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Erster Band - Verbergen

Eingangskapitel - Eines Kindes Sonntag

Um ein Viertel auf ein Uhr, an einem nassen Sonntagnachmittag im November des Jahres 1837, verließ Samuel Snoxell, Laufbursche bei Master Zacharias Thorpe, wohnhaft Baregrove-Square in London, den Hauseingang mit drei Regenschirmen unter dem Arme, um seinen Herrn und seine Herrin beim Schlusse des Frühgottesdienstes an der Kirchtür zu erwarten. Snoxell war von dem Hausmädchen ausdrücklich angewiesen, seine drei Regenschirme folgendermaßen zu verteilen: den neuen seidenen Schirm sollte er an Master und Mistress Thorpe geben, den alten seidenen Schirm dem Master Goodworth, dem Vater der Mistress Thorpe, einhändigen und den schweren Ginghamschirm sollte Snoxell selbst nehmen zum besondern Schütze des sechsjährigen lquot;Master Zack«, des einzigen Kindes des Mr. Thorpe. Ausgerüstet mit diesen Verhaltungsregeln, trat Snoxell in düsterm Schweigen seine Wanderung nach der Kirche an.

Der Morgen war schön gewesen für den November, aber im Laufe des Vormittags hatten die Wolken sich zusammengeballt, der Regen hatte begonnen und der regelmäßige Nebel der Jahreszeit sich schmutzigbraun auf den nassen Straßen nah und fern gelagert. Der Garten in der Mitte von Baregrove Square mit seinen eingehegten Rasenplätzen, seinen leeren Beeten, seinen funkelneuen ländlichen Sitzbänken, seinen entlaubten jungen Bäumen, die noch nicht bis zur Höhe der sie umschließenden Gatter herangewachsen waren, schien in gelbem Dunst und sanft herabrieselndem Regen völlig zu verwesen und wurde selbst von den Katzen gemieden. Die Fensterdecken waren zum größten Teil in jedem Hause herabgelassen; das spärliche Tageslicht, das aus den Wolken sich stahl, glich der Dämmerung. wenn sie matt durch trübe Scheiben bricht; die abscheuliche braune Farbe der Backsteinfronten sah noch schmutziger und trübseliger aus als gewöhnlich; der Rauch der Schornsteine verlor sich geheimnisvoll in der Tiefe des darüberhängenden Nebels, schmutzige Dachrinnen gurgelten; schwere Regentropfen fielen hörbar auf leere Kieswege. Kein Gegenstand, groß oder klein, kein Wagen irgendeiner Art erschien, um die traurige Einförmigkeit von Linie und Masse in der Perspektive der Straße zu unterbrechen. Er gelangte mühsam in eine halbmondförmige Straße und immer noch verbreitete sich die abschreckende, grimmig feuchte sonntägliche Einsamkeit um ihn. Er betrat nun eine Straße, worin sich einige Läden befanden, und hier zogen endlich einige tröstliche Zeichen des menschlichen Lebens seine Aufmerksamkeit auf sich. Er erblickte jetzt den Straßenfeger des Distrikts, der bis nach beendigtem Gottesdienste beurlaubt war, eine Pfeife rauchend unter dem bedeckten Wege, der zu einem Stalle führte. Er entdeckte durch halbgeschlossene Fensterladen einen Apothekerlehrling über einem großen Buche gähnend. Er ging an einem Schiffer, einem Hausknecht und zwei Apfelhändlern, welche müde vor einem geschlossenen Bierhause auf und ab wanderten, vorüber. Er hörte das Getrapp von Füßen mit dichtbesohlten Stiefeln hinter sich herkommen und eine rauhe Stimme brüllte: Fort mit euch oder ihr werdet eingesperrt, und als er um sich blickte, sah er eine Apfelsinenverkäuferin, die das Verbrechen begangen hatte, dass sie einen leeren gepflasterten Weg versperrt, indem sie sich auf den Randstein gesetzt hatte. Ein Polizeidiener trieb sie vor sich her, ihm folgte ein zerlumpter Knabe, welcher an einem Stückchen Apfelsinenschale nagte. Einen Augenblick verweilend, um diese Sonntagsprozession dieser drei Personen, wie sie an ihm vorüberging, mit melancholischer Neugierde zu beobachten, wollte Snoxell um die Ecke einer Straße biegen, welche unmittelbar zur Kirche führte, als das gellende Geschrei einer kindlichen Stimme an sein Ohr schlug und sein Weitergehen sogleich hemmte.

Der Laufbursche stand einen Augenblick mäuschenstill vor Erstaunen, grinste zum ersten Male an diesem Morgen, hob den neuen seidenen Regenschirm in die Höhe und ging in großer Eile um die Ecke. Seine Vermutungen betrogen ihn nicht. Herr Thorpe ging wütend im Regen nach Hause, ehe der Gottesdienst beendigt war, und führte den kleinen Zack an der Hand, welcher widersprechend nebenher trabte, seinen Hut halb auf dem Kopfe, sich so fern als möglich von seinem Vater haltend, als er konnte, und die ganze Zeit aus vollen Kräften heulend.

Herr Thorpe hieß den Laufburschen, als er vorüberging, still stehen und riss den Regenschirm mit ungewohnter Heftigkeit aus Snoxells Hand; dann sagte er mit Nachdruck: Geh zu Deiner Herrin, geh weiter nach der Kirche! und setzte darauf seinen Weg nach Hause fort, indem er seinen Sohn schneller als je nach sich schleppte.

»Snoxy! Snoxy!« schrie der kleine Zack boshaft, der diesen Beinamen von dem Kindermädchen gehört hatte. »Ich sage Snoxy« (sich nach dem Laufburschen herumwendend, so dass er strauchelte und bei jedem dritten Schritte gegen seines Vaters Beine fiel:) »Ich bin ein unartiger Knabe in der Kirche gewesen!«

»Nun, Du siehst danach aus«, flüsterte Snoxell sarkastisch zu sich selbst im Weitergehen, »auch noch Snoxy schimpfen; nun ich will schon seiner Zeit mit Martha rechten, warum sie Dich dies lehrte, kleiner Zack.« Mit diesen Gesinnungen näherte sich der Laufbursche dem Kircheingange und wartete mürrisch unter seinen Kameraden und ihren Regenschirmen, bis die Gemeinde herauskommen würde.

Als Herr Goodworth und Madame Thorpe die Kirche verließen, ergriff der alte Herr, ohne das Ansehn zu berücksichtigen, begierig den verächtlichen Gingham-Regenschirm als den größten, welchen er herausfinden konnte, und führte seine Tochter im Triumphe darunter nach Hause. Madame Thorpe war sehr still und sie seufzte kläglich ein oder zwei Mal, während sich ihres Vaters Aufmerksamkeit den Leuten, welche die Straße entlang gingen, zuwandte.

»Du ängstigst Dich über Zack«, sagte der alte Herr, sich plötzlich nach seiner Tochter umwendend. »Kümmere Dich nicht darum, überlass dies mir. Ich will für ihn zu bitten suchen, dass er diesmal ohne Strafe davon kömmt.«

»Es ist sehr entmutigend und ärgerlich für uns, dass er sich so beträgt«, sagte Madame Thorpe, »nachdem wir ihn auf eine so sorgfältige Weise erzogen haben«.

»Unsinn, meine Liebe! Nein, ich meine das nicht, ich bitte um Verzeihung; aber wer kann sich wundern, wenn ein Kind von sechs Jahren bei einer Predigt, die nach meiner Uhr vierzig Minuten dauerte, müde wird. Ich weiß, dass ich mich selbst dabei gelangweilt habe, obgleich ich nicht ehrlich genug wie der Knabe war und es zeigte. Wir wollen nicht anfangen zu streiten. Ich will für Zack bitten, dass er diesmal ungestraft davon kömmt, und dann wollen wir nicht mehr davon sprechen.«

Herrn Goodworths Verkündigung seiner wohlwollenden Absichten gegen Zack schien von sehr geringer Wirkung auf Madame Thorpe zu sein, aber sie sagte nichts über diesen noch irgendeinen andern Gegenstand, während ihres übrigen traurigen Weges nach Hause durch Regen, Nebel und Kot nach Baregrove-Square.

Zimmer haben so gut wie die Menschen ihre geheimnisvollen Eigentümlichkeiten in der Physiognomie. Viele Zimmer, beinahe von der nämlichen Größe, fast ebenso möbliert, sind dessen ungeachtet vollständig in ihrem Ausdrucke voneinander verschieden, wenn man sich dieses Worts bedienen darf, indem sie die verschiedenen Charaktere ihrer Einwohner durch so feine Verschiedenheiten der Wirkung auf die Oberfläche (Gesichtszüge) der Möbel, die gewöhnlich allen gemeinschaftlich angehören, abspiegeln, wie oft von den unendlich kleinen Verschiedenheiten des Auges, der Nase und des Mundes keine Spur aufzufinden ist. Das Wohnzimmmer in Herrn Thorpes Hause war nett, reinlich, bequem und sinnig möbliert. Es befanden sich darin der gewöhnliche Seitentisch, Speisetisch, Spiegel, Feuergitter, marmornes Kamin mit einer Uhr darauf, ein Teppich mit einer wollenen Decke darüber und Rouleaux vor den Fenstern, damit man nicht hinein sehen könnte, - das charakteristische Kennzeichen aller Londoner respektablen Wohnzimmer der mittleren Klassen; und dennoch war es ein durch und durch ernst aussehendes Zimmer, ein Zimmer, welches den Anschein hatte, als ob es niemals gastfrei, niemals ausgelassen, niemals sehr gemütlich noch ungeheuer heiter gewesen wäre, ein Zimmer, das so wenig von Handlungen der Gnade und schneller, unüberlegter, überliebevoller Vergebung gegen Übertreter irgend einer Art oder irgendeines Alters wusste, als wie wenn es eine Zelle in Newgate oder ein geheimes Torturzimmer der Inquisition gewesen wäre. Vielleicht fühlte sich Herr Goodworth auf eine solche Weise von diesem Wohnzimmer affiziert, besonders im Novemberwetter, sobald er es betrat, dass der alte Herr, obgleich er versprochen hatte, eine Fürbitte für Zack vorzubringen, und obgleich Herr Thorpe allein am Tische saß und Bitten zugängig schien, doch ein oder zwei Minuten zögerte und seine Tochter zuerst sprechen ließ.

»Wo ist Zack?« frug Madame Thorpe schnell und ängstlich um sich blickend.

»Er ist in meinem Ankleidezimmer eingesperrt«, antwortete, ihr Gatte, ohne sich in seiner Lektüre stören zu lassen.

»In Deinem Ankleidezimmer«, wiederholte Madame Thorpe zurückprallend und so erschreckt, als-wenn sie einen Schlag statt einer Antwort erhalten hätte, »in Deinem Ankleidezimmer, beim Himmel! Zacharias! wie kannst Du wissen, dass das Kind nicht Deine Rasiermesser genommen hat?«

»Ich habe sie eingeschlossen«, erwiderte Herr Thorpe mit dem leisesten Vorwurf in seiner Stimme und der kläglichsten Selbstbeherrschung in seinem Benehmen. »Ich habe dafür gesorgt, ehe ich den Knaben verließ, dass nichts in seine Hände fällt, wodurch er sich Schaden zufügen könnte. Er ist eingesperrt und wird es bleiben, weil -«

»Ich meine, Thorpe, wollen Sie ihm diesmal nicht die Strafe schenken?« Mit diesen Worten unterbrach Herr Goodworth die Unterhaltung, sogleich mutig seine Bitte um Gnade vorbringend.

»Wenn Sie mir gestattet hätten fortzufahren, mein Herr,« sagte Herr Thorpe, der seinen Schwiegervater immer ,,mein Herr!" nannte, »so würde ich einfach bemerkt haben, dass, nachdem ich mich gegen meinen Sohn weiter (in solchen Ausdrücken, wie Sie bemerken wollen, die ich für seine Auffassung am passendsten hielt) über die Schande ausgelassen hatte, welche sein Betragen von heute Morgen für seine Eltern und ihn selbst hervorrief, ich ihm drei Verse aus den »ausgewählten Bibel-Texten für Kinder" auswendig zu lernen gab, indem ich solche Verse auswählte, die, wenn ich meinem eigenen Urteile hierüber trauen darf, passend schienen, um ihn über sein künftiges Betragen in der Kirche zu belehren. Er weigerte sich geradezu zu lernen, was ich ihm aufgab. Es war natürlich ganz unmöglich, meiner Autorität von meinem Kinde Trotz bieten zu lassen, dessen ungehorsamer Charakter, Gott weiß es, für mich eine Quelle beständiger Sorge und Angst gewesen ist, also sperrte ich ihn ein, und eingesperrt wird er bleiben, bis er mir gehorcht hat. Meine Liebe,« wandte er sich zu seiner Frau und reichte ihr einen Schlüssel, »ich habe nichts dagegen, wenn Du zu ihm hinaufgehen und versuchen willst, die Halsstarrigkeit dieses unglücklichen Kindes zu besiegen.«

Madame Thorpe nahm den Schlüssel und ging sogleich hinauf, um zu tun, was alle Frauen getan haben, seitdem es Mütter gegeben hat, zu tun, was Eva tat, wenn Kain traurig in seiner Kindheit war und an ihrer Brust weinte, mit einem Worte, sie ging hinauf, um ihr Kind zu liebkosen.

Herr Thorpe suchte, nachdem seine Frau die Türe zugemacht hatte, in seinem Buche die Stelle, wo er stehen geblieben war, fand sie, und fuhr dann mit seiner Lektüre fort, ohne Herrn Goodworth im geringsten zu beachten. - »Thorpe!« rief der alte Herr, plötzlich seines Schwiegersohnes Lektüre unterbrechend, »Sie mögen sagen, was Sie wollen, aber Ihr Begriff von der Erziehung Zacks ist, davon bin ich überzeugt, ein gänzlich falscher.«

Mit dem ruhigsten Gesichtsausdruck, den man sich denken kann, sah Herr Thorpe von seinem Buche auf, steckte sorgfältig ein Papiermesser zwischen die Blätter und legte es auf den Tisch. Er kreuzte dann seine Beine, stemmte seine Ellenbogen auf jede Lehne des Stuhls und schlug seine Hände zusammen. An der Wand gegenüber hingen mehrere Lithographien von ausgezeichneten Predigern, die teils der herrschenden Kirche, teills nicht angehörten - meistenteils als kräftig gebaute Männer mit borstigem Haar dargestellt, den Zuschauer fragend ansehend und dicke Bücher in ihren Händen haltend. Auf eines dieser Bilder, welches den hochwürdigen Aron Yollop vorstellte, richtete Herr Thorpe jetzt seine Augen, mit einem schwachen Versuch zum Lächeln auf seinem Gesichte (man wusste, dass er niemals lachte) und mit einem Blick und einer Manier, welche so deutlich sagten, als wenn er es gesprochen hatte: »Dieser alte Mann ist im Begriff, etwas Unpassendes oder Abgeschmacktes zu mir zu sagen, aber er ist der Vater meines Weibes und deshalb bin ich vollkommen resigniert.« »Es hilft Ihnen nichts, Thorpe!« brummte der alte Herr, »dass Sie nach jener Richtung hinblicken; ich lasse mich in meinen Jahren nicht mit Blicken abfertigen. Ich mag meine eigene Meinung so gut wie andere Leute haben, das gebe ich zu, aber ich sehe nicht ein, warum ich sie nicht aussprechen sollte, besonders, wenn sie den Sohn meiner eigenen Tochter betrifft. Es ist sehr sonderbar von mir, das mag sein; aber ich denke, dass ich auch zuweilen eine Stimme bei Zacks Erziehung haben müsste.«

Herr Thorpe verbeugte sich ehrwürdig, teilweise gegen Herrn Goodworth, teilweise gegen den hochwürdigen Aron Yollop: »Es wird mich freuen, mein Herr, auf irgendeinen Ausdruck Ihrer Meinung zu hören -«

»Meine Meinung«, brach Herr Goodworth aus, »ist folgende: Sie haben überhaupt keine Ursache, Zack mit nach der Kirche zu nehmen, bis er einige Jahre älter als jetzt ist. Ich will nicht leugnen, dass es hier und da einige Kinder geben mag, welche mit sechs Jahren so sehr geduldig und so sehr -wie ist doch die Bezeichnung für ein Kind, das viel mehr weiß, als es in seinem Alter zu wissen nötig hat? halt! ich habe es, frühreif ist das Wort - frühreif sind, dass sie auf der nämlichen Stelle zwei Stunden lang still sitzen können, und während dieser ganzen Zeit den Glauben beibringend, dass sie jedes Wort vom Gottesdienste verstehen, ob dies nun wirklich der Fall sei oder nicht. Ich will nicht in Abrede stellen, dass es solche Kinder geben mag, obgleich mir selbst niemals solche vorgekommen sind, und würde sie alle für garstige, kleine Scheinheilige halten,' wenn ich welche fände; aber Zack gehört nicht zu dieser Klasse, Zack ist ein ganz natürliches echtes Kind (Gott segne ihn), Zack -«

»Verstehe ich Sie recht«, mein lieber Herr, »versetzte Herr Thorpe betrübt ironisch, so billigen Sie das Betragen meines Sohnes, dass er die Gemeinde störte und mich zwang, ihn aus der Kirche zu entfernen.«

»Nichts von allem dem«, erwiderte der alte Herr; »ich lobe Zacks Betragen nicht, aber ich tadle das Ihrige. Sie machen es sich zur Pflicht, die Kirche in seine Kehle hinunterzustoßen, und er macht es sich zur Pflicht, sie auszubrechen, wie wenn es ein Brechmittel wäre, weil er es nicht besser versteht und in seinem Alter es auch nicht besser verstehen kann. Ist das die Art und Weise, ihn zu veranlassen, dass er sich gern der religiösen Belehrung zuwende. Ich weiß so gut wie Sie, dass er wie ein junger Türke bei der Predigt unruhig saß und lärmte. Aber ich bitte, was war das Thema dieser Predigt? Rechtfertigung durch den Glauben. Können Sie behaupten, dass er oder irgend einanderes Kind von seinem Alter irgendetwas von einem solchen Thema verstehen, oder irgendetwas Gutes daraus lernen könnte? Das können Sie nicht, und Sie wissen, dass Sie es nicht können. Also sage ich noch einmal, es nützt nichts, ihn jetzt schon mit nach der Kirche zu nehmen, und noch mehr, es ist schlimmer als nutzlos; denn seine ersten Ideen von religiösem Unterricht werden für ihn nur gleichbedeutend mit allem, was Zwang, Zucht und Strafe bedeutet, was für ihn nur höchst betrübend sein kann. Das ist meine Meinung, und ich bin begierig zu hören, was Sie dagegen zu sagen haben.«

»Latitudinarianismus!« sagte Herr Thorpe nach dem Bilde des hochwürdigen Aron Yollop hinblickend und gerade auf dasselbe lossprechend.

»Sie können mich nicht mit langen Worten abspeisen, welche ich nicht verstehe, und die, wie ich glaube, man nicht in Johnsons Wörterbuch finden kann«, fuhr Herr Goodworth mürrisch fort. »Sie würden weit besser tun, meinen Rat zu befolgen und Zack für jetzt auf dem Schoße seiner Mutter zur Kirche gehen zu lassen. Mag dieser Morgengottesdienst ungefähr zehn- Minuten lang dauern, mag Ihre Frau ihm aus dem neuen Testamente von unseres Heilands Güte und Milde .gegen kleine Kinder erzählen und dann mag sie ihn aus der Bergpredigt lehren: liebevoll, wahrhaft, geduldig und verzeihend zu sein, unseres Heilands wegen. Wenn ihm solche Lehren, wie diese, auf eine oder die andere Weise durch Beispiele eingeschärft werden, welche unserm eignen täglichen Leben entlehnt sind, so wird er sie verstehen, er wird oft kommen und aus freiem Antriebe danach verlangen, als eine Belohnung für seine gute Ausführung. Ich habe dies an meinen eigenen und vielen andern Kindern gesehen, die alle so erzogen wurden. Sie stimmen natürlich nicht mit mir überein, und haben schon Ihre Entgegnung bereit, um mich damit niederzuschmettern.«

»Rationalismus«, sagte Herr Thorpe, noch immer starr nach dem Bilde des hochwürdigen Aron Yollop blickend.

»Nun, Ihr Widerspruch ist diesmal wenigstens ein sehr kurzer, und das ist eine Wohltat«, sagte der alte Herr etwas gereizt. »Rationalismus, ich verstehe dieses ismus besser als das andere. Es bedeutet in verständlichem Englisch: Ich habe Unrecht, wenn ich wünsche, dass ich Zacks Religionsunterricht nur dieselbe Aussicht auf Erfolg gewähre, welche sie jedem andern gestatten, nämlich die Aussicht, nützlich zu werden dadurch, dass man ihn anziehend macht. Sie können ihm das Lesen nicht beibringen, wenn sie ihm sagen, es wird seinen Verstand stärken, aber es wird Ihnen gelingen, wenn Sie ihm ein Bilderbuch in die Hände geben. Sie geben dies im Prinzip zu, aber sobald es jemand auf höhere Dinge ausdehnen will, werfen Sie Ihre Lippen verächtlich auf, schütteln Sie Ihren Kopf und sprechen über Rationalismus, wie wenn dies eine Antwort wäre! Nun, Nun! Das Reden ist hier vergebens; Sie gehen Ihren eigenen Weg - ich mische mich gar nicht in diese Sache; aber da ich gerade dabei bin, will ich nur das eine noch sagen, ehe ich aufhöre: Ihre Art und Weise, den Knaben wegen seines Betragens in der Kirche zu bestrafen, ist nach meiner Meinung eine so schlechte und gefährliche als irgend eine, die nur erdacht werden kann. Warum ihn nicht tüchtig durchbläuen, wenn Sie den kleinen elenden Schelm streng für das bestrafen müssen, was ebenso sehr sein Unglück als seine Schuld ist? Warum ihm nicht seinen Pudding oder irgendetwas anderes entziehen? Sie suchen aber in seiner Seele Bibelverse mit der Idee der Strafe und der Haft im kalten Zimmer in Einklang zu bringen. Sie mögen ihn dahin bringen, dass er dadurch seine Texte auswendig lernt, aber ich will Ihnen sagen, was ich befürchte, Sie werden ihn, wenn Sie sich nicht in Acht nehmen, so weit bringen, dass er die Bibel ebenso sehr verabscheuen lernt, wie andere Knaben die Rute verabscheuen.«

»Mein Herr«, schrie Herr Thorpe, sich plötzlich umdrehend und Herrn Goodworth streng in das Gesicht sehend, ich muss ein für alle Mal ganz ergebenst darauf bestehen, dass ich künftig mit jeder offenbaren Profanation in der Unterhaltung sogar von Ihren Lippen verschont bleibe. Alle meine Achtung und Liebe für Sie, als mein Schwiegervater, werden mich nicht abhalten, feierlich meinen Abscheu gegen solchen Unglauben auszusprechen, der in den soeben von Ihnen gesprochenen Worten enthalten ist. Meinen religiösen Überzeugungen widerstreben diese.«

»Halten Sie ein, mein Herr!« sagte Herr Goodworth ernst und streng. Herr Thorpe gehorchte sogleich. Das Benehmen des alten Herrn zeichnete sich im Allgemeinen weit mehr durch Herzlichkeit als durch Würde aus, aber es änderte sich gänzlich, während er jetzt sprach. »Herr Thorpe«, fuhr er ruhiger, aber sehr entschieden fort, »ich bezähme mich, Ihnen meine Meinung von der Achtung und Liebe zu sagen, welche Ihnen erlaubten, mir in solchen Ausdrücken, wie Sie dieselben für passend fanden, Vorwürfe zu machen. Ich wünsche Ihnen bloß zu sagen, dass ich niemals eines solchen zweiten Beweises von Ihnen bedürfen werde; denn ich werde niemals wieder mit Ihnen über die Erziehung meines Enkels sprechen. Wenn Sie mir jetzt in Anbetracht dieser Versicherung gestatten wollen, Ihnen nicht einen Verweis, sondern einen guten Rat zu erteilen, so würde ich Ihnen nur empfehlen, in Zukunft nicht zu voreilig zu sein, einen Mann des Unglaubens zu beschuldigen, weil zufällig seine religiösen Meinungen in einigen Punkten von den Ihrigen verschieden sind. Wir wollen hierüber indes weiter nicht streiten, wenn es Ihnen beliebt. Geben Sie mir die Hand und lassen Sie uns niemals wieder ein Thema aufnehmen, worin unsere Meinungen zu sehr abweichen, um es je zu unserem Vorteil besprechen zu können.«

In diesem Augenblicke kam der Diener mit dem Frühstück. Herr Goodworth schenkte sich ein Glas Xeres ein und nahm bald sein alltägliches heiteres Wesen wieder an, das Versprechen, welches er Herrn Thorpe gegeben hatte, vergaß er aber nicht. Von dieser Zeit an mischte er sich niemals wieder mit Wort oder Tat in seines Enkels Erziehung.

Während die Theorie des Thorpeschen Systems über jugendliche Erziehung in der freien Luft des Wohnzimmers besprochen wurde, wurde die Praxis jener Theorie, soweit es den individuellen Fall des kleinen Zack betraf, durchaus auf keine befriedigende und ermutigende Weise im verschlossenen Ankleidezimmer erläutert.

Als Madame Thorpe die erste Treppe hinaufstieg, hörte sie, wie ihr Sohn eine ununterbrochene Salve von Stößen gegen die Thür seines Gefängnisses losließ. Da dies keineswegs etwas Ungewöhnliches war, wenn der Knabe wegen seines schlechten Betragens eingesperrt wurde, so war sie zwar betrübt, aber nicht erstaunt darüber und ging in das Gesellschaftszimmer, um ihre Bibel und Gesangbuch auf den kleinen Seitentisch zu legen, wo sie immer während der Wochentage ihren Platz hatten, und sich von da nach den oberen Regionen zu begeben.

Als sie ihre Hand auf das Treppengeländer legte, gewahrte sie ganz erschrocken, dass das Geräusch im Ankleidezimmer gänzlich aufgehört hatte.

Sobald sie dessen gewiss war, rief sich ihre mütterliche Einbildungskraft, trotz Herr Thorpes Beruhigung, die abschreckende Erscheinung von Zack vor, wie er vor seines Vaters Spiegel stand, mit wohleingeseiftem Kinn und ein blankes Rasiermesser an seine nackte Kehle legend. Das Kind hatte wirklich eine sonderbare Neigung, sich mit Beschäftigungen Erwachsener zu amüsieren. Da ihn das Kindermädchen einmal unbedachtsamer Weise mit nach der Kirche genommen hatte, um die Trauung einer ihrer Freundinnen mit anzusehen, hatte Zack gleich am Tage nachher darauf bestanden, die Trauungszeremonie vor einer Braut und einem Bräutigam seines eigenen Alters, die er unter seinen Gespielen aussuchte, im Garten nach seiner Erinnerung zu feiern. Ein anderes Mal, als der Gärtner, ohne daran zu denken, seine brennende Pfeife auf einer Bank hatte liegen lassen, während er für eins der Kindermädchen aus der Nachbarschaft eine Blume pflücken wollte, gelang es Zack, unbemerkt drei lüsterne Paffe schnell hintereinander zu ziehen: man fand ihn auf dem Grase, sich wie ein kleiner Trunkenbold herumwalzend, und er musste heimlich nach Hause gebracht werden, leichenblass und in kaltem Schweiß gebadet, um sich ungesehen von seiner Mutter, einsam und in der entsprechenden Dunkelheit in dem hinteren Teile der Küche zu erholen. Obgleich diese hier genau zitierten kindlichen Heldentaten Madame Thorpe unbekannt waren, so gab es doch viele andere ähnliche, die sie kannte. Die warnende Erinnerung an diese ließ jetzt die arme Dame in einem Zustande atemloser Aufregung und Unruhe nach der zweiten Treppe eilen.

Zack hatte jedoch die Rasiermesser nicht gefunden, denn sie waren alle eingeschlossen, wie Herr Thorpe vorher gesagt hatte, aber dessen ungeachtet hatte er im Ankleidezimmer ein Mittel entdeckt, großes Unheil im Hause anzurichten, an das sein Vater sicher nicht gedacht hatte. Da sich Stoßen, Stampfen, Kreischen, Schluchzen und Stühle zerschlagen als ganz ohnmächtige Mittel zu seiner Befreiung erwiesen, stellte der junge Herr plötzlich sein Verfahren ein, sah sich ringsherum im Zimmer um, bemerkte den Hahn, welcher seines Vaters Badewanne mit Wasser versorgte, und beschloss sogleich, das Haus unter Wasser zu setzen. Er hatte das Wasser in die Wanne gelassen, sie bis an den Rand gefüllt und wartete sehnsüchtig, auf einen Stuhl hingestreckt, dass sie überfließen sollte - als seine Mutter die Türe aufschloss und in das Zimmer trat.

»O, du unartiges, gottloses, heftiges Kind«, schrie Madame Thorpe, erschrocken über diesen Anblick, tat aber sogleich der drohenden Sintflut Einhalt und zwar aus Gründen der Vorsicht, die mit der Decke des Empfangszimmers in Verbindung standen. »Oh, Zack, Zack! Was wirst Du noch tun! Was würde Dein Vater sagen, wenn er dies sähe? Du gottloses Kind, ich schäme mich Dich anzusehen!«

In der Tat bot Zack in diesem Augenblicke ein hinreichend entmutigendes Schauspiel für die Augen einer Mutter dar. Da stand der junge kleine Teufel störrisch und aufrecht auf seinem Stuhle, seine Schultern aus seinem Kittel ein- und auszuckend und seine Hände in unbewusster Nachahmung der Lieblingsstellung des ersten Napoleon hinter sich haltend. Sein blondes Haar hing wirr um seine Stirn, seine Lippen waren geschwollen, seine Nase gerötet, und aus seinen glänzenden blauen Augen sah offen unheilvoller Trotz heraus. Nachdem Madame Thorpe ihren Sohn eine Minute lang in stummer Verzweiflung angeblickt hatte, nahm sie ihn vom Stuhle.

»Hast Du Deine Aufgabe gelernt, Du gottloser Knabe?« frug sie.

»Nein«, antwortete Zack entschlossen.

»Dann komm mit mir an den Tisch, Dein Papa will sie Dir überhören. Komm hierher und lerne Deine Aufgabe sogleich!«

»Nein, ich will nicht«, erwiderte Zack und klammerte sich mit beiden Händen fest an die nassen Seitenwände der Wanne.

Es war ein Glück für den sechsjährigen Trotzkopf, dass er diese Worte nur an seine Mutter richtete.

Madame Thorpe strafte ihn wegen dieser Äußerung nicht, wie es ihr Mann oder Vater getan hätten, aber sie ergriff für den gegenwärtigen Fall das richtige Mittel.

»Sieh mich an Zack«, sagte sie, zur Wanne zurückgehend und sich neben ihn auf den Stuhl setzend, »ich habe Dir etwas zu sagen.«

Der Knabe gehorchte sogleich, er war in seiner schlechtesten Laune niemals abgeneigt, jedem offen in das Gesicht zu sehen. Seine Mutter öffnete ihre Lippen, hielt plötzlich inne, zögerte und schloss dann den ersten Satz ihrer Strafpredigt auf die höchst komische Weise dadurch, dass sie das ihr zunächst hängende Handtuch herunterriss und Zack nach dem Waschbecken fortführte.

Die einfache Tatsache war, dass Madame Thorpe im Geheimen eitel auf ihr Kind war. Sie hatte schon lange jede andere moralische Schwäche, nur diese nicht, besiegt, - von allen Eitelkeiten die schönste, von allen menschlichen Fehlern sicherlich der reinste! Ja! Sie war stolz auf Zack! Auf den lieben, unartigen, hübschen, gegen die Tür stoßenden, die Kirche störenden, das Haus überschwemmenden Zack. Wenn er nur ein schlicht aussehender Knabe gewesen wäre, hätte sie ihre Strafpredigt fortsetzen können, aber kalt auf sein hübsches Gesicht zu blicken, entstellt durch Schmutz, Tränen und wirres Haar, in diesem Zustande mit ihm zu sprechen, während Seife, Wasser, Bürste und Handtuch sich ganz in ihrer Nähe befanden, dies zu tun, besaß sie als Mutter nicht Selbstverleugnung genug. Also fand die mütterliche Vorlesung plötzlich und wirkungslos, noch ehe sie kaum begonnen hatte, ihr Ende im Waschbecken.

Nachdem der Knabe gereinigt und sein Haar glatt gestrichen war, was er sich ziemlich geduldig gefallen ließ, nahm ihn Madame Thorpe auf ihren Schoß, und indem sie ihren dringenden Wunsch, ihn auf seine beiden runden, glänzenden Wangen zu küssen, unterdrückte, sagte sie folgende Worte:

»Ich wünsche, dass Du Deine Aufgabe lernst, Du erzeigst mir einen Gefallen, wenn Du Deinem Vater gehorchst. Ich bin immer gut mit Dir gewesen, nun wünsche ich, dass Du gut mit mir bist.«

Zum ersten Male ließ Zack seinen Kopf herunterhängen und schien nicht vorbereitet auf eine Antwort. Madame Thorpe wusste aus Erfahrung, was dies zu bedeuten hatte. »Ich denke, was Du getan hast, fängt Dir an leid zu tun, und Du willst ein guter Knabe werden«, sagte sie. »Wenn das wahr ist, so bin ich überzeugt, Du wirst mir einen Kuss geben.« Zack zögerte wieder, dann richtete er sich plötzlich in die Höhe und gab seiner Mutter einen herzhaften, lautschallenden Kuss auf die Spitze ihres Kinns. »Und nun wirst Du Deine Aufgabe lernen, fuhr Madame Thorpe fort, ich habe mir immer Mühe gegeben, Dich glücklich zu machen, und ich bin überzeugt, Du bist diesmal bereit, Dir Mühe zu geben, um mich glücklich zu machen.«

»Ja«, sagte Zack herzhaft. Seine Mutter führte ihn sogleich zum Tische, auf welchem »die ausgewählten Bibeltexte« für Kinder aufgeschlagen lagen und versuchte ihn auf den Stuhl zu heben. »Nein«, sagte der Knabe widerstrebend und entschlossen seinen Kopf schüttelnd, »ich will meine Aufgabe auf Deinem Schoße lernen.«

Madame Thorpe gab ihm sogleich nach, und Zack, welcher merkwürdig schnell fasste, wenn er sich anstrengte, lernte seine Aufgabe in so kurzer Zeit auswendig, dass seine Mutter darauf bestand, sie ihm zwei Mal zu überhören, ehe sie ihn wirklich für fähig hielt, vor seinem Vater zu erscheinen. Das zweite Examen besiegte jedoch ihren Zweifel und sie führte ihn im Triumph herunter.

Herr Thorpe las aufmerksam, Herr Goodworth war in tiefes Nachdenken versunken, der Regen fiel hartnäckig hernieder und der Nebel wurde immer dicker, als der kleine Zack hereingeführt wurde, um seine Aufgabe vor seinem Vater herzusagen. Er bestand wieder sehr gut, aber sein kindliches Benehmen während dieser dritten Prüfung ging von Offenheit in Misstrauen über und er sah, während er seine Ausgabe hersagte, weit öfter nach Herrn Goodworth als nach seinem Vater. Nachdem die Texte hergesagt waren, sagte Herr Thorpe, ehe er wieder zu lesen anfing, zu seiner Frau: »Meine Liebe, Du kannst der Wärterin sagen, dass Zacharias sein Mittagbrot erhält, obgleich er es nicht verdient, weil er sich so schlecht betragen hat, als er seine Aufgabe lernen sollte.«

»Bitte, Großpapa, darf ich mir das Bilderbuch besehen, welches Du mir gestern Abend brachtest, als ich schon im Bette war?« sagte Zack, sich an Herrn Goodworth wendend und offenbar fühlend, dass er nun zu dieser Belohnung berechtigt war.

»Sicherlich nicht am Sonntag«, fiel Herr Thorpe ein, »Deines Großvaters Buch eignet sich nicht für den Sonntag.«

Herr Goodworth stutzte und wollte sprechen, aber er erinnerte sich dessen, was er zu Herrn Thorpe gesagt hatte, und begnügte sich damit, das Feuer zu schüren.

»Wenn Du Bilderbücher besehen willst, so weißt Du, was für Bücher Dir heute zu Diensten stehen, und Deine Mama wird sie Dir holen, wenn sie wieder hereinkommt«, fuhr Herr Thorpe fort.

Die Werke, auf welche hier Bezug genommen wurde, waren eine alte Ausgabe von »des Pilgers Reise" mit vier kleinen Kupferstichen aus dem letzten Jahrhundert, und ein »Leben Moses" mit genauen deutschen Skizzen illustriert, nach der Manier der neuen Schule. Zack wusste recht wohl, was für Bücher sein Vater meinte, und gab seinen Abscheu vor denselben dadurch zu erkennen, dass er wieder anfing, mit seinen Schultern zu zucken. Er hatte offenbar an des Pilgers Reise und dem Leben Moses schon mehr als genug gehabt.

Herr Thorpe sagte nichts weiter und fuhr wieder zu lesen fort. Herr Goodworth verbarg seine Hände in seinen Taschen, gähnte trostlos und wartete mit einem mutlos satirischen Ausdruck in seinen Augen, was sein Enkel zunächst tun würde. Wenn der Gedanke, der in diesem Augenblicke durch des alten Herrn Hirn ging, mit Worten beschrieben worden wäre, würde er genau mit der folgenden Redensart ausgedrückt worden sein: »O Du elender, kleiner Knabe, wie würde ich mich in Deinem Alter gegen alles dies aufgelehnt haben.«

Es dauerte nicht lange, so fand Zack eine neue Belustigung. Er erblickte in einer Ecke seines Vaters spanisches Rohr, nahm es sogleich zwischen seine Beine und schickte sich an, darauf einen kleinen Ritt im Zimmer auf und nieder zu wagen. Er begann gerade sich in einen mäßigen Trab zu setzen, als sein Vater ausrief »Zacharias!« und damit den Knaben sogleich zum Stillstehen brachte.

»Stelle den Stock wieder dahin, wo Du ihn gefunden hast,« sagte Herr Thorpe. »Du musst das nicht am Sonntag tun; wenn Du Dir Bewegung machen willst, kannst Du im Zimmer auf und abgehen.«

Zack zögerte, einen Augenblick überlegend, ob er ungehorsam sein oder zu weinen anfangen sollte.

»Stelle den Stock wieder hin!« wiederholte Herr Thorpe.

Zack erinnerte sich an das Ankleidezimmer und an »die ausgewählten Bibeltexte für Kinder" und gehorchte klüglich. Nachdem er den Stock in die Ecke gesetzt hatte, ging er langsam auf Herrn Goodworth zu mit einem komischen Ausdrucke der Verwunderung und des Abscheues in seinem pausbäckigen Gesichte und legte seinen Kopf demütig auf seines Großvaters Knie nieder.

»Betrübe Dich nicht so sehr, Zack!« sagte der gute alte Herr aufstehend und den Knaben in seine Arme nehmend. »Während die Wärterin Dein Mittagbrot bereitet, wollen wir aus dem Fenster sehen und uns umschauen, ob das Wetter wieder heiter wird.«

Herr Thorpe sah einen Augenblick von seinem Buche auf, sagte aber diesmal nichts.

»Ach, Regen, Regen!« murmelte Herr Goodworth, verzweifelt nach der unheilvollen Aussicht hinstarrend, während Zack sich zum Zeitvertreib die Nase gegen eine Glasscheibe auf und nieder rieb und fast darüber einschlief. »Regen, Regen! Nichts als Regen und Nebel im November. Halte Dich aufrecht, Zack, bim, baum, da läuten die Glocken zum Nachmittagsgottesdienst! Beim Himmel! Ich möchte wohl wissen, ob wir morgen schönes Wetter haben werden? Denk an den Pudding, mein Knabe.«

»Ja«, sagte Zack, die Einladung zum Pudding anerkennend, aber sich anscheinend weigernd, sie zu benützen. »Und wenn ich mein Mittagbrot gegessen habe, so möchte ich zu Bette gebracht werden.«

»Dich zu Bette bringen! Nun, Gott segne den Knaben! Was fällt ihm jetzt ein? Du wünschest ja ge¬wöhnlich immer länger aufzubleiben.«

»Ich möchte zu Bette gehen, um bis morgen zu schlafen und dann mein Bilderbuch zu haben«, antwortete der Knabe in einem abgespannten und winselnden Tone.

»Ich will mich hängen lassen«, sagte der alte Herr leise zu sich selbst, »wenn ich nicht auch daran denke, zu Bette zu gehen, bis zum andern Morgen zu schlafen und dann meine »Times" beim Frühstück zu lesen. Ich bin in jeder Hinsicht so schlimm wie Zack.«

»Großpapa«, fuhr das Kind noch schläfriger als vorher fort, »ich möchte Dir etwas ins Ohr sagen.«

Herr Goodworth beugte sich ein wenig nieder. Zack sah sich erst listig nach seinem Vater um, dann seinen Mund dicht an seines Großvaters Ohr legend, teilte er ihm das Resultat, zu welchem er nach den Ereignissen des Tages gekommen war, in folgenden Worten mit:

»Großpapa, ich hasse den Sonntag.«

Zur Zeit, als sich die soeben erzählte Episode in dem Leben des Zacharias Thorpe jun. zutrug, das heißt im Jahre 1837, war Baregrove Square die von der City entfernteste und dem freien Felde am nächsten liegende aller damals in der nordwestlichen Vorstadt Londons existierenden Straßen; aber nach Verlauf von vierzehn Jahren, das heißt im Jahre 1851, hatte Baregrove Square seinen unterscheidenden Charakter gänzlich verloren, andere Squares hatten daraus jene letzten Überbleibsel der gesunden ländlichen Atmosphäre entfernt, wovon ihr guter Name abgeleitet war, andere Straßen, Häuserreihen und Landsitze hatten sich ohne Mitleid zwischen die alte Vorstadt und das freie Feld eingedrängt und für immer die nachbarlichen Verbindungen zwischen dem Pflaster von Baregrove Square und den Fußsteigen der lieblichen Felder vernichtet.

Alexanders und Napoleons Armeen waren große Eroberer, aber die neueren Guerillaregimenter des Kalktroges, der Maurerkelle und der Ziegelhütte sind die größten Eroberer von allen; denn sie behaupten den Boden, welchen sie einst besessen haben, am längsten. Welches demolierte Kastell, aus dessen zerfallenen Mauern die feindliche Flagge weht, sah jemals so gänzlich verlassen aus, als eine arme Feldfestung der Natur, von allen Seiten durch das gemauerte Lager des Feindes eingeschlossen und entehrt durch ein feindliches Banner von Pfahl und Brett, worauf des Eroberers Devise steht: »Dieses Stück Land kann zu Baustellen abgegeben werden.« O! Ihr entschlossenen Guerillaregimenter des Kalktroges, der Kelle und der Ziegelhütte! Der Spaziergänger, der gleich mit Tagesanbruch seine Wanderung nach den Plätzen beginnt, welche ihr noch für eine kurze Zeit unversehrt gelassen habt, hört im Geheimen sonderbare Dinge von euch, wenn er gehorsam die alte ursprüngliche Sprache der Blätter auslegt und den gefährdeten Bäumen lauscht, die in seiner Nähe traurig die letzten dahinsterbenden Töne ihres ehemaligen Abendliedes flüstern.

Der neue Anbau, der anfänglich viele Hindernisse zu bekämpfen gehabt hatte, bot, nur wenige zu höheren Prei¬sen ausgenommen, drei verschiedenen Abteilungen der großen Mittelklassen unserer britischen Bevölkerung ein Unterkommen. Miete und Häuser waren stufenweise den großen, mäßigen und kleineren Einkünften der mittleren Klassen angepasst. Die Wohnungen für die Besitzer der großen Einkünfte wurden Herrenhäuser genannt und stachen sehr gegen die übrigen der Vorstadt dadurch ab, dass sie alle in einer weiten Reihe gebaut und an jeder Seite von zierlichen Toren umschlossen waren. Stuckaturarbeit im englisch-klassischen Stil war an diesen Gebäuden überall sichtbar. Treppenstufen und korinthische Säulenhallen, Torwege und Kutschenauffahrten bis zur Haustür, Gewächshäuser auf der einen und Remisen auf der andern Seite trugen mit vollem Rechte dazu bei, dass sie im genauesten Sinne des Wortes »Herrenhäuser« genannt werden konnten.

Es war ein merkwürdiges Resultat der besondern Anwendung, welche bei der Gründung der neuen Kolonie befolgt wurde, dass sie die großen und kleinen Einkünfte durch ein gewisses Vereinigungsband einander näher brachte, was sicherlich den Bauunternehmern nie in den Sinn gekommen war. So wie die reiche Gegend von der allgemeinen Vorstadt eingeschlossen war, so war die arme daraus ausgeschlossen, die eine ebensogut wie die andere dazu dienend, die zahlreichen Wohnungen für die Besitzer von mäßigen Einkünften an ihrem passenden Platze zusammenzuhalten, örtlich ebenso wie gesellig eingezwängt zwischen die hohen und niedrigen Extreme des Lebens rings um sich.

Die unglücklichen Besitzer der kleinen Einkünfte hatten den allerschlechtesten Teil des neuen Anbaues gänzlich für sich selbst und mussten jedes Geräusch und jede Beschwerde des vorstädtischen Lebens mit anhören und erdulden, während die Besitzer der großen dessen ganze Ruhe und Luxus genossen. Hier waren die traurigen Grenzen, an welchen die Baukunst mit ihrer Arbeit verzweifelnd innehielt. Jedes Haus in dem Fegefeuer dieses armen Mannes war wirklich und in fürchterlicher Buchstäblichkeit ein Steinkasten mit einem Schieferdach. Jedes in diese Kasten gebohrte Loch, es sei nun ein Loch in der Tür oder ein Fenster, war immer übermäßig mit Kindern angefüllt. Sie zählten oft zu fünfzig und sechzig in einer Straße und waren das charakteristische Kennzeichen des Viertels. In der Welt der großen Einkünfte entwickelte sich das junge Leben wie ein Springbrunnen im Garten, der nur zur bestimmten Zeit im Sonnenschein spielte. Bei den armen Leuten ergoss sich das junge Leben wie ein Strom auf die Straße, bei jedem Wetter wie eine unerschöpflich überfließende Gosse. Nach den Kindern der Bewohner kamen in sichtbarer Anzahl die Hemden und Unterröcke und verschiedene andere Wäsche derselben herumflatternd, um an gewissen Wochentagen im Freien getrocknet zu werden, und die so die baumlosen kleinen Gärten, wo sie hingen, belebten. Hier blühte in ihrer schönsten Entwicklung jene verzehrende Leidenschaft für Apfelsinen, wodurch sich das englische Mädchen besonders auszeichnet, und hier erzählte auch der verpestende Geruch der schlechten Zigarre, welche der feiernde Ladenjunge rauchte, allen Nasenlöchern, dass es Sonntag wäre, ebenso deutlich als die Kirchenglocken es verkünden konnten. Es war eine bleibende und merkwürdige Seltenheit, in irgendeinem Teile dieser Gegend an Wochentagen von neun Uhr morgens bis sechs Uhr abends einem Manne zu begegnen.

Was den großen mittleren Teil der Vorstadt anbetraf, die Gegend der mäßigen Einkünfte, welcher auf der einen Seite unregelmäßig zwischen der armen und auf der andern Seite zwischen der reichen hinlief, bis er die Felder erreichte, so spiegelte er genau das Leben derjenigen, welche ihn bewohnten, dadurch ab, dass er durchaus keinen besondern eigentümlichen Charakter darbot.

Einerseits ahmte die bessere Klasse von Häusern so prächtig als möglich die großartige Bauart der Herrenhäuser, welche den Vornehmen gehörten, nach, andererseits unterschied sich die schlechteste Klasse der Häuser nur wenig von den Steinkasten der Armen. So verlor die Gegend, was sie an dem einen Ende an schrecklicher Ruhe und überflüssiger Stille gewann, welche aus den verzierten Toren hervorkamen, wiederum durch das Geräusch und die Unreinlichkeit des Armenviertels am andern Ende.

Demjenigen, welcher das Leben betrachtet, welches in England unter den Leuten von mäßigem Einkommen vorherrschend ist, wird diese Art von Existenz, mit wenigen erstaunlichen Ausnahmen, mit keinem andern in irgendeinem Teile der zivilisierten Welt vergleichen können. In welchem andern Lande, als in dem unsrigen, ist der gesellige Genuss der mittlern Klassen mit geringem Einkommen so vorsichtig eines jeden unverfälschten eigentümlichen Wesens entblößt, um es nur zum schwachen Abklatsch des geselligen Vergnügens der höhern Klassen mit großen Einkommen zu machen? Geschieht dies irgendwo anders als in England, und ist es nicht handgreiflich betrübend wahr, dass während die höheren und niederen Klassen unserer Gesellschaft jede ihre eigenen, charakteristischen, unverfälschten Erholungen in ihren Mußestunden haben, welche gleichmäßig ihrem Vermögen und ihrem Geschmack entsprechen, die mittleren Klassen im Allgemeinen alles dies entbehren.

Das Leben in der neuen Vorstadt gab hiervon, wie überall in England, Beweise in Fülle. Um nur ein Beispiel von den Erholungen, die im Essen und Trinken bestehen und einen so großen Teil unserer Zeit in Anspruch nehmen, zu geben, wollen wir bloß anführen: Wenn die reichen Besitzer »der Herrenhäuser« im Park ihre großartigen Diners gaben und dabei so freigebig mit ihrem besten Champagner und ihren seltenen gastronomischen Delikatessen, wie es ihnen gefiel, waren, konnten die Mieter der Steinkasten gerade so gemächlich ihre Unterhaltung im Teegarten genießen und ihrerseits gerade so bereitwillig und gastfrei freigebig mit ihrem Bier, Tee, Butterbrot und Graneelen sein. Nicht so bei den Leuten von mäßigem Einkommen; sie schraken bei ihren geselligen Genüssen albern vor des armen Mannes Bier und Graneelen zurück; sie krochen verächtlich zu des reichen Mannes seltenen Weinen und luxuriösen Gerichten heran, gaben ihre Armut durch nachgemachten Champagner von schlechten Weinhändlern, durch schlecht schmeckenden Salat und stinkende Austernpasteten von schlechten Restaurateurs preis, blieben bei keiner ihrer Festlichkeiten ihrem Einkommen, ihrer Klasse oder sich selbst getreu und amüsierten sich deshalb niemals bei Gesellschaften, die sie gaben, und hatten niemals ein wirkliches Vergnügen dabei, was auch ihre Einladungskarten für ihre Gäste vom Gegenteil sagen mochten.

Am äußersten Ende jenes Teiles der neuen Vorstadt, welcher für die mittleren Klassen mit mäßigem Einkommen hergerichtet war, wohnte ein Herr Valentin Blyth mit Namen und seines Standes ein Maler, dessen Leben in mehr als einer Hinsicht einen sehr sonderbaren und schlagenden Kontrast von dem seiner meisten Nachbarn darbot. Als Herr Blyth zuerst seine Wohnung in dieser neuen Umgebung aufschlug, zog er ganz unbewusst alle Aufmerksamkeit, welche die ältern Ansiedler in der Kolonie übrig hatten, dadurch auf sich, dass er neben seinem Hause ein großes und komisch aussehendes Atelier baute und auf diese Weise die allgemeine Einförmigkeit in der Häuserreihe zerstörte. Von diesem Augenblicke an fingen die Leute, wie man zu sagen pflegt; von ihm zu sprechen an. Einige von den müßigeren Bewohnern zogen Erkundigungen bei Geschäftskunden ein und beobachteten den Maler und seine Hausgenossen neugierig zu Hause und auf der Straße. Die allgemeine Meinung, welche sich bald aus diesen Erkundigungen und Beobachtungen ergab, bestand darin, dass Herr Blyth eine sehr exzentrische Person sein müsste, da er allerlei Dinge machte, welche man gewöhnlich nicht machte, und dass er sich vorgenommen hatte, sich auf seine eigene Weise zu amüsieren, ohne sich im Geringsten um die Sitten und Gebräuche der reichen Aristokratie zu kümmern, welche sich in der benachbarten Abgeschlossenheit der Parktore hingepflanzt hatte.

Da man zu diesem Schlusse gekommen war und angenommen hatte, dass Herr Blyth alles eher als ein Gentleman wäre, würden sich seine Nachbarn wahrscheinlich wenig weiter um den neuen Bewohner gekümmert haben, hätte nicht irgendein besonderer Umstand, der mit ihm in Verbindung stand, einen tiefern Eindruck auf alle neugierigen Gemüter gemacht, als irgendeine seiner Sonderbarkeiten zusammen.

Es war mehr als bloße Vermutung, dass irgendein undurchdringliches Geheimis im innern Hause des Malers verborgen war.

Dass Herr Blyth verheiratet war, war so ziemlich klar, dass seine Frau sicher mit einer gewissen kranken Dame ein und dieselbe Persönlichkeit war, welche in das neue Haus, in viele Schals eingehüllt, getragen worden und niemals nachher wieder an der Tür oder am Fenster sichtbar wurde, eine Vermutung, die sehr fest stand.

Die Kranke war aber nicht das einzige weibliche Mitglied von Herrn Blyths häuslicher Umgebung. Es befand sich darin auch eine junge Dame, welche in seinem Hause lebte und ihn beständig auf seinen täglichen Spaziergängen begleitete. Das Gerücht ging, dass sie eine entzückend schöne Dame wäre, und dennoch konnte man niemals jemanden finden, der ihr Gesicht ganz gesehen hatte, weil sie unabänderlich ihren Schleier herunterzog, so oft sie ausging. Man behauptete und glaubte allgemein, dass Herr Blyth niemals jemandem gesagt hätte, wer sie wirklich wäre. Der Stadtklatsch bemächtigte sich bald dieses Gerüchts und Dienst- und Handelsleute beschäftigten sich besonders mit ihrem Charakter. In einigen Kreisen wurde die Vermutung aufgestellt, dass sie des Malers natürliche Tochter wäre, in andern, dass sie zu ihm in der Beziehung eines weibliches Modells stände oder etwas bei weitem Unanständigeres wäre, und ferner flüsterte man sich überall zu, dass sie, sie möge nun sein, wer sie wolle, das Opfer eines schrecklichen Unglückes wäre. Die Leute schüttelten ihre Köpfe, seufzten und murmelten »das arme Ding«, oder nahmen eine Miene. von zudringlichem Mitleid an und sagten, so oft sie von ihr in der gewöhnlichen Gesellschaft der Vorstadt sprachen: »ist das nicht ein trauriger Fall.«


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