweite Brief ist an meinen Sohn und ihm dann zu übergeben, wenn Sie ihm seines Vaters Vergehen mitgeteilt haben. Sollte noch eine Regung von Barmherzigkeit und Verzeihung gegen mich in Ihrem Herzen wohnen und Sie das Geheimnis meinem Sohne nicht offenbaren wollen, so zerreißen Sie den Brief und sagen Sie ihm, dass er in dem Hause meines Agenten eine Kommunikation mit mir finden werde. Er bat mich um Verzeihung —— sie ist ihm vollständig gewährt. Ich lebe der Hoffnung, dass er auch mir die gegen ihn ausgeübte Strenge verzeihen wird; sie war nur aus der ehrbaren Absicht entstanden, um ihn vor einem ähnlichen Falle, wie der seines Vaters war, zu bewahren; aber ich glaube jetzt, sie war zu hart und langandauernd. Ich habe für diesen Irrtum und für noch andere schwer gebüßt; schwerer noch würde ich leiden, wenn er seine Heimat ganz und gar verließe; dann wünschte ich, ihn niemals gekannt zu haben. Seien Sie gütig mit ihm und besonders jetzt, da er krank ist, seien Sie es seiner Mutter wegen.

Meine Hand wird immer schwächer, ich kann nicht mehr schreiben. In Reue, Kummer und Scham bitte ich Sie jetzt um Verzeihung, —— wenn es Ihnen möglich ist, mir dieselbe zu gewähren.«

Damit endete das Schreiben.

Matthias hielt es noch eine Weile in der Hand. Er blickte einige mal auf das Schreiben Mr. Thorpes an seinen Sohn, welches auf der Tafel lag —- aber ohne es zu zerreißen, noch zu berühren.

Während Mat noch las, begann Zack im Schlafzimmer zu sprechen.

»Ich denke, Ihr müsst nun Euren Brief zu Ende gelesen haben, Mat. Soeben dachte ich an unser Gespräch über unsere Reise nach Amerika, —— alter Junge, —— um dort Büffeljagden zu halten und in der Wildnis herumzustreifen. Wenn mein Vater mich wieder in Gnaden annimmt und Ja dazu sagt, so gehe ich sehr gern mit Euch, Mat; aber nicht zu lange, wisst Ihr! —— wegen meiner Mutter und meiner hiesigen Freunde. Aber eine Seereise und ein wenig in den einsamen Gegenden herumstreifen —— wie Ihr’s nennt —— würde mir sehr gut tun. Ich fühle, dass ich mich hier nicht eher festsetzen kann, bevor ich nicht einen Ausflug gemacht habe. Ich bin besorgt, dass ich es nicht eher vermag, als bis ich den Teufel aus mir getrieben habe, gleich wie man ihn durch einen sehr starken Ritt aus einem Pferde treibt. Ich bin gespannt, ob mich mein Vater gehen lassen wird!«

»Ich weiß, er wird es, Zack.«

»Ihr! Wie?«

»Das will ich Dir ein andermal sagen. Du sollst Deinen Ritt haben, Zack —— Dein Herz soll mit mir zufrieden sein.« Als er dies sagte, blickte er auf den Brief Mr. Thorpes an seinen Sohn und nahm ihn in die Hand.

»Oh! ich wünsche, ich wäre sogleich stark genug zum Gehen! Kommt herein, Mat, und lasst uns darüber diskutieren.«

»Warte ein bisschen, ich komme gleich.« Bei diesen Worten erhob er sich vom Stuhle und warf den Brief ins Feuer.

»Was macht Ihr nur so lange darin?« fragte der junge Thorpe.

»Erinnerst Du Dich«, sagte Mat, indem er ins Schlafzimmer ging und sich an Zacks Kopfkissen niederließ, »—— erinnerst Du Dich, dass ich, als wir zuerst zusammen kamen, zu Dir sagte, wir wollen Brüder sein? Wohlan, Zack, ich habe versucht, mein Wort zu erfüllen.«

»Versucht? Wie meint Ihr das? Ich verstehe Euch nicht, alter Knabe!«

»Einst wirst Du es besser verstehen, ohne Zweifel. Lass uns jetzt über unsere Seereise und die uns bevorstehende Büffeljagd sprechen.«

Sie disputierten über das Reiseprojekt so lange, bis Zack einschlief. Als er im Schlummer lag, ging Mat in das Vorderzimmer, nahm Mr. Thorpes Brief an Mr. Blyth, verließ Kirk Street und begab sich nach des Malers Wohnung.

Es hatte sich seit Valentins Rückkehr vom Lande einige Mal ereignet, dass er über sein Bureau musste, dabei aber niemals die kleine Schublade geöffnet, worin er das Haarbracelet seit vielen Jahren verborgen hatte. Demzufolge war er auch noch vollständig unwissend über das Verschwinden desselben, als Matthias Grice in das Zimmer trat und es ihm ruhig aushändigte.

Bestürzung und Erstaunen durchschauerte ihn so überwältigend, dass er ruhig litt, wie der Besucher die Türen verschloss, ja er ließ sich sogar ruhig ohne Frage und ohne Wortwechsel zu einem Stuhle führen. Durch die ganze Erzählung hindurch, welche Mat nun begann, saß er sprachlos, bis Mr. Thorpes Brief in seine Hand gegeben und er dadurch belehrt ward, dass Madonna auch fernerhin ganz allein seiner väterlichen Fürsorge anvertraut bleiben solle. Dann bekamen seine Wangen die natürliche Farbe wieder und er rief feierlich aus: »Gott sei Dank! Ich werde sie nicht verlieren. Nur wünschte ich, dass Sie mir gleich beim ersten Eintritt in mein Haus die Verhältnisse erzählt hätten!«

Dies sagend, las er Mr. Thorpes Brief. Als er geendet hatte, standen ihm die Tränen in den Augen. Der gutherzige Mann blickte Mat an und sagte: »Es ist überraschend, dass er in solch demütigen Worten an mich schreibt und noch zweifelt, ob ich ihm vergeben könne, während er ein Recht auf meine Dankbarkeit hat, dass er mein Herz nicht durch Wegnehmen unseres teuren Kindes bricht —— denn als das Unsrige muss ich es jetzt doch bezeichnen. Sie sind sich niemals begegnet —— er hat noch niemals ihr Antlitz gesehen«, ergänzte Valentin mit schwacher Stimme. »Sie trug auf meinen Wunsch stets ihren Schleier, wenn wir ausgingen, und unsere Promenaden wurden stets auf ländlichen Wegen gemacht, um die Stadt nicht zu berühren. Ich erinnere mich, dass ich ihn einmal auf uns zukommen sah, aber wir kreuzten die Straße. Es ist schrecklich —— Vater und Tochter leben so nahe zusammen —— und sind sich doch so weit —— so weit entfernt. Schrecklich! sich so etwas zu denken! Aber was noch viel schrecklicher ist, es zu denken —— wie sie Ihnen die Haare vorhielt —— und durch ihr etwas unschickliches Betragen zur Entdeckung ihres wahren Vaters führte!«

»Beabsichtigen Sie, ihr alles über diese Verhältnisse wissen zu lassen, was wir wissen?« fragte Matthias.

Der Blick des Schreckens und der Furcht begann sich wieder in Valentins Angesicht zu zeigen. »Haben Sie Zack alles erzählt?« fragte er nervös ärgerlich.

»Nein«, sagte Mat, »und tun Sie es auch nicht! Wenn Zack wieder auf den Beinen ist, gehen wir auf Reisen und machen eine Jagdpartie in jenem wilden Lande jenseits des Ozeans. Ich bin dem Jungen so zugetan, als wenn er ein Stück von meinem Fleisch und Blut wäre. Ich gewann ihn lieb, als er in der Sängerhalle so eifrig losschlug für mich —— seitdem sind wir Brüder geworden. Ich habe Zacks Vater nur wegen Zack geschont und denke an keine Rache weiter, als dass ich den Jungen auf eine Saison mit zur Jagd nehmen will. Wenn wir erst hier Lebewohl gesagt haben, dann werde ich Zack das Ereignis erzählen; aber jetzt möchte ich nicht gern einen trüben Blick in sein Antlitz bringen über das, was zwischen seinem Vater und mir passiert ist.«

Obgleich die letzten Worte weder Interesse noch Erstaunen in Valentins Geiste erregten, so verminderten sie auch nicht die durch Mats vorhergehende Frage entstandene Ängstlichkeit. Er begann jetzt die Notwendigkeit zu fühlen, sich seiner großen Ratgeberin in allen Schwierigkeiten und Trösterin in allen Leiden —— der Mrs. Blyth —— anzuvertrauen. »Belieben Sie ein klein wenig hier in warten, während ich meiner Frau die befremdende Neuigkeit überbringe!« sagte er. »Ich wünsche in dieser ernsten Schwierigkeit beziehentlich des armen Kindes ganz von ihrem Rate geleitet zu werden. Wollen Sie gefälligst kurze Zeit hier verweilen?«

»Jawohl! —— Matthias Grice wird sehr gern warten.« Nach diesen Worten verließ Mr. Blyth sogleich das Zimmer.

Er verweilte lange Zeit oben, und als er wieder zurückkam, schien seine Physiognomie sich durchaus nicht geändert zu haben.

»Meine Frau hat mir eine Entdeckung gemacht«, sagte er, »welche sie durch ihre innige Sympathie mit unserer Tochter zu machen befähigt war. Ich bin sowohl erstaunt als betrübt über das Gehörte. Aber ich fühle mich genötigt, dass wir Madonna —— oder Marie —— nicht eher die Verhältnisse erklären können, bis Zack England verlassen hat. Als ich das Projekt Ihrer Reise vernahm, hatte ich allerlei Einwendungen dagegen zu machen, nach dem aber, was mir meine Frau soeben gesagt hat, sind sie alle verschwunden. Ich stimme jetzt herzlich mit Ihnen überein, dass Zack nichts Besseres tun kann, als den beabsichtigten Ausflug. Sie sind willig und bereit, für ihn zu sorgen; und ich glaube zuversichtlich, dass wir Ihnen sicher vertrauen können.«

Nachdem nun die ernste und große Schwierigkeit beseitigt war, nahm Valentin Gelegenheit, sich den kleineren Begebenheiten zuzuwenden. Unter verschiedenen andern Fragen erkundigte er sich auch, auf welche Art und Weise Mat in den Besitz des Haarbracelets gelangt sei. Dieser antwortete mit dem freiesten Bekenntnis, welches die Geduld und Nachsicht des gutherzigen Malers aufs Höchste auf die Probe stellte, als er es mit anhörte und welches ihm auch einige Worte des strengsten Tadels und Vorwurfs entlockte, wie sie wohl noch nie seinen Lippen entströmt waren. Mat hörte ihn ruhig an, bis er geendet, dann nahm er seinen Hut und murmelte einige Worte der Verteidigung, welche Valentins Gutherzigkeit sogleich akzeptierte, wie sie gesprochen waren. »Wir müssen, was vergangen ist, vergangen sein lassen«, sagte der Maler. »Sie sind redlich gegen mich gewesen in jeder Weise, und in Anerkennung dieser Redlichkeit sage ich Ihnen als Freund gute Nacht.«

Als Mat wieder in Kirk Street ankam, trat ihm die Hauswirtin aus ihrer Stube entgegen und sagte, dass während seiner Abwesenheit ein Besuch oben gewesen wäre. Eine ältliche, blasse und kränkliche Lady hätte nach dem jungen Thorpe gefragt und bemerkt, dass sie seine Mutter sei. Zack hätte noch geschlafen; die Lady wäre sodann zur Treppe hinauf in das Zimmer gegangen, hätte sich über ihn gebeugt und ihn viele mal geküsst und wäre dann eilig und in Tränen fortgegangen. Mats Angesicht wurde sehr ernst, und als die Hauswirtin geendigt, befahl er ihr, nichts davon zusagen, wenn Zack erwacht sei. Es schien, als ob Mrs. Thorpe das Geheimnis ihres Gatten erfahren und sich ihm nun in treuer Liebe als Trösterin gewidmet habe.

Als der Arzt am folgenden Morgen seine regelmäßige Visite abstattete, ward er sogleich befragt, wann Zack soweit genesen sein werde, um eine Reise unternehmen zu können. Nach sorgfältiger Betrachtung der verwundeten Kopfseite, erwiderte er, dass der junge Mann nach etwa einem Monat die Reise sicher antreten könne, und dass die beabsichtigte Seereise seine Gesundheit und Kraft viel vollkommener herstellen würde, als alle nervenstärkenden Medikamente, welche sämtliche Ärzte in England verschreiben könnten. —— Matthias mochte die monatliche Untätigkeit, in welcher er wegen Zacks Krankheit verweilen musste, langweilig finden; aber ein Geschäftsbesuch aus Dibbledean veränderte die Situation. Obgleich Mat den wackeren Rechtsanwalt undankbarerweise ganz und gar vergessen hatte, so hatte aber Mr. Tatt seinen Klienten keineswegs auch vergessen, sondern mit unverdrossenem Fleiß und fester Entschlossenheit dessen Interessen verfolgt. Er hatte auskundschaftet, dass Mats Vater ihm eine Summe von zweitausend Pfund ausgesetzt habe, wenn seine Identität sicher festgestellt werden könnte. Dieses nun zu bewirken, war jetzt das große Vorhaben von Mr. Tatts Ehrgeiz. Er hatte hierbei nicht nur die Aussicht, selbst Geld zu gewinnen, sondern auch —— bei glücklichen Erfolg —— ein berühmter Rechtsanwalt in Dibbledean zu werden. Und vermittelst seiner eifrigen Beharrlichkeit musste er endlich einen glücklichen Erfolg haben. Er trug Mat auf allen Straßen und Plätzen aus, ließ ihn in allen Zeitungen signalisieren, brachte allerlei Papiere und Erklärungen bei, häufte überhaupt innerhalb eines Monats eine solche Masse von evidenten Beweisen auf, dass endlich Mr. Nawby, der Testamentsvollstrecker des verstorbenen Josua Grice —— sich selbst für überführt erklärte und die beanspruchte Identität der Person anerkannte. Als Mat dies vernommen, beorderte er Mr. Tatt, nach Abzug der Anwaltskosten vom Legat, eine solche gesetzliche Form festzustellen, wodurch die Summe einer andern Person zugeschrieben werde. Und als Mr. Tatt um den Namen der Person fragte, bat er zu schreiben »Martha Peckover« —— »Marias Kind ist Ihrer Fürsorge anvertraut und hat von ihrem Vater Geld genug zum Unterhalt empfangen«, sagte Mat, als er das Dokument in Valentins Hände gab. »Wenn Martha Peckover alt geworden und nicht mehr arbeiten kann, wird sie ein paar Banknoten wohl bedürfen. Geben Sie ihr dies —— wenn ich abgereist bin —— und sagen Sie ihr: sie hätte es von Marias Bruder an dem Tage geerntet, wo sie Marias halbverhungertes Kind am Wege gesäugt habe.«

Der Tag der Abreise kam näher. Zack erholte sich sehr schnell, so dass er bald befähigt ward, das von seinem Vater angekommene Schreiben bei dessen Agenten abzuholen. Es versicherte ihm kurz, aber sehr gütig die erbetene Verzeihung, wies ihm bei einem Geschäftsmann die ihm zugestandene Geldsumme an, die er für seine Studien in der Kunst oder zu anderweitigen Beschäftigungen verwenden könne, und animierte ihn, Mr. Blyth stets als seinen besten Freund und Ratgeber zu betrachten; schließlich ward er noch gebeten, öfters über sich und seine Beschäftigungen an seine Mutter zu schreiben und die Briefe durch den erwähnten Agenten zu übersenden.

Als Zack von diesem Gentleman hörte, dass sein Vater das Haus in Baregrove-Square verlassen habe, wünschte er zu wissen, welche Ursache ihn zu seinem Wohnungswechsel veranlasst habe. Darauf ward er informiert, dass der Gesundheitszustand Mr. Thorpes ihn dazu genötigt habe, sich einen stillen, zurückgezogenen Aufenthalt der Ruhe zu wählen. Und aus diesen Gründen werde auch der betreffende Ort keiner Person genannt werden.

Der Tag der Abreise war angekommen. Am Morgen schrieb Zack auf Valentins Rat an seine Mutter, dass er in Begriff sei, mit einem guten Freunde, den Mr. Blyth selbst als zuverlässig bezeichnet habe, eine Vergnügungsreise zu machen. Während er damit beschäftigt war, hatte der Maler eine geheime Zusammenkunft mit Matthias Grice, wobei ihn dieser recht ernstlich bat, sich ja stets der großen Verantwortlichkeit hinsichtlich seines jungen Gesellschafters zu erinnern. Mat erwiderte kurz und charakteristisch: »Ich sagte Ihnen, dass ich ihm so zugetan sei, als wenn er ein Stück meines eigenen Fleisches und Blutes sei. Wenn Sie nun nach dem Gesagten noch nicht glauben, dass ich ihn hinreichend im Auge behalten und für ihn sorgen werde, so kann ich überhaupt nichts mehr zu Ihnen sagen.«

Beide Reisende waren in Mrs. Blyths Zimmer erschienen, um Lebewohl zu sagen. Es war ein trauriger Abschied. Zacks Gemüt war seit seiner Visite bei dem Agenten nicht mehr so heiter und leicht wie früher, —— und die andern versammelten Personen waren mehr oder weniger über die bevorstehende Trennung betrübt. Madonna —- vor einigen Tagen noch wohl —— sah sehr krank und angegriffen aus. Und jetzt, als sie die traurigen scheidenden Gesichter sah, ward das arme Mädchen so vom Schmerz übermannt, dass sie ihre Selbstbeherrschung verlor und die peinlichsten Anfälle bekam, so dass Zack die Abschiedsszene sehr schnell beendigte und zuerst das Zimmer verließ. Ihm folgte Matthias auf den Hausflur, dann blieb er stehen —— plötzlich wandte er sich um und betrat wieder das Zimmer. Er ergriff noch einmal die Hand seiner Schwestertochter, bog sich über das blasse und in Tränen schwimmende Mädchen und küsste sie recht herzlich auf die Wangen.

»Sagen sie ihr eines Tages, dass ich und ihre Mutter Spielgefährtinnen zusammen waren«, sprach er zu Mrs. Blyth, verließ das Zimmer und wanderte mit Zack zur Treppe hinunter.

Valentin begleitete sie bis zum Schiffe. Als sie sich die Hände schüttelten, sagte er zu Matthias: »Zack hat versprochen, binnen einem Jahre wieder zurückzukommen. Werden wir Sie auch dann wiedersehen?«

Mat nahm den Maler zur Seite, ohne die Frage direkt zu beantworten. »Wenn Sie einmal nach Bangbury kommen«, wisperte er, »so blicken Sie auf den Kirchhof in die dunkle Ecke unter den Bäumen. Da ist ein neues Stück Walnussholz an dem Kreuze angebracht, wo sie beerdigt liegt. Es würde ein Trost für mich sein, wenn ich die Gewissheit mit mir nähme, dass es schön blank und sauber gehalten wird. Wenn Sie es also ein klein wenig reinigten, im Fall dass es schmutzig ist, so würden Sie mich dadurch sehr erfreuen, —— denn ich selbst werde den Platz nie wiedersehen in meinem Leben. ——«

Traurig und gedankenvoll wanderte Valentin allein nach seiner Wohnung zurück und begab sich in das Zimmer seiner Gemahlin.

Als er die Tür öffnete, blieb er erstaunt auf der Schwelle stehen, denn er sah Madonna an der Seite ihrer Adoptivmutter sitzen, das Haupt an deren Busen verborgen und die Arme um ihren Nacken geschlungen.

»Hast Du ihr alles zu sagen gewagt, Lavinia?« fragte er.

Mrs. Blyth war nicht fähig, ein Wort zu sprechen, —— sie blickte ihn tränenvoll an und senkte ihr Haupt.

Valentin weilte noch einen Augenblick in der Tür —— dann schloss er sie sanft und ließ die Damen allein.


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