Verbergen und Suchen



Viertes Kapitel - Der Maler und die Palette

Während wir sein vergangenes Leben betrachtet haben - jetzt seit vielen Jahren vergangen - ist Herr Blyth vom Kamin des Ateliers aufgestanden und im Begriff, sein Tagewerk zu beginnen.

Pfeifend geht er nach einem halb mit Wasser angefüllten Töpfchen, das in einer Ecke steht, und nimmt eine kleine Porzellanpalette herunter, welche, als ein die Vollendung der beiden großen Bilder, die auf den hohen und handfesten Staffeleien stehen, beförderndes Mittel abgeschmackt klein aussieht. Nachlässig hat er auf dieser Palette die ganze Farbe von gestern gelassen. Das Wasser hat jedoch ihr Hartwerden verhindert, und sie kann leicht mit dem Palettenmesser entfernt werden. Sich nach etwas Makulaturpapier umsehend, um das Gemisch von Schwefel und Syrupfarbe abzuwischen, die das erste Darüberstreichen mit seiner Messerklinge abgekratzt hat, richten sich Herrn Blyths Blicke zufällig zuerst auf den Malertisch und auf vier oder fünf Billetts, welche darauf umhergestreut liegen.

Diese, denkt er, werden ebenso gut dazu passen wie alles andere; er ergreift also die Billets, aber ehe er sie verbraucht, liest er ihren Inhalt zwei Mal durch, teils aus Vorsicht, teils aus einer zeitraubenden Gewohnheit, welche zerstreuten Menschen gewöhnlich eigentümlich ist. Drei von diesen Briefen sind zufällig in der nämlichen klecksigen Handschrift geschrieben. Keiner von ihnen ist sehr lang, und sie sind das Machwerk eines früheren Bekannten des Lesers, der sich in den letzten vierzehn Jahren in Größe und persönlicher Erscheinung ziemlich verändert hat. Hier der erste der Briefe:

»Lieber Blyth!

Es ist alles aus mit mir. Der Informator sagt: - Theater sind Häuser des Teufels, und ich muss um zehn Uhr zu Hause sein. Ich habe sicherlich niemals etwas Unrechtes in einem Theater getan, was vielleicht woanders nicht überall der Fall gewesen sein würde, es sei denn, dass Lachen über ein gutes Stück eine von den Nationalsünden ist, über welche er immer spricht; aber ich will mich hängen lassen, wenn ich es selbst meiner Mutter zu Gefallen noch länger aushalten kann.

Sie sind mein Freund. Ich werde Sie morgen besuchen, bleiben Sie also zu Hause. Wie gern möchte ich ein Künstler sein.

Immer der Ihrige

Z. Thorpe.«

Kopfschüttelnd und zugleich lächelnd beendigt Herr Blyth diesen Brief, gießt eine vollkommene Lache von schmutziger Farbe. und Terpentin über das Wort »Nationalsünden«, wirft das Papier ins Feuer und geht dann zu Nummer Zwei über.

»Lieber Blyth!

Ich konnte gestern nicht kommen wegen eines andern Skandals, über den meine Mutter natürlich weinte. Sie erinnern sich des frühern Skandals, als ich noch in der Schule war und mit Teddy Millichap Zigarren rauchte, wie mir mein Taschengeld entzogen wurde, ich meine neue silberne Uhr versetzte und fast relegiert wurde, weil es nicht für einen Gentleman sich ziemte.

Nun das ist fast wieder derselbe Skandal. Der Informator sagte, er hätte Tabaksrauch beim Morgengebet gerochen.

Mein Rock war daran schuld, den ich den Abend vorher auszulüften vergaß, er entdeckte es und sagte, er wolle mir nicht zu rauchen erlauben, weil es zur Verschwendung verleite, und ich sagte ihm, wie es auch wahr ist, dass Hunderte von Pastoren rauchten. Darüber war ein so fürchterlicher Skandal, ich möchte, Sie kämen zu uns und legten ein gutes Wort für mich ein, denn ich bin vollkommen elend und alle meine Zigarren sind mir abgenommen worden.

Ihr aufrichtiger

Z. Thorpe.«

»Ich werde mich wohl hüten, deinem griesgrämigen Vater zu nahe zu treten, Herr Zack«, sagt Valentin zu sich selbst, während er feuchten Lampenruß auf das schöne weiße Papier des zweiten Billetts aufträgt und es nachher ins Feuer wirft.

Zacks dritter Klagebrief versprach zuverlässig ernste häusliche Störungen für die regierende Macht in Baregrove-Square: -

»Lieber Blyth!

Ich bin von meinem Vater ausgescholten und von meiner Mutter geliebkost worden, und das Ende vom Liede ist, dass ich wenigstens für jetzt nachgegeben habe. Ich sagte zum Informator, dass ich ein Künstler zu werden wünschte, und dass Sie meinten, ich hätte einen guten Begriff vom Zeichnen und Augenmaß zum Treffen; aber ebenso gut hätte ich zu einer Ihrer Staffeleien sprechen können. Er sagte, die Malerkunst wäre eine gefährliche Beschäftigung« - (»und ich sage, es ist nicht wahr«, murmelte Blyth vor sich hin) - und verleite zu jeder Art von Verworfenheit, und dass Künstler im Allgemeinen ein sehr ausschweifendes Leben führen« (»das ist eine gemeine Lüge«, rief Herr Blyth, die Spitze seines Palettenmessers wütend durch das Billet stoßend), »ich leugnete dies alles natürlich gerade heraus« - (»Wohl getan, Zack!«) - »und wurde wegen meiner Behauptung fürchterlich ausgescholten« - (»das muss Dich nicht anfechten, Du sprachst die Wahrheit.«) - »Es endete, wie ich vorher sagte, mit Nachgeben meinerseits, meiner Mutter zur Liebe. Die Folgen sind nun, dass ich schon seit den letzten drei Wochen im Comptoir eines Teemaklers in der City bin. Der Informator (hier Vater) und seine Freunde sagen, es wäre ein guter Anfang für mich, und sprachen über die Ehrenhaftigkeit des Handelsstandes. Ich will nicht ehrenhaft sein und ich hasse den Handelsstand. Stellen Sie sich vor, wie ich im Teemagazin herumlaufen muss, auf Plätzen, wo es von schmutzigen Juden wimmelt, wie in Mary-Axe, um Proben einzuholen und sie in einem blauen Beutel herumzutragen, und dann ein jüngerer schmutziger Kommis, welcher Halbstiefeln trägt und seine Feder an seinem Haar abwischt, um mich zu lehren, wie man ein Paket zusammenlegt. Ist das nicht genug, einen Kerl wütend zu machen, wenn man nur daran denkt. Das kann und darf nicht so weiter gehen. Sein Sie morgen sicher zu Hause; ich komme, um mit Ihnen zu sprechen, wie ich es anfangen soll, ein Künstler zu werden. Der jüngere Kommis wird morgen früh alle Proben für mich einholen, und wenn ich nachmittags von Ihnen komme, wollen wir uns in einer Garküche treffen und dann nach dem Comptoir zurückgehen, als wenn nichts vorgefallen wäre. Fürchten Sie nicht, dass das entdeckt wird. Ich kann den kleinen Kommis mit der Dinte in seinen Haaren und mit seinen Halbstiefeln durch Beefsteaks und süßen Porter so bestechen, dass er verschwiegen ist wie das Grab.

Immer der Ihrige

Z. Thorpe jun.

P.S. Mein Entschluss ist gefasst, wenn es nicht mehr länger auszuhalten ist, so laufe ich davon.«

»O mein Gott!« sagt Valentin traurig, seine Palette mit einem Stückchen Lappen reinigend. »Es soll mich wundern, wie das noch enden wird. Der alte Thorpe ist gerade im rechten Zuge, Zack mit seiner hartnäckigen Strenge zur Verzweiflung zu treiben.«

»Er will morgen hierher kommen; er setzt nie ein Datum auf seine Billets, aber ich vermute, da dies gestern Abend kam, er meint heute. Ich weiß nicht, wie ich ihm am Besten raten soll; er ist ein sonderbarer flüchtiger Bursche; der Teufel hole das Vandyck-Braun, ich verlege immer gerade diese besondere Farbe.«

Da Herr Blyth das Vandyck-Braun nicht findet, sucht er die ihm zunächst nützliche Farbe und entschließt sich, ehe er an seinem Tagewerk weiter arbeitet, sich durch einen Blick auf eins seiner Bilder zu stärken. Er zieht den Überwurf von dem kleinsten der beiden weg und enthüllt eine klassische Landschaft.

Vor diesem Bilde, welches beinah vollendet ist, steht Herr Blyth in verzückter Betrachtung versunken, bald seinen Kopf ein wenig von der einen, bald von der andern Seite wendend, bald zurücktretend, um die allgemeine Wirkung aufzufassen, bald wieder vorgehend und jeden Teil einzeln betrachtend, so dass er zwei Finger auf andere Teile legt, um sie nacheinander getrennt zu beschauen, als ein schrillendes, ungeduldiges, Miauen an

der äußern Tür des Ateliers sich hören lässt, welches seine Aufmerksamkeit auf sich zieht. »Gott segne mich!« sagt Valentin, »Snooks will herein! Sie hat erst gestern Abend geworfen, ich wundere mich, was meine Leute sagen werden, dass sie schon wieder in das Atelier kömmt. Mit diesen Worten öffnet Herr Blyth die Tür und eine kleine schwarze Katze mit weißen Zehen, einer melancholisch aussehenden weißen Schnauze und ein Junges darin tritt bedächtig herein, geht gerade auf das Kamin zu, legt ihr Junges auf die Decke, setzt sich daneben und fängt sogleich so laut als möglich zu schnurren an; darauf wälzt sich Mietzchen wollüstig auf ihrem Rücken, hebt ihre vier weißen Pfoten in die Luft und sieht träge und unverschämt mit halbgeöffneten, grünen Augen Herrn Blyth an. Jeder Bericht über den Haushalt dieses Herrn würde unvollständig sein, wenn er nicht die Katze einschlösse, sie war buchstäblich ein Stück von ihm. Sie lebte mit ihm, folgte ihm um das Haus herum wie ein Hund, verrichtete allerlei Streiche unter Herrn Blyths Leitung und stand in vollkommen freundschaftlichen Verhältnissen mit dem ganzen Kreise seiner Bekannten.

Sie war erst spöttisch von Herrn Thorpe Junior Snooks getauft worden, welcher Beiname aber sogleich von Herrn Blyth mit dem Bemerken angenommen wurde, dass er einen kurzen, gewöhnlichen englischen Namen für ein kleines, vertrauliches englisches Haustier besonders billige.

Als Valentin so ein oder zwei Minuten lang mit der Katze gespielt hatte, fing er wieder an, seine Palette fertig zu machen.

Nachdem er seine Vorbereitungen beendet und sie, kritisch den Kopf ein wenig auf die Seite geneigt, überschaut hat, geht er zum Malkasten zurück und sucht wiederum unter den Farbentüten, als die Tür des Ateliers aufgeht und eine junge Dame eintritt.

Sie trägt einen sehr hübschen, einfachen Quäkeranzug; ihr Gewand ist von hellgrauer Farbe, vorn mit einer kleinen, niedlichen schwarzen Schürze bedeckt, welche sich um den Hals in einem gefalteten Kragen anschließt. Die Ärmel dieses Kleides sind ebenfalls eng anliegend und enden an den Handgelenken in komisch aussehenden Manschetten von altmodischen Spitzen als einzige kleine Zieraten ihres Anzugs. Man kann unmöglich beschreiben, wie köstlich sanft glänzend, frischrein und zart diese Dame ist, bloß als ein Gegenstand, auf den man hinblickt, im Kontrast mit der schmutzigen Unordnung des Ateliers, durch welches sie jetzt geht. Die schärfsten Beobachter, welche sie in ihrer jetzigen Erscheinung betrachten, würden in ihrem Gesichte oder in ihrer Gestalt, in ihrer Manier oder in ihrer Kleidung nichts entdecken, was im geringsten auf ein undurchdringliches Geheimnis oder auf ein unabänderliches Unglück schließen ließe. Und dennoch heften sich auf ihre Person forschende Blicke, so oft sie ausgeht; die Nachbarn zucken über ihr Dasein die Achseln, seufzen und betrachten sie mit kläglichen Blicken und so oft von ihrem Leben gesprochen wird, welches im Laufe der Unterhaltung beim Mittagsbrot und am Teetische in der neuen Vorstadt ziemlich oft der Fall ist, betrachten sie es als ein ganz trauriges. Gesellig können wir alle leicht in dieser Welt - wenigstens in dem gebildeten Teile derselben - als in zwei Klassen geteilt betrachtet werden. Wenn wir nicht die Leute sind, über welche andere sprechen, dann sind wir sicher die Leute, die über andere sprechen.

Die junge Dame, welche soeben in Herrn Blyths Atelier getreten war, gehörte zu der ersten Klasse von menschlichen Wesen.

Es war ihr Schicksal, von ihren Mitgeschöpfen beständig zum Gegenstande der Unterhaltung gemacht zu werden, sogar ihr Gesicht allein - bloß als Gesicht betrachtet - konnte einer beständigen Besprechung nicht entgehen, zumal unter Valentins Freunden, welche sie alle gut kannten und innig liebten! Aber merkwürdig genug, alle diese Freunde waren einer Meinung über sie, außer in einem Punkte, welchem ihrer Reize nämlich der größte Vorzug gegeben werden sollte, oder besonders den Anspruch von Bewunderung von allen Verehrern der Schönheit verdiente.

Während demnach der Eine ihrer Gesichtsfarbe, der Andere ihrem Munde, ein Dritter ihrem Haar und so weiter den Hauptvorzug gab, stimmten alle darin überein, dass das Gesicht der jungen Dame von allen, welches sie jemals gesehen hätten, der unsterblichen Madonna am ähnlichsten wäre, welche für immer die Idee der Schönheit mit dem Namen Raphael vereinigt hat. Die Ähnlichkeit fiel jedem im ersten Augenblicke schon, wo sie gesehen wurde, auf, sogar denjenigen, welche nur wenig mit Bildern vertraut waren. Im einzelnen genommen, hätte man an ihren Zügen leicht einen Mangel finden und sagen können, dass ihre Augen zu groß, ihr Mund zu klein, ihre Nase nicht griechisch genug wäre. Die allgemeine Wirkung ihres Gesichts aber, die Form ihres Kopfes, ihrer Züge und besonders ihr eigentümlicher Ausdruck erinnerte alle Beschauer sogleich und unwiderstehlich an das Bild der Sanftmut, der Reinheit und des weiblichen Edelsinns, welches auf immer von der raphaelischen Madonna auf so viele Andenken eingegraben ist. In Folge dieser außerordentlichen Ähnlichkeit war ihr eigentlicher englischer Name Marie gleich anfangs von Herrn und Madame Blyth und von allen intimen Freunden in Madonna abgeändert und italienisiert worden. Als sie jetzt in das Atelier trat, ging sie auf Valentin zu, legte sanft eine Hand auf seine Schulter und kam ihm so nahe, dass er sie auf die Stirn küssen konnte. Dann blickte sie auf die Palette, und als sie bemerkte, dass noch einige Farben darauf fehlten, fing sie sogleich an, dieselben im Malkasten zu suchen. Sie fand das vermisste Vandyck-Braun auf den ersten Blick und zeigte es Herrn Blyth mit einem hübschen, schlauen, forschenden und triumphierenden Blicke. Er nickte, lächelte und hielt ihr seine Palette hin, damit sie die Farbe selbst darauf lege. Nachdem sie dies sehr graziös vollbracht hatte, wandte sie sich zunächst zur Katze und ihrem Jungen, mit einem fröhlichen Blick des Erstaunens in ihren sanften, hellen Augen.

»Snooks" hatte ihre Lieblinge im Hause, und so oft sie die junge Dame berührte, drückte sie ihre außerordentliche Anhänglichkeit an die Madonna durch ein schnelles, langanhaltendes Schnurren aus, mit dem niemals ein anderes Mitglied der Familie begrüßt wurde.

Während der Maler und die junge Dame fleißig mit ihrer Arbeit im Atelier beschäftigt sind, hat man Muße. einen fast in Erstaunen setzenden charakteristischen Zug in ihrem Verkehr zu bemerken, wenigstens war dies an jenem besondern Wintermorgen der Fall.

Während der ganzen Zeit, seitdem die Madonna im Zimmer gewesen ist, hat sie nicht ein einziges Wort mit Valentin, und Valentin, der doch geläufig genug mit sich selbst sprechen kann, nicht ein einziges Wort mit ihr gesprochen.

Er sagte nicht »guten Morgen«, als er sie küsste, oder »ich danke Dir«, als sie das Vandyck-Braun fand, oder »wie gefällt Dir Snooks junges Kätzchen?« Und sie hat wirklich keine einzige Frage an ihn gerichtet, hat nicht einmal »armes Miezchen« gesagt, als sie die Katze auf der Decke liebkoste. Was mag dies absolute und merkwürdige Schweigen zwischen zwei Leuten bedeuten, welche sich so liebevoll und freundlich anblicken, so oft sich ihre Blicke begegnen?

Warum haben sie nicht ein einziges Mal zusammen gesprochen, seitdem sie die Tür des Ateliers öffnete?

Ist dies eins von den häuslichen Geheimnissen des Malers?

Wer ist die Madonna?

Wie ist ihr wirklicher Name außer Marie, heißt sie Marie Blyth?

Vor einigen Jahren hatte Valentin ein merkwürdiges Abenteuer in dem Zirkus einer reisenden Kunstreitergesellschaft, und es wurde ihm daselbst eine sehr sonderbare Geschichte von der Frau eines gewöhnlichen Gauklers oder Clowns erzählt.

Wer ist aber die Madonna? Und warum das absolute Stillschweigen zwischen ihr und Herrn Blyth?

Die Antwort auf diese Fragen kann man nur in dem Ereignis, in der Geschichte und in dem Resultate, welches sie herbeiführte, finden.


Vorheriges Kapitel
Nächstes Kapitel
Inhaltsverzeichnis für diese Geschichte