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Fräulein oder Frau?

Kapitel 12

Innerhalb des Hauses



Der Salon in dem Landhause konnte für ein Ideal häuslichen Komforts gelten. Ein lustiges Holz- und Kohlenfeuer brannte im Kamin; die Lampen verbreiteten ein sanftes Licht im Zimmer; die festgeschlossenen Läden und die dicken, roten Vorhänge bannten die kalte Nachtluft an die Außenseite zweier hohen Fenster, welche auf den Hintergarten hinausgingen. Bequeme Lehnsessel standen überall im Zimmer umher.

In einem derselben war Sir Joseph fest eingeschlafen; in einem anderen saß Fräulein Lavinia strickend; in einem dritten Lehnsessel, der von den übrigen entfernt stand, vor einem großen, runden Tische in einer Ecke des Zimmers, saß Natalie, den Kopf auf die Hand gestützt, ein Buch vor sich auf dem Schoß. Sie sah bleich und erschöpft aus; Angst und peinliche Ungewißheit hatten sie so angegriffen, daß sie nur noch wie ein Schatten ihrer selbst erschien. Beim Eintritt in das Zimmer schlug Turlington absichtlich die Tür hinter sich ins Schloß. Natalie erschreckte. Fräulein Lavinia warf ihm einen vorwurfsvollen Blick zu. Sein Zweck aber war erreicht, Sir Joseph erwachte.

„Wenn du noch heute abend zu dem Pfarrer gehen willst, Graybrooke“, sagte Turlington, „so ist es wohl Zeit für dich, aufzubrechen, nicht wahr?“

Sir Joseph rieb sich die Augen und sah nach der Pendule auf dem Kaminsims. „Ja, ja, Richard“, antwortete er schläfrig, „ich muß wohl gehen. Wo ist mein Hut?“

Seine Schwester und seine Tochter versuchten es beide, ihn zu überreden, einen Boten mit einer Entschuldigung zum Pfarrer zu schicken, anstatt noch so spät im Dunkeln dahin zu gehen. Sir Joseph schwankte wie gewöhnlich. Aufgrund ihres gemeinschaftlichen Enthusiasmus für das altmodische Tricktrack hatte sich nämlich zwischen ihm und dem Pfarrer rasch ein Freundschaftsbündnis gebildet. Am vorigen Abend hatte Sir Joseph in Turlingtons Hause über seinen Gegner den Sieg davon getragen und hatte nun dem Pfarrer versprochen, am heutigen Abend zu ihm zu kommen und ihm Revanche zu geben. Als Turlington seine Unentschlossenheit bemerkte, wußte er ihn schlau zum Gehen zu reizen. Er gab sich den Anschein, als glaube er wirklich, Sir Joseph scheue sich, im Dunkeln auszugehen.

„Ich will dich sicher über den Kirchhof bringen“, sagte er, „und der Diener des Pfarrers wird dich sicher zurückbringen.“ Der Ton, in dem er das sagte, war für Sir Joseph sofort entscheidend.

„Ich bin noch nicht wieder kindisch geworden, Richard“, erwiderte er verdrießlich. „Ich kann meinen Weg allein finden.“ Er küßte seine Tochter auf die Stirne und sagte: „Fürchte nichts, Natalie, ich komme rechtzeitig wieder, um meinen Glühwein zu trinken. Nein, Richard, bemühe dich nicht.“ Darauf küßte er seiner Schwester die Hand und ging hinaus auf den Vorplatz, um seinen Hut zu nehmen, während Turlington ihm trotz seines Protestes folgte und sich in ziemlich kurzem Tone als eine besondere Gunst die Erlaubnis erbat, ihn wenigstens einen Teil des Weges begleiten zu dürfen. Die Damen, die im Salon zurückblieben, hörten, wie der gutmütige Sir Joseph die ihm abgetrotzte Erlaubnis gewährte. Die beiden Männer gingen zusammen fort.

„Hast du Richard beobachtet, seit er wieder ins Zimmer getreten ist?“ fragte Fräulein Lavinia. „Ich denke mir, er hat in London schlechte Nachrichten bekommen. Er sieht aus, als wenn ihn etwas drückte.“

„Das habe ich nicht bemerkt, Tante.“

Im Augenblick sprachen sie nicht weiter. Fräulein Lavinia fuhr in ihrer monotonen Strickarbeit fort. Natalie verfolgte über den ungelesenen Blättern des in ihrem Schoß liegenden Buches ihre angstvollen Gedanken. Plötzlich wurde die tiefe in und außer dem Hause herrschende Stille durch einen Pfiff, der vom Kirchhof her zu dringen schien, unterbrochen. Natalie fuhr erschreckt zusammen und stieß einen leichten Schrei aus. Fräulein Lavinia sah von ihrer Strickarbeit auf. „Liebes Kind, deine Nerven müssen krankhaft aufgeregt sein. Was ist denn da zu erschrecken?“

„Ich fühle mich nicht ganz wohl, Tante. Es ist hier heute abend so still, das leiseste Geräusch erschreckt mich.“

Wieder entstand eine Pause. Es war nach neun Uhr, als sie hörten, wie die Hintertür geöffnet und wieder geschlossen wurde. Turlington trat rasch in den Salon, wie wenn er einen besonderen Grund habe, sobald wie möglich wieder bei den Damen zu sein. Zur Überraschung beider aber setzte er sich ohne Weiteres in eine Ecke, das Gesicht gegen die Wand gekehrt und nahm die Zeitung zur Hand, ohne die Damen auch nur eines Blickes zu würdigen oder ein Wort mit ihnen zu reden.

„Hat Joseph das Pfarrhaus unversehrt erreicht?“ fragte Fräulein Lavinia.

„Jawohl.“ Er gab die kurze Antwort in einem verdrossenen Tone, ohne sich auch jetzt dabei umzusehen.

Fräulein Lavinia versuchte es noch einmal, ihn gesprächig zu machen. „Haben Sie draußen ein Pfeifen gehört? Natalie war bei der großen, sonst herrschenden Stille ganz erschrocken darüber.“

Jetzt erst drehte sich Turlington halb herum und sagte nach einer kleinen Pause: „Vermutlich mein Schäfer, der seinem Hunde gepfiffen hat.“ Darauf wandte er sich wieder um und versenkte sich aufs Neue in seine Zeitung.

Fräulein Lavinia winkte ihrer Nichte und zeigte bedeutungsvoll auf Turlington hin. Nachdem Natalie einen Augenblick mit Widerstreben nach ihm hinübergesehen hatte, lehnte sie ihren Kopf ermattet auf die Schulter ihrer Tante. „Bist du müde, Kind?“ flüsterte ihr die alte Dame zu.

„Mir ist unbehaglich zumute, Tante – ich weiß selbst nicht, warum“, erwiderte Natalie flüsternd. „Ich gäbe die Welt darum, wenn ich in London sein, die Wagen rasseln und die Menschen in den Straßen hören könnte.“

Turlington ließ seine Zeitung fallen. „Was habt ihr beiden da miteinander zu zischeln?“ rief er in grobem Tone.

„Wir reden leise, weil wir Sie nicht gern in Ihrer Lektüre stören wollen, das ist alles“, entgegnete Fräulein Lavinia. „Ist Ihnen etwas Unangenehmes begegnet, Richard?“

„Was zum Henker veranlaßt Sie, das zu glauben?“

Die alte Dame fühlte sich durch diese Antwort beleidigt und schwieg. Natalie schmiegte sich noch enger an sie. Im Zimmer herrschte eine tiefe, nur durch das einförmige Ticken der Uhr unterbrochene Stille. Plötzlich schob Turlington seine Zeitung beiseite und trat aus seiner Ecke hervor. „Wir wollen gute Freunde sein!“ platzte er mit einer angenommenen plumpen Lustigkeit heraus. „Das nenne ich nicht Weihnachtsabend feiern! Lassen Sie uns gesellig sein und plaudern. Liebste Natalie!“ Dabei schlang er seinen Arm roh um ihren Leib und zog sie mit Gewalt von der Seite ihrer Tante weg. Sie wurde totenbleich und rang, sich von ihm loszumachen. „Ich bin leidend – ich bin krank – lassen Sie mich!“

Er war taub für ihre Bitten. „Wie? Deinen künftigen Gatten behandelst du so? Darf ich nicht einen Kuß beanspruchen? - Ich will einen haben!“ Mit der einen Hand hielt er sie fest, mit der anderen ergriff er ihren Kopf und versuchte es, ihre Lippen an die seinigen zu bringen. Sie widersetzte sich ihm mit dem ganzen Aufgebot der Kraft, über welche auch das schwächste Weib, wenn es gereizt ist, gebietet. Halb entrüstet, halb erschrocken über Turlingtons Rohheit, erhob sich Fräulein Lavinia, um sich ins Mittel zu legen. Im nächsten Augenblick würde er statt einer, zwei Frauen zu bewältigen gehabt haben, als ein von außen her dringendes Geräusch plötzlich dem widerwärtigen Kampfe ein Ende machte.

Man hörte Fußtritte auf dem Kieswege, der zwischen dem Hause und dem Rasen hinführte. Ein Klopfen erfolgte – ein einmaliges, schwaches Klopfen an einer der Fensterscheiben. Alle drei standen still. Im nächsten Augenblick war nichts zu hören. Dann aber vernahm man ein dumpfes Geräusch, wie wenn ein schwerer Körper zur Erde fällt. Dann ein Stöhnen, und abermals trat völlige Stille ein.

Turlington ließ Natalie los. Sie schmiegte sich wieder an ihre Tante. Instinktiv blickten die beiden Frauen in der Erwartung auf ihn, daß er sofort versuchen werde, den sonderbaren Vorfall vor dem Hause aufzuklären. Mit Entsetzen aber gewahrten sie, daß er allem Anschein nach noch erschrockener und hilfloser sei, als sie selbst.

„Richard“, sagte Fräulein Lavinia, indem sie nach dem Fenster deutete, „da draußen ist etwas vorgefallen – sehen Sie doch nach.“

Regungslos, als ob er ihre Worte nicht gehört hätte, stand er da, bleich vor Schrecken, den Blick unverwandt auf das Fenster geheftet.

Jetzt wurde die Stille draußen aufs Neue unterbrochen und zwar dieses Mal durch einne Hilferuf. Natalie stieß einen Schrei des Entsetzens aus. Die Stimme draußen, die einen Augenblick laut und heftig erklang und dann plötzlich wieder hinschwand, war ihrem Ohre nicht fremd. Die Vorhänge auseinander reißend, drang sie mit Worten und Gebärden in ihre Tante, ihr zu helfen. Mit vereinten Kräften hoben sie die schwere Ladenstange und öffneten die Läden und das Fenster. Die freundliche Helle des Zimmers ergoß sich über einen mit dem Gesichte gegen die Erde gekehrten, am Boden liegenden Mann. Sie kehrten den Mann um, Natalie hob seinen Kopf in die Höhe – es war ihr Vater!

Sein Gesicht war mit Blut bespritzt. Über dem Ohr klaffte eine furchtbare Wunde. Er sah sie an und erkannte sie, dann sank er in ihren Armen aufs Neue in Ohnmacht. Seine Hände und seine Kleider waren mit Erde beschmutzt, er mußte sich eine ziemliche Strecke weit fortgeschleppt haben. In diesem schrecklichen Zustande mußte er mehr als einmal gestolpert und gefallen sein, bevor er das Haus erreichte. Seine Schwester wischte ihm das Blut aus dem Gesicht. Seine Tochter rief ihn in wahnsinniger Aufregung an, ihr zu vergeben, bevor er sterbe, der harmlose, sanfte, gutherzige Vater, der ihr niemals ein hartes Wort gesagt habe – der Vater, den sie betrogen hatte!

Die Dienstboten kamen erschrocken ins Zimmer gelaufen. Ihr Erscheinen erweckte ihren Herrn aus dem Zustande völliger Erstarrung, in den er verfallen war. Er stand schon am Fenster, bevor der Diener dahin gelangen konnte. Turlington und Natalie trugen ihn nun ins Zimmer hinein und legten ihn aufs Sofa. Natalie kniete neben ihm nieder und stützte ihm den Kopf und Fräulein Lavinia suchte das noch immer fließende Blut mit ihrem Taschentuche zu stillen. Während die weiblichen Dienstboten Leinen und kaltes Wasser herbei brachten, eilte der Diener fort, den Arzt zu holen, der am anderen Ende des Dorfes wohnte. Als die Frauen mit Turlington wieder allein waren, bemerkte Natalie, daß seine Blicke unverwandt, wie forschend, auf den Kopf ihres Vaters gerichtet waren. Er sprach kein Wort. Er starrte und starrte unausgesetzt die Wunde an...

Der Arzt kam. Noch bevor die Tochter oder die Schwester des Verwundeten die Frage tun konnte, tat sie Turlington: „Ist die Wunde lebensgefährlich?“

Der Arzt sondierte die Wunde vorsichtig. „Beruhigen Sie sich. Ein wenig tiefer oder an der Stirn hätte die Wunde bedenklich werden können. Jetzt ist keine Gefahr – halten Sie ihn ruhig und er wird bald wieder hergestellt sein.“

Bei diesen beglückenden Worten sanken Natalie und ihre Tante in überströmender Dankbarkeit schweigend auf die Knie. Nachdem der Doktor die Wunde verbunden hatte, sah er sich nach dem Herrn des Hauses um. Turlington, der noch vor wenigen Minuten so übereifrig beflissen gewesen war, schien jetzt alles Interesse an dem Fall verloren zu haben. Nachdenklich stand er beiseite am Fenster und blickte nach dem Kirchhofe hinaus, so daß die Fragen, die der Arzt zu tun hatte, von den Damen beantwortet werden mußten. Die Dienstboden leisteten bei der Untersuchung der Kleider des Verwundeten Beistand: sie entdeckten, daß seine Börse und seine Uhr fehlten. Als es notwendig wurde, ihn die Treppe hinaufzutragen, mußte der Doktor nur mit Hilfe des Dieners den Transport übernehmen. Turlington ging ohne ein Wort der Erklärung mit bloßem Kopfe in den Hintergarten hinaus, um, wie der Doktor und der Diener annahmen, die Spur des Räubers, der Sir Joseph angefallen hatte, aufzusuchen. Seine Abwesenheit wurde im ersten Augenblick kaum bemerkt. Die Schwierigkeit, den Verwundeten auf sein Zimmer zu bringen, nahm die Aufmerksamkeit aller Anwesenden ganz in Anspruch. Während sie ihn die steilen und engen Treppen hinauftrugen, gewann Sir Joseph teilweise sein Bewußtsein wieder.

So vorsichtig sie den Patienten auch trugen, entrang ihm doch die Bewegung einen Schmerzensausruf, bevor sie oben angelangt waren. Der Korridor, der zu den Schlafzimmern führte, ging in dem alten und unregelmäßig gebauten Hause wiederholt auf- und abwärts. An der Tür des Schlaftzimmers fragte der Doktor etwas ängstlich, ob dies das Zimmer sei. Nein, sie mußten noch drei Stufen hinabsteigen und um eine Ecke biegen, bevor sie das Zimmer erreichen konnten. Das erste war das Nataliens. Sie stellte es sofort für ihren Vater zur Verfügung. Der Doktor, welcher fand, daß es nicht nur das nächste, sondern auch das luftigste Zimmer sei, nahm das Anerbieten an.

Sir Joseph wurde in das Bett seiner Tochter gelegt. Der Doktor hatte sie eben mit der wiederholten Versicherung verlassen, daß sie sich keine Sorge zu machen brauchten, als sie unten schwere Schritte vernahmen. Turlington war wieder ins Haus zurückgekehrt. Er hatte sich, wie sie es vermutet hatten, nach dem Spitzbuben umgesehen, der Sir Joseph angegriffen hatte; freilich aus einem Beweggrund, den andere unmöglich erraten konnten. Seine eigene Sicherheit war jetzt von der Sicherheit Wilds abhängig. Sobald er im Dunkel der Nacht vom Hause aus nicht mehr erkannt werden konnte, begab er sich geradenwegs nach dem Malzhause. Die dort bereit liegenden Kleider waren noch unberührt, von seinem Komplizen war keine Spur zu sehen. Wo anders er sich nach ihm umsehen sollte, war unmöglich zu sagen. Turlington hatte keine andere Wahl, als wieder nach dem Hause zurückzukehren und sich Gewißheit zu verschaffen, ob in seiner Abwesenheit irgend ein Verdacht aufgetaucht sei. Er brauchte nur die Treppe hinaufzusteigen, um durch die offene Tür zu sehen, daß Sir Joseph in das Zimmer Nataliens gebettet worden sei.

„Was soll das heißen?“ fragte er barsch.

Noch bevor es möglich war, ihm eine Antwort zu geben, erschien der Diener mit einer Botschaft. Der Doktor war noch einmal umgekehrt, um zu sagen, daß er es übernehmen wolle, auf seinem Wege nach Hause den Constabler von dem Vorgefallenen in Kenntnis zu setzen. Turlington fuhr zusammen und wechselte die Farbe. Wenn Wild von anderen gefunden und in Abwesenheit seines Herrn befragt wurde, so konnten daraus sehr ernste Folgen entstehen.

„Die Benachrichtigung des Constablers ist meine Sache“, sagte Turlington, indem er eilig die Treppe hinablief; „ich will mit dem Doktor gehen.“

Sir hörten, wie er unten die Tür öffnete, sie aber dann wieder schloß und den Diener rief, als ob ihm plötzlich etwas eingefallen sei. Das Haus hatte großen Mangel an Domestiken-Schlafzimmern, nur die weiblichen Dienstboten schliefen daher im Hause, und der Diener hatte ein Zimmer über dem Stall inne. Natalie und ihre Tante hörten, wie Turlington den Mann mindestens eine Stunde früher als gewöhnlich, für diese Nacht entließ. Das Nächste, was er dann vornahm, war noch sonderbarer. Vorsichtig über die Treppe hinabblickend, sah ihn Natalie alle Türen zu ebener Erde schließen und die Schlüssel abziehen. Als er fortging, hörte sie ihn auch die Haustüre hinter sich absperren. Unglaublich, wie es schien, die Tatsache stand unzweifelhaft fest: die Insassen des Hauses waren bis zu Turlingtons Rückkehr gefangen. Was hatte das zu bedeuten?

Es hatte zu bedeuten, daß Turlington seine Rache an dem Weibe, das ihn betrogen, noch nicht genommen; es hatte zu bedeuten, daß Sir Josephs Leben noch zwischen dem Manne, der seine Ermordung hatte veranstalten wollen, und dem Gelde stand, welches dieser Mann fest entschlossen war, sich zu verschaffen; es hatte endlich zu bedeuten, daß Richard Turlington sich zum Äußersten getrieben sah, und daß die Schrecken und die Gefahren dieser Nacht noch nicht ihr Ende erreicht hatten.

Natalie und ihre Tante, die zu beiden Seiten des Bettes standen, in welchem Sir Joseph lag, sahen einander an. Der Verwundete war in eine Art von Halbschlaf versunken; von ihm konnte ihnen keine Aufklärung kommen. Sie konnten sich nur einander mit klopfendem Herzen und verwirrten Sinnen fragen, was wohl Richards Benehmen zu bedeuten habe – sie konnten nur instinktiv fühlen, daß ihnen eine schreckliche Entdeckung bevorstehe. Die Tante war die ruhigere von beiden, weil kein Geheimnis ihr Gewissen belastete. Sie konnte sich der Tröstungen der Religion erfreuen.

„Unser teurer Bruder und Vater ist uns erhalten“, sagte die alte Dame sanft, „Gott ist gütig gegen uns gewesen; wir sind in seinen Händen, und das muß uns genug sein.“

Während sie diese Worte sprach, erscholl ein lautes Klingeln an der Haustürglocke. Die weiblichen Dienstboten drängten sich in ängstlicher Aufregung in das Schlafzimmer. Stark durch ihre Zahl und von Natalien, die sich aufgerafft hatte und ihnen voranging, ermutigt, wagten sie es, das Fenster zu öffnen und auf den Balkon hinauszutreten, der sich längs dieser ganzen Seite des Hauses hinzog. Unten erkannte man die Umrisse einer männlichen Gestalt, welche sie mit einer lallenden, schweren Zunge anrief. Die Dienstboten erkannten ihn; es war ein Bote der auf dem Bahnhofe befindlichen Telegraphenstation. Sie gingen hinunter, um mit ihm zu reden und kamen mit einem Telegramm zurück, welches der Bote unter die verschlossene Haustür geschoben hatte. Die Entfernung von der Station bis zum Hause war beträchtlich; der Bote hatte seinen Weihnachtsabend unterwegs in mehr als einer Bierkneipe gefeiert, und so hatte sich die Ablieferung des Telegramms um mehrere Stunden verzögert. Dasselbe war an Natalie adressiert. Sie öffnete es, sah es an, ließ es zu Boden fallen und stand mit vor Entsetzen weit geöffnetem Munde, mit stieren Blicken vor sich hinstarrend, sprachlos da.

Fräulein Lavinia hob das Telegramm vom Boden auf und las wie folgt:

„Natalie Graybrooke, Church Meadows, Baxdale Somersetshire.

Entsetzliche Nachrichten. R.T. hat Deine Heirat mit Launce entdeckt. Doe Wahrheit wurde bis heute den vierundzwanzigsten vor mir verborgen gehalten. Unverzügliche Flucht mit Deinem Manne ist die einzige Rettung für Dich. Ich würde mich direkt mit Launce in Verbindung gesetzt haben, aber ich weiß seine Adresse nicht. Ich hoffe und glaube, daß Du dieses erhalten wirst, bevor R.T. nach Somersetshire zurückkehren kann. Ich bitte Dich dringend, telegraphiere mir zurück, daß Du in Sicherheit bist; wenn ich nicht in angemessener Zeit von Dir höre, so werde ich selbst meiner Depesche folgen.

Lady Winwood.“

Fräulein Lavinia erhob ihr graues Haupt und blickte ihre Nichte an. „Ist das wahr?“ fragte sie und deutete dabei auf das ehrwürdige Haupt des Verwundeten, das in die weißen Bettkissen zurückgelehnte dalag. Natalie wäre, als ihre Blicke denen ihrer Tante begegneten, fast besinnungslos zu Boden gesunken; Fräulein Lavinia fing sie in ihren Armen auf.


Das Bekenntnis war gemacht.Worte der Reue – und Worte der Vergebung wurden zwischen den beiden ausgesprochen. Das friedliche Antlitz des Vaters lag noch still da. Langsam verflossen die Minuten, eine nach der anderen, in der Stille der Nacht, ohne daß etwas Besonderes vorgefallen wäre. Es war fast wie eine Erlösung, als die Stille ein zweites Mal durch ein Geräusch außerhalb des Hauses unterbrochen wurde; ein kleiner Stein flog ans Fenster und eine Stimme rief vorsichtig hinauf: „Fräulein Lavinia!“

Sie erkannten die Stimme eines Dieners und öffneten sofort das Fenster. Er hatte den Damen etwas im Geheimen mitzuteilen. Wie sollte er das bewerkstelligen? Ein glücklicher Zufall, der schon von Launce, als für die beabsichtigte Entführung günstig, ins Auge gefaßt worden war, wurde jetzt von dem Diener als ein willkommenes Mittel benutzt, um die notwendige Verbindung mit den Damen herzustellen. Das Schloß in dem naheliegenden Gebüsch befindlichen Schuppens, welcher dem Gärtner zur Aufbewahrung seiner Gerätschaften diente, war in Reparatur, so daß die Leiter des Gärtners für jedermann zugänglich war. Bei der geringen Höhe des Balkons war die Leiter mehr als lang genug für den beabsichtigten Zweck. In wenigen Minuten hatte der Diener den Balkon erstiegen und konnte mit Natalien und ihrer Tante am Fenster sprechen.

„Ich habe keine Ruhe“, sagte der Diener. „Ich will mich ins Dorf hinunterschleichen, um zu sehen, was dort vorgeht. Es ist hart für Damen wie Sie, hier eingeschlossen zu sein. Kann ich irgendetwas für Sie tun?“

Natalie nahm Lady Winwoods Telegramm zur Hand. „Launce muß das erfahren“, sagte sie zu ihrer Tante. „Wenn ich ihn nicht wissen lassen, was vorgefallen ist“, fügte sie flüsternd hinzu, „kommt er mit Tagesanbruch hierher.“

Fräulein Lavinia erbleichte. „Wenn er und Richard sich begegnen -! Laß es ihn wissen! Laß es ihn wissen, bevor es zu spät ist.“

Natalie schrieb einige Zeilen an Launce unter der Adresse seines angenommenen Namens in seinem Logis im Dorfe, in welchen sie ihn flehentlich bat, keinen übereilten Schritt zu tun, und schloß Lady Winwoods Telegramm bei. Als der Diener mit dem Briefe expediert war, erfüllte das Gemüt beider Frauen dieselbe Hoffnung, welche aber jede von ihnen sich der anderen einzugestehen schämte – die Hoffnung, daß Launce sich der Gefahr, die sie für ihn fürchteten, aussetzen und zu ihnen kommen würde. Sie waren noch nicht lange wieder allein, als Sir Joseph schläfrig die Augen öffnete und sie fragte, was sie in seinem Zimmer zu tun hätten. Auf sanfte Weise brachten sie ihm bei, daß er krank sei. Er legte die Hand an den Kopf und sagte, sie hätten Recht, und verfiel dann wieder in seinen Schlummer. Erschöpft durch die Aufregungen, die sie durchzumachen gehabt hatten, warteten die beiden Frauen schweigend der Dinge, die da kommen würden. Beide hatte eine Art stumpfer Resignation ergriffen. Nachdem sie Tür und Fenster geschlossen, hatten sie zusammen gebetet, hatten das ruhige, auf dem Kissen daliegende Antlitz geküßt, und zueinander gesagt: „Wir wollen mit ihm leben oder sterben, wie es Gott gefällt.“ Fräulein Lavinia saß neben dem Bett, Natalie auf einem Schemel zu den Füßen ihrer Tante, und hatte, die Augen schließend, den Kopf in deren Schoß gelegt.

Die Zeit verfloß. Die Uhr in der Halle hatte eben zehn oder elf, sie wußten nicht genau wieviel, geschlagen, als sie das Signal vernahmen, durch welches sich der aus dem Dorfe zurückgekehrte Diener ankündigte. Er brachte Nachrichten, und mehr als das, er brachte einen Brief von Launce. Natalie las wie folgt:

„Ich werde fast gleichzeitig mit diesen Zeilen bei Dir sein, Geliebte! Der Überbringer wird Dir sagen, was im Dorfe vorgefallen ist; das Telegramm, welches Du mir geschickt hast, wirft auf alles ein ganz neues Licht. Ich komme, sobald ich dem Pfarrer, der zugleich die Magistratsperson hier ist, gewesen sein werde, um mich für Deinen Gatten zu erklären. Alle Verstellung muß jetzt ein Ende haben. Mein Platz ist bei Dir und den Deinigen. Die Sache ist schlimmer als das Schlimmste, was Du fürchtest – Turlington ist der Urheber des Angriffs auf das Leben Deines Vaters. Urteile darnach, ob Du nicht des Schutzes Deines Gatten bedarfst! - L.“

Natalie reichte den Brief ihrer Tante und deutete auf die Stelle, wo behauptet war, daß Turlington das Attentat auf Sir Josephs Leben veranstaltet habe. Die beiden Frauen sahen sich in schweigendem Entsetzen einander an; sie erinnerten sich, wie auffallend Turlingtons Benehmen am heutigen Abend gewesen war, jetzt war ihnen ein furchtbares Licht über dieses Benehmen aufgegangen. Der Diener lenkte ihre Aufmerksamkeit erst durch seine Erzählung, was er im Dorfe erlebt hatte, wieder auf die Gegenwart.

Er habe das ganze Dorf, als er hingekommen, in Aufruhr gefunden. Ein in Baxdale unbekannter, alter Mann sei auf der Landstraße, ganz nahe bei der Kirche, in Krämpfen gefunden worden und die Person, die ihn dort gefunden, sei niemand anders gewesen, als Herr Launce selbst. Er war auf dem Rückwege nach seinem Logis im Dorfe im Dunkeln über den Körper von Thomas Wild gestolpert.

„Der Herr schlug Lärm, Fräulein“, fuhr der Diener fort, indem er den Vorfall erzählte, wie er ihm mitgeteilt worden war, „und der Mann, ein riesiger, dicker, alter Mann, wurde nach dem Wirtshaus getragen. Der Wirt erkannte ihn. Er hatte sich erst heute im Wirtshaus einlogiert und der Constabler fand sehr wertvolle Gegenstände bei ihm: eine Geldbörse und eine goldene Uhr und Kette. Es war aber nicht zu ersehen, wer der rechtmäßige Besitzer von Geld und Uhr sei. Erst als mein Herr und der Doktor ins Wirtshaus kamen, erfuhr man, wen er beraubt und zu ermorden versucht hatte. Alles, was man, bevor die Herren kamen, aus seinen Fieberphantasien entnehmen konnte, war, daß jemand ihn zu der Tat angestiftet habe. Er nannte diese Person ‚Kapitän‘ und bisweilen ‚Kapitän Howard‘. Soviel man aus seinen wahnsinnigen Faseleien verstehen konnte, hatte ihn der Krampfanfall in dem Augenblick ergriffen, wo er die Hand auf Sir Josephs Herz gelegt hatte, um zu fühlen, ob es noch schlage. Soviel ich verstanden habe, muß in jenem Augenblick eine Art von Vision über ihn gekommen sein. Sie erzählten mir, er habe phantasiert, die See bräche in den Kirchhof ein und ein ertrinkender Matrose treibe auf einem Hühnerkorb auf den Wellen, und dieser Matrose ziehe ihn bei den Haaren zur Hölle hinunter, und mehr dergleichen schrecklichen Unsinn, Fräulein! Er lag noch schreiend im schlimmsten Fieber da, als mein Herr und der Doktor ins Zimmer traten. Bei dem Anblick eines von beiden – man meint, Herrn Turlingtons, weil dieser voranging – wurde er plötzlich still und sank dann fiebernd wieder in die Arme der Männer zurück, die ihn hielten. Der Doktor gab der Krankheit einen gelehrten Namen, der so viel bedeutete wie Säuferwahnsinn, und erklärte den Fall für hoffnungslos. Indessen hieß er die Leute aus dem Zimmer gehen, damit er sehen könne, was zu tun sei. Als ich mich mit der Antwort des Herrn auf Ihr Billet, Fräulein, aus dem Dorfe auf den Rückweg begab, hieß es, daß mein Herr noch mit dem Doktor bei dem Kranken sei, um abzuwarten, ob der Mann sterben oder am Leben bleiben werde. Ich wagte es nicht, zu bleiben und zu hören, wie die Sache zu Ende gehen werde, aus Furcht, daß Herr Turlington es erfahren möchte.“

Als der Diener mit seiner Erzählung zu Ende war, sah er sich unruhig nach dem Fenster um. Sein Herr konnte jeden Augenblick zurückkommen und es konnte ihm das Leben kosten, wenn sein Herr ihn, nachdem er ihn zum Hause hinausgeschickt hatte, wieder in demselben fände. Er bat um die Erlaubnis, das Fenster zu öffnen und sich wieder nach den Ställen zu retten, so lange es noch Zeit sei. Als er eben die Stangen von den Läden abhob, wurden sie durch eine Stimme erschreckt, die sie von unten her anrief. Es war Launce, der Natalien rief. Der Diener eilte davon und Natalie lag in Launces Armen, noch ehe sie wieder zu Atem kommen konnte.

Einen köstlichen Augenlblick lang ließ sie ihren Kopf an seiner Brust ruhen, dann stieß sie ihn plötzlich mit den Worten von sich: „Warum kommst du her? Er wird dich umbringen, wenn er dihc hier findet. Wo ist er?“

Launce wußte aber noch weniger von Turlington, als selbst der Diener. „Wo er auch sein mag, Gott sei Dank, daß ich vor ihm hier bin!“ Das war alles, was Launce antworten konnte.

Natalie und ihre Tante hörten ihm in schweigendem Jammer zu. Sir Joseph erwachte und erkannte Launce, noch ehe ein weiteres Wort gesprochen worden war.

„Ah, mein lieber Junge!“ murmelte er mit schwacher Stimme. „Es tut mir wohl, dich wiederzusehen. Wie kommst du her?“ - Er ließ sich mit der ersten besten Erklärung abfinden und versank mit den Worten: „Wir wollen morgen weiter darüber reden“ wieder in Schlaf. - Natalie machte einen abermaligen Versuch, Launce zu bewegen, das Haus wieder zu verlassen.

„Wir wissen nicht, was geschehen sein kann“, sagte sie. „Er kann dir auf dem Wege hierher gefolgt sein, er kann dich absichtlich ins Haus haben hineingehen lassen. Verlass‘ uns, so lange es noch möglich ist.“

Fräulein Lavinia vereinigte ihre Bitten mit denen Nataliens. Umsonst! Launce schloß ruhig die schweren, mit Eisen belegten Fensterladen und legte die Stange wieder vor. Natalie rang verzweifelt die Hände.

„Bist du bei dem Pfarrer gewesen?“ fragte sie.

„Sage uns wenigstens, ob du auf seinen Rat hergekommen bist und ob er selbst herkommen wird, uns beizustehen!“

Launce zauderte. Wenn er die Wahrheit hätte sagen wollen, hätte er bekennen müssen, daß er ganz gegen den Rat des Pfarrers hier sei. Er antwortete ausweichend: „Wenn der Pfarrer nicht kommt, so wird der Doktor kommen. Ich habe ihm gesagt, daß Sir Joseph transportiert werden müsse. Sei guten Muts, Natalie! Der Doktor wird ebenso bald hier sein wie Turlington.“

In dem Augenblick, wo er diesen Namen aussprach, drang plötzlich, ohne daß irgendein Geräusch von außen her sie darauf vorbereitet hätte, Turlingtons Stimme ins Zimmer. Er mußte dicht hinter dem Fenster stehen.

„Sie sind bei Nacht in mein Haus gedrungen“, rief er, „und Sie sollen auf diesem Wege nicht wieder herauskommen!“

Fräulein Lavinia sank auf die Knie. Natalie flog zu ihrem Vater. Mit vor Entsetzen weit geöffneten Augen starrte dieser vor sich hin; stöhnend gab er mit schwacher Stimme zu erkennen, daß ihm die von draußen her ertönende Stimme bekannt sei. Das nächste vernehmbare Geräusch wurde durch die Entfernung der Leiter vom Balkon hervorgerufen. Turlington hatte die Leiter, nachdem er auf ihr wieder herabgestiegen war, weggezogen. Natalie hatte nur zu richtig vorausgesehen, was geschehen werde. Turlingtons Mitschuldiger war in dem Wirtshause gestorben und hatte den Ersteren von jeder Besorgnis vor Verrat befreit. Wohlüberlegterweise war er Launce nachgegangen und hatte es absichtlich geschehen lassen, daß dieser eine unerlaubte Handlung beging, indem er heimlich auf der Leiter in das Haus einstieg.

Es entstand eine Pause – eine schreckliche Pause – und dann hörten sie die Haustür öffnen. Ohne, wie man nach der Abwesenheit eines entsprechenden Geräusches annehmen mußte, sich damit aufzuhalten, die Tür wieder zu schließen, ging Turlington die Treppe hinauf und versuchte es, die Zimmertür zu öffnen, die von innen geschlossen war.

„Kommen Sie heraus und ergeben Sie sich!“ rief er durch die Tür. „Ich habe meinen Revolver bei mir und ich habe das Recht, auf einen Mann, der in mein Haus eingedrungen ist, zu schießen. Wenn die Tür nicht geöffnet wird, bevor ich Drei gezählt habe, so komme Ihr Blut über sie. Eins!“

Launce hatte keine andere Waffe als seinen Stock. Er trat, ohne einen Augenblick zu zögern, vor, um sich zu ergeben, aber Natalie umschlang ihn mit ihren Armen und drückte ihn fest an sich, noch ehe er die Tür erreicht hatte.

„Zwei!“ rief Turlington von außen, während Launce sich von Natalie loszumachen suchte. In demselben Augenblick fiel sein Blick auf das Bett. Es stand gerade der Türe gegenüber, genau in der Schußlinie. Sir Josephs Leben war, wie Turlington es sehr wohl berechnet hatte, augenblicklich in größerer Gefahr als Launces Leben. Launce riß sich ovn Natalien los, stürzte auf das Bett zu und hob den alten Mann auf seinen Armen aus dem Bette.

„Drei!“

Der Knall ertönte, die Kugel flog durch die Tür, streifte Launces linken Arm und drang in das Kopfkissen, genau an der Stelle, auf welcher noch einen Augenblick zuvor Sir Josephs Haupt geruht hatte. Launce hatte das Leben seines Schwiegervaters gerettet. Turlington hatte seinen ersten Schuß um des Geldes willen abgefeuert und hatte seinen Zweck doch nicht erreicht.

In der Ecke des Zimmers neben der Türe standen sie für den Augenblick sicher, Sir Joseph, hilflos wie ein Kind, in Launces Armen, die Frauen bleich, aber wunderbar ruhig, als die zweite, schräg durch die Tür gehende Kugel rechts von ihnen in die Wand einschlug.

„Ich höre Euch wohl“, schrie der Schurke von außen. „Ich will Euch schon kriegen, auch durch die Wand.“

Sie hörten, wie er mit den Händen die Wand untersuchte, um auszufinden, wo sie aus solidem Holz und wo sie nur aus Gips bestehe. Auch in diesem schrecklichen Augenblick verlor Launce seine Fassung nicht. Er legte Sir Joseph sanft auf den Boden und wies Natalie und ihre Tante durch Zeichen an, sich neben ihn niederzulegen. Ihr Leben hing jetzt davon ab, daß weder ihre Stimmen noch ihre Bewegungen dem Mörder einen Anhaltspunkt für die Richtung seiner Schüsse boten. Er selbst wechselte seinen Standort.

Der Lauf des Revolvers knarrte, als er ihn gegen die Wand anlegte. Er stieß an das Piston. Statt eines Knalles erfolgte nur der schwache, stumpfe Ton, den das Zuschnappen des Hahnes verursachte. Der dritte Lauf hatte versagt. Sie hörten ihn, sich mit einem Fluche fragen: „Was ist denn da in Unordnung?“ - Einen Augenblick war alles still.

Untersuchte er seine Waffe? Noch bevor sie sich diese Frage tun konnten, drang ein neuer Knall an ihr Ohr, dem auf der Stelle ein schwerer Fall nachkam. Sie sahen nach der entgegengesetzten Seite des Zimmers, aber weder hier noch irgendwo war die Spur einer Kugel zu sehen. Launce gab ihnen ein Zeichen, sich noch nicht zu rühren. Sie warteten und horchten. Auf dem Vorplatz draußen regte sich nichts. Plötzlich wurde die Stille durch das laute Schreien vieler Stimmen vor der offenen Haustüre unterbrochen. Waren die Revolverschüsse im Pfarrhause gehört worden? Allerdings! Die in dem Zimmer Eingeschlossenen unterschieden die Stimme des Pfarrers unter den übrigen Stimmen. Im nächsten Augenblick vernahmen sie einen allgemeinen Schrei des Entsetzens auf der Treppe. Launce öffnete die Tür des Zimmers. Aber sofort schloß er sie wieder, noch ehe Natalie ihm folgen konnte. Turlingtons Leiche lag draußen auf dem Vorplatz. Die Ladung in dem vierten Laufe des Revolvers war explodiert, während er denselben untersuchte. Die Kugel war ihm ins Gesicht gefahren, durch das Auge quer in das Hirn, und hatte ihn auf der Stelle getötet.


Einige Zeit später las man in dem Morgenblatte einer Londoner Zeitung:

„Wir werden ersucht, kürzlich in Umlauf gesetzte, ungünstige Gerüchte in Betreff der Firma Pizzituti, Turlington & Branca für völlig unbegründet zu erklären. Eine vorübergehende Störung des Geschäftsbetriebes war lediglich durch den plötzlichen Tod des allgemein beklagten, geschäftsleitenden Associés, Herrn Turlington, infolge er zufälligen Explosion eines von ihm untersuchten Revolvers, hervorgerufen. Diese vorübergehende Störung ist jetzt völlig beseitigt. Wir erfahren aus bester Quelle, daß die wohlbekannte Firma der Herren Bulpit Brothers ein Interesse an dem Geschäft hat und dasselbe bis auf Weiters fortführen wird.“ --

Ein junges Paar, welches kurz vorher von Freunden und Verwandten zur Eisenbahn geleitet worden war und jetzt als einzige Insassen eines Coupés in dem von London nach Dover fahrenden Kurierzuge dahindampfte, las ebenfalls jene Notiz in der Morgenzeitung; vor der Abfahrt hatte der junge Gatte das Blatt auf dem Perron des Bahnhofes gekauft.

„Was meinst du dazu?“ fragte er jetzt die reizende Frau an seiner Seite. „Wenn dein Vater vorhin diese Notiz noch hätte lesen können?“

„Ach, still davon, Launce!“ sprach die junge Gattin; „danken wir Gott, daß er genesen und alles so zum Besten gekommen ist. Wirf die böse Zeitung fort, sie soll uns nicht auf unserer Hochzeitsreise begleiten und Erinnerungen an die letzten, schrecklichen Weihnachtstage in uns wach rufen.“

Launce war gewöhnt, alle wohlbegründeten Wünsche der schönen Bittstellerin zu erfüllen. Er öffnete das Fenster des Coupés und überließ das verhaßte Papier dem Spiel der Lüfte, die es hastig von dannen trugen.

„Weißt du, was mir leid tut?“ begann Natalie wieder.

„Nun, was denn?“

„Daß uns Lady Winwood nicht eine Strecke weit begleitet! Sie hate doch von allen am meisten für uns getan!“

„Ja, sie ist eine vortreffliche Freundin – und wenn wir zurückkehren von unserer Reise nach dem Kontinent, so wollen wir es ihr lohnen durch die treueste Anhänglichkeit und die zartesten Aufmerksamkeiten.“

„Ach, Launce, ich bin doch recht froh, daß wir diese Reise, begleitet von den Segenswünschen meines lieben Vaters und meiner Tante machen, anstatt daß wir wie Missetäter uns auf die Flucht begeben müßten -“

„Still davon, Natalie!“ fiel ihr diesmal der hochbeglückte Gatte in die Rede, „die Wege der Vorsehung sind wunderbar – und wenn sie am dunkelsten und verworrensten scheinen, so gewinnen sie oftmals ein ungeahntes Licht und führen uns an das Ziel unserer innigsten Wünsche!“

ENDE


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