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Sechstes Kapitel - Die Gemäldeschau
Der größte Tag des Jahres in Valentins Hause war stets der Tag seiner Gemäldeausstellung in seinen Zimmern. Es wurden hier alle seine für die Ausstellung der Königlichen Akademie gemalten Bilde den Freunden und sonstigen Bewunderern zur Schau gestellt. Vermöge seiner liberalen Prinzipien, dass Jedermann in seinem Gemäldesaal willkommen sei, welcher sich für Kunst interessiere oder sich durch eine Einladung hierzu geehrt fühle, sandte er zahlreiche Einladungen nach links und rechts in alle Richtungen der Gesellschaft, ganz ohne Unterschied des Standes. Diese Aufmerksamkeit widmete er jedes Jahr dem Publikum, trotz seiner bescheidenen Stellung, die er in der Kunst repräsentierte. Daher bekam er Besucher aus allen Rangstellungen und Klassen der Gesellschaft; die soziale Skala derselben vermehrte sich je nach dem Herabsteigen von der höheren zur niederen Klasse. Die hohe Aristokratie ward gewöhnlich repräsentiert durch die verwitwete Countess of Brambledown, die Aristokratie der Kunst durch zwei oder drei Königliche Akademiker und die Geldaristokratie durch acht bis zehn reiche Familien, welche in der Absicht kamen, sowohl die verwitwete Countess (Gräfin) als die Gemälde zu sehen.
Dies war die auserlesene Gesellschaft, Nach ihr flutete die große allgemeine Masse der Besucher hinein, eine unwissende obskure Menge, der blind verehrende Mob der Gesellschaft, die verschiedenartigsten Mischungen der Personen von kleiner Wichtigkeit, zweifelhafter Wichtigkeit und solcher von gar keiner Wichtigkeit. Den Beschluss machte Mr. Blyths alte Hausdienerschaft, also sein Gärtner, seines Weibes alte Amme, der Bruder seiner Hausmagd und der Vater seiner Köchin. Einige seiner respektablen Freunde klagten über die nivellierenden Tendenzen und gleichmachenden Prinzipien, welche ihn bewegten, eine solche bunte Mischung aller Gesellschaftsklassen zu seiner Gemäldeausstellung einzulassen. Aber Valentin beharrte nichts desto weniger dabei, Jahr für Jahr seine Besucher aus den hohen und niederen Regionen einzuladen, und war ganz außerordentlich erfreut, dieses Verhalten von keiner geringeren Person als Lady Brambledown selbst gebilligt zu sehen. Diese Dame gehörte einstmals zu den eifrigsten Torys (reaktionäre Aristokratie) war aber jetzt zur extremen radikalen Partei übergegangen, schnupfte Tabak, schimpfte auf die Pairs, erzählte skandalöse Hofgeschichten und zeigte sich stets als glühende Verehrerin von Oliver Cromwell.
An jenem ereignisvollen Sonnabend, wo Mr. Blyths Werke einem Beifall spendenden Publikum zur Schau gestellt wurden, hatte er sich schon sehr früh in ein glänzendes Morgenkostüm gekleidet und seinen Gemäldesaal eine Stunde vor dem erwarteten Erscheinen des Volks geöffnet.
Dank Madonnas industrieller Aufmerksamkeit war der Studiensaal zu einem glänzenden Zimmer dekoriert und ausgestattet worden. Ein Halbzirkel hübscher Stühle stand symmetrisch in Front der Gemälde. Das sinnreiche klassische Landschaftsgemälde, »das goldne Zeitalter« ruhte großartig auf seiner eigenen Staffel, während sein umfangreichstes Bild, das er jemals gearbeitet, das den größten Raum einnimmt und in den glänzendsten Rahmen gespannt war, nämlich: »Columbus, im Anschauen der neuen Welt versunken« — an der Wand im Hintergrund hing; es war zu groß und schwer, als dass es auf ein Postament hätte gestellt werden können.
Außer Mr. Blyths Schreibbureau waren alle andern Gegenstände aus dem Gemäldesaal entfernt oder in Ecken gestellt worden. Das Zimmer war, wie schon gesagt, von allen alten unnützen Möbeln gesäubert und glänzend ausstaffiert. Mr. Blyth ging mit elastisch hüpfenden Schritten und voller Erwartung auf das erscheinende Publikum im Saale auf und ab, blickte zur Tür hinaus, ging wieder singend und pfeifend an seinen Gemälden vorüber, schaute sie entzückt an und blickte dann geheimnisvoll in ein kleines, schön gebundenes Manuskript, das er in der Hand trug; hierauf verfolgte er mit seinem Malerstabe die Linien in der Komposition des Columbus von Kopf bis zu Fuß, bewegte den Stab mit träumerischer Künstlergrazie und blickte aber stets zur Tür zurück, um den ersten enthusiastischen Besucher mit offenen Armen empfangen zu können.
Eine Treppe höher, in Lavinias Zimmer war die Szene ganz andrer Art. Hier war die Ankunft der Besucher auch eine hochwichtige Begebenheit, aber sie wurden mit vollkommener Ruhe und Schweigen erwartet. Mrs. Blyth lag in ihrer gewöhnlichen Position auf ihrem Bett und blickte in ein kleines Portefeuille mit Kupferstichen und Madonna stand vor einem Fenster, von dem sie eine volle Aussicht auf das Gartenthor hatte, um die Annäherung der Besucher bemerken zu können. Dies war an den Tagen der Gemäldeausstellung stets ihr Platz, von wo aus sie ihrer Adoptivmutter, welche zu weit vom Fenster entfernt lag, die Ankunft der verschiedenen Personen anzeigen konnte. An allen andern Tagen des Jahres hatte sich Mrs. Blyth ganz dem Dienste Madonnas gewidmet, indem sie ihr den Inhalt der Gespräche, welchen sie nicht hören konnte, näher zu erklären und verständlich zu machen suchte. Aber an diesem Tage war es Madonna, welche ihre Dienste Mrs. Blyth widmete, dadurch dass sie ihr das Ankommen der Kunstfreunde meldete, denn Mrs. Blyth konnte ihr Bett nicht verlassen.
Keine andere Begünstigung, welche das Mädchen in Valentins Hause genoss, hatte mehr Wert für sie als diese, denn sie war dabei der Gegenstand zärtlicher Aufmerksamkeit. Mrs. Blyth bat sie stets dringend, die Ankunft jedes einzelnen Gastes durch ihre bestimmten Zeichen kund zu tun. Es waren dies bestimmte Gesten und andere eigentümliche Besonderheiten, welche die betreffenden Personen als Gewohnheitsfehler besaßen und die man denselben bei ihren wiederholten Besuchen abgelauscht hatte und sie nun getreu nachahmte. Mit dieser Mimik wurden also die bezüglichen Personen angemeldet. Und ihr Gedächtnis in jahrelanger Bewahrung dieser Zeichen war wirklich ganz außerordentlich groß. Hatte Mrs. Blyth den Namen irgendeiner selten erscheinenden Person wieder vergessen, was sehr oft geschah, und es wurde ihr dann das Gewohnheitszeichen angegeben, so wusste sie sich nach Jahren wieder auf denselben zu besinnen und ins Gedächtnis zurückzurufen.
Auf den Einladungskarten war die Zeit der Gemäldeschau von elf bis drei Uhr angegeben. Schon war zehn Uhr längst vorbei. Madonna stand geduldig harrend vor dem Fenster, häkelte an einer Börse für Valentin und blickte sehr oft voller Spannung die Straße entlang. Mrs. Blyth summte einen Ton für sich hin, wendete ein Blatt nach dem andern um und hatte beim Anschauen der Kupferstiche die Zeit ganz und gar vergessen, so dass sie erstaunt war, als Madonna mit der Hand plötzlich ans Fenster klopfte, denn dies war das Signal, dass der erste pünktliche Besucher am Gartentor erschienen sei.
Als Mrs. Blyth ihre Augen erhob, musste sie über das Mädchen lächeln, denn dieses zog ihr jugendliches, rotwangiges Gesicht in Falten, machte eine große Zahl steifer ernster Verbeugungen und warf mehrere zärtliche Kusshände. Hierdurch ward die Ankunft des alten Kupferstechers angezeigt, welcher in seiner altmodischen Kleidung die Damen durch zahlreiche zitternde Verbeugungen und Kusshändchen begrüßte und ihnen damit seine Huldigung darbrachte.
»Ah!« rief Mrs. Blyth und nickte, um zu zeigen, dass sie das Signal verstanden habe. »Ah! Das ist der Vater. Ich wusste ganz sicher, dass er der Erste sein würde, und ich weiß genau, was er tun wird, sobald er eintritt. Er wird die Gemälde bewundern und eine bessere Ansicht darüber aussprechen als irgendjemand. Aber bevor er noch ein vernünftiges Wort darüber zu Valentin gesagt haben wird, ist gewiss schon der Zudrang der Besucher so groß geworden, dass er plötzlich nervenschwach wird und zu mir herauf kommt.«
Während Mrs. Blyth sich in solchen Vorstellungen über ihren Vater erging, signalisierte Madonna die Ankunft zweier anderer Besucher. Zuerst erhob sie ihre Hand rasch und strich ihre glatte Wange, dann stellte sie sich streng aufrecht und faltete majestätisch ihre Arme über ihren Busen. Mrs. Blyth erriet sogleich die Originale jener beiden pantomimischen Portraitskizzen. Die eine repräsentierte Mr. Hemlock, den kleinen Kritiker eines noch kleineren Blattes, welcher die prinzipielle Gewohnheit hatte, seinen Schnurrbart nicht fünf Minuten lang in Ruhe zu lassen. Die andere zeigte Mr. Bullivant an, den emporstrebenden, schön haarigen Bildhauer, welcher auch Gedichte schrieb und fortwährend so eifrig die verschiedenen Attituden studierte, dass er selbst oft wie seine eigene Statue vor einem Ladenfenster stand. Nach einigen Minuten hörte Mrs. Blyth Pferdegetrappel, ein starkes Knirschen von Wagenrädern und die Annäherung einer Chaise. Madonna trug sogleich eine Fußbank zum nächsten Stuhl, rollte den Saum ihres Kleides empor und in den Schoß, stemmte die Hände in die Seite, tat dann, als ob sie schnupfte, und schaute vergnügt zu Mrs. Blyth, gleichsam um zu sagen: »Ich denke, Sie können mich nicht missverstehen!« »Unmöglich! —— Die Alte Lady Brambledown mit Muff und Schlupftabaksdose.«
Dicht hinter der verwitweten Countess folgte ein Besucher niederen Standes. Madonna blickte, als wäre sie ein wenig erschrocken über die Kühnheit ihrer Nachahmung, begann zu kauen, als hätte sie ein Primchen Tabak im Munde, tat dann so, als ob sie es herausnähme und hinter sich würfe, und dies alles geschah in einem Moment. Er erschien, um sich zu vervollkommnen, Mangels, der Gärtner. Obgleich ein alter Gewohnheits-Tabakkauer, warf er doch sein Primchen weg, sobald er in bessere Gesellschaft trat. Er betrachtete dies als eine Pflicht, die er seiner eignen Respektabilität schuldig zu sein glaubte.
Ein anderer Wagen. Madonna setzte sich pantomimisch eine Brille auf, nahm sie wieder ab, um sie zu putzen und setzte sie abermals auf; dann trat sie ein wenig vom Fenster zurück und spreizte ihr Kleid recht prahlerisch zur weitesten Dimension aus. Die neuen Ankömmlinge waren der Doktor, —— dessen Brillengläser ihm nie rein und klar genug sind, —— und dessen Frau, eine abgemagerte feine Lady, welche nur noch die Spuren verschwundener Reize zeigte, aber unter ihren Kleidern einen ungemeinen großen Ballon trug, den man Krinoline nennt.
Jetzt trat eine kleine Pause in der Prozession der Besucher ein. Mrs. Blyth winkte der Madonna, ergriff sie beider Hand und fragte durch die Fingersprache: »Noch keine Zeichen von Zack —— meine Liebe?«
Das Mädchen blickte bekümmert nach dem Fenster und schüttelte das Haupt.
»Wenn er heraufzukommen wagt, dürfen wir nicht so artig gegen ihn sein, wie gewöhnlich. Er hat sich sehr schlecht betragen und wir müssen versuchen, ihn zu beschämen.«
Madonnas Antlitz errötete bei diesen Worten. Sie blickte erstaunt, sorgenvoll, verwirrt und ungläubig. Zacks Benehmen schlecht? —— sie konnte es nimmer glauben!
»Ich werde versuchen, ihn tüchtig zu beschämen«, wiederholte Mrs. Blyth.
»Und ich werde versuchen, ihn nachher zu trösten«, dachte Madonna, indem sie ihr Haupt weg wandte, um nicht von ihrem Antlitz erraten zu werden.
Jetzt erschallte die Torklingel wieder. »Vielleicht ist er‘s«, fuhr Mrs. Blyth fort und nickte mit dem Kopfe nach dem Fenster.
Madonna ging, um zu sehen; drehte sich aber gleich mit einer komischen Miene von Täuschung wieder um, krümmte ihre Daumen in die Achselgrube, so als ob sie eine Weste an habe. Nur Mr. Gimble, der Gemäldehändler welcher den Wert der Kunstwerke mit den Händen abmisst.
In diesem Augenblick ertönte ein sanfter Schlag an Mrs. Blyths Tür und herein trat ihr Vater mit seinem beständigen Schnupfen, den nichts zu kurieren vermochte; verbeugend und Hände küssend klagte er über anstrengendes Treppensteigen, ganz so, wie es seine Tochter vorher gesagt hatte.
»Oh, Lavinia! Die verwitwete Countess befindet sich im Gemäldesaal und ihre Ladyship lieben die Gemälde sehr«, rief der alte Mann aus und lächelte dabei mit schwacher und zitternder nervöser Freude.
»Komm und setz’ Dich nieder, Vater, und sieh, wie Madonna die Besucher anzeigt Es ist amüsanter als irgendeine Komödie.«
»Und ihre Ladyship lieben die Gemälde«, wiederholte der alte Kupferstecher, während seine alten wässerigen Augen freudefunkelnd umherblickten, dann nahm er an der Bettseite seines Lieblingskindes Platz.
Schon wieder erschallte die Torklingel —— neues Interesse. Madonna vermochte die große Zahl der Besucher nicht auf einmal zu signalisieren. Im Gemäldesaal wurden binnen kurzer Zeit alle Plätze besetzt und sogar der Hintergrund mit Zuschauern gefüllt.
Lady Brambledown, deren Beschauung und Studium den ganzen Morgen in Anspruch nahm, saß auf dem Ehrenplatz im Zentrum, schnupfte sehr häufig, warf mit liberalen Redensarten in kreischender Stimme um sich und war ganz außerordentlich vergnügt, sich von all den respektablen Familien so ehrfurchtsvoll angestaunt zu sehen. —— Da waren zwei Königliche Akademiker, —— der eine, ein finsterer mürrischer Akademiker hatte sich in einen wahrhaft losschnallen Mantel gehüllt und starrte beständig in sprachloser Hartnäckigkeit die Bilder an, indem er sie ganz und gar annihilierte und gar nicht als Kunstwerke gelten lassen wollte; der andere, ein wohlwollender Akademiker mit einem großen Regenschirm war in beständigem Zweifel und wusste nicht, ob er den »Columbus« oder das »goldene Zeitalter« loben und preisen sollte. Da er Mr. Blyth in Liebe und Freundschaft zugetan war, so fuhr er immer mit der Hand vor den Gemälden hin und her, gleichsam vergleichend und rief von Zeit zu Zeit:
»Ja, ja; ah! ja, ja, ja.«
Da waren der Doktor nebst Gemahlin, welche beständig den außerordentlich großen massiven Rahmen des »Columbus« bewunderten, aber über das Gemälde selbst nicht ein Wort sagten. Ferner waren anwesend Mr. Bullivant, der Bildhauer, und Mr. Hemlock, der Journalist; beide wechselten sehr oft und feierlich mit den kritischen Wörtern als »ästhetisch«, »sensuös«, »subjektiv«, »objektiv«, aber niemand wusste daraus eine Idee abzuleiten. Da war Mr. Gimble, beständig lobend und pfeifend durchs ganze Alphabet des Kunstjargons, aber nicht mit der geringsten Spur eines Begriffs vom Subjekt weder in Theorie noch Praxis. Da waren mehrere respektable Familien, welche ebenfalls den Geist der Kunstwerke zu begreifen suchten, es aber nicht vermochten. Dann waren noch andere respektable Familien vorhanden, welche dies gar nicht versuchten, aber in beständiger Nähe der Countess verharrten. Und was die große allgemeine Masse der Besucher betraf, so zeigte diese mehr Enthusiasmus als Beurteilungskraft. Aber draußen vor der Tür standen noch einige bescheidene Zuschauer, welche sich in ehrfurchtsvoller Bewunderung zuflüsterten, das »goldene Zeitalter« sei ein geschmackvolles Ding und der »Columbus« eine wundervolle Piece; diese still bewundernden Verehrer waren Mr. Blyths Gärtner, der Vater seiner Köchin u. a.
Valentins rastlose Tätigkeit vor der Ankunft der Besucher war nichts im Vergleich mit seiner jetzigen rapiden Hastigkeit. Seit dem Erscheinen des ersten Zuschauers hat er nicht einen Augenblick still gestanden, nicht eine Sekunde gerastet. Und wahrscheinlich würde er seinen Beinen und seiner Zunge nicht die geringste Ruhe gegönnt haben, bevor nicht der letzte Gast seinen Saal verlassen, wenn nicht Lady Brambledown zufällig auf einen Gegenstand gestoßen wäre und Blyths Aufmerksamkeit darauf fixiert hätte.
»Ich sage, Blyth«, schrie ihre Gnaden (sie setzte niemals das »Mister« vor den Namen ihrer Freunde) »ich sage, Blyth, ich kann Euer Gemälde, den Columbus, nicht verstehen. Nehmt Euch etwas Zeit und erklärt es im Detail. Wann wollt Ihr beginnen?«
»Sogleich, meine teure Madame, sogleich; ich wollte nur warten, bis der Saal gefüllt sei«, erwiderte Valentin, indem er sein Malerstöckchen nahm und sein schön gebundenes Manuskript präsentierte. »Das Faktum ist —— ich weiß nicht, ob Sie es bemerken —— ich habe hier einige Gedanken über Kunst, welche als Erklärung meines Columbus dienen sollen, kurz zusammengestellt; denn dieses Werk bedarf mehr als meine andern Gemälde einer speziellen Erklärung. Diese Gedanken sind in diesem Heftchen niedergeschrieben. Würde wohl jemand so gütig sein, sie vorzulesen, während ich hier am Gemälde die Fingerzeige gebe? —— Ich frage nur deshalb, weil es sonst egoistisch erscheinen könnte, meine eigenen Gedanken über mein eigenes Werk zu lesen. Will irgendjemand so gütig sein?« wiederholte Mr. Blyth, indem er den Halbzirkel entlang ging und sein Manuskript überall hin präsentierte.
Aber nicht eine einzige Hand griff zu. Schüchternheit ist ansteckend, und dies schien auch hier der Fall sein.
»Unsinn, Blyth!!« rief Lady Brambledown; »lest es selbst!! Egoistisch? —— Stoff! Jedermann ist egoistisch. Ich hasse die bescheidenen Menschen; sie sind alle Lumpenkerls. Lest es selbst und behauptet Eure eigene Autorität. Ihr seid dazu am ersten und mehr berechtigt als irgendeiner von Euren Freunden; Ihr gehört zur Aristokratie des Talents, —— nach meiner Ansicht die einzige Aristokratie, welche Beachtung verdient.« Hierbei nahm Ihre Gnaden eine Prise und blickte fragend unter den respektablen Familien herum, gleichsam als wollte sie sagen: »Was meint ihr, was denkt ihr über die verwitwete Countess?«
Valentin, durch ihre Worte ermutigt, stellte sich jetzt vor den Columbus und entfaltete sein schön gebundenes Manuskript.
»Was für ein eigentümlicher Mann dieser Mr. Blyth ist«, flüsterte eine Lady ihrer Nachbarin zu.
»Und was für eine ganz ungewöhnliche Mischung des Volks er eingelassen hat,« erwiderte die andere, indem sie an der Tür die niedere Demokratie im Sonntagsstaat erblickte.
»Die Gemälde, welche ich die Ehre habe auszustellen«, begann Valentin vom Manuskript, »sind gemalt nach einem Prinzip ——«
»Ich bitte um Verzeihung, Blyth«, unterbrach hier Lady Brambledown, deren scharfes Gehör die Bemerkung über Valentin und dessen »gemischtes Volk« vernommen hatte, und deren Prinzipien, welche sie stets öffentlich zur Schau trug, dadurch sehr verletzt worden waren. »Ich bitte um Verzeihung; wo ist mein alter Alliierter, der Gärtner, welcher das vorige Mal hier war? —— Draußen vor der Tür steht er? Was denkt der? Warum kommt er nicht herein? Hierher Gärtner! Komm hinter meinen Stuhl.« Der Gärtner näherte sich ihr, zitternd über die große Ehre der öffentlichen Aufmerksamkeit und voller Verwirrung über das große Geräusch, das seine plumpen Stiefel verursachten. »Wie befindest Du Dich? und wie gehts Deiner Familie? —— Warum bliebst Du vor der Tür stehen? Du bist einer von Blyths Gästen und hast dasselbe Recht, im Saale zu stehen als irgendein anderer. Bleib hier stehen, höre, schau und belehre Deinen Geist. Dies ist das Zeitalter des Fortschritts, Gärtner; Deine Gesellschaftsklasse ist zur Herrschaft gelangt, und es ist endlich Zeit, dass es so geschieht. Fahrt fort, Blyth!!« Wiederum nahm die gnädige Countess einige Prisen Schnupftabak und blickte sich sehr verächtlich nach jener Lady um, welche von »gemischtem Volk« gesprochen hatte.
»—— Sind nach einem Prinzip gemalt«, las Valentin weiter, »welches hier kurz erklärt werden soll: Ich nehme mir die Freiheit, die Kunstwerke in zwei große Klassen zu teilen, in die mit landschaftlichen Sujets und mit Figuren-Sujets; und ich wage diese beiden Klassen in ihrer höchsten Entwickelung unter den respektive Titeln zu beschreiben als die Pastoral-Kunst und die Kunst der Mystik. Das »goldene Zeitalter« ist ein Versuch, die Pastoral-Kunst zu exemplifizieren, und »Columbus im Anschauen der Neuen Welt« repräsentiert meine Art der Mystik. In der landschaftlichen oder Pastoral-Kunst ist nur dann das Höchste zu erreichen, denke ich, wenn man die reine Natur als Grundlage annimmt und ein lustiges Ideal darauf bildet, welches den Geist erhöht und erhabene Poesie und Philosophie über die mühevolle Wirklichkeit ausbreitet. Z. B. auf dem Gemälde, das Ihre Aufmerksamkeit jetzt begünstigt (Mr. Blyth bewegte sein Malerstäbchen an das »goldene Zeitalter«), haben Sie im Vordergrunde Gebüsche, in der Mitte Bäume, im Hintergrunde Berge und darüber liegend den Himmel, und ich wünsche, dass es Ihnen als eine treue Kopie der reinen Natur erscheinen möge. Aber in der Bildergruppe rechts (hier berührte der Rohrstab die Stadt mit ihren Äckern und Wäldern), »in den tanzenden Nymphen und dem denkenden Philosophen« (er berührte sein weisheitsvolles Haupt) haben Sie das Ideal, —— den erhöhenden Gesichtspunkt über ordinäre Dinge, als da sind Städte, Bauern u. s. w. Auf diese Art ist die Natur veredelt.« Hier am Ende eines Paragraphen pausierte Mr. Blyth ein wenig, und der Gärtner machte eine unzeitige Bewegung, um wieder auf seinen vorigen Platz an der Tür zu gelangen.
»Kapital, Blyth!” schrie Lady Brambledown. «Liberal, comprehensiv, progressiv, und gründliche Tiefe. Gärtner, werde nicht unruhig!«
»Die wahre Philosophie der Kunst —— die wahre Philosophie der Kunst, meine Lady«, fügte Mr. Gimble, der Gemäldehändler hinzu.
»Unverdaulich!« sagte Mr. Hemlock, der Kritiker vertraulich zu Mr. Bullivant, dem Bildhauer.
»Was?« fragte dieser Gentleman.
»Blyths kritische Prinzipien«, antwortete Mr. Hemlock. »Oh, ja! ganz extrem«, erwiderte Mr. Bullivant.
»Nachdem ich einen Überblick über die Pastoral-Kunst gegeben und den Versuch darin, »das goldene Zeitalter« besprochen habe«, fuhr Mr. Blyth fort, indem er ein Blatt umwendete, »will ich jetzt, mit Ihrer Erlaubnis, zur Kunst der Mystik und des »Columbus« fortschreiten. Die Kunst der Mystik werde ich mit kurzen Worten designieren, als das Streben, die Facta nach den höchsten Prinzipien der Phantasie zu illustrieren. Sie nimmt z. B. eine Szene aus der Geschichte —— kirchlich oder weltlich —— und stellt sie exakt mit der treuesten Naturwahrheit dar. Aber hierüber möchte wohl der ordinäre Denker geneigt sein zu sagen, die mystische Kunst hat genug getan.«
»Wenn sie es hat«, murmelte Mr. Hemlock.
»Im Gegenteil, die Kunst der Mystik hat erst begonnen. Hierbei muss außer dem Factum selbst, der Geist des Zeitalters ——«
»Ach! ganz recht«, sagte Lady Brambledown, »ja, ja, der Geist des Zeitalters ——«
»Der Geist des Zeitalters, welcher das Faktum erzeugte und die prophetische Andeutung der zukünftigen Perioden —— ich bitte um Pardon, ich meine, ganz kurz angedeutet, —— und die prophetische Andeutung der zukünftigen Perioden ebenso treu dargestellt werden; in der Einleitung mystisch, durch geflügelte Engel und Dämonen, Cherubs und lustige Genien; gute und böse Geister, die Drachen der Finsternis, welche uns so viele vortreffliche Künstler als Personifikationen des guten und bösen Einflusses, als Tugend und Laster, Ehre und Schande, Vergangenheit und Zukunft, Himmel und Erde und so weiter —— und alles dies auf einem Bilde dargestellt haben. ——« Hier stockte Mr. Blyth wieder; dieser Passus hatte ihm Anstrengung gekostet und er war stolz darauf.
»Glorios!« schrie enthusiastisch Mr. Gimble.
»Schwülstig«, murrte Mr. Hemlock kritisch.
»Wahr«, pflichtete Mr. Bullivant willfährig bei.
»Vorwärts —— geht zum Gemälde über —— stockt nicht so oft«, rief Lady Brambledown. »Segne meine Seele, wie der Mann unruhig wird!« Dies war aber nicht an Valentin gerichtet, welcher es, wie schon gesagt, ebenfalls verdiente, sondern an den unglücklichen Gärtner, welcher einen zweiten Fluchtversuch gemacht, zum Dunkel des schützenden Torwegs zu gelangen, aber durch seine lärmenden Stiefel verraten worden war.
»Jetzt zur Exemplifizierung meiner Bemerkung an dem vorstehenden Gemälde«, fuhr Mr. Blyth fort. »Der gesuchte Moment, welcher hier repräsentiert wird, ist der Sonnenaufgang am 12. Oktober 1492, als der große Columbus zuerst deutlich und klar Land erblickte und hiermit das Ziel seiner berühmten Reise erreicht hatte. Beobachten Sie genau, wie in den oberen Teilen der Komposition durch die mystische Illustration der Geist des Zeitalters und durch Symbolik prophetisch die zukünftigen Begebenheiten des neuen Weltteils enthüllt werden. Von den zwei geflügelten weiblichen Figuren, welche in Morgenwolken über Columbus Schiffe schweben, stellt die eine den Geist der Entdeckung dar, sie hält in der linken Hand die Weltkugel und in der rechten einen Lorbeerkranz, um Columbus zu krönen. Die andere Figur symbolisiert die Königliche Gönnerschaft, personifiziert durch ein Portrait der Königin Isabella, Columbus warmer Freundin und Patronin, welche ihre Juwelen darbot, um dessen Reisekosten zu decken, und auf seiner gefahrvollen Reise stets im Geiste bei ihm war, wie hier dargestellt ist. Die lohbraune Figur mit gefiedertem Kopf, fliegendem Haar und wild ausgebreiteten Flügeln, aufschwebend zum westlichen Horizont und dem Entdecker entgegeneilend, repräsentiert den Genius von Amerika. Die Schattenumrisse, durch den Morgennebel trübe hindurchblickend, sind die Porträttypen von Washington und Franklin, die patriotischen Erhalter Amerikas, welche niemals dort erstanden wären, wenn der Kontinent nicht entdeckt worden wäre, und welche hier prophetisch mit dem ersten Entdecker vereinigt sind.«
Während Mr. Blyth noch einmal pausierte, fuhr er mit seinem erklärenden Rohrstöckchen über die verschiedenen Personen, als da sind der Geist der Entdeckung, der Geist Königlicher Patronage, der Genius von Amerika; und bei den embryonischen Physiognomien Washingtons und Franklins klopfte er sogar auf. Aller Augen folgten dem Prozesse des Stocks, und jedermanns Meinung war, diese Mystik der Kunst, personifiziert auf Mr. Blyths Leinwand, müsse eine intellektuelle Fronarbeit sein. Nur Mr. Hemlock blickte finster und wisperte zu Mr. Bullivant: »Quark!« dieser lächelte und flüsterte »—— ganz so, Quatsch! ——«
»Lassen Sie mich nun Ihre Aufmerksamkeit zu demselben mystischen Stil der Behandlung führen und Himmel und See betrachten«, fuhr Mr. Blyth weiter fort. »Die sich windenden und stoßenden Wellen des atlantischen Meeres um Columbus Schiff geben uns einen schattenhaften Typus von den riesigen Schwierigkeiten, welche der unermüdliche Schiffer zu bekämpfen hatte. Zermalmt sinkt zuerst der Geist der Abgötterei kopfüber ins Meer, gezeichnet durch Mönchsröcke, —— denn das Collegium der Mönche hat sich am ersten gegen Columbus Fahrt erklärt. Hinter dem Geist des Aberglaubens, um dessen Haupt purpurrote Trauben gewunden sind, folgt der Genius von Portugal, —— die Portugiesen haben Columbus zurückgestoßen und verräterischerweise Fregatten ausgesandt, um ihn gefangen zu nehmen. Die sich windenden schuppigen Gestalten repräsentieren Neid, Hass, Malice, Unwissenheit und Verbrechen im Allgemeinen. So das mystische Element. ——« Eine andere Pause. Jedermann scheint seltsam beruhigt zu sein über das Ende und den Schluss dieses mystischen Elements.
»Das, was jetzt noch zu erklären bleibt«, bemerkte Mr. Blyth weitergehend, »ist das Zentrum der Komposition, welches Columbus Schiff enthält und also die Hauptszene darstellt. Hier erhalten wir wahre Realität und diejenige Art streng nachahmender Kunst, welche einfach und klar sich selbst erklärt. Als einen Beweis hierfür lassen Sie mich Ihre Aufmerksamkeit auf das Verdeck des Schiffes, auf Columbus selbst und auf die Tätigkeit der Matrosen richten. Er steht mit ausgebreiteten Armen am Stern seines Fahrzeugs, sein Mantel ist von der Schulter gefallen und zeigt uns den straffen, in ein knapp anliegendes Gemsenleder-Wams gekleideten Körper. Durch das Schäbige seiner alten Kleidung habe ich seine damaligen ärmlichen Verhältnisse angedeutet. Es mag vielleicht nicht sogleich offenbar erscheinen, dass zur Personifikation dieser Figur viele wochenlange Studien des angestrengtesten Nachdenkens und Befragens der größten Autoritäten nötig waren. Aber so hat sich’s verhalten; denn nur hierdurch kann jene treue und wahrhafte Repräsentation der individuellen Charaktere erreicht werden, welche ich mit dem höheren oder mystischen Element vereinigt habe. Ein Beispiel dieser treuen Naturwahrheit wird mir erlaubt sein, an Columbus zu zeigen. Zuerst muss ich Sie erinnern, dass dieser große Mann schon im vierzehnten Jahre zur See ging und alle Beschwerden und Mühseligkeiten des Seemannes standhaft ertrug. Zweitens muss ich Sie bitten, in meinen Gedankengang einzugehen und diese Mühseligkeiten des Seelebens zu betrachten, die in starkem Ziehen an den dicken Seilen, mannhaften Kämpfen an den großen Rudern und in noch anderen Dingen bestehen. Endlich lassen Sie mich Ihre Aufmerksamkeit auf die Art und Weise richten, in welcher das Muskelsystem des berühmten Entdeckers in anatomischer Harmonie mit dieser Idee entwickelt ist. Folgen Sie meinem Stabe genau und betrachten Sie die volle, athletische Kraft, ausgedrückt in Columbus’ Bizeps Flexor Cubiti ——«
»Barmherzigkeit über uns! Was ist ein Bizeps?« schrie Ladv Brambledown.
»Der Bizeps Flexor Cubiti, Ihro Gnaden, ——« begann der Doktor, vergnügt, etwas professionelle Belehrung in den Geist einer verwitweten Countess zu bringen, »—— mag buchstäblich erklärt werden als der Zwei-Haupt-Spanner des Ellenbogens und ist ein Muskel, welcher liegt auf dem Ob ——«
»Folgen Sie meinem Stabe, meine teure Madame, bitte, folgen Sie meinem Stabe! Dies ist der Biceps«, unterbrach Valentin den Doktor, indem er mit dem Stabe auf den oberen Teil von Columbus Arm schlug, dass die Leinwand zitterte. »Diese Arme schienen unter ihrem Gemsenleder-Wams sich in einem traurig geschwollenen Zustande zu befinden. Der Bizeps, Lady Brambledowm ist ein furchtbar starker Muskel ——«
»Welcher sich in dem menschlichen Körper erhebt, Ihro Gnaden«, unterbrach der Doktor, »durch zwei Haup ——«
»Welcher gebraucht wird«, ergänzte Valentin, dem Doktor das Wort abschneidend, »—— ich bitte um Verzeihung, Doktor, aber dies ist wichtig —— welcher gebraucht wird ——»
»Ich bitte um Verzeihung«, erwiderte der Doktor ärgerlich. »Der Ursprung des Muskels oder der Platz, wo er entsteht, muss zuerst vor allem Andern beschrieben werden. Der Gebrauch kommt nachher. Dies ist ein Axiom in der Wissenschaft der Anatomie ——«
»Aber mein teurer Herr!« schrie Valentin ——
»Nein«, sagte der Doktor peremtorisch; »Ihr müsst mich wirklich entschuldigen. Dies ist ein professioneller Punkt. Wenn ich Euch erlaubte, irrtümliche Erklärungen des Muskelsystems in meiner Gegenwart zu geben ——«
»Ich habe nicht nötig, irgendeine zu machen«, schrie Mr. Blyth, heftig gestikulierend. »Ich bedarf nur ——«
»Beschreiben den Gebrauch des Muskels, bevor Ihr den Platz der Entstehung im menschlichen Körper beschrieben habt!« rief der Doktor.
»Wollt Ihr mir gestatten, zwei Worte zu sagen?« fragte Valentin.
»Zweihunderttausend über einen andern Gegenstand, mein guter Herr, ——« sprach der Doktor zustimmend und lächelte sarkastisch »—— aber über diesen Gegenstand ——«
»Über Kunst?« schrie Mr. Blyth noch lauter, indem er so stark auf die Leinwand stieß, dass ein dumpfer Trommelklang erschallte, »—— über Kunst, Doktor! —— Ich brauchte nur zu erzählen, dass Columbus frühzeitig dicke Seile gezogen und starke Ruder geführt und hierdurch sein Muskelsystem ausgebildet habe. Ich habe hierdurch die große Entwicklung seines Bizeps Muskels, welcher bei dieser Tätigkeit vorzugsweise gebraucht wird, dargelegt, dargelegt als einen guten charakteristischen Punkt seiner physikalischen Formation —— Das ist alles! Was den Ursprung ——«
»Die Entstehung des Bizeps Flexor Cubiti, Ihro Gnaden«, referierte der Doktor, »geschieht durch zwei Hauptpunkte. Der erste beginnt, wenn ich mich so ausdrücken darf, sehnig ——«
»Dieser Mann ist ein pedantischer Esel«, flüsterte Mr. Hemlock seinem Freunde zu.
»Und doch hat er keinen schlechten Kopf zu einer Büste!« erwiderte Mr. Bullivant.
»Sehnig, Ihro Gnaden«, setzte der Doktor fort, »—— von der Gelenkpfannenhöhlung des Schulterblattes; das Schulterblatt andeutend ——«
»Bitte, Mr. Blyth«, sagte der höfliche und stets bewundernde Mr. Gimble, »—— bitte, lassen Sie sich im Namen der Gesellschaft ersuchen, in Ihrer interessanten Erklärung über Kunst fortzufahren!«
»Andeutend oder meinend den untern Teil der Schulter, Ihro Gnaden«, fügte der Doktor hinzu, »oder Schulterblatt. Und die Gelenkpfannenhöhlung ist in einem Punkte von wirk ——«
»In der Tat, Mr. Gimble«, sagte Valentin, »ich bin sehr erfreut und Ihnen dankbar für Ihren Beifall; aber ich habe nichts mehr zu erklären. Ich dachte, dass der kleine Punkt über Columbus ein guter Schlusspunkt wäre, und glaubte, dass ich mir unbeschadet erlauben könnte, den Rest des Gemäldes sich selbst erklären zu lassen, —— den intelligenten Zuschauern gegenüber.«
Einige der Zuschauer, wahrscheinlich ihrer Intelligenz nicht trauend, erhoben sich um Abschied zu nehmen; —— neue Besucher kamen an, wurden von Mr. Blyth herzlich empfangen und füllten die leer gewordenen Plätze. Mittlerweile murmelte durch all den Lärm der scheidenden und kommenden Freunde und durch das sehr starke Geräusch, des beharrlichen Doktors Stimme feierlich von capsular ligaments, adjacent tendons und corracuid processes zu Lady Brambledown, welche mit satirischer Kuriosität ihm zuhörte und sich freute, die Bekanntschaft dieses höflichen medizinischen Narren zu machen, dessen Geschwätz sie amüsierte.
Unter den Gästen, welche Valentin jetzt in seinem Gemäldesaal empfing, waren zwei, die er schon viel früher zu sehen erwartet hatte —— Mr. Marksman und Zack.
»Wie spät kommt Ihr!« sagte er, als er dem jungen Thorpe die Hand schüttelte.
»Ich wünschte, ich hätte früher kommen können, mein teurer Genosse«, erwiderte Zack etwas wichtig; »aber ich hatte erst einige Geschäfte abzumachen, (er hatte seine Uhr ans dem Pfandhaus geholt;) und mein Freund hier war ebenfalls beschäftigt (Mr. Marksman hatte Heringe zu einem frühen Diner geröstet). Deshalb konnten wir nicht eher hier sein. Mat, ich muss Euch bekannt machen. Dies ist mein alter Freund, Mr. Blyth, von dem ich Euch erzählt habe.«
Valentin hatte kaum Zeit, Mr. Marksmans dargereichte Hand zu fassen und ihm eine Höflichkeit zu sagen, als seine Aufmerksamkeit schon wieder von andern Besuchern in Anspruch genommen ward. Der junge Thorpe machte die Honneurs des Hauses und führte seinen neuen Freund in den Gemäldesaal. »Anteil des Volks, wie ich Euch sagte. Mein Freund ist ein großer Künstler«, flüsterte Zack und war voller Erwartung, ob die eigentümliche Szene zivilisierten Lebens, welche vor Mr. Marksman ausgebreitet lag, ihn bewegen würde, seine barbarischen Gewohnheiten aufzugeben.
Nein! Nicht im geringsten. Da stand Mat ebenso ernst, kalt und beobachtete ruhig Menschen und Dinge um sich her. Weder die Gemälde, noch die Gesellschaft, noch die vielen starren Augen, welche seine schwarze Gehirnschalenkappe und sein genarbtes dunkelbraunes Gesicht anblickten, waren fähig, die olympische Ruhe dieses Hinterwäldlers zu erschüttern.
»Schaut dort«, sagte Zack, indem er triumphierend auf den Columbus zeigte, »was denkt Ihr darüber? Könnt Ihr vermuten, was ein Gemälde ist, Mat?«
Mr. Marksman blickte aufmerksam und bedächtig nach der Figur des Columbus, auf das Schiff, betrachtete die Flügel der weiblichen Geister, welche hoch in den Morgenwolken schwebten ——- dachte ein klein wenig nach —— dann antwortete er mit ernster, tiefer Stimme:
»Peter Wilkins auf der Reise mit seinem fliegenden Weibe.«
Zack holte sein Taschentuch aus der Tasche und erstickte sein Gelächter, so gut er konnte.
Mat nahm nicht die geringste Notiz davon, blickte starr nach dem Gemälde und fügte hinzu:
»Peter Wilkins war das einzige Buch, was ich hatte, als ich am Bord des Schiffes war. Ich las es immer und immer wieder, sobald ich einige Minuten Zeit hatte und bekam es dadurch ganz ins Gedächtnis. Das war vor vielen Jahren; jetzt weiß ich nicht viel mehr davon. Aber ich glaube, Peter Wilkins war etwas von einem Matrosen.«
»Richtig!« wisperte Zack, ihm nachgebend in seinem Scherz; »gesetzt, er war es, was dann?«
»Denkst Du, ein Mann, der Matrose war, würde Tor genug sein und mit einer solchen Barke in See gehen? ——« fragte Mr. Marksman, indem er verächtlich auf Columbus Schiff zeigte.
»Still! Alter rauer Eisbär. Das Gemälde hat nichts zu tun mit Peter Wiikins«, sagte Zack.
»Haltet Euch ruhig und wartet hier eine Minute auf mich. Dort sind einige meiner Freunde am andern Ende des Zimmers, mit denen ich einige Worte wechseln muss. Und ich sage Euch, Mat, wenn Blyth kommt und fragt Euch über das Gemälde, so sagt, es ist Columbus und lobt es teuflisch. ——«
Mr. Marksman war sich jetzt allein überlassen, sah sich nach einem bessern Platze um, gewahrte einen vakanten Raum zwischen der Türpfoste und Mr. Blyths Bureau und retirierte dahin. Die Hände in die Tasche steckend, lehnte er sich an die Wand und überblickte jedes Ding im Saale mit seiner gewöhnlichen kalten Ruhe. Nicht lange verharrte er so, als er gestört wurde. Einer seiner Nachbarn bemerkte, dass er seinen Rücken gegen eine an die Wand genagelte Zeichnung lehne, und sagte ihm recht grob, dass er Beschädigung verursache, und nötigte ihn, den Platz zu verlassen. Er bewegte sich näher zur Türpfoste, aber auch da wurde er nicht in Ruhe gelassen. Ein frischer Zug neuer Gäste erschien und zwang ihn, den Weg frei zu machen und ins Zimmer zu treten, was er sehr bequem vollbrachte, indem er sich mit der Tür rund um den Pfosten in das Zimmer drehte.
Als er auf diese Art aus dem Wege verschwand, eilte Mr. Blyth geräuschvoll dahin und empfing die ankommenden Gäste mit großer Kordialität, aber mit einem Anflug von vollständiger Geistesverwirrung. Die Ursache war, dass Lady Brambledown, welche die Gewohnheit hatte, sich gerade um die Zeit zu erinnern, dass ihr etwas mangele, wenn es am meisten unbequem und unpässlich war, ihre Wünsche zu erfüllen, eben bemerkt hatte, dass sie Valentins Werke noch nicht durch eines jener artistischen Rohre gesehen habe, welche wirklich die Lichtstrahlen vor dem Gemälde konzentrieren. Sie wusste aus früherer Erfahrung, dass das Gemäldestudium mit einem jener Instrumente vollbracht wurde und so drückte nun Ihre Ladyship den feurigen Wunsch aus, es sogleich beim Columbus anwenden zu wollen. Valentin versprach in seiner gewöhnlichen Höflichkeit, das Rohr zu holen, hatte aber nicht die geringste Ahnung, wo es liege. Unter den verschiedenen kleinen Dingen, welche er aus dem Wege räumte, als er den Saal in Ordnung brachte, waren auch einige, die er ins Bureau getan hatte. So glaubte er auch das Rohr mit hineingelegt zu haben, denn er wusste durchaus nicht, an welchem andern Platze er es suchen sollte, wenn es daselbst nicht zu finden sei.
Nachdem er die neuen Besucher gebeten hatte, einzutreten, öffnete er das Bureau mit einem kleinen glänzenden Schlüssel, den er an der Uhrkette trug. Es war ein sehr großes, altmodisches Bureau, vollgestopft mit vielerlei Sachen, unter denen er mit angestrengter Aufmerksamkeit nach dem Rohre suchte. Aber alles Suchen war vergeblich, es fand sich nicht. Nach einer kleinen Pause öffnete er ein verborgenes Schubfach —— da lag das Haarbracelet von Madonnas Mutter auf dem weißen Taschentuch, das man aus der Tasche der toten Frau genommen hatte, jedoch das gesuchte Instrument war auch hier nicht zu finden. Just als er die Sachen wieder einkramte und das Bureau zuschließen wollte, hörte er zur rechten Hand Schritte und erblickte dann den höflichen Mr. Gimble, welcher sich erkundigte, was Mr. Blyth suche und ob er ihm behilflich sein könne. Valentin erwähnte den Verlust des Rohrs, sogleich erbot sich Mr. Gimble, eins aus Pappe zu machen. »Zehntausendmal Dank«, rief Mr. Blyth, als er seinen Bureauschlüssel wieder an die Uhrkette hing und sich mit seinem Freunde Lady Brambledown wieder näherte. »Zehntausendmal Dank, aber das schlimmste von Allem ist, dass ich gegenwärtig keinen Pappdeckel aufzufinden weiß.«
Hätte Valentin statt rechts zu Mr. Gimble sich links gewandt, so würde er bemerkt haben, dass Mr. Marksman sich eben wieder in den Saal gedreht hatte, als das Bureau geöffnet war, und dass Mat mit seinen scharfen Falkenaugen denen nichts entging, seitwärts in das Bureau blickte, als Mr. Blyth darin alles umkramte. Beim Weggehen dachte er nicht im geringsten daran, dass Zacks fremder Freund etwas davon gesehen haben möchte, so wenig als er ihn bemerkt hatte; er hing also sorgfältig den Schlüssel an den Ring seiner Uhrkette und ging.
»Er verschloss seinen Kasten ungewöhnlich heftig, als der kleine Lächelnde näher kam«, dachte Mr. Marksman. »Und doch schien nichts darin zu sein, was Fremde nicht sehen könnten. Geld war nicht darin, nicht die kleinste Kleinigkeit habe ich bemerkt. Nun ich muss noch einen Blick auf die Gemälde tun.«
Die wichtigsten Entdeckungen in der Kunst und im gewöhnlichen Leben und so viele große Begebenheiten sind zuweilen aus ganz unscheinbaren Veranlassungen, ja mitunter sogar aus unedlen Motiven und Vermittlungen hervorgegangen. Mat ist kläglich unwissend in der Malerei und zu ungebildet, um ein solches Sujet, wie den Columbus gehörig verstehen zu können, und unmöglich hätte er sich mit dieser Kunst-Mystik oder Mystischen Kunst und ihrem beschützenden Genius einverstanden erklären können. Und dennoch hatte ihn das Schicksal hierbei zu einer großen, wahrhaft stolzen Mission erwählt. In kurzen Worten —— Mr. Blyths größtes historisches Werk —— sein wundervoller Columbus —— war einige Zeit in Gefahr, von der Wand zu fallen und dadurch unstreitig stark verletzt zu werden. Und Mats Blick nach ihm war der hochwichtige Blick, der ihn befähigte, die erste Person im Saale zu sein, welche die große Gefahr des erhabenen Kunstwerkes bemerkte.
Das Auge, womit Mr. Marksman zuerst das Gemälde ansah, war sicherlich nur der unwissende Blick eines Barbaren, aber das Auge, womit er darauf die Stütze prüfte, an welcher es aufgehängt war, war der Blick eines Matrosen und Zimmermanns, welcher die Gefahr zu verhüten wusste. Er sah sogleich, dass eine der zwei Eisenklammern, durch welche der Rahmen des Columbus an der Wand befestigt war, ganz sorglos in einem Teile dieser Wand eingeschlagen war, der nicht hinreichende Festigkeit besaß, um der großen Schwere des Gemäldes widerstehen zu können. Kleine warnende Stückchen Gips waren schon heruntergefallen, aber niemand hörte es in dem allgemeinen Geplauder und niemand bemerkte die Spalte oberhalb der Klammer, welche sich von Minute zu Minute immer mehr vergrößerte.
»Lasst mich schnell durch, werdet Ihr?« sagte Mr. Marksman zu seinen Nachbarn. »Ich muss die fliegenden Frauen und den Mann im schwankenden Schiff stützen, dass sie nicht durch ihre lange Fahrt herunterfallen.«
Dutzende von lärmenden Ladys und Gentleman fuhren sogleich von ihren Stühlen empor. Mat drängte sich ohne Zeremonien und Komplimente hindurch, um noch rechtzeitig das Gemälde zu schützen. Ein großer Krach erschallte, Massen von Gips und Mörtel fielen zur Erde, und in den Augenblick, als Mr. Marksman dicht vors Gemälde trat, fiel auch die Klammer aus der Wand; seine starken Hände griffen sogleich nach der losgegangenen Seite des Rahmens und verhinderten dadurch den grässlichen Sturz des erhabenen Werkes, welcher natürlich einige Beschädigungen zur Folge gehabt haben würde, denn es wäre auf die davor stehenden Stühle gefallen.
Ein schreckliches Geräusch, großer Lärm von Stimmen und eine allgemeine Konfusion trat ein. Mr. Blyth war ganz außer sich vor Schreck, er tobte wild und überlaut, vermochte aber bei diesem Ereignis nicht die geringste nützliche Tätigkeit zu entfalten. Mat, kaltblütig wie immer, hielt ruhig und fest das Gemälde in seiner Hand, unbekümmert um das Geräusch und die konfusen Ratschläge, noch die lästigen Hilfsanerbieten beachtend. Er rief Zack, eine Leiter zu holen, fehle diese, so solle man einige Stühle hersetzen, um den Strick von der andern, noch befestigten Klammer abschneiden zu können. Der junge Thorpe wusste, dass beständig einige Staffeln im Malerzimmer gehalten wurden; wo aber mochten sie jetzt hingestellt worden sein? Mr. Blyths Gedächtnis war durch den Schreck ganz verschwunden, er wusste nicht zu reden, noch zu helfen. Zack machte einen Stoß gegen die blumige Draperie, welche das alte Hausgerät und den Plunder in einer Ecke verbergen mussten und entdeckte die Leiter, die er nun triumphierend Mr. Marksman überbrachte. »Recht so, junger Freund, greif jetzt rasch in meine linke Hosentasche, da steckt ein Messer«, sagte Mat. »Und dann schneide das Stückchen Seil durch und halte recht fest, während dem will ich es langsam zu Boden lassen. Festgehalten! —— Laß langsam los! ——« Mit diesen Worten ließ Mr. Marksman das große Kunstwerk allmählich auf den Fußboden gleiten und schüttelte dann den Kalk und Staub von seinem Rocke.
»Mein teuerster Herr! Sie haben mir das schönste Gemälde gerettet, das ich jemals gemalt habe«, rief Valentin, als er Mr. Marksmans Hände feurig schüttelte. »Ich kann nicht Worte genug finden, um Ihnen meine außerordentlich große Dankbarkeit und Bewunderung auszuspr ——«
»Quält Euch nicht damit«, antwortete Mr. Marksman, »ich verstehe sie nicht, wenn Ihr sie auch finden könnt. Wollt Ihr das Gemälde wieder aufgehängt haben, so will ich’s tun und auch die dabei nötige Zimmermannsarbeit verrichten«, fügte er hinzu, indem er gleich einem Handwerker von Profession die aufgerissene Wandspalte ärgerlich betrachtete.
Eine neue Bewegung an der Tür verhinderte Mr. Blyth, eine Antwort auf dieses freundliche Anerbieten zu geben.
Beim ersten Alarm der Gefahr hatten sich sämtliche Damen, in denen der Trieb der Selbsterhaltung stark entwickelt war, weit weg zur Tür hinaus geflüchtet, die verwitwete Countess voran; sie wagten im ersten Schrecken nicht zurückzublicken und sahen auch nicht, wie das Gemälde ruhig und unbeschädigt zur Erde gelassen wurde. Just als sich dies ereignete, erblickte Lady Brambledown —— welche sich in den Türweg geflüchtet —— das Erscheinen Madonnas. Mrs. Blyth, welche das starke Geräusch oben gehört und schon einigemal vergeblich nach der Bedienung geklingelt hatte, auch ihren noch nervöser gewordenen Vater nicht allein herunterzuschicken vermochte, hatte Madonna mit ihm herunter gesandt, um Aufklärung über den Vorfall im Studienzimmer zu erlangen.
Beim Herabsteigen mit ihrem alten Kompagnon dachte sie daran, wie sie es vermeiden könnte, gesehen zu werden, denn das war ihr sehr misslich, und doch musste sie einmal in den Saal blicken. Aber alle Vorsicht, dem Gottesurteil des Gemäldezimmers zu entkommen, war vergeblich, als Lady Brambledown sie erblickte. Die verwitwete Countess war eine der wärmsten Verehrerinnen Madonnas gewesen; jetzt nun drückte sie ihre Verehrung mit großer Zärtlichkeit und wahrhaft enthusiastisch aus. Auch dem andern großen Publikum war dies taubstumme Mädchen ein viel interessanteres Gesicht als »Columbus« und das »Goldene Zeitalter«; und Jedes versuchte mit vieler Zärtlichkeit, aber geringer Intelligenz ihr zu erklären, was sich im Saale ereignet habe, ohne dass sie diese Zeichen zu verstehen vermochte. Zum Glück für Madonna hatte sie Zack erblickt. Dieser war seit seiner Durchschneidung des Strickes am Gemälde von zahlreichen Gentleman wahrhaft inquisitorisch mit Fragen über Mr. Marksman bestürmt worden. Jetzt eilte er zu Madonna und gab ihr durch für sie verständliche Zeichen zu verstehen, in welcher großen Gefahr der »Columbus« geschwebt habe. Sogleich versuchte sie fort zu eilen, um Mrs. Blyth diese Nachricht zu bringen, aber Lady Brambledown konnte in ihrer Zärtlichkeit das junge Mädchen sobald noch nicht von sich lassen; sie trat ihr in den Weg und schickte den alten, nervös zitternden Kupferstecher hinauf, um seiner Tochter die Nachricht zu bringen.
Diese Bewegung war es, welche Mr. Blyth bewog, Zacks Freund zu verlassen um zu sehen, was vor der Tür vorging. Er erblickte Madonna, umringt von zahlreichen sympathisierenden und sie bewundernden Ladys. Die ersten erklärenden Worte, die er auf seine stummfragenden Blicke von Lady Brambledown vernahm, belehrten ihn, dass seine Frau den Lärm gehört habe und in großer Angst sei. Mit dem Versprechen, in ein paar Minuten wieder da zu sein, eilte er die Treppe hinauf.
Mr. Marksman folgte Valentin sorglos bis zum Torweg, —— sorglos blickte er über einige Ladys hinweg und sah —— Madonna gerade in dem Moment, als sie der Countess ihre Schiefertafel überreichte.
Dieses süße, liebliche, wundervoll schöne Gesicht mit den edlen, sanften Zügen der Güte, dieses liebevolle Engelsantlitz blickte mit unaussprechlicher Sanftmut auf die sie betrachtenden Personen und ward endlich bestürzt, als sie mit wahren Adleraugen fortwährend angestarrt wurde. Ihre Kleidung erhöhte den Zauber ihrer Anziehungskraft noch mächtiger und die liebenswürdige Unschuld und Bescheidenheit ihres ganzen Wesens war wirklich ganz unbeschreiblich. Diesem entsprach ihr einfaches graues Merinokleid mit einer vorgebundenen schwarz seidenen Schürze, den größten Kontrast gegen den sie umgebenden Luxus bildend.
Ward der raue Mr. Marksman selbst beim ersten Anblick von ihren himmlischen Reizen gefesselt? Musste auch er unwillkürlich den Zauber ihres Einflusses anerkennen? —— Höchst wahrscheinlich, denn seine Manieren und sein ganzes Wesen schienen sich sehr zu verändern.
Beinah in demselben Moment, als seine Augen sie erblickten, färbten sich seine narbigen, dunkelbraunen Wangen mit jener eiskalten erdfahlen Blässe, ganz so wie in Dibbledean bei der alten Johanna Grice. Der erste erstaunte Blick, den er auf sie warf, versenkte ihn allmählich in ein düsteres gedankenvolles Starren mit wahrhaft abergläubischer Furcht. Regungslos stand er da und schien kaum zu atmen; nur der Kopf einer vor ihm stehenden Person brachte ihn aus diesem düsteren Hinstarren, indem er ihn durch Zwischentreten am Sehen verhinderte. Er trat einige Schritte zurück, blickte dann äußerst wild über ihn hinweg, als hätte er ganz und gar vergessen, wo er sei. Dann rang sich ein tief schmerzlicher Seufzer aus seiner Brust hervor und flüsterte den Namen »Marie!« ähnlich, wie ihn des Tabakhändlers Frau gehört, als er in jenem schweren düsteren Schlafe lag. Plötzlich wandte er sich schnell zur Tür, als hätte er sich fest entschlossen, den Saal sogleich zu verlassen.
Aber es war ein unerklärlicher Zug in seinem Herzen, der ihn zwang ganz gegen seinen Willen umzukehren. Er ging wieder zurück zur Gruppe, welche Madonna umringte, schaute noch einmal in ihr himmlisch seliges Antlitz, scharrte ununterbrochen fort, verfolgte jede ihrer Bewegungen, bis sie verschwand und zur Treppe hinaufeilte. Denn als Mr. Blyth zurückkehrte, bat sie ihn, sie aus der Versammlung zu befreien, was Mat über des Malers Schulter sehen konnte. Der junge Thorpe bot ihr seine Dienste an, sie aus dem Saale zu führen, und nickte ihr freundlich zu, als sie das Zimmer verließ. Alles dies beobachtete Mr. Marksman, denn er stand dicht hinter Zack.
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