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Neuntes Kapitel - Die Erzählung der Johanna Grice

»Ich wünsche, dass dies Schreiben erst nach meinem Tode gelesen werden mag, und nenne es absichtlich eine Rechtfertigung meines Benehmens gegen meine Nichte. Nicht weil ich dachte, mein Benehmen bedürfte irgendeiner Entschuldigung, —— ausgenommen über einen Punkt, ist mein Gewissen in der Hauptsache ruhig; —— sondern weil andere, unbekannt mit meinen wahren Motiven, denken möchten, meine Handlungen bedürften der Rechtfertigung, und mich gottlos verdammen würden, wenn sie nicht folgende Tatsachen zu meiner Verteidigung erführen. Sollte irgend noch ein Mitglied von meines seligen Bruders Familie leben, so bin ich überzeugt, die Stimme desselben wird sich gegen meine Tat erheben. Ich muss daher sehr wünschen, dass, wenn diese Person noch am Leben, sie einst auch befähigt sein möchte, aufmerksam zu lesen, was ich hier geschrieben habe. Denn es ist sowohl an die heftigen maliziösen Ankläger gerichtet, als an die bedächtigen unparteiischen Untersucher. Die Verwandtschaft, zu der ich —«

Hier wurde Mat, der bis dahin aufmerksam gelesen hatte, sehr ungeduldig und heftig, stieß ein paar ärgerliche Worte heraus und fuhr mit dem Finger einige Zeilen weiter herunter und kam zu folgender Stelle:

»Es war im April 1827, als der Schurke, welcher der Ruin meiner Nichte und der Ehre unserer Familie ward, zuerst nach Dibbledean kam. Er mietete das kleine, vier Zimmer enthaltende Häuschen, genannt Jays Cottage, welches eine Viertelmeile außerhalb der Stadt lag und schön ausgeschmückt ward. Er nannte sich Mr. Carr, und die wenigen Briefe, welche an ihn kamen, waren adressiert »Arthur Carr, Esq.« Er war noch ganz jung, ich glaube, kaum vier- oder fünfundzwanzig Jahr alt, hatte sanfte Manieren und ein zartes, fast weibliches Aussehen. Seine Haare trug er lang über die Schulter und seine feine Haut und Gesichtsfarbe zeigten ebenfalls etwas Weibliches. Obgleich er ein Gentleman zu sein schien, so hielt er sich dennoch fern von den respektablen Familien Dibbledeans und machte gar keine Bekanntschaften. Es besuchten ihn keine Freunde, wie ich hörte, ausgenommen ein alter Gentleman, welcher sein Vater gewesen sein mag, aber auch kaum ein- oder zweimal dagewesen ist. Nach seiner Aussage kam er nach Dibbledean, um ruhig und zurückgezogen studieren zu können; er war sehr zurückhaltend und ließ niemanden zu sich, bis an einem miserablen Tage, wo er meinen Bruder Josua und meine Nichte Marie, welche seine Bekanntschaft gemacht hatten, in seiner Wohnung empfing.

Bevor ich zu den andern Verhältnissen übergehe, muss ich erst sagen, dass Mr. Carr das war, was man einen Botaniker nennt. An allen schönen Tagen war er auch stets außer dem Hause, sammelte Pflanzenblätter, welche er, wie es schien, in einer Zinnbüchse nach Hause trug, trocknete und aufbewahrte. Er mietete einen Gärtner für das Aufsuchen der Pflanzen rund um Jays Cottage, und derselbe sagte mir einmal, dass sein Herr mehr Blumen kenne und wüsste, wie sie wüchsen, als irgendjemand. Mr. Carr machte viele kleine Gemälde und setzte Blumen und Blätter zu Mustern zusammen. Diese Dinge hielt man für sonderbare Amüsements eines jungen Mannes, aber er war ihnen so zugetan, wie andere der Jagd und dem Schießen. Er brachte mehrere Bücher mit, las in denselben, aber seine größte Zeit widmete er, wie ich hörte, der Botanik, den Blumen.

Wir hatten in jener Zeit die zwei besten Laden in Dibbledean. Josua hatte Strumpfwaren und ich ein sehr gutes Putzmachergeschäft. Beide Laden befanden sich in einem Hause und waren nur durch eine Scheidewand voneinander getrennt. Eines Tages kam Mr. Carr in Josuas Laden und wollte etwas kaufen, was mein Bruder nicht gleich zur Hand hatte; er verlangte eins der gewöhnlichen Dinge, welche das Stadtvolk allgemein kauft. Josua bat ihn, sich einige Minuten niederzusetzen, aber Mr. Carr blickte, da die Tür des Ladens und der Zimmer geöffnet war, in den Garten, den er durch die Fenster sehen konnte, und sagte, dass er gern einen Gang darin machen wollte, um die Blumen zu sehen, während dessen würde wohl das Gewünschte für ihn ankommen. Josua war ganz außerordentlich hoch erfreut, dass ein Gentleman, welcher zugleich Botaniker war, von seinem Garten Notiz nahm; er führte den Herrn hinein und ging dann ins Warenhaus, um das Begehrte zu suchen.

Meine Nichte Marie arbeitete mit andern jungen Frauenzimmern in meiner Abteilung des Hauses. Das Arbeitszimmer lag nach der Gartenseite. Meine Nichte musste Mr. Carr von den Fenstern aus gesehen haben und schlüpfte, da ich eben nicht anwesend war, die Treppen hinab in den Garten, um den fremden Gentleman zu sehen und mit ihm bekannt zu werden. Als ich später in das Arbeitszimmer kam und sie nicht dort fand, blickte ich durchs Fenster und sah sie, Josua und Mr. Carr zusammen an dem Grasplatz stehen. Der fremde Gentleman hatte eine Blume in der Hand und schien recht intim und zärtlich mit ihr zu sprechen. Ich rief zu ihr hinunter, sie solle sogleich an ihre Arbeit heraufkommen. Aber sie blickte in ihrer kecken, unverschämten Weise lächelnd zu mir herauf und sagte: »Vater hat gesagt, ich solle hier bleiben, um zu lernen, was dieser Gentleman mir über mein Geranium zu lehren so gütig ist.« Ich konnte in Gegenwart des Fremden weiter nichts sagen. Nachdem er fort war, kam sie triumphierend, singend und lachend herauf, nicht wie ein junges sittsames Mädchen, sondern wie eine tolle Schauspielerin. Ich hielt alle ihre Neckereien ruhig aus, ging aber noch an demselben Tage zu meinem Bruder Josua hinunter, redete sehr ernst mit ihm und warnte ihn, seine Tochter strenger zu halten und ihr nicht ihre eigenen Wege gehen zu lassen; auch erbot ich mich, eine strenge Hand über sie zu halten, wenn er mich darin passend unterstützen wolle. Aber er wies mich sorglos ab und erging sich in scherzenden Worten, die er hernach sehr bitter bereuen musste.

Josua war ein guter, religiöser und respektabler Mann, aber sein Unglück bestand darin, dass er zu leichtsinnig und zu stolz auf seine Tochter war. Nachdem er seine Frau, seinen ältesten Sohn und eine Tochter durch den Tod verloren hatte, ward er noch zärtlicher gegen Marie und vermochte ihr nicht das Geringste abzuschlagen. Ein anderes Kind seiner Familie ——«

Hier verlor Mat die Geduld wieder, murmelte ärgerlich für sich selbst und übersprang dann abermals mehrere Zeilen.

»Ich habe schon gesagt, dass sie auf ihr hübsches Aussehen eitel, dabei keck und leichtsinnig war, und muss noch hinzufügen, sorglos, lebhaft und leidenschaftlich. Sie hatte ihre geheimen Wege und niemand sah scharf genug hin, dies zu bemerken als ich. Wenn ich ihr strafende Vorstellungen über ihr Benehmen machte und ihrem Vater bewies, dass ich Recht hatte, so wusste sie ihn stets so schmeichelnd zu bearbeiten, dass er ihr vergab. Sie wusste jedermann gegen mich einzunehmen, und obgleich ich in dem Verhältnis einer Mutter zu ihr stand, so hatte sie dennoch nicht den geringsten Respekt vor mir, bezeigte mir niemals Dankbarkeit, stand stets in Fehde gegen mich und beleidigte mich bei jeder Gelegenheit. Anfangs benahm sie sich bezüglich Mr. Carr sehr verschlossen gegen mich. Es schmeichelte ihrem Stolz, von einem Gentleman und Kunden des Ladens beachtet und bewundert zu werden, als wäre sie eine geborene Lady. Noch an demselben Abend, zur Teezeit, machte sie vor meinen eigenen Augen die Wirkung des Rates, den ich ihrem Vater gegeben, zunichte. Sie schaukelte sich auf seinen Knien, küsste ihn, band ihm die Halsbinde um und ab, steckte ihm Blumen in ein Knopfloch und benahm sich mehr wie ein Kind als wie ein erwachsenes Frauenzimmer. Sie schmeichelte und liebkoste ihm das Versprechen ab, nächsten Sonntag mit ihr zu Mr. Carr zu gehen, um seinen Garten zu sehen; es schien mir, als ob der Gentleman sie eingeladen hatte, um seine Blumen in Augenschein zu nehmen. Als ich es hörte, bot ich alle meine Kräfte auf, um meinen Bruder dahin zu bringen, dass er die Einladung ablehne, und tadelte ihn, dass er nähere Bekanntschaft mit dem Fremdling machen wolle; aber alles, was ich sagte, war nutzlos.Sie wusste stets alles besser wie ich, und wenn ich redete, lachte sie keck und beleidigte mich mit ihren leichtsinnigen Antworten. Ihr Vater wunderte sich über mich, dass ich mich nicht über ihren hohen Geist erfreuen könne. Ich schüttelte mein Haupt und war still. Armer Mann! Er lebte und sah es noch, wohin ihr hoher Geist sie geführt hat.

Am nächsten Sonntag nach der Kirche gingen sie zu Mr. Carr. Obgleich auf diese Art meinem Rate getrotzt ward, so beschloss ich dennoch, in einer strengeren Wachsamkeit über meine Nichte fortzufahren. Ich fühlte, dass die Erhaltung des Ansehens und der Reputation der Familie allein auf mir lag, und entschied mich fest, alles Mögliche zu versuchen, um unsern guten Namen zu erhalten. Nach all den Ereignissen ist das Bewusstsein, dass ich stets das Äußerste getan habe, um diesen Entschluss auszuführen, ein wirklicher Trost für mich. Die Veranlassung zu unserer Schande liegt nicht vor meiner Tür. Ich misstraute Mr. Carr sogleich vom ersten Augenblick an und versuchte eifrig, auch die andern von meinem gerechten Verdachte zu überzeugen. Aber alles, was ich sagte und tat, half nichts gegen die schändliche Schlauheit meiner Nichte. So sehr ich sie auch bewachte und einschränkte, sie war sicher ——«

Mat brach hier noch einmal in der Mitte des Satzes ab. Es war die Abendzeit herangekommen, wo man Licht anzuzünden pflegt. Der kurze Wintertag war beinah verschwunden und die herannahende Finsternis lagerte sich auf Johanna Grices Buchstaben. Als er das Licht angezündet hatte, wechselte er den Platz und begann dann mit abermaliger Überspringung einiger Zeilen weiter zu lesen.

»Die Verhältnisse waren nun so weit gekommen, dass sie, wie ich sicher fühlte, mit ihm geheime Zusammenkünfte hatte, jedoch konnte ich hier vor meinem Bruder keine überzeugenden Beweise liefern. Ich hatte keine Hilfe zur Hand, welche ich zur Besiegung dieser teuflischen Schlauheit, mit welcher man mich überlistete, anrufen konnte. Fremde Personen zur Bewachung zu nehmen, konnte ich nicht wagen, weil dadurch der Skandal in ganz Dibbledean aufgesprengt worden wäre, was ich natürlich ängstlich zu vermeiden suchte. Josuas Verblendung machte ihn gegen jede vernünftige Vorstellung taub. Er wollte durchaus keinen Verdacht in Mariens zunehmender Vorliebe für Botanik und Zimmerblumen erblicken. Er ließ ihr ihre Gemälde an Mr. Carr zum Kopieren verleihen, gerade als wären sie schon zeitlebens miteinander bekannt. Nächst dem blinden Vertrauen zu seiner Tochter, weil er sie gar zu zärtlich liebte, war sein Vertrauen in den Fremden ebenso blind, weil er sich von diesem durch seine eleganten Manieren und durch sein feines, artiges und ruhiges Benehmen gewinnen ließ, und Carr uns sehr oft seltene Blumen für unsern Garten sandte. Er wollte mir durchaus nicht erlauben, Maries Briefe zu öffnen oder ihr zu verbieten, allein spazieren zu gehen. Ja, er sagte mir einmal, dass ich nicht wüsste, wie man jungen Personen passende nachsichtige Vergünstigungen erlaube. Vergünstigungen!! Ich kannte meine Nichte und meine Pflicht für eine der anständigsten Familien besser, als ihr solche Vergünstigungen zu einer solchen Ausführung zu gestatten. Ich hielt sie unter der strengsten Hand, so gut ich konnte. Ich beratschlagte und stritt mich mit ihr, befahl ihr, teilte ihr die Zeit zu, bewachte und warnte sie, sagte ihr in den kürzesten Worten, sie solle mich nicht betrügen —— weder sie noch ihr Gentleman. Ich war ehrlich und offen, sagte ihr im strengsten Tone, wie sehr ich ihren Umgang mit Mr. Carr missbillige, und ich würde denselben ganz sicher abbrechen, wenn es allein in meiner Macht läge. Ebenso einfach bemerkte ich ihr, dass, wenn sie einmal ins Unglück käme, es zu spät sein würde, ihr zu helfen. Aber sie antwortete in ihrer leichtfertigen buhlerischen Art, dass, wenn sie ins Unglück käme, es nur durch meine Einwirkung geschehen würde, und dass sie glaube, ihres Vaters Güte würde es niemals zu spät finden, ihr zu helfen. Dies war nur ein Beispiel ihrer gebräuchlichen Unverschämtheiten und Gottlosigkeiten, welche sie mir stets erwiderte.«

Als er diesen Satz beendigt hatte, schlug er das Schreiben auf die Knie und fluchte der Schreiberin mit einigen jener Goldgräberverwünschungen, welche er zu seinem Unglück nur zu oft in den vergangenen Tagen seiner kalifornischen Wanderungen gehört hatte. Er bedurfte großer Selbstbeherrschung, um sich zu mäßigen und das Schreiben nicht aus Widerwillen ganz und gar zu zerknittern oder von sich zu werfen. Er breitete es noch einmal vor sieh aus, blickte auf diesen, darin auf jenen Satz, las aber nicht; hierauf wendete er das Blatt um, zauderte —— und begann dann auf einer andern Seite weiter zu lesen.

»Als ich Josua allgemein erzählte, was ich beobachtet und was ich ganz besonders an jenem Abend gesehen und gehört hatte, schien er ein klein wenig zu stutzen, ließ dann meine Nichte rufen und forderte eine Erklärung. Nachdem er zu ihr wiederholt, was ich ihm gesagt hatte, schlang sie ihre Arme um seinen Hals, blickte erst mich, dann ihn an, brach in heftiges Schluchzen und Weinen aus und es wurde ihr endlich so schlecht, dass sie in eine Art Paroxysmus verfiel. Ich war nicht ganz sicher, ob dies nicht einer ihrer Kniffe sei; aber es erschreckte ihren Vater so sehr, dass er sich ganz vergaß, allen Tadel auf mich warf und sagte, meine Prüderie und Konspiration hätte das arme Mädchen gepeinigt und ihr einen Todesschrecken verursacht. Nach solchen Beleidigungen konnte ich, wie sich von selbst versteht, nichts anderes tun als das Zimmer verlassen.

Es war jetzt Herbst, Mitte September, und ich war mit meinem Witz zu Ende, was ich denn nun tun und lassen sollte —— als Mr. Carr Dibbledean verließ. Er hatte schon im Sommer das Städtchen einige Mal verlassen, aber nur höchstens auf zwei Tage. Bei jener Abwesenheit hatte er ihr niemals kleine Billetts geschrieben; jetzt aber kam ein größerer Brief von ihm an meine Nichte. Ich glaubte, dies deute auf ein längeres Entferntsein als gewöhnlich, und beschloss, den Vorteil zu benutzen und zu versuchen, ob ich nicht das intime Verhältnis zwischen beiden zu brechen vermochte. Ich muss feierlich erklären und kann es nötigenfalls durch einen Eid bekräftigen, dass trotz dem, was ich gesehen, ich nicht die entfernteste Idee von der Gottlosigkeit hatte, welche wirklich begangen war. Ich danke Gott, dass ich nicht hinreichend auf den Wegen der Sünde bewandert war, um scharf sehend auf den rechten Schluss zu kommen, wie vielleicht zahlreiche andere Frauen in meiner Situation. Ich glaube, dass der Weg, auf dem sie jetzt wandelte, nur für ihre Zukunft gefährlich sei, und handelte in diesem Glauben. Demzufolge hielt ich mich für berechtigt, jedes Mittel, das in meiner Macht stand, zu gebrauchen, um sie von ihrer gegenwärtigen Bahn abzubringen. Ich entschloss mich deshalb fest, ihr keine Briefe von Mr. Carr in die Hände kommen zu lassen, wenn er wieder schreiben würde. Und ich kannte ihre Leidenschaft und ihren Stolz hinreichend, um zu wissen, dass, wenn sie auf den Glauben gebracht war, sie werde von ihm vernachlässigt, sie gewiss jeden Umgang mit ihm abgebrochen haben würde, und wenn er auch sogleich nach Dibbledean zurückgekehrt wäre.

Da ich in dem Verhältnis einer Mutter zu ihr stand und nur ihr Wohl im Herzen hatte, so glaubte ich mich auch vollkommen gerechtfertigt zur Ergreifung meiner Maßregeln. Über diesen Hauptpunkt ist mein Gewissen ganz ruhig und leicht. Ich kann den Plan, welchen ich jetzt erwählte, nicht näher beschreiben, ohne eine noch lebende Person ernstlich, ja sogar verhängnisvoll zu blamieren und zu kompromittieren. Alles was ich sagen kann, ist, dass jeder Brief von Mr. Carr, an unser Haus adressiert, in meine Hände kam und von mir ungelesen den Flammen übergeben ward. Diese Briefe waren zuerst alle an meine Nichte gerichtet, aber zu Ende des Jahres kamen in verschiedenen Zwischenräumen auch zwei an meinen Bruder adressiert. Da ich dem Schreiber sowohl als der Schwäche meines Bruders misstraute, warf ich auch diese Briefe, wie alle andern, ungelesen ins Feuer. Nach diesen kamen keine mehr und Mr. Carr kehrte auch nicht wieder nach Dibbledean zurück. In Hinsicht dieses Teils meiner Erzählung habe ich nur noch hinzuzufügen, bevor ich zu dem miserablen Bekenntnis unserer Familienschande übergehe, dass ich nachher niemals wieder etwas sah, noch irgend jemals etwas hörte von dem Manne, welcher meine Nichte zu jener Todsünde verführte, die ihr Ruin in dieser Welt war und auch im Jenseits sein wird.«

Mat hatte augenscheinlich immer größeres Interesse an dem Schreiben bekommen. Obgleich er diese letzte Sentenz schon beim erstmaligen Erblicken des Schreibens unter dem Schuppen unweit Dibbledean zufällig gelesen hatte, so las er sie jetzt doch noch einmal recht sorgenvoll —— pausierte einen Augenblick —— dann las er sie entschlossen durch. Nachdem dies geschehen war, wurde er plötzlich ganz still und gedankenvoll. Seine Augenbrauen zogen sich düster zusammen und der wilde zornige Glanz, welcher vorhin aus den Augen blitzte, erschien wieder, als er in dem Briefe weiter las.

»Ich muss nun zurückkehren zu dem, was sich durch meine Verbrennung der Briefe ereignete. Als meine Nichte Tag für Tag und Woche für Woche vergebens auf einen Brief oder eine Nachricht wartete, grämte sie sich mehr, als ich vermutet hatte. Und Josua wunderte sich in ihrer Gegenwart über die lange Abwesenheit des Gentleman von Jays Cottage und machte sie unbesonnenerweise noch schlecht. Mein Bruder war ein Mann, der nicht leiden konnte, dass seine täglichen Gewohnheiten unterbrochen wurden. Er hatte die Gewohnheit gehabt, an gewissen Abenden zu Mr. Carr zu gehen, dabei, es schmerzt mich, es sagen zu müssen, seine Tochter mitzunehmen, die Londoner Zeitung zu holen und Zimmerblumen zurückzubringen. Meine Nichte brachte Neuigkeiten zum Kopieren. Und jetzt ward er ängstlich, ruhelos und missvergnügt, so viel als es ein leichtes Temperament zu sein vermag, dass er nicht seine gewöhnlichen Gänge zu Jays Cottage machen konnte. Sie härmte und grämte sich, weinte im Geheimen, wie ich an ihren Augen bemerkte, und veränderte sich zu einer ganz andern Gestalt. Jetzt kam auch dann und wann der böse Anfall wieder, wie ich erwartet hatte; aber er verging stets wieder auf eine solche Art, wie es bei so leidenschaftlichen Naturen selten der Fall ist. In dieser ganzen Zeit verbitterte sie mir das Leben, wie sie nur konnte; herausfordernd, drohend und mich beleidigend bei jeder Gelegenheit. Ich glaube, sie hatte mich hinsichtlich der Briefe in Verdacht. Aber ich hatte meine Maßregeln so genommen, dass eine Entdeckung unmöglich wurde; ich beschloss zu warten, geduldig zu sein und zu ertragen, bis ihr besseres Teil über ihre gottlose Neigung zu Mr. Carr siegen würde.

Zuletzt, am Ende des Winters änderte sie sich so sehr und bekam ein solch befremdendes Aussehen im Gesicht, dass Josua noch unruhiger wurde und zum Doktor senden wollte. Sie schien schon bei der bloßen Erwähnung heftig erschrocken zu sein und erklärte ganz unerwartet in sehr leidenschaftlich aufgeregter Stimmung, sie habe keinen Arzt nötig und würde ihm keine einzige Frage beantworten. Dies versetzte mich sowohl als Josua in großes Erstaunen, und wenn er mich geheim über die Ursache befragte, konnte ich ihm nichts anderes sagen, als dass ich glaubte, die Liebe zu Mr. Carr habe ihren Verstand getrübt. Zum ersten Mal in seinem Leben fiel mein Bruder in eine wütende Raserei gegen mich. Ich vermutete, er war mit seinem eigenen Gewissen in Zwiespalt, wenn er sich erinnerte, wie töricht und gar zu nachsichtig er gegen sie gewesen war, und wie sorglos er ihr und sich selbst erlaubt hatte, die Bekanntschaft mit einer Person außerhalb des Orts zu machen, die man doch eigentlich nicht näher kennen zu lernen vermochte. Ich sagte ihm nichts darüber in jener Zeit; er war nicht fähig, es ruhig anzuhören, und noch weniger fähig, den Plan zu vernehmen, welchen ich gewählt hatte, um sie zu kurieren. Auch war es meine Absicht nicht, ihm denselben zu gestehen.

Als Wochen und Monate vergingen und sie sich fortwährend härmte und grämte, so dass sie ganz unkenntlich wurde, begann ich zu zweifeln, ob mein trefflicher Plan, von dem ich so viel hoffte, guten Erfolg haben würde. Ich war schmerzlich betrübt und bekümmert in meinem Gemüt, was ich zunächst tun sollte, und begann in der Tat zu fühlen, dass die Schwierigkeit für mich zu groß wurde, just als eben die Angelegenheit sich schnell zu ihrem schandbaren Ende neigte. Das Weihnachtsfest stand nahe bevor. Josua hatte sein Verzeichnis der Warenartikel für auswärtige Sendungen bekommen und war in Geschäftsangelegenheiten nach London gereist, wie er jedes Jahr um diese Zeit zu tun pflegte. Ich erwartete ihn wie gewöhnlich ein oder zwei Tage vor dem Feste zurück.

Vor kurzer Zeit hatte ich wieder eine Veränderung an meiner Nichte bemerkt. Seit mein Bruder gesagt hatte, dass er nach dem Arzt schicken wolle, war sie wenigstens insofern anders geworden, dass sie jetzt ziemlich regelmäßig ihre Arbeiten verrichtete und behauptete, sie sei nicht krank, obgleich sie damit eine schlechte Behauptung machte, und sie sei bestrebt, ihrem Vater das Leben zu erleichtern und angenehm zu machen. Die Veränderung, auf die ich mich jetzt beziehe, war ganz anderer Art und ihr Benehmen gegen mich heuchlerisch, ebenso auch ihre jetzige Kleidung. Wenn wir zusammen allein waren, fand ich ihre Aufführung wesentlich geändert. Sie sprach sanft zu mir, blickte demütig und arbeitete, was ich ihr befahl, ohne Murren und Widerspruch; einmal versuchte sie sogar, mich zu küssen. Aber ich war auf meiner Hut —— erwartend, dass sie mich durch ihre Schmeichelei fangen wolle —— ihr Aufschluss zu geben, ob Mr. Carr geschrieben habe, und was mit dessen Briefen geschehen sei. Also um diese Zeit, auch einige Wochen vorher bemerkte ich eine Veränderung in ihrer Kleidung. Sie trug sich nachlässig, fast schmutzig, hatte im Zimmer ein Shawl um und klagte über Frost, wenn ich mich über diese ungewöhnliche Tracht tadelnd aussprach. —— Ich weiß nicht, wie lange dies gedauert und wie es geendigt haben würde, wenn die Dinge ihren gewöhnlichen Weg gegangen wären. Aber die schreckenvolle Wahrheit machte sich zuletzt selbst durch eine Art Zufall bekannt.

Sie hatte eines Tages einen Streit mit einem andern jungen Frauenzimmer im Putzmacherladen, mit Namen Helena Grough, über eine gewisse ehrlose Freundin von ihr, Johanna Holdsworth, die ich früher einmal engagiert und dann wegen Grobheit und schmutziger Aufführung fortgeschickt hatte. Lene Grough musste zu sehr durch meine Nichte gereizt worden sein, genug, sie kam in leidenschaftlicher Aufregung zu mir und erzählte mir in vielen Worten die schreckliche Wahrheit, dass meines Bruders einzige Tochter sich selbst und die ganze Familie für ewig geschändet und entehrt habe. Der unaussprechliche Jammer und Schauder ist mir nach so vielen Jahren noch jetzt gegenwärtig. Der Schlag, den ich damals empfing, warf mich nieder; ich habe mich niemals wieder ganz erholt davon und werde es auch wohl niemals.

In der ersten Bestürzung muss ich etwas gesagt und getan haben, was die Entehrte gehört und ihr die Überzeugung beibrachte, dass ich ihre Infamie entdeckt habe. Ich ging zu ihrem Schlafzimmer, fand die Tür verschlossen und hörte ihre Weigerung, sie zu öffnen. Nachdem muss ich ohnmächtig geworden sein, denn ich fand mich, ich weiß nicht wie, nach einiger Zeit im Arbeitszimmer und vor mir Lene Grough mit der Riechflasche. Mit ihrer Hilfe kam ich in mein eigenes Zimmer und ward wieder so ohnmächtig, dass ich fast wie tot niederfiel. Als ich wieder zu mir kam, ging ich noch einmal zum Schlafzimmer meiner Nichte. Die Tür war jetzt offen, und am Spiegel befand sich ein an meinen Bruder adressiertes Stück Papier. Sie war aus dem ehrbaren Hause gegangen, das ihre Sünde befleckt hatte —— sie war gegangen für immer, ausgeschieden für ewig. Sie hatte nur ein paar Zeilen an ihren Vater geschrieben, aber in denselben ihr schändliches Verbrechen bekannt und eingestanden, dass sie der Schurke Carr dazu verführt habe. Sie sagte, dass sie gegangen sei, um die Schande von unserm Hause zu nehmen. Sie bat, keinen Versuch nach ihrer Spur zu machen, denn sie würde lieber sterben, als zurückkehren, um ihre Familie zu schänden und ihren armen Vater in seinen alten Tagen zu betrüben. Nach diesen kamen einige Zeilen, welche sie erst nach einer anderen Gedankeneingebung niedergeschrieben haben mochte. Ich erinnere mich nicht genau der Worte mehr, aber der Sinn war schamloser als ich dachte.

Wenn das Kind, was sie gebären würde, so hieß es, lebend zur Welt käme, so würde sie für dessen Erhaltung alles leiden und dulden.

Zunächst war es wenigstens eine große Erleichterung für mich, dass sie gegangen war. Die schreckliche Bloßstellung und Erniedrigung, welche uns drohte, schien durch ihre Abwesenheit wenigstens vertagt zu sein. Nach Befragen Lene Groughs vernahm ich, dass die beiden andern noch bei mir arbeitenden jungen Frauenzimmer, welche glücklicherweise auf einige Tage bei ihren Freunden zum Besuch waren, nichts von dem ehrlosen Geheimnis meiner Nichte wussten. Lene hatte es zufällig entdeckt und meine Nichte war demzufolge genötigt gewesen, ihr es im Vertrauen zu bekennen. Jedermann sonst im Hause war so geschickt betrogen worden als ich selbst. Als ich dies bemerkte, lebte ich der Hoffnung, dass unsere Familienschande im Städtchen unbekannt bleiben würde.

Ich schrieb an meinen Bruder und verhehlte, was sich ereignet hatte, bat ihn jedoch, so schnell als möglich zurückzukommen. Es lag der bitterste Teil von all den bitteren Leiden, die ich je erduldet, in dem Gedanken, was ich Josua sagen sollte und zu welchen schrecklichen Handlungen ihn das Verderben seiner Tochter treiben würde. Ich war eifrig bestrebt, mich für die kommende harte Prüfung standhaft vorzubereiten. Aber was sich darauf ereignete, war das Furchtbarste und Schrecklichste, das ich nie zu ahnen vermochte. Als mein Bruder die schauderhafte Neuigkeit hörte und das beschriebene Papier sah, brach er in wahrhafte Verzweiflung und förmlichen Wahnsinn aus. Er erklärte, dass er sogleich gehen und sie aufsuchen wolle, und dass andere sie aufsuchen sollten. Er sagte und schwor, dass er sie zurückbringen würde, wo er sie auch fände, dass er ihr beistehen, ihr Unglück und Elend bemitleiden und ihre Reue annehmen wolle, und dass er sie in seinem Hause beschützen und wieder so zärtlich lieben würde, wie in den früheren Tagen ihrer Unschuld! —— So sprach er, hatte aber nicht einen einzigen Gedanken an den Skandal und die Schande, welche hierdurch auf die Familie geworfen wurde. Er riss die Schrift weg, und —— das Schlimmste von allem war —— als er vernahm, dass seiner Tochter Schande durch mich entdeckt worden sei; er bestand darauf, dass Lene Grough aus dem Hause musste und erklärte, dass sie nie wieder unter seinem Dach schlafen solle, in solch schauderhaften Worten, wie ich sie nie von ihm für möglich gehalten hatte. Es war hoffnungslos, einen Versuch zur Aussöhnung mit ihm zu machen. Er stieß sie noch an demselben Tage mit eigener Hand aus dem Hause. Sie war eine vortreffliche, fleißige Arbeiterin, aber boshaft und rachsüchtig, wenn ihr Temperament gereizt wurde. Am nächsten Morgen war unsre Schande in ganz Dibbledean bekannt.

Es stand mir eine große Beschimpfung bevor und schon der Gedanke an Marien machte mich krank. Ich kannte Josua zu gut und wusste, dass, wenn er die verlorene Tochter irgendwo fand, er sie sogleich wieder zurückbringen würde.

Ich war in unserm Hause zu Dibbledean geboren, meine Mutter ebenfalls; unsere Familie hatte in dem alten Orte ehrbar und geachtet gelebt; viele Generationen hindurch war auch nicht der Hauch eines üblen Gerüchts auf sie gefallen. Als ich hieran dachte und dann die Möglichkeit erwog, dass ein liederliches Frauenzimmer vielleicht bald ins Haus treten und ein Bastardkind gebären werde, —— in dem Hause, wo so viele meiner Vorfahren ehrbar gelebt hatten und rechtschaffen gestorben waren, —— als ich an diese Möglichkeit dachte, da entschloss ich mich, dass der Tag, an dem sie den Fuß über die Schwelle setzen würde, der letzte sein sollte, den ich in meinem Geburtshaus verlebte, und dass ich dann meine Heimat für ewig verlassen wollte.

Während ich mich mit diesem Gedanken beschäftigte, kam Josua zu mir, —— so entschlossen in seiner Absicht, wie ich geheim in der meinigen, —— um mich zu fragen, ob ich keinen Verdacht über die Richtung hätte, die sie eingeschlagen habe. Alle Erkundigungen, die er in Dibbledean darüber eingezogen hatte, schienen erfolglos gewesen zu sein. Ich sagte, dass ich keine bestimmte Kenntnis darüber hätte und dies war wirklich wahr, ich vermutete aber, dass sie nach London gereist sei. Er fragte warum? Ich antwortete, sie sei auf jeden Fall dahin gereist, um Mr. Carr aufzusuchen, und bemerkte dann, dass ich mich erinnerte, sein Brief an sie, der erste und einzige, den sie von ihm empfing, hätte eine Londoner Postmarke getragen. Wir konnten diesen Brief damals nicht finden; der Schlupfwinkel, in dem sie denselben und noch andre Gegenstände versteckt hatte, ward erst nach Jahren entdeckt, als das Haus für die Leute repariert wurde, welche unser Geschäft kauften. Josua, ohne irgendeinen andern Führer zu haben als sich selbst, aber fest entschlossen, sie überall aufzusuchen, glaubte, dass meine Mutmaßung gegründet sei. Noch in der Nacht reiste er nach London, um zu sehen, was sich tun ließe, und um sich von einem Rechtsanwalt Rat und Hilfe zur Entdeckung ihrer Spur zu erbitten.

Das, was ich jetzt über die Zeit unseres Unglücks erzählt habe, ist der Anteil meiner Person, an den ich jetzt nicht ohne Gewissensunruhe denken kann. Als ich Josua sagte, ich vermutete, sie sei nach London gegangen, hatte ich ihm nicht die Wahrheit gesagt. Ich wusste eigentlich gar nichts Gewisses, wohin sie gegangen war, aber ich vermutete ganz sicher, dass sie ihre Schritte nach der ganz entgegengesetzten Richtung Londons genommen haben würde, also weit weg nach Bangbury. Sie hatte allerlei Fragen über Wege, Städte und Leute in jener Richtung an Lene Grough getan, welche es mir wieder erzählte, und aus diesem Grunde glaubte ich auch, dass sie den Weg dahin eingeschlagen habe. Obgleich dies eine bloße Vermutung war, so habe ich dennoch meinen Bruder betrogen, dass ich ihm nicht meine wahre Meinung sagte, als er mich darum fragte; und dies war eine Sünde, welche ich jetzt aufrichtig und demütig bereue. Aber der Gedanke, ihm zu helfen, mit so kleinen zufälligen Mitteln, mit bloßen Vermutungen unsere Infamie wieder ins Haus zu bringen, die entehrte Tochter in meiner Gegenwart, im Angesicht der ganzen Stadt —— dieser Gedanke war mir unerträglich. Ich glaubte, dass der Tag, an dem sie unsre Hausschwelle wieder überschritten, mein Todestag sein würde. Wegen dieser Überzeugung verheimlichte ich meine wahre Meinung gegen Josua.

Hierfür verdiene ich zu leiden und habe schon dafür gelitten.

Zwei oder drei Tage nach Weihnachten —— ich hatte die ganze Zeit in einsamer Zurückgezogenheit gelebt —— erhielt ich einen Brief von Josuas Rechtsanwalt aus London mit der Nachricht, dass mein Bruder Josua lebensgefährlich erkrankt sei und ich hinkommen solle, ihn zu sehen. Im Verlauf seiner Nachsuchungen, welche er selbst verfolgte, obgleich der Rechtsanwalt besser wusste, was zu tun sei, und auch eifrig bestrebt war, ihm zu helfen, war er in einigen Häusern beraubt, übel behandelt und in der Nacht bei Sturm und Schnee auf die Straße gesetzt worden. Es wäre nutzlos, jetzt zu schreiben, was ich durch diesen neuen Schlag gelitten, oder von der schrecklichen Zeit zu sprechen, die ich an seinem Bette in London verlebte. Es wird genug sein, wenn ich sage, dass er aus den Händen des Todes gerettet wurde und Ende Februar soweit genesen war, um die Reise nach Dibbledean antreten zu könnten.

In der heimatlichen Luft erholte er sich schneller —— d. h. er wurde körperlich gesund, aber sein Gemütsleben versank in Schwermut. Jeden Morgen fragte er, ob noch keine Neuigkeiten von Marie angekommen seien. Nach der verneinenden Antwort rangen sich kummervolle Seufzer aus seiner Brust; er sprach kein Wort weiter, legte das Haupt in seine Hände und verharrte den Rest des Tages in dieser trostlosen Stellung. Ein andermal zeigte er große Angst über einen angekommenen Brief, den er empfangen und mir gegenüber verheimlichte. Ich vermutete, dass er von seinem Rechtsanwalt in London ausgegangen sei. Dieser hatte überall hingeschrieben und Nachsuchungen veranlasst. Aber auch dies schien er gar bald wieder zu vergessen sowie er jedes Ding vergaß, ausgenommen seine regelmäßigen Fragen über Marie, die er jeden Morgen kummervoll wiederholte und auch dann noch, als ich ihm ihren Tod angemeldet hatte.

Die Neuigkeit ihres Todes kam im März 1828. Trotz aller Nachforschungen von London aus war nicht die geringste Spur von ihr entdeckt worden. In Dibbledean, das wussten wir genau, konnte sie nicht sein.

Und Josua war nicht mehr befähigt, sie anderswo zu suchen oder andern eine klare Instruktion zu ereilen, in welcher Richtung sie gesucht werden musste. Aber in diesem Monat März las ich eine Anzeige in der Bangburyer Chronik, welche neben der unsrigen hier zirkulierte, darin wurden die Verwandten oder Freunde eines jungen Frauenzimmers, das soeben gestorben und ein neugeborenes Kind hinterlassen habe, aufgefordert, zu kommen und den Leichnam in Augenschein zu nehmen, um die Person zu identifizieren und das nachgelassene Kind zu versorgen. Die Körperbeschreibung war so ausführlich und genau, dass für diejenigen, welche sie so gut kannten wie ich, nicht der geringste Zweifel übrig blieb, dass es der Leichnam meiner elenden, schändlichen Nichte sei. Mein Bruder befand sich nicht in der Geistesbeschaffenheit, um mit ihm über diese schwierige Sache sprechen zu können. Ich sandte daher durch eine zuverlässige Person hinreichend Geld zu einer anständigen Beerdigung nach Bangbury, ohne Namen und Datum meines Briefes. Es gab kein Gesetz, das mich verpflichtete, mehr zu tun, und ich war fest entschlossen, nicht das Geringste weiter zu tun. Was den Nachkömmling ihrer Sünde betraf, so war dies nicht meine Sorge, sondern die des Vaters, das Kind anzunehmen und es zu unterstützen.

Als Leute in der Stadt, welche unser Unglück kannten und die Anzeige gelesen hatten, zu mir kamen und mich darüber befragten, bejahte und verneinte ich nichts, sondern verweigerte einfach, über diesen Gegenstand zu sprechen.

Auf diese Art beschützte ich mich und meinen Bruder gegen schwatzhaftes Volk, dessen Impertinenz und Einmischung in unsre Angelegenheit. Ich glaubte nun, dass ich den letzten bitteren Leidenskelch —— als Folge der Sünde meiner Nichte —— bekommen hätte, aber ich war im Irrtum, das Maß meiner Trübsal war noch nicht voll. Etwa vierzehn Tage, nachdem ich das Geld zu ihrer Beerdigung anonym nach Bangbury gesandt hatte, kam eines Tages unser Diener zu mir und meldete, dass ein Fremder vor der Tür stehe, welcher meinen Bruder zu sprechen wünsche und so sehr darauf bestehe, dass er durchaus keine abschlägige Antwort annehmen wolle. Ich ging hinunter und fand vor der Tür einen sehr respektabel aussehenden Mann mittleren Alters, den ich ganz gewiss noch niemals in meinem Leben gesehen hatte.

Ich sagte ihm, dass ich Josuas Schwester sei und bei dessen jetzigem Gesundheitszustand die Geschäfte für ihn führe. Der Fremde antwortete, dass er sehr besorgt sei und Josua durchaus selbst sprechen müsse. Ich konnte mich nicht entschließen, einer mir unbekannten Person den hilflosen trüben Geisteszustand meines Bruders zu erklären, und sagte nur, die gewünschte Zusammenkunft wäre nicht möglich, wenn er aber ein Geschäft mit Mr. Grice hätte, so möchte er es mir mitteilen. Er zauderte, lächelte und sagte dann, dass er mir sehr zu Danke verpflichtet sei; darauf schien es, als wollte er hereintreten und fügte hinzu, dass ich wahrscheinlich die friedliche Natur seines Geschäfts begreifen würde, wenn er bemerke, dass er als Vertrauter von Mr. Carr abgeschickt sei. Bei Nennung dieses Namens schnitt es mir wie mit einem Messer durchs Herz —— meine große Erbitterung gewann die Oberhand über mich. Ich sagte ihm, er solle Mr. Carr berichten, dass die miserable Kreatur, welche von seiner Schurkentat vernichtet worden sei, aus dem Hause geflüchtet, in der Fremde gestorben und dort beerdigt worden sei. Mit diesen Worten schlug ich ihm die Tür vor der Nase zu. Meine große Aufregung und eine Art Grausen und Entsetzen, über das ich mir keine Rechenschaft zu geben vermochte, hatten mich so überwältigt, dass ich mich an die Wand anlehnen musste und einige Minuten unfähig war, eine Treppe aufwärts zu steigen. Sobald ich mich ein klein wenig besser fühlte und über den soeben erlebten Vorfall nachdachte, überkam mich ein Zweifel, ob ich nicht Unrecht getan haben möchte. Ich erinnerte mich, dass Josuas Rechtsanwalt es zu einer Hauptsache machte, Mr. Carr aufzuspüren; und obgleich unsre Situation nach dem Tode meiner Nichte sich geändert hatte, so fühlte ich mich dennoch unruhig und ängstlich —— ich konnte kaum sagen warum, über das, was ich getan hatte. Es war mir, als ob ich eine Verantwortlichkeit übernommen hätte, die ich nicht zu tragen vermöchte. Kurz, ich lief wieder zur Tür, öffnete sie und blickte in der Straße auf und ab; aber es war zu spät, der Fremde war verschwunden und ich habe ihn niemals wiedergesehen.

Dies war im März 1828, in demselben Monat, wo die Anzeige erschien. Ich bin besonders umständlich in der Wiederholung des Datums, weil es die Zeit der letzten schändlichen Ereignisse markiert, die ich hier mit großer Selbstüberwindung berichte. Über das Kind, das in der Anzeige erwähnt war, habe ich niemals wieder etwas gehört. Ich weiß nicht, wann es geboren ist. Ich weiß nur, dass dessen schuldbeladene Mutter ihre Heimat im Dezember 1827 verließ. Ob es noch lebt oder gestorben ist —— darüber habe ich nie etwas vernommen und will auch nichts hören. Seit den Tagen meiner Erniedrigung habe ich mich in die Einsamkeit zurückgezogen und verberge meine Sorgen in meinem eignen Herzen, niemals nach etwas fragend, aber auch niemals etwas beantwortend.«

Bei dieser Stelle suspendierte Mat noch einmal die Fortsetzung seines Lesens. Bis hierher hatte er ungewöhnlich lange, mit ungeteilter Aufmerksamkeit und mit der beständigen düsteren Traurigkeit in seinem Antlitz den Inhalt des Schreibens verfolgt, ausgenommen wenn der Name Arthur Carr im Verlauf der Erzählung vorkam. Beinahe an jeder Stelle, wo die Finger an diesen Namen kamen, zitterten sie stark und sein drohender Blick ward immer feuriger und glänzender. Jetzt bei einer solchen Stelle angelangt, legte er den Brief auf die Knie, drehte sich um und nahm von der Wand die hinter ihm hängende Ledertasche, die bereits als ein Teil seines persönlichen Eigentums bekannt ist, das er mit nach Kirk Street brachte. Er öffnete sie, holte einen Federfächer und einen indianischen Tabaksbeutel von Scharlachtuch heraus; dann suchte er tiefer im Innern und zog endlich einen Brief hervor. Dieser war an mehreren Stellen zerrissen, die Tinte war bleich und die Schriftzüge beinahe verschwunden, das Papier war durch Schmutz, Flecken von Tabak und Fett ganz verunstaltet. Die Adresse war in einer solchen Beschaffenheit, dass nur das Wort Brasilien am Ende leserlich war. Die Innenseiten befanden sich in keinem bessern Zustande.

Jedoch ließ sich das Datum am oberen Rande noch ziemlich deutlich erkennen, es war der 26. Dezember 1827.

Mat blickte zuerst auf dies, dann auf den soeben gelesenen Satz in dem Schreiben der Johanna Grice. Hierauf fing er an, etwas schwerfällig an den Fingern zu rechnen —— beginnend mit dem Jahr 1828 als Nummer Eins und endend mit dem laufenden Jahr 1851 als Nummer 23. Dreiundzwanzig, sprach er für sich, dreiundzwanzig Jahr, wiederholte er laut, ich muss das merken. Dann blickte er wieder einige Zeit auf den alten zerrissenen Brief. Einige der Zeilen waren weniger beschmutzt und noch ziemlich lesbar; über diese wanderten seine Augen und erblickten folgende Worte: »Ich wünsche daher jetzt in diesem bitteren Leiden mehr denn je, dass alle vergangenen Misshelligheiten zwischen uns vergessen sein sollen, und ——« hier war der Anfang einer andern Zeile wieder durch einen Fleck verwischt, auf der reinlichen Stelle hieß es dann: »——

In dieser Hinsicht rate ich Dir, wenn Du irgendwo außerhalb eine fortwährende Beschäftigung finden kannst, sie anzunehmen, statt zurückzukommen —— (ein Riss im Papier machte die folgenden Worte wieder fragmentarisch und unkenntlich) . . . —— irgendeine gute Neuigkeit von mir wieder zu hören. Bis zu dieser Zeit, ich sage es nochmals, halte Dich fern von hier, wenn Du es kannst. Deine Gegenwart könnte hier nicht gut tun, und es ist besser für Dich, bei Deinem Alter solchen Kummer und Gram gar nicht zu sehen, wie wir jetzt dulden.« Die folgenden Zeilen waren wieder durch Risse, Flecken und verblasste Tinte ganz undeutlich, nur die letzten drei oder vier Zeilen ließen sich noch deutlich lesen: »—— Die arme, verlassene, unglückliche Kreatur! Aber ich muss sie finden, und dann mag Johanna sagen oder tun, was sie will, ich will meiner Marie vergeben, denn ich weiß, sie verdient Verzeihung. Was ihn betrifft, so fühle ich die zuversichtliche Gewissheit jetzt, dass er noch aufgefunden werden wird, und dass ich ihn beschämen und die Genugtuung haben werde, sie zu verheiraten. Wenn er sich weigern sollte, dann würde der schwarze Schurke ——«

An dieser Stelle stockte Mat plötzlich wieder im Lesen, faltete den Brief hastig zusammen und steckte ihn wieder nebst Federfächer und indianischen Tabaksbeutel in die Ledertasche. »Ich kann jetzt nicht weitergehen in der Geschichte, denn die Zeit möchte kommen vielleicht ——« Diesen angefangenen Satz vollendete er nicht weiter, sondern saß für einige Minuten still, legte das Haupt in die Hand und starrte ins Licht, während sich seine Augenbrauen düster zusammenzogen.

Das Schreiben der Johanna Grice war noch nicht zu Ende gelesen; er nahm es wieder auf und blickte auf den zuletzt gelesenen Satz.

»Hinsichtlich des erwähnten Kindes in der Anzeige ——« sprach er zu sich selbst. »Das Kind? —— Es war keine Erwähnung über dessen Geschlecht. Gern möchte ich wissen, ob es ein Knabe oder Mädchen war, dachte Mat.«

Obgleich er das Schreiben selbst nun bis zu Ende las, so fiel es ihm doch schwer, die Aufmerksamkeit auf die letzten paar Zeilen zu richten. Sie begannen so:

»Bevor ich schließlich noch etwas sage über den Verkauf unseres Geschäfts, meines Bruders Tod und über das Leben, was ich seit jener Zeit geführt habe, muss ich noch kurz über die wenigen Sachen berichten, welche meine Nichte zurückließ, als sie in die Fremde ging. Umstände mögen eines Tages diese Notwendigkeiten übergeben. Ich konstatiere hier, dass jedes ihr gehörende Ding in einem ihrer Koffer, der sich jetzt in meinem Besitze befindet, erhalten ist, just so als sie es verließ. Als bei der erwähnten Reparatur unseres Hauses die mit A. C. unterzeichneten Briefe entdeckt wurden, warf ich sie in den Koffer. Sie werden beweisen, dass mein erster Verdacht, den mein Bruder nicht beachtete, sehr gegründet war. In Bezug auf Geld und andre Wertsachen muss ich erinnern, dass meine Nichte bei ihrer Flucht alle Ersparnisse mitnahm. Ich wusste, in welchem Koffer sie dieselben bewahrte, und fand denselben offen stehen, als ich ihre Flucht entdeckte. In Hinsicht ihrer Kostbarkeiten sah ich, dass sie ihren Schmuck Lene Grough gab; ihre Ohrringe trug sie stets, und ich vermute auch, dass sie ihr Haarbracelet mitgenommen hat, denn ich fand es nirgends.

»Bei Gott! Da ist es wieder!« rief Mat, voll Erstaunen den Brief fallen lassend, sein einziger Gedanke war nur das Haarbracelet.

Kaum hatte er seinen Ausruf der Verwunderung geäußert, als er die Haustür hastig auf- und zuschlagen hörte. Zack war eben eingetreten. ——

»Ich bin erfreut, dass er kommt«, murmelte Mat, nahm schnell den Brief vom Fußboden auf und steckte ihn in die Tasche. »Da gibts noch ein anderes Geheimnis, das ich aufhellen muss, bevor ich weiter gehe —— und Zack hat das rechte Maul, mir zu helfen.«


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