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Gesetz und Frau



Zehntes Kapitel.

Valeria sucht.

Das Feuer im Kamin war im Erlöschen, und draußen wehte ein kalter Herbstwind; dennoch war mir glühend heiß, als der Major Fitz-David mich verließ. Ich nahm Hut und Mantel ab, zog die Handschuhe aus und öffnete ein wenig das Fenster. Die Aussicht aus demselben war wenig erquickend. Ein öder gepflasterter Hof, auf der andern Seite begrenzt von den Ställen des Majors. Wenige Minuten am offenen Fenster kühlten, meine brennende Stirn und erfrischten mich. Ich schloß es wieder und that meine ersten Schritte zu der Durchsuchung des Zimmers.

Ich war erstaunt über meine Gemüthsruhe. Ich fühlte einen Trost darin, mit mir allein zu sein.

Das Zimmer hatte die Gestalt eines Oblongums. Von den beiden kürzeren Wänden enthielt die eine jene bereits von mir erwähnte Thür mit der Spalte, welche die Verbindung mit dem vorderen Zimmer herstellte; die zweite kurze Wand wurde fast vollständig von einem breiten Fenster eingenommen, das nach dem Hof blickte.

Ich begann mit der Wand, in welche die Thür mit der Spalte eingelassen war. An jeder Seite derselben stand ein Kartentisch. Ueber jedem der beiden Tische befand sich auf einem kunstvoll geschnittenen Consol eine prachtvolle chinesische Vase vom feinsten Porzellan.

Die Schubläden der kleinen Tische enthielten nur Karten und Spielmarken. Mit Ausnahme eines einzigen Spiels waren die Karten sämmtlich neu, als wenn sie eben aus dem Laden gekommen wären. Ich blätterte das bereits benutzte Packet sorgfältig durch, ohne das geringste Verdächtige zu entdecken

Mit Hilfe einer kurzen Leiter, die zu den Repositorien gehörte, blickte ich in die chinesischen Vasen. Beide waren vollkommen leer. In den Ecken der kurzen Wand standen zwei kleine Stühle von eingelegtem Holz und lose Kissen auf den Sitzen. Ich hob sie aus, nichts war darunter.

Ich ging nun zu der entgegengesetzten Wand über, welche hauptsächlich von dem breiten Fenster eingenommen wurde. Der schmale Raum zu beiden Seiten war gerade groß genug für zwei Chiffonnièren von Polysander, deren jede eine Reihe kleiner Fächer sehen ließ.

Mit der Chiffonnière linker Hand beginnend, fand ich in den sechs Schiebläden nur eine Sammlung von Fossilien, welche der Major wahrscheinlich von seinen früheren Reisen mitgebracht.

Ich wandte mich also zu der Chiffonnière rechts, deren Durchsuchung mich längere Zeit kostete.

Die oberste Schieblade enthielt eine Menge Tischlerhandwerkszeug en miniature, jedenfalls aus der Knabenzeit des Majors herrührend. Die zweite Schieblade enthielt Geschenke von zarten Händen. Gestickte Serviettenbänder, Cigarrentaschen, Morgenschuhe, Börsen, und was der Dinge mehr waren. Der Inhalt der dritten Schieblade interessirte mich noch weniger. Er bestand aus alten Rechnungsbüchern, die ziemlich weit bis in frühere Jahre hinaufreichten. Ich schüttelte jedes dieser Hefte, um zu sehen, ob vielleicht ein loses Blatt herausfallen möchte; ganz vergebens. Im vierten Fach lagen quittirte Rechnungen, sauber mit rothen Bändchen zusammengebunden. Die fünfte Schieblade befand sich in trauriger Unordnung. Eine Menge Menüs längst verzehrter Diners, Visitenkarten, Einladungen, Theaterzettel, Textbücher, Pfropfenzieher, ramponirter Cigarretten, ein Bündel rostiger Schlüssel, zwei Cigarrentaschen und ein Plan von Rom. Ich kam nun zu der sechsten und letzten Schieblade, deren Inhalt mich gleichzeitig mit Staunen und Enttäuschung erfüllte: denn er bestand nur in den Fragmenten einer zerbrochenen Vase. Ich hatte mich auf einen niedrigen Stuhl der Chiffonnière gegenüber gesetzt und wollte eben, dem ersten Gefühl des Unwillens folgend, die Schieblade mit dem Fuße zustoßen, als die nach der Halle führende Thür sich öffnete und der Major Fitz-David vor mir stand.

Seine Blicke, die erst den meinigen begegnet waren, glitten dann zu meinem Fuß herab. Als er das noch offene Fach bemerkte, sah ich seine Mienen sich verändern. Es war nur für einen Moment; aber in diesem Moment sprachen ans seinen Augen Verdacht und Staunen, als wenn ich bereits meine Hand auf den Schlüssel des Geheimnisses gelegt.

»Bitte, lassen Sie Sich nicht stören,« sagte Major Fitz-David. »Ich bin nur heruntergekommen, um eine Frage an Sie zu richten.«

»Und die wäre, Major?«

»Es sind Ihnen im Verlauf Ihrer Nachforschungen vielleicht Briefe von mir in die Hand gefallen?«

»Bis jetzt noch nicht. Sollte es aber in Zukunft der Fall sein, werde ich sie selbstverständlich ungelesen lassen.«

»Darum wollte ich Sie eben freundlichst gebeten haben; denn ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, daß keiner meiner Briefe Sie auch nur um Zollbreite Ihrem Ziele näher führen wird. Sind Sie noch nicht müde vom vielen Suchen? Fühlen Sie Sich noch nicht entmuthigt?«

»Nicht im mindesten, Major. Wenn Sie gütigst erlauben, werde ich meine Forschungen noch einige Zeit fortsetzen.«

Ich hatte das Fach der Chiffonnière noch nicht wieder hineingestoßen und blickte, während ich ihm Antwort gab, mit fingirter Gleichgültigkeit auf die Fragmente der zerbrochenen Vase. Der Major hatte jetzt seine Selbstbeherrschung vollständig wiedergewonnen. Denn er begleitete meinen Blick mit derselben Gleichgültigkeit, die ich zur Schau getragen.

»Das sieht allerdings nicht sehr ermuthigend aus,« sagte er mit mattem Lächeln, indem er auf die Scherben wies.

»Man kann dem Anschein nicht immer Glauben schenken,« entgegnete ich. »Das klügste was ich in meiner gegenwärtigen Lage thun kann, ist, allem zu mißtrauen, selbst einer zerbrochenen Vase.«

»Werden Sie auch nicht von der Musik dort oben gestört?« fragte er, zu einem andern Gegenstande übergehend.

»Nicht im mindesten, Major.«

»Es wird auch gleich vorüber sein. Der Gesanglehrer wird bald gehen und der italienische Professor ist eben gekommen. Ich spare weder Mühe noch Kosten, das Talent des Wunderkindes auszubilden. Nicht allein den Gesang, sie muß auch die Sprache lernen, welche hauptsächlich das Idiom des Gesanges ist. Kann ich noch etwas für Sie thun, ehe ich Sie wieder verlassen muß?«

Ich dankte ihm, er küßte meine Hand und wendete sich zum Gehen. Während er sich langsam der Thür zu bewegte, bemerkte ich, daß sein Blick sich auf eines der Repositorien heftete. Es war nur ein Moment, und im nächsten war er bereits aus dem Zimmer.

Als ich wieder mit mir allein war, schenkte ich diesem Repositorium zum ersten Mal eine große Aufmerksamkeit. Es war von geschnitztem Eichenholz lehnte sich an die Wand, welche das Zimmer von der Halle trennte, und nahm fast den ganzen Raum der ersteren ein. Auf dem obersten Brett standen Vasen, Kandelaber und Statuetten paarweise in eine Reihe gestellt. Diese entlang blickend, bemerkte ich einen leeren Platz am äußersten Ende derselben, zunächst dem Fenster. Die correspondirende Stelle in der Reihe, an dem andern äußersten Ende zunächst der Thür, war von einer schönen seltsam geformten Vase eingenommen. Wo mochte ihr Pendant geblieben sein? Ich kehrte zu der sechsten Schieblade der Chiffonnière zurück und prüfte abermals ihren Inhalt. Es war kein Zweifel mehr, die zerbrochene Vase hatte einst in der von mir bemerkten Lücke auf dem obersten Brett des Repositoriums gestanden.

Nachdem ich diese Entdeckung gemacht, nahm ich die Scherben bis auf den kleinsten Splitter heraus und betrachtete sie einen nach dem andern.

Der Grund war von einem matten Gelb und die Verzierungen bestanden in Blumenzweigen und kleinen Cupidos, welche zwei Medaillons auf jeder Seite der Vase umrankten. Auf einem dieser Medaillons war mit unendlich feinen Zügen ein Frauenkopf dargestellt; das Haupt einer Nymphe, einer Gottheit oder irgend einer berühmten Person. Ich war nicht gelehrt genug, um das unterscheiden zu können. Das andere Medaillon zeigte den Kopf eines Mannes, ebenfalls im klassischen Styl. Freundliche Schäfer und Schäferinnen im Watteau-Kostüm mit ihren Hunden und Schafen bildeten die Zierrathe des Piedestals. So hatte die Vase ausgesehen, als sie noch auf ihrem Platz auf dem obersten Brett des Repositoriums stand. Durch welchen Zufall war sie zertrümmert worden? Und weshalb vor allen Dingen hatte sich die Miene des Major Fitz-David verändert, als er bemerkte, daß ich das zerstörte Kunstwerk entdeckt? Die Trümmer ließen jene wichtigen Fragen unbeantwortet. Und dennoch hegte ich die festeste Ueberzeugung, daß ich in jenen Scherben den Schlüssel zu meinem Geheimniß direkt oder indirekt gefunden habe.

Da ferneres Verbleiben bei dem zerbrochenen Porzellan sich als nutzlos erwies, kehrte ich zum Repositorium zurück, auf das der Blick des Majors mich aufmerksam gemacht.

Ich blickte über die langen Reihen der Bücher hinweg; ich las deren Titel auf dem Rücken. Da stand Voltaire in rothem Maroquin, Shakespeare in Blau, Walter Scott in Grün, die Geschichte von England in Braun. Ich stieß einen Seufzer aus bei dem Gedanken, daß ich alle diese Bücher durchblättern sollte.

Major Fitz-David hatte von einem entsetzlichen Unglück gesprochen, das meines Gatten Vergangenheit getroffen. In welcher Beziehung konnte dieses Unglück mit einem der Bände Shakespeare's oder Voltaire's stehen? Ich war der Ansicht, daß ein bloßer Versuch, alle diese Bücher einer genauen Prüfung zu unterwerfen, eine Thorheit sein würde.

Und dennoch hatte der Major einen verstohlenen Blick nach dem Repositorium geworfen. Und dennoch hatte er sich entfärbt, als er meinen Blick auf die zerbrochene Vase geheftet sah. Diese beiden Dinge mußten also unter allen Umständen in Verbindung mit einander stehen.

Ich stellte mich auf die Zehen und blickte nach den höheren Brettern empor.

Hier herrschte nicht die Sauberkeit wie in den unteren Regionen, die Bände waren nicht so sorgfältig arrangirt und so schön gebunden. Ihr Aeußeres war unscheinbar, sie standen loser an einander gereiht, einige waren vor- oder zurückgewichen, andere umgefallen. Auch zeigten sich leere Raume, aus denen Bände herausgenommen und nicht wieder hineingestellt worden waren. Ich kam zu dem Entschluß, die Prüfung des Repositoriums von oben zu beginnen.

Ich blickte mich nach der Leiter um, deren ich mich vorher bedient hatte, um in die chinesischen Vasen auf den Consolen zu gucken. Indem ich meinen Kopf rückwärts wandte, hörte ich ein Geräusch in dem anstoßenden Zimmer, das auf die Straße ging. Ein heller schmaler Lichtstrahl, der durch die schon öfter erwähnte Spalte fiel, brachte mich auf den Gedanken, daß ich bei meiner Arbeit belauscht werden könnte. Leise schlich ich auf den Zehen durch das Zimmer nach der Thür und drückte sie schnell nach der andern Seite hin auf. Ich stand dem Major gegenüber. Er hatte mich augenscheinlich belauschen wollen.

Der Hut in seiner Hand zeigte an, daß er im Begriff war, ausgehen zu wollen, und er benutzte sofort diesen Umstand zu seiner Entschuldigung.

»Ich habe Sie doch hoffentlich nicht erschreckt?« sagte er.

»Ein wenig allerdings, Major.«

»O, das thut mir so leid und ich fühle mich so beschämt! Ich war eben im Begriff, die Thür zu öffnen, um Ihnen zu erzählen, daß ich einen kleinen Gang thun müsse. Ich habe einen pressirenden Auftrag von einer Dame erhalten Ein reizendes Wesen — ich wünschte wohl, daß ich sie Ihnen vorstellen könnte! Die Arme befindet sich in augenblicklicher Verlegenheit. Kleine Rechnungen — unverschämte Lieferanten, die ihr Geld haben wollen — und ein Gemahl, der ihrer ganz unwürdig ist. Ein höchst interessantes Geschöpf. Sie erinnern mich etwas an sie — namentlich im Blick und in der Haltung des Kopfes. Ich bleibe höchstens eine halbe Stunde fort. Kann ich noch etwas für Sie thun, ehe ich gehe? Nein? Dann versprechen Sie mir zu klingeln, wenn Sie etwas bedürfen sollten. Auf Wiedersehen, meine schöne Freundin, auf Wiedersehen!«

Als er fort war, überließ ich mich erst meinen Reflexionen. Es stand fest, er hatte mich beim Repositorium beobachtet. Der Mann, der meines Gatten Vertrauen besaß, der Mann, welcher wußte, wo der Schlüssel meines Geheimnisses lag, hatte mich bei seinen Büchern beobachtet! Ohne es zu wollen, hatte er mir das Versteck gezeigt, in dem sich das Gespenst meines Lebens verborgen hielt. Von diesem Augenblick an hatten die übrigen in dem Zimmer befindlichen Dinge wenig oder gar kein Interesse mehr für mich. Selbst den Portraits an den Wänden, größtentheils Frauenköpfe und Gegenstände früherer Verehrung des Majors, schenkte ich keine Aufmerksamkeit. Ich erhob mich von neuem zur Arbeit und ging nach der Leiter, um sie an das Repositorium zu stellen.

Auf dem kurzen Wege, den ich machen mußte, um sie zu holen, sah ich die Schlüssel auf dem Tisch liegen, welche der Major zu meiner Verfügung gestellt hatte. Der Verdacht, den man gewöhnlich gegen verschlossene Raume hegt, brachte mich zu dem Entschluß, erst diese zu prüfen, ehe ich mich wiederum zu den Büchern wandte.

Die Schranke, welche unter dem Repositorium angebracht waren, hatten drei Thüren. Als ich die erste derselben öffnete, hörte der Gesang oben auf. Es lag für mich etwas Schauerliches in dem plötzlichen Uebergang von dem laut tönenden Clavierspiel zur absoluten Stille. Ich stand einen Augenblick wie festgebannt. Das nächste Geräusch, das ich vernahm, waren die knarrenden Stiefel, wahrscheinlich des Gesanglehrers, der die Treppe hinabging. Gleich darauf fiel die schwere Hausthür hinter ihm ins Schloß; dann herrschte tiefes Schweigen wie zuvor. Ich machte eine gewaltsame Anstrengung, meine Selbstbeherrschung wiederzugewinnen und kehrte zu dem ersten Schrank unter dem Repositorium zurück.

Er war in zwei Hälften getheilt.

Die obere Hälfte enthielt nichts als Cigarrenkisten, während in der unteren sich eine Muschelsammlung befand. Sonst war in dem ersten Schrank nichts Verdächtiges zu entdecken.

Als ich den zweiten Schrank öffnete, fiel es mir plötzlich auf, daß es dunkel geworden war.

Ich sah nach dem Fenster. Es war mittlerweile Abend geworden. Die plötzliche Verfinsterung war durch Wolken hervorgebracht worden, die sich am Himmel zusammengezogen hatten. Schwere Regentropfen schlugen gegen die Fensterscheiben; der Herbstwind pfiff traurig durch die Raume des öden Hofes. Ich schürte das Feuer ein wenig an, ehe ich meine Nachforschungen erneuerte.

Trotz des wieder auflodernden Feuers war mir eiskalt, als ich zu dem Repositorium zurückkehrte. Meine Hände zitterten, ich wußte mir die Ursache dieser plötzlichen Nervenverstimmung nicht zu erklären.

Das zweite Spind enthielt in seiner oberen Hälfte einige sehr schöne, aber nicht geschnittene Kameen. In einer Ecke bemerkte ich ein sauber geschriebenes Manuscript. Ich griff schnell danach, aber nur um einer neuen Enttäuschung zu begegnen. Das Manuseript enthielt nichts als einen Katalog über die Kameen.

Zu der unteren Hälfte übergehend fand ich schon kostbarere Kuriositäten, schön geschnittene Elfenbeinsachen aus Japan und feine Lacksachen aus China. Die Durchsuchung der Schätze des Majors begann mich abzuspannen. Als ich das zweite Spind schloß, empfand ich kaum Neigung, das dritte zu öffnen. Endlich that ich es dennoch.

Auf dem obersten Fach entdeckte ich ein einziges großes prachtvoll gebundenes Buch, in blauem Sammet mit zierlich ciselirten Klammern, die so fest in ihre Oesen gedrückt waren, als hätten sie die Ausgabe, den Inhalt des Bandes vor neugierigen Augen zu schützen.

Die Blätter waren vom feinsten Velimpapier, rund herum mit geschmackvoll gezeichneten Illustrationen. Und was enthielten diese kostbar geschmückten Seiten? Zu meinem unaussprechlichen Erstaunen, zu meinem tiefsten Widerwillen enthielten sie nur Haarlocken welche in der Mitte eines jeden Blattes mit zierlichen Seidenstichen befestigt waren Unter denselben bemerkte ich Zuschriften welche mir bewiesen daß die verschiedenen Haarlocken Liebes- und Erinnerungszeichen von Damen waren, welche des Majors leicht entzündliches Herz in verschiedenen Perioden bezaubert hatten Die Unterschriften waren außer in der englischen in verschiedenen anderen Sprachen geschrieben.

So zeigte die erste Seite eine Locke vom allerhellblondesten Haar mit der Unterschrift: »Meine angebetete Madeleine Ewige Treue. 22. Juli 1839!« Andere Locken in Braun, Schwarz und Roth trugen italienische, französische und spanische Unterschriften. Endlich legte ich das Buch entrüstet nieder und war eben im Begriff, mich dem Repositorium zuzuwenden, als ich fast instinctiv den Band noch einmal in die Hand nahm.

Ich wandte alle Blätter um, bis ich zu dem ersten leeren gelangte. Nachdem ich die Entdeckung gemacht, daß die folgenden Blätter ebenfalls nicht von Locken beschwert waren, faßte ich das Buch vorsichtig an beiden Seiten des Rückens und schüttelte es in der Hoffnung, daß vielleicht lose Blätter darin sein möchten die ich beim ersten Durchsehen nicht entdeckt.

Diesmal wurde meine Geduld durch eine Entdeckung belohnt, welche mich unbeschreiblich irritirte und betrübte.

Eine kleine Photographie in Visitenkartenformat fiel aus dem Buch.

Bei dem ersten flüchtigen Blick bemerkte ich sofort die Portraits zweier Personen auf der Karte.

In der einen dieser Personen erkannte ich meinen Gatten.

Die andere Figur stellte eine Frau dar.

Ihr Antlitz war mir vollständig unbekannt. Sie war nicht mehr jung. Sie saß auf einem Stuhl, und mein Gatte stand hinter ihr und beugte sich über sie, indem er eine ihrer Hände hielt. Die Züge der Frau waren hart geschnitten und häßlich, mit unverkennbaren Zeichen heftiger Leidenschaften und großer Willenskraft. Trotz ihrer großen Häßlichkeit preßte mir die Eifersucht das Herz zusammen als ich den ruhig gütigen Blick meines Mannes bemerkte, der auf sie gerichtet war.

Eustace hatte mir in den Zeiten unseres Verlobtseins die Mittheilung gemacht, daß er sich früher, ehe er mich gekannt, öfters in dem Glauben befunden habe, verliebt zu sein. Sollte dies so wenig anziehende Weib ein Glied in der Kette jener Damen bilden denen er früher seine Bewunderung geschenkt? Hatte sie ihm nahe genug gestanden um ihn zu dem Entschluß zu bringen sich Hand in Hand mit ihr photographiren zu lassen? Je länger ich die beiden Portraits anschaute, desto weniger vermochte ich ihren Anblick zu ertragen. Ich warf die Photographie unwillig in eine Ecke des Schrankes. Ich war ernstlich böse aus meinen Gatten; ich haßte von ganzem Herzen und von ganzer Seele jenes Weib, dessen Hand er in der seinen hielt, jenes unbekannte Weib mit den harten häßlichen Zügen.

Während dieser ganzen Zeit wartete der untere Raum des Schrankes vergebens auf Besichtigung. Ich kniete nieder, um das Versäumte nachzuholen und um durch andere Eindrücke die entwürdigende Eifersucht zu verbannen die von meinem ganzen Wesen Besitz genommen.

Unglücklicherweise enthielt die untere Abtheilung des Schrankes nichts als Reliquien aus, des Majors militärischer Vergangenheit Degen, Pistolen, Epauletten, Schärpen u.s.w. u.s.w., was Wunder, daß meine Augen wieder nach dem oberen Raum wanderten und daß meine Hände die Photographie wieder herausholten, deren Anblick mich sofort aufregte und verletzte. Dies-mal bemerkte ich, was ich vorhin unbeachtet gelassen, einige von Frauenhand geschriebene Zeilen auf der Rückseite der Karte:

»Dein Major Fitz-David mit zwei Vasen Von seinen Freunden S. und E. M.«

War eine von diesen Vasen vielleicht die zerbrochene gewesen? Hatte die Veränderung der Miene, die ich am Major bemerkte, hiermit in Zusammenhang gestanden? Weit mehr als die Beantwortung dieser beiden Fragen beschäftigten mich die Initialen auf der Rückseite der Karte.

»S. und E. M.?« Die letzteren beiden Buchstaben konnten für die Initialen des wahren Namens meines Mannes gelten: Eustace Macallan In diesem Fall bedeutete wohl der erstere Buchstabe S. ihren Namen. Mit welchem Recht durfte sie sich in dieser Weise mit meinem Manne associiren? Ich dachte einen Augenblick nach. Mein Gedächtniß half mir, Eustace hatte mir ja erzählt daß er Schwestern besäße. War ich thöricht genug gewesen mich seiner Schwestern wegen mit Eifersucht zu martern? Es mochte wohl sein. Das S. bedeutete jedenfalls den Vornamen einer seiner Schwestern. Ich fühlte mich tief beschämt nach dieser Reflexion. Welch ein Unrecht hatte ich in Gedanken Beiden zugefügt! Bereuend und traurig ließ ich noch einmal einen Blick auf die beiden Portraits fallen um sie diesmal mit milderem Urtheil zu prüfen.

Ich konnte auch nicht die geringste Familienähnlichkeit zwischen den beiden Köpfen finden. Im Gegentheil sie waren einander so verschieden wie es Gesichter überhaupt nur sein können. War sie denn überhaupt seine Schwester? Ich blickte genauer auf die Hände Ihre rechte Hand war von der meines Gatten umschlossen die linke ruhte auf ihrem Schooß. Auf dem dritten Finger derselben trug sie einen Trauring. War denn eine der Schwestern meines Mannes verheirathet? Ich hatte ihm früher diese Frage vorgelegt und ich entsann mich jetzt deutlich, daß er sie verneinte.

Sollte meine erste instinctive Eifersucht mich dennoch auf den richtigen Weg geführt haben? Wenn dem so war, welcher Zusammenhang bestand zwischen den drei Initialen? Was bedeutete der Trauring? Gott im Himmel! Blickte ich auf das Portrait einer Nebenbuhlerin in meines Gatten Neigung, und war diese Nebenbuhlerin sein Weib?

Mit einem Schrei des Entsetzens warf ich die Photographie von mir. Für den ersten Moment glaubte ich den Verstand zu verlieren. Die Liebe zu Eustace ließ mich meine Geistesgegenwart und Vernunft behalten. Meine besseren und edleren Gefühle gewannen die Oberhand. War der Mann den ich in meines Herzens Herz eingeschlossen der elenden Handlung fähig, mich neben einer zweiten geheirathet zu haben? Nein! Ich war die Elende, die nur für einen Augenblick sich durch einen solchen Gedanken erniedrigen konnte.

Ich nahm die unglückliche Photographie vom Boden auf und legte sie in das Buch zurück. Hastig schloß ich den Schrank wieder zu, holte die kurze Leiter und lehnte sie gegen das Repositorium. Ich wollte durch neue Eindrücke den Rest der schlimmen Zweifel verbannen, die sich in mein Herz und meine Seele geschlichen. Die Bücher! Die Bücher! ehe jene entsetzlichen Gedanken zurückkommen. Ich hatte bereits einen Fuß auf der Leiter, als ich die Thür öffnen hörte, die nach der Halle führte In der Erwartung, den Major zu sehen wandte ich mich um.

Anstatt dessen erblickten meine Augen die zukünftige Primadonna, welche soeben eingetreten war und mich fest anstarrte.

»Ich kann ein gutes Theil vertragen,« begann das Mädchen mit kühlem fast herausforderndem Ton; »aber dies ist mir denn doch zu viel

»Was ist Ihnen zu viel?« fragte ich.

»Ja, wenn Sie hier einige Minuten geblieben wären; aber nun sind es bald zwei volle Stunden,« entgegnete sie. »Das gefällt Ihnen wohl, so ganz allein in des Majors Studirzimmer? Ich habe Anlage zur Eifersucht wissen Sie, und ich muß Sie fragen was das zu bedeuten hat.« Mit drohendem Blick und hochrother Wange trat sie mir einige Schritte näher. »Will er Sie vielleicht auch auf die Bühne bringen?« fuhr sie fort.

»O nein.«

»Auch nicht verliebt in Sie — was?«

Unter anderen Umständen als die obwaltenden es waren würde ich der Dirne die Thür gewiesen haben. In meiner gegenwärtigen Lage aber und in dem kritischen Moment war die bloße Gegenwart eines menschlichen Wesens schon ein Trost für mich.

Selbst dieses Mädchen mit seinen aberwitzigen Fragen und seinem rohen Benehmen war eine willkommene Störerin meiner Einsamkeit; sie bot mir eine Zuflucht vor mir selbst.

»Ihre Frage ist gerade nicht sehr höflich,« sagte ich. »Dennoch entschuldige ich sie. Es ist Ihnen ohne Zweifel unbekannt daß ich verheirathet bin.«

»Ach! Als wenn das etwas damit zu thun hätte!« entgegnete sie. »Verheirathet oder unverheirathet das ist dem Major alles egal. Der alte unverschämte Drache, der sich Lady Clarinda nennt ist auch verheirathet, und dennoch schickt sie ihm dreimal wöchentlich ihre verdammten Bouquets. Es ist nicht etwa, weil ich mir etwas aus dem alten Narren mache! Er hat mich aber um meine Stellung auf dem Bahnhof gebracht und meine Zukunft liegt nun in seiner Hand; da muß man sich um seine Angelegenheiten bekümmern und nicht dulden, daß sich andere Frauenzimmer dazwischen drängen. Das ist es, wo mich der Schuh drückt verstehen Sie mich? Das kann mir doch nicht gefallen, daß ich Sie so allein hier herumwirthschaften sehe. Keine Entschuldigungen bitte! Erst ausreden lassen! Ich will wissen was Sie hier zu suchen haben! Wie sind Sie mit dem Major zusammengekommen? Ich habe ihn früher nie von Ihnen sprechen hören!«

Unter der rauhen Oberfläche von Rohheit und Selbstsucht war bei diesem Mädchen doch eine gewisse Offenheit und Freiheit bemerkbar, welche nicht unerheblich zu ihren Gunsten sprach. Ich antwortete ihr ebenso frei und offen wie sie mich gefragt.

»Major Fitz-David ist ein alter Freund meines Gatten,« sagte ich, »deshalb hat er mir erlaubt hier in diesem Zimmer. . . «

Ich unterbrach mich, weil ich nicht wußte, durch welche Beschäftigungen ich meine Anwesenheit motiviren sollte und welche zugleich geeignet waren meine eifersüchtige Gesellschafterin zu beruhigen.

»Nun was hat er Ihnen in diesem Zimmer erlaubt?« fragte sie ungeduldig.

Ihr Auge fiel auf die kurze Leiter, die gegen das Repositorium lehnte und neben welcher ich noch stand.

»Sie wollen Sich wohl ein Buch holen?« begann das Mädchen wieder.

»Ja,« sagte ich, darauf eingehend. »Ich will mir ein Buch holen.«

»Haben Sie es noch nicht gefunden?«

»Nein!«

Sie blickte mich scharf an, als ob sie in meinen Zügen lesen wollte, ob ich die Wahrheit sprach oder nicht.«

»Sie scheinen ein gutes Frauenzimmer zu sein,« sagte sie nach kurzer Ueberlegung. »Sie haben nichts Verdächtiges in Ihrem Gesicht. Wenn ich kann, will ich Ihnen helfen. Ich habe in diesen Büchern schon tüchtig herumrumort und weiß besser in ihnen Bescheid als Sie Was für ein Buch wünschen Sie?«

Als sie jene Frage that bemerkte sie zum ersten Mal das Bouquet von Lady Clarinda, das noch auf derselben Stelle war, wo der Major es hingelegt. Mich und die Bücher gänzlich vergessend, stürmte das seltsame Mädchen wie eine Furie auf die Blumen los und trat sie so lange mit Füßen bis das Bouquet ganz breit gedrückt war.

»So!« schrie sie mit gellender Stimme »Wenn Lady Clarinda hier wäre würde ich sie ebenso behandelt haben.«

»Was wird aber der Major dazu sagen?« fragte ich.

»Das ist mir ganz gleichgültig! Glauben Sie vielleicht daß ich mich vor ihm fürchte? Erst vorige Woche habe ich solch’ Ding da oben entzwei geschmissen und auch nur wegen Lady Clarinda’s Blumen!«

Sie deutete bei diesen Worten nach der bekannten Lücke auf dem obersten Brett des Repositoriums dicht am Fenster. Mein Herz begann sofort heftig zu klopfen als meine Augen der Richtung ihres Fingers folgten. Sie also hatte die Vase zerbrochen! Sollte die Entdeckung meines Geheimnisses durch dieses Mädchen angebahnt werden? Ich hatte kein Wort der Erwiderung für sie; all’ mein Denken war jetzt in meine Blicke gelegt.

»Ja!« sagte sie. »Da stand das Ding. Er weiß, wie ich die Blumen hasse, deshalb stellte er das Bouquet so hoch in jene Vase, damit ich es nicht erreichen sollte. Es war ein Frauengesicht auf das Porzellan gemalt und er erzählte mir, daß es ihr Antlitz wäre; sah ihr aber nicht ähnlicher als ich selbst. Ich befand mich in solcher Wuth, daß ich das Buch, in welchem ich gerade las, nach dem verhaßten Gesicht auf der Vase warf. Ich hatte gut getroffen die Vase fiel herunter, und kracht zerbrach sie auf den Dielen. Ach! was fällt mir denn da eben ein! Sollte das vielleicht das Buch gewesen sein nach dem Sie suchen? Sie sind wohl wie ich? Sie lesen auch wohl gerne Gerichtsverhandlungen?«

Gerichtsverhandlungen? Hatte ich denn recht gehört? Ja wohl, sie hatte es ja klar und deutlich ausgesprochen.

Ich antwortete durch ein bejahendes Nicken meines Kopfes. Ich war noch immer sprachlos. Das Mädchen schlenderte in ihrer kühlen Manier nach dem Kamin nahm die Feuerzange und kehrte mit derselben zum Repositorium zurück.

»Hier muß das Buch hingefallen sein,« sagte sie — »in den Raum zwischen dem Bücherschab und der Wand. Ich werde es gleich herausholen.«

Ich wartete ohne eine Muskel zu bewegen ohne ein Wort zu äußern. Nach weniger als einer Minute kam sie auf mich zu geschritten in der einen Hand die Feuerzange in der andern das Buch.

»Ist das der Band, den Sie suchen?« sagte sie. »Machen Sie es auf und lesen Sie den Titel.

Ich nahm ihr das Buch aus der Hand.

»Es ist ganz furchtbar interessant,« fuhr sie fort. »Ich habe es schon dreimal durchgelesen. Sie mögen es mir glauben oder nicht. Und wenn die Leute noch so viel reden, ich für meine Person glaube doch, daß er es gewesen ist.«

Gewesen ist? Was gewesen ist? Wovon plauderte denn eigentlich das Mädchen? Ich faßte einen gewaltsamen Entschluß, sie danach zu fragen »Was meinen Sie, wovon sprechen Sie denn?« brachte ich mühsam heraus.

Sie schien alle Geduld mit mir zu verlieren Sie riß mir das Buch aus der Hand, schlug den Titel auf und hielt denselben gegen das Licht.

»Natürlich!« rief sie. »Ich habe mich nicht geirrt. Sie sind aber auch so unverständig wie ein kleines Kind.«

Dann hielt sie mir das Buch vor die Augen.

»Da! Ist das das Buch oder ist es nicht das Buch?«

Ich las die ersten Zeilen des Titelblattes:

Ausführlicher Bericht
über
die Verhandlungen
in Untersuchungssachen
gegen
Eustace Macallan,

Ich stutzte und sah das Mädchen an Sie fuhr mit einem Schrei des Entsetzens von mir zurück. Ich blickte noch einmal auf den Titel und las die Schlußzeilen:

beschuldigt des Verbrechens,
seine Frau
vergiftet zu haben.

Die Sinne schwanden mir, und ich sank in Ohnmacht.


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