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Fräulein oder Frau?

Kapitel 2

Die Vorratskammer



Für Leute mit trägen Lebern und zärtlichen Herzen wird der Genuß einer Seefahrt durch zwei ernste Schattenseiten beeinträchtigt. Es ist außerordentlich schwer, auf der See sich hinreichend Bewegung, und fast unmöglich, im Geheimen die Cour zu machen. Fassen wir hier einen Augenblick nur die letztere Schwierigkeit ins Auge, so kann man das Leben innerhalb der engen und stark bevölkerten Grenzen eines Schiffs als ein wesentlich öffentliches bezeichnen. Vom Morgen bis Abend ist man seinem Nachbar, oder sein Nachbar einem im Wege.

Bei diesem Zustand der Dinge darf man einen Mann, der im Stande ist, auf der See unbeobachtet einen Kuß zu rauben, als einen mit den seltensten Eigenschaften ausgestatteten Menschen bezeichnen. Eine angeborne Begabung für die feinsten Kriegslisten, eine unerschöpfliche Erfindungsgabe, eine durch die übermenschlichsten Prüfungen nicht zu ermüdende Geduld, eine Geistesgegenwart, die durch keinen noch so unerwarteten Zufall außer Fassung zu bringen ist – das sind einige der Eigenschaften, mit welchen die Liebe auf einer Seefahrt ausgerüstet sein muß, wenn sie sich als Kontrebande auf das Schiff mit eingedrängt hat und nicht gehörig in die Schiffspapiere einregistriert ist. Nachdem Natalie und Launce sich über eine hinlänglich originelle Zeichensprache verständigt hatten, die sie in den Stand setzte, vertraulich miteinander zu verkehren, während die Augen und anderer weit geöffnet, auf sie gerichtet waren, hatten sie die noch größere Schwierigkeit zu überwinden, ein Mittel zu finden, am Bord der Yacht unbeobachtet von Zeit zu Zeit zusammenzukommen. Launce hatte sich den Schwierigkeiten, die sich ihm in den Weg stellten, nicht gewachsen gezeigt. Natalie, die in Folge dessen auf ihre eigene Erfindungsgabe angewiesen war, hatte Launce den Gedanken eingegeben, sich seiner medizinischen Studien als einer triftigen Entschuldigung dafür zu bedienen, daß er sich von Zeit zu Zeit in den unteren Regionen einschloß, und war dann auf die glückliche Idee gekommen, sich immer wieder den Besatz ihres Kleides abzureißen, und sich zur selbsteigenen Ausbesserung dieser Risse zu verurteilen, und so ihrerseits eine unverwerfliche Entschuldigung für ihr Verschwinden zu gewinnen. Auf diese Weise machten die Liebenden es möglich, während die nichts ahnenden regierenden Mächte auf dem Verdeck weilten, im Geheimen unter ihnen auf dem neutralen Boden der großen Kajüte zusammenzukommen, und hier waren sie, in Folge einer vorgängigen Verabredung am Frühstückstisch, auch eben jetzt wieder im Begriff, sich im Geheimen zu treffen.

Natalie öffnete, wie gewöhnlich bei diesen Gelegenheiten, ihre Tür zuerst und zwar aus dem triftigen Grunde, weil sie diejenige war, auf deren Behendigkeit im Fall eines unvorhergesehenen Zufalls sie sich am besten verlassen konnten. Sie sah nach dem Oberlicht hinauf. Dort wurden die Beine der beiden Herren und die Röcke ihrer Tante, die an der Leeseite des Schiffes ruhig verharrten, sichtbar. Sie trat einige Schritte weiter vor und horchte. Das Geräusch der Stimmen oben ließ plötzlich nach. Sie sah wieder hinauf. Ein paar Beine, und zwar nicht die ihres Vaters, waren verschwunden. Ohne einen Augenblick zu zögern, flog Natalie in ihre Kabine zurück, gerade noch zu rechter Zeit, um Richard Turlington, der eben die Kajütentreppe herunter kam, zu entgehen. Er trat an eine der Schubladen unter dem Bücherschrank der Kajüte, nahm eine Karte heraus und ging dann sofort wieder auf Deck. Nataliens böses Gewissen ließ sie gleichwohl den voreiligen Schluß ziehen, daß Richard Verdacht gegen sie hege. Gleich darauf trat sie zum zweiten Mal an die Tür ihrer Kabine, dieses Mal aber nicht, um sich in die Kajüte zu wagen, sondern um flüsternd hinaus zu rufen: „Launce!“

Ihr Vetter erschien an seiner Tür, aber noch bevor er die Schwelle überschreiten konnte, rief sie ihm in peremtorischem Tone zu: „Rühr‘ dich nicht! Richard ist unten in der Kajüte gewesen! Er hat Verdacht geschöpft!“

„Unsinn! Komm doch heraus!“

„Unter keiner Bedingung, wenn du nicht einen andern Ort als die Kajüte ausfindig machen kannst.“

Einen anderen Ort? Wie leicht wäre der am Land zu finden gewesen, wie schwer, wenn nicht unmöglich auf der See! An dem einen Ende des Schiffs befand sich die von der Mannschaft besetzte Volkskajüte, am andern Ende der mit Segeln angefüllte Segelraum. Die Damenkajüte war zum Ankleidezimmer der Damen eingerichtet und als solches völlig unzugänglich für jedes männliche Wesen an Bord. Gab es in der Mitte des Schiffs noch irgend einen geschlossenen und disponiblen Raum? An der einen Seite befanden sich die Schlafkabinen des Schiffsoberleutnants und des Steuermanns, die unser Paar unmöglich betreten konnten; an der anderen Seite lag die Vorratskammer des Stewards. Launce dachte einen Augenblick nach. Die Vorratskammer des Stewards war gerade, was sie brauchten.

„Wohin willst du?“ fragte Natalie, als Launce gerade auf eine verschlossene Tür am unteren Ende der Kajüte zuging.

„Ich will mit dem Steward reden, liebes Kind, warte einen Augenblick, ich bin gleich wieder da.“

Launce öffnete die Tür der Vorratskammer und fand darin nicht den Steward, sondern seine Frau, welche den Dienst einer Stewardeß auf dem Schiffe versah. Das war dieses Mal ein glücklicher Zufall. Launce, der jedesmal, so oft er auf dieser Fahrt Natalie einen Kuß geraubt hatte, dabei von dem Steward oder seiner Frau überrascht worden war, brauchte kein Bedenken zu tragen, diese beiden mit ins Vertrauen zu ziehen. Nachdem er die Sympathien der in dieser Region des Schiffes herrschenden Autoritäten schon früher durch das beredte Mittel von Geldgeschenken gewonnen hatte, konnte er auf ihre Verschwiegenheit rechnen. Nach einem schwachen Versuch, die Bitte abzulehnen, willigte die Stewardeß ein, nicht nur die Vorratskammer zu verlassen, sondern auch ihren Mann von derselben fern zu halten, unter der Bedingung, daß der Raum für nicht länger als zehn Minuten besetzt bleiben dürfe.

Launce machte Natalie das verabredete Zeichen an der einen Tür, während die Stewardeß zur anderen hinausging. Einen Augenblick später fanden sich die Liebenden in einem geschlossenen Raum vereinigt. Brauchen wir zu sagen, in welcher Sprache die Verhandlungen eröffnet wurden? Gewiß nicht! Bei solchen Gelegenheiten pflegt man sich einer unartikulierten Lippensprache zu bedienen, in der wir alle Meister sind, obgleich wir es im späteren Leben bisweilen vergessen. Natalie stand an eine mit Tee, Zucker und Gewürzen bedeckte Wand gelehnt, eine Speckseite hing über ihrem Haupt und ein mit Zitronen gefülltes Netz schaukelte vor ihrem Gesichte. War daher die Vorratskammer auch gerade nicht geräumig, so war sie doch gemütlich.

„Wenn nun der Steward gerufen würde?“ sagte sie, um ihn abzuwehren. „Laß es, Launce.“

„Sei ganz ruhig. Wir sind hier sicher, wenn sie ihn auch rufen. Der Steward braucht nur auf dem Verdeck zu erscheinen und jeder Verdacht gegen uns muß schwinden.“

„Laß mich in Ruhe, Launce! Ich habe dir sehr schlimme Nachrichten zu melden, und überdies wartet meine Tante darauf, daß ich mit meinem wieder angenähten Besatz zu ihr komme.“

Sie hatte Nadel und Zwirn mitgebracht. Sie setzte sich auf die Vorratskiste, nahm den Rock ihres Kleides über ihre Knie auf, beugte sich darüber und ging emsig daran, den abgerissenen Besatz wieder anzunähen. In dieser Stellung zeigte ihre schlanke Gestalt ihre festen, und doch so weichen Formen im reizendsten Licht. Rasch fuhr die Nadel in den geschickten Fingern durch das Zeug. Die Vorratskiste war so breit, daß Launce einen Platz neben dem holden Mädchen fand.

„Nun, Natalie, was hast du mir zu melden?“ fragte der junge Arzt.

„Er hat mit Papa gesprochen, Launce.“

„Richard Turlington?“

„Ja.“

„Hol‘ ihn der Teufel.“

Natalie fuhr zurück. Ein in den Nacken gesprochener Fluch, dem auf der Stelle ein Segenswunsch in Gestalt eines Kusses folgt, hat etwas Überraschendes, wenn man nicht darauf vorbereitet ist.

„Tu‘ das nicht wieder, Launce! - Das Gespräch fand statt, während du auf dem Verdeck rauchtest und sie glaubten, ich sei fest eingeschlafen. Ich öffnete den Ventilator in meiner Kabinentür, lieber Junge, und hörte jedes Wort, das sie sprachen. Er wartete, bis meine Tante fortgegangen war, und er Papa ganz allein hatte; und dann fing er in seiner abscheulichen, rücksichtslosen Manier an: ‚Graybrooke, wie lange soll ich noch warten?‘“

„Hat er das gesagt?“

„Das waren seine Worte. Papa verstand nicht, Richard erklärte sich alsbald. Auf wen anders konnte er warten, als auf mich? Papa sagte etwas von meiner noch so großen Jugend. Aber Richard fiel ihm ohne Weiteres ins Wort: Mädchen seien wie Früchte; einige reiften früh, andere spät; einige seien erst mit zwanzig, andere schon mit sechzehn Jahren entwickelt. Es sei unmöglich mich anzusehen und nicht zu finden, daß ich nach meiner zweimonatlichen Seereise ein ganz neues Wesen geworden sei; und so weiter, und so weiter. Papa versuchte noch, einen Aufschub zu gewinnen. ‚Wir haben noch sehr viel Zeit, Richard, noch sehr viel Zeit.‘ - ‚Noch sehr viel Zeit für sie‘, lautete die Antwort des elenden Menschen, ‚aber nicht für mich. Denk‘ an alles, was ich ihr zu bieten habe‘ als ob ich mir etwas aus seinem Gelde machte – ‚und nun laß mich nicht länger in einem Zustand der Ungewißheit, den es für einen Mann in meiner Lage von Tag zu Tag schwerer wird zu ertragen.‘ Er war wahrhaftig ganz beredt, seine Stimme zitterte... Es ist kein Zweifel, lieber Launce, daß er verliebt in mich ist.“

„Und dadurch fühlst du dich natürlich geschmeichelt?“

„Sprich doch nicht solchen Unsinn. Ich fühle mich ein wenig erschreckt dadurch, das kann ich dir versichern.“

„Erschreckt? Hast du ihn diesen Morgen beobachtet?“

„Ich? Wann?“

„Als dein Vater die Geschichte von dem über Bord gefallenen Matrosen erzählte.“

„Nein. Was tat er da? Erzähle mir, Launce.“

„Sag‘ mir zuerst: wie lief denn das Gespräch gestern Abend ab? Hat dein Vater ihm irgend etwas versprochen?“

„Du kennst Richards Art. Er ließ ihm keine Wahl; Papa mußte ihm sein Versprechen geben, bevor er Erlaubnis bekam, zu Bett zu gehen -“

„Das Versprechen, dich diesem Turlington zum Weibe zu geben?“

„Ja, eine Woche nach meinem nächsten Geburtstag.“

„Eine Woche nach dem nächsten Weihnachtstage?“

„Ja. Papa soll mit mir reden, sobald wir wieder zu Hause sind, und ich soll am Neujahrstage heiraten.“

„Ist das dein Ernst, Natalie? Soll ich wirklich glauben, daß sie so weit gegangen sind?“

„Sie haben sich über alles geeinigt: über die glänzende Einrichtung, die wir bekommen, und das große Einkommen, das wir haben sollen. Ich habe gehört, wie Papa zu Richard sagte, sein halbes Vermögen solle mir an meinem Hochzeitstage zufallen. Es war widerwärtig zu hören, wie viel sie von Geld und wie wenig sie von Liebe sprachen. Was soll ich tun, Launce?“

„Darauf ist die Antwort leicht, mein Engel. Vor allen Dingen mußt du fest entschlossen sein, Richard Turlington nicht zu heiraten-“

„Sprich vernünftig. Du weißt, ich habe alles getan, was ich konnte. Ich habe Papa gesagt, daß ich mir Richard wohl als Freund, aber nicht als Ehemann denken könne. Aber er lacht mich nur aus und sagt: ‚Wart ein bißchen und du wirst schon deine Ansicht ändern, liebes Kind!‘ - Du siehst, Richard ist ihm alles: Richard hat ihm immer seine Angelegenheiten besorgt und hat ihn vor Verlusten durch schlechte Spekulationen bewahrt; Richard kennt mich seit meiner frühesten Jugend; Richard hat ein glänzendes Geschäft und sehr viel Geld. Papa hat gar keine Vorstellung davon, wie ich Richards Hand ausschlagen kann. Dann versuchte ich es, mich hinter meine Tante zu stecken; ich sagte ihr, er sei zu alt für mich; aber alles, was sie mir antwortete, war: ‚Sieh doch nur deinen Vater an, er war viel älter als deine Mutter und doch war ihre Ehe so glücklich.‘ - Selbst wenn ich geradezu erklärte, ich würde Richard nicht heiraten, was hätten wir davon? Papa ist der beste, liebste alte Mann auf der Welt, aber – ach! - das Geld geht ihm über alles! Er glaubt an nichts anderes. Er würde wütend werden – bei aller seiner Güte, wütend – wenn ich auch nur andeuten wollte, daß ich dich liebe. Der Mann, der es sich einfallen ließe, um meine Hand anzuhalten, ohne ein ebenso großes Vermögen zu haben, wie das, welches ich ihm mitbrächte, würde von Papa wie ein Verrückter angesehen werden. Er würde es gar nicht für nötig halten, einem solchen Menschen auch nur eine Antwort zu geben; er würde einfach klingeln und dem Tollkühnen die Tür weisen lassen. Ich übertreibe nicht, Launce; du weißt, ich rede die Wahrheit. So weit ich sehen kann, gibt es keine Hoffnung für uns.“

„Bist du fertig, Natalie? Dann möchte ich auch etwas sagen.“

„Nun, sprich!“

„Wenn es so fortgeht, wie es sich jetzt anläßt, weißt du, wie dann alles enden wird? Es wird damit enden, daß du Turlingtons Frau wirst.“

„Niemals!“

„Das sagst du jetzt, aber du weißt nicht, was zwischen heute und Weihnachten passieren kann! Natalie, es gibt nur ein Mittel, es außer allen Zweifel zu stellen, daß du Richard niemals heiraten wirst – heirate mich!“

„Ohne Papas Einwilligung?“

„Ohne irgend jemand ein Wort zu sagen, bis die Sache geschehen ist.“

„O, Launce, Launce!“

„Lieber Engel, jedes Wort, was du gesprochen hast, zeigt, daß es kein anderes Mittel gibt. Bedenke es wohl, Natalie, bedenke es wohl!“

Es entstand eine Pause. Nataliens Hand entsank Nadel und Faden und sie bedeckte ihr Gesicht mit ihren Händen und sagte: „Ach, wenn nur meine arme Mutter noch lebte! Oder wenn ich nur eine ältere Schwester hätte, die ich um Rat fragen könnte, was ich tun soll.“

Sie schwankte offenbar. Launce ließ sich den Vorteil ihrer Unentschlossenheit nicht entgehen. Er drang unbarmherzig in sie.

„Liebst du mich?“ flüsterte er ihr ins Ohr.

„Du weißt, wie zärtlich ich dich liebe.“

„Nimm Richard die Möglichkeit, uns zu trennen, Natalie.“

„Uns trennen? Wir sind ja Blutsverwandte! Selbst wenn er den Versuch machen wollte, uns zu trennen, so würde Papa das nicht erlauben.“

„Merk‘ wohl auf meine Worte: Er wird den Versuch machen. Er braucht ja nur den Finger aufzuheben, damit dein Vater ihm gehorcht. Liebstes Mädchen, unser beider Lebensglück steht auf dem Spiel!“ Dabei umschlang er sie mit seinem Arm und zog ihren Kopf sanft an seine Brust. „Das haben schon viele Mädchen vor dir getan, Liebchen“, beredete er sie, „warum wolltest du es auch nicht tun?“

Es ging über ihre Kräfte, ihm zu antworten.Sie gab es auf. Ein leiser Seufzer entrang sich ihrer Brust. Sie schmiegte sich noch enger an ihn und schloß wie ohnmächtig die Augen. Im nächsten Augenblick aber fuhr sie, am ganzen Leibe zitternd, auf und blickte nach dem Oberlicht. Gerade über ihnen wurde plötzlich Richard Turlingtons Stimme vernehmbar.

„Graybrooke, ich habe dir ein Wort über Launcelot Linzie zu sagen.“

Nataliens erster Gedanke war, an die Tür zu eilen. Als sie aber Richard Launces Namen aussprechen hörte, stand sie davon ab. In Richards Ton lag etwas, was ihre Neugierde erweckte, und die Macht der Neugierde ist oft stärker als die der Furcht. Sie wartete, während sie ihre Hand in Launces Hand ruhen ließ.

„Du wirst dich erinnern“, fuhr Richard mit seiner dröhnenden Stimme fort, „daß ich es nicht geraten fand, ihn auf dieser Fahrt mitzunehmen; du warst nicht meiner Meinung, und auf deine ausdrückliche Bitte gab ich nach. Es war unrecht von mir. Launcelot Linzie ist ein sehr anmaßender junger Mann.“

Sir Joseph antwortete mit seinem gewohnten milden Lachen: „Mein lieber Richard, du urteilst wirklich etwas zu hart über Launce.“

„Du verstehst dich nicht darauf, Menschen zu beobachten, wie ich, Graybrooke! Ich sehe unverkennbare Zeichen, daß er sich gegen uns alle, und namentlich gegen Natalie mehr herausnimmt, als ihm zukommt. Mir gefällt die Art nicht, wie er mit ihr spricht und wie er sie ansieht. Er hat einen ungebührlich familiären Ton, eine unverschämte Vertraulichkeit, dem muß Einhalt getan werden. In meiner Stellung darf ich verlangen, daß auf meine Gefühle Rücksicht genommen werde. Ich bitte dich, der Intimität zwischen den jungen Leuten ein Ende zu machen, sobald wir wieder am Lande sind.“

Der Überraschung, welche diese Worte in Sir Joseph hervorriefen, gab derselbe in ernsterem Tone Ausdruck. „Lieber Richard, sie sind Cousin und Cousine, sie sind seit ihrer frühesten Jugend Gespielen gewesen. Wie kannst du das geringste Gewicht auf irgend etwas legen, was der arme Launce sagt oder tut.“

Der Ton, in dem Sir Joseph diese letzten Worte sprach, hatte etwas gutmütig Geringschätzendes, das seine Tochter tief verletzte. Er hätte in keinem anderen Tone von einem harmlosen Haustier reden können. Sie drückte Launces Hand sanft.

Turlington beharrte bei seinem Verlangen: „Ich muß noch einmal darauf dringen, ernstlich darauf dringen, daß du dieser wachsenden Vertraulichkeit der Beiden Einhalt tust. Ich habe nichts dagegen, daß du ihn von Zeit zu Zeit mit anderen Freunden einladest. Aber was ich wünsche und von dir erwarte, ist, daß er nicht mehr zu jeder Tages- und Abendstunde, wenn er vielleicht nichts anderes zu tun hat, wie man zu sagen pflegt, ins Haus fällt. Bist du damit einverstanden?“

„Wenn du es zur Bedingung machst, Richard, so bin ich natürlich damit einverstanden.“

Als der schwache Sir Joseph mit diesen Worten in das Verlangen Richards willigte, sah Launce Natalie an.

„Was habe ich dir gesagt?“ flüsterte er. Natalie ließ schweigend den Kopf hängen. In der Unterhaltung auf dem Verdeck entstand eine Pause. Die beiden Herren gingen langsam nach dem Vorderdeck.

Launce verfehlte nicht, seinen Vorteil weiter zu verfolgen. „Dein Vater läßt uns keine Wahl“, sagte er. „Sobald wir wieder ans Land kommen, wird mir die Tür eures Hauses verschlossen werden. Wenn ich dich verliere, Natalie, weiß ich nicht, was aus mir werden soll. Aus meinem Beruf mache ich mir nichts, ich habe dann nichts mehr, was es mir der Mühe wert erscheinen ließe, weiter zu leben.“

„Still, still! Sprich nicht so!“

Launce versuchte es noch einmal mit dem besänftigenden Einfluß der Überredung: „Hundert und aber hundert Leute in unserer Lage haben sich heimlich verheiratet und haben nachher Vergebung gefunden“, fuhr er fort. „Ich verlange nicht von dir, daß du irgend etwas übereilt tust. Ich will mich ganz von deinen Wünschen leiten lassen. Alles, was ich verlange, um mein Gemüt zu beruhigen, ist die Gewißheit, daß du mir angehörst. Gib mir, ich flehe dich um alles, gib mir eine Gewähr dafür, daß Richard Turlington dich mir nicht entreißen kann.“

„Dränge mich nicht, Launce!“ Mit diesen Worten sank sie wieder auf die Vorratskiste. „Sieh“, sagte sie, „schon der Gedanke daran macht mich zittern.“

„Vor wem fürchtest du dich denn, Liebchen? Doch nicht vor deinem Vater?“

„Der arme Papa! Das wäre das erste Mal in seinem Leben, daß er hart gegen mich wäre.“ Sie hielt inne. Ihre feuchten Augen blickten flehend zu Launce auf. „Dringe nicht in mich!“ wiederholte sie mit schwacher Stimme. „Du weißt, es ist unrecht. Wir würden es eingestehen müssen; und was würde dann geschehen?“ Sie hielt wieder inne. Ihre Augen wandten sich wieder unruhig dem Deck zu. Dann fuhr sie mit noch leiserer Stimme als bisher fort: „Denk an Richard!..“ Sie schauderte bei dem Gedanken an die Schrecken, welche dieser Name ihr vor die Seele rief. Noch ehe Launce ihr ein beruhigendes Wort sagen konnte, war sie wieder aufgestanden. Bei Richards Namen hatte sie sich plötzlich wieder an die geheimnisvolle Anspielung auf den Eigentümer der Yacht erinnert, welche Launce eben vorher gemacht hatte.

„Was war das, was du vorhin von Richard sagtest?“ fragte sie. „Du sahest oder hörtest etwas Sonderbares, während Papa seine Geschichte erzählte. Was war das?“

„Ich beobachtete Richards Gesicht, Natalie, als dein Vater erzählte, daß der über Bord gefallene Mann keiner von der Mannschaft des Lotsenbootes gewesen sei. Bei diesen Worten wurde er unheimlich bleich. Das Bewußtsein der Schuld lag deutlich auf seinem Gesicht -“

„Der Schuld? Woran?“

„Er war dabei, als der Matrose über Bord geworfen wurde – davon bin ich fest überzeugt. Ja, nach allem, was ich von ihm weiß, sollte es mich nicht wundern, wenn er es selbst getan hätte.

Natalie fuhr entsetzt zurück.

„O, Launce, Launce, wie kannst du nur so etwas denken! Du magst Richard nicht leiden können, du magst ihn als deinen Feind betrachten, aber eine so furchtbare Beschuldigung gegen ihn auszusprechen – das ist nicht großmütig von dir, das sieht dir gar nicht ähnlich!“

„Wenn du ihn angesehen hättest, würdest du dasselbe gesagt haben. Ich werde sowohl im Interesse deines Vaters, wie in unserem eigenen Interesse nähere Erkundigungen einziehen. Mein Bruder kennt einen Polizeikommissar, und von dem kann er gewiß das Nähere erfahren. Turlington ist nicht immer im Levantinischen Handel beschäftigt gewesen, das weiß ich schon.“

„Schäme dich, Launce, schäme dich!“

In diesem Augenblick wurden wieder Fußtritte auf dem Deck vernehmbar. Natalie flog an die Tür, die nach der Kajüte führte. Launce hielt sie zurück, als sie eben ihre Hand auf den Türdrücker legte. Die Fußtritte gingen vorüber gerade auf das Hinterdeck zu. Launce schlang seine beiden Arme um Natalie. Sie ließ es geschehen.

„Bringe mich nicht zur Verzweiflung!“ sagte er. „Dies ist die letzte Gelegenheit für mich. Ich verlange nicht von dir, daß du mir auf der Stelle versprichst mich zu heiraten, ich bitte dich nur, es dir zu überlegen. Mein Liebchen! Mein Engel! Willst du das?“

Während er diese Frage tat, hätten sie, wenn sie nicht zu sehr miteinander beschäftigt gewesen wären, um irgendetwas zu vernehmen, hören müssen, wie die Fußtritte sich wieder näherten – dieses Mal die Tritte nur eines Menschen. Nataliens längere Abwesenheit hatte angefangen, ihre Tante zu befremden und hatte bei Richard ein unbehagliches Gefühl des Mißtrauens erweckt. Er kam allein wieder vom Hinterdeck zurück. Als er an der Kajüte vorüberkam, sah er mit abwesendem Blick in dieselbe hinein. Dann passierte er das Oberlicht der Vorratskammer. Konnte er nicht bei seinem gegenwärtigen Gemütszustand einen Blick in die Vorratskammer werfen?

„Laß mich gehen!“ sagte Natalie.

Launce antwortete nur: „Sage ja!“ und hielt sie fest, als ob er sie nie wieder los lassen wolle.

In demselben Augenblick erklang Fräulein Lavinias Stimme mit einem schrillen Ruf nach Natalie vom Verdeck her. Es gab für Natalie nur ein Mittel, von Launce loszukommen. Sie sagte: „Ich will es mir überlegen.“ Da küßte er sie und ließ sie gehen.

Kaum hatte sie die Tür hinter sich geschlossen, als das finstere Gesicht Turlingtons über dem Oberlicht der Vorratskammer erschien und durch dasselbe auf Launce blickte.

„Halloh!“ rief er in grobem Tone. „Was haben Sie in der Stewardskammer verloren?“

Launce ergriff eine Zündholzdose von einem Brett herab. „Ich hole mir Feuer“, antwortete er rasch.

„Ich gestatte niemandem, ohne meine ausdrückliche Erlaubnis unter dem Verdeck über die Kajüte hinauszugehen. Der Steward hat sich einen groben Verstoß gegen die Disziplin am Bord meines Schiffes zu Schulden kommen lassen. Der Steward wird meinen Dienst verlassen.“

„Den Steward trifft kein Vorwurf.“

„Darüber steht das Urteil mir zu, nicht Ihnen.“

Launce wollte eben antworten, und ein Wortwechsel zwischen den beiden Männern schien unvermeidlich, als der Schiffsleutnant auf dem Verdeck an den Eigentümer der Yacht herantrat und Turlingtons Aufmerksamkeit auf eine Frage lenkte, mit welcher auf der See nie zu spaßen ist: auf die Frage des Windes und der Strömung.

Die Yacht befand sich eben im Bristol-Kanal, am Eingang der Bideford-Bucht. Der Wind, der seit kurzem stärker zu wehen angefangen hatte, war eben im Begriff, seine Richtung zu ändern. Die Flut dauerte höchstens noch drei Stunden.

„Der Wind dreht sich, Herr“ sagte der Schiffsleutnant. „Ich fürchte, wir kommen mit dieser Flut nicht aus der Bucht heraus, wenn wir nicht frische Segel beisetzen.“

Turlington schüttelte den Kopf und sagte: „In Bideford liegen Briefe für mich, wir haben durch die Windstille zwei Tage verloren, ich muß ans Land schicken, um die Briefe von der Post holen zu lassen, gleichviel ob wir die Flut verpassen oder nicht.“

Das Schiff hielt seinen Kurs inne; in einiger Entfernung von dem Hafen von Bideford wurde ein Boot dahin abgeschickt, um die Briefe von der Post zu holen, während die Yacht unterdessen vor dem Hafen hin und her fuhr. In kürzester Zeit waren die Briefe in Turlingtons Händen. Das Boot wurde wieder aufgewunden und eingehakt, die Yacht war eben im Begriff wieder in See zu gehen, als Turlington alle durch das peremtorisch ausgesprochene Wort: „Halt!“ in Erstaunen setzte. Er hatte die Briefe alle bis auf einen ungelesen in die Tasche seiner Matrosenjacke gesteckt. Den einen Brief aber, den er gelesen hatte, hielt er jetzt fest in der krampfhaft geballten Hand, während sich in seinen stieren Augen und auf seinen bleichen Lippen Wut und Bestürzung malten.

„Laßt das Boot wieder herab!“ rief er. „Ich muß noch heute abend nach London.“ Dann trat er mit weit geöffnetem Munde auf Sir Joseph zu.

„Hier ist keine Zeit zum Fragen und Antworten, ich muß zurück.

Mit diesen Worten schwang er sich über die Schanzkleidung hinweg ins Boot und rief von da aus dem Schiffsleutnant zu: „Benutzen Sie die Flut, wenn Sie können, wenn nicht, setzen Sie die Passagiere morgen ans Land bei Minehead oder Watchet oder wo Sie wollen.“ Dann winkte er Sir Joseph, sich über die Schanzkleidung zu ihm herabzubeugen, damit er ihm etwas allein sagen könne.

„Vergiß nicht, was ich dir in Betreff Launcelot Linzies gesagt habe!“ flüsterte er ihm in aufgeregtem Tone zu.

Sein letzter Blick galt Natalien. Er zwang sich so sanft wie möglich zu reden und sagte zu ihr: „Beunruhigen Sie sich nicht, ich werde Sie bald in London wiedersehen!“

Dann setzte er sich ins Boot nieder und ergriff das Steuerruder. Die letzten Worte, die man ihn sagen hörte, waren brutale Zurufe, mit denen er die Ruderer antrieb, keine Zeit zu verlieren.

„Ziehet an, ihr verfluchten Hunde, ziehet an, oder ihr seid des Todes!“


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