Herz und Wissen



Capitel XVIII.

Carmina! bist Du in den Anlagen?«

»Ueberlaß mir die Sache«, flüsterte Ovid und rief dann zurück. »Wir kommen sofort.«

Mrs. Gallilee erwartete sie an der Pforte, und sowie sie einander ansichtig wurden, sagte Ovid in munterem Tone: »Du wirst jetzt keine Ursache mehr haben über mich zu klagen; ich reise am Ende dieser Woche ab.«

Ihre Antwort war an Carmina gerichtet anstatt an ihren Sohn. »Danke Dir, meine Liebe«, sagte sie und drückte ihrer Nichte die Hand.

Man konnte in der Dunkelheit nur die schattenhaften Umrisse der Gesichter erkennen, aber der Ton der gelehrten Dame war die vollendete Liebenswürdigkeit. Sie schickte Ovid über die Straße voraus, um das Haus öffnen zu lassen, ergriff vertraulich Carmina's Arm und flüsterte derselben zu: »Du kleine Närrin! wie konntest Du glauben, daß ich Dir böse sei? Ich kann nach diesem reizenden Briefe, den Du mir geschrieben hast, nicht einmal Deinen Fehler bedauern.«

Von der Halle, wo Ovid auf sie wartete, gingen sie in die Bibliothek und hier schloß Mrs. Gallilee ihren Sohn in inbrünstiger mütterlicher Zärtlichkeit in die Arme.

»Das macht den Genuß eines köstlichen Abends vollständig«, sagte sie. »Erst eine wundervolle Vorlesung —— Sind dann die Befreiung von der überwältigenden Besorgniß um meinen Sohn. Deine medicinischen Studien haben Dich wohl nie zu den transatmosphärischen Regionen hinaufgeführt, Ovid? Wir waren heute Abend ein immenses Auditorium, um den Herrn Professor über dieses Thema zu hören, und ich bin wirklich noch gar nicht wieder zu mir gekommen. Fünfzig Meilen über uns —— denkt Euch! nur fünfzig Meilen —— ist eine Atmosphäre von Kälte, die das ganze Menschengeschlecht in einer Secunde zu Tode würde erstarren machen. Feuchte Substanzen würden in dieser entsetzlichen Leere explodieren und zu Stein werden; und —— hör’ nur, Carmina —— die Explosion selbst würde ersticken und keinen Laut verursachen. Sollte man sich denken, daß ernste Leute nach jenen schrecklichen Regionen aussehen und vom In-den-Him1nel-Kommen sprechen können? O, was « für ein Nichts ist doch der Mensch, ausgenommen —— ein Scherz, Ovid —— ausgenommen, wenn er seiner alten Mutter das Vergnügen macht, seiner Gesundheit wegen fortzugehen! Und wohin reist Du? Hat Dir unsere verständige Carmina nicht gerathen? Ich stimme ihr im voraus bei, was sie auch gesagt haben mag.«

Ovid theilte seiner Mutter Benjulia’s Rath mit und fragte sie, was sie davon hielte, und sofort ergoß sich ihre überfließend gute Laune über den abwesenden Doctor. Derselbe wäre ja, so meinte sie, derb und häßlich, aber dafür auch ein unschätzbarer Freund, der ihm einen herrlichen Rath gegeben. Da Ovid bei seinem Gesundheitszustande keine Feder in die Hand nehmen dürfe, so wolle sie dem Doctor schriftlich danken und um Empfehlungen an die örtlichen Granden bitten, die eine Stellung in der colonialen Gesellschaft einnähmen. Dann nahm sie die Zeitung zur Hand: am Sonnabend fuhr ein Dampfer von Liverpool nach Canada. Ovid konnte sich am andern Morgen eine Kajüte, wenn möglich eine Mittelkajüte, bestellen und am Freitag von London fortfahren. In ihrem Eifer, ihm die Abreise zu erleichtern, erbot sie sich, für das Verschließen seines Hauses zu sorgen und für das Gesinde die nöthigen Verfügungen während seiner Abwesenheit zu treffen, falls er dasselbe sollte behalten wollen; ja sie dachte sogar an die Katze, die natürlich am leichtesten versorgt gewesen wäre, wenn man sie vergiftet hätte, ein praktischer Rath, der aber bei Ovid wegen seiner Excentricität in manchen Dingen weggeworfen war. »Ein halber Schilling wöchentlich für Katzenfutter spielt keine Rolle«, rief sie in einem Ausbruch von Großmuth. »Wir werden Snooks zu uns nehmen.« Carmina entging es nicht, daß Mrs. Gallilee’s überschwängliche Lebhaftigkeit ihren Sohn zu bedrücken anfing.

»Ich brauche Dich nicht zu bemühen, Mutter«, sagte er, »da meine häuslichen Angelegenheiten alle geordnet wurden, als ich zuerst die Nothwendigkeit empfand, Ruhe zu suchen. Der Diener begleitet mich auf die Reise, das Haus- und das Küchenmädchen gehen zu ihren Verwandten auf’s Land, die Köchin wird nach dem Hause sehen und der kleine Bursche, der die Katze beinahe ebenso gern hat als ich, wird für Snooks sorgen. Wenn Du eine Droschke holen lassen willst, möchte ich jetzt nach Haus fahren; ich fühle mich, gleich Anderen in meinem elenden Zustande, gegen Bettgehenszeit recht müde.«

Während seine Mutter ihnen den Rücken wandte, um zu klingeln, berührten seine Lippen eben Carmina's zartes Ohr. »Erwarte mich morgen«, flüsterte er: »Ich liebe Dich! —— ich liebe Dich! —— ich liebe Dich!« Die Wiederholung dieser Worte schien ihm den höchsten Genuß zu bereiten.

Als Ovid gegangen war, erwartete Carmina etwas über die Entdeckung ihrer Tante in den Anlagen zu hören; aber Mrs. Gallilee’s Unschuld war undurchdringlich. Sie hatte, als sie ihre Nichte nicht im Hause getroffen, es ganz natürlich gefunden, daß dieselbe mit ihrem Vetter einen Abendspaziergang in einer der reizendsten Anlagen London’s machte. Gegenwärtig schienen die Hoffnungen auf Ovid’s Genesung und die Bewunderung für Carmina's Ueberredungstalent die einzigen activen Ideen dieses umfassenden Geistes zu sein. Als der Diener das Brett mit Claret und Sodawasser brachte, ließ sie Miß Minerva einladen, zu ihnen zu kommen, um die guten Nachrichten zu hören, dabei die Unterbrechung ihrer gegenseitigen freundschaftlichen Beziehungen am Nachmittage vollständig ignorierend. Beim Anblick des Sodawassers wurde sie lustig und scherzhaft. »Lassen Sie uns den Herren nachahmen, Miß Minerva, und einen Toast trinken, ehe wir zu Bett gehen. Fröhlich, Carmina! komm, theile eine halbe Soda mit mir. Daß Ovid eine angenehme Reise habe und wohlbehalten zurückkehre!« Durch den Einfluß der Tafel aufgemuntert, verfiel die Freundin von Professoren, die zärtliche Pflegerin halb entwickelter Kaulquappen, wieder auf das gelehrte Gebiet und improvisierte eine kleine Vorlesung über Canada —— über die Botanik und die Geologie des Vicekönigreichs, und über die Anzahl Gallonen Wasser, welche die Niagarafälle jede Stunde vergeudeten. »Die Wissenschaft wird es wieder gut machen, meine Lieben; wir werden das müßige Wasser bald für uns arbeiten lassen. Gute Nacht, Miß Minerva. Angenehme Träume, liebe Carmina!«

In der sicheren Einsamkeit ihres Schlafzimmers zog die Gouvernante viel bedeutend die Augenbrauen zusammen. »In solcher Laune habe ich Mrs Gallilee noch niemals gesehen«, dachte sie. »Welches Unheil brütet sie nur, wenn sie ihren Sohn erst los ist?«


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