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Die Neue Magdalena - Buch 2

Kapitel 2

Es kommt der Mann

„Sie sehen heute recht bleich aus, mein Kind.”

Mercy seufzte ermattet. „Ich fühle mich nicht wohl”, antwortete sie. „Jeder geringste Lärm erschreckt mich. Ich bin müde, wenn ich nur über das Zimmer gehe.”

Lady Janet klopfte ihr freundlich auf die Schulter. „Wir wollen versuchen, ob Ihnen eine Veränderung des Aufenthaltes gut tut. Wohin sollen wir gehen? Nach dem Kontinent oder an das Meer?”

„Sie sind zu gütig gegen mich, Lady Janet.”

„Es ist gar nicht möglich, gegen Sie zu gütig zu sein.”

Mercy stutzte. Über ihr bleiches Gesicht flog die Röte freudiger Erregung; sie sah in diesem Augenblicke reizend aus. „O!” rief sie unwillkürlich aus. „Sagen Sie das noch einmal.”

„Ich soll das noch einmal sagen?” wiederholte Lady Janet und sah sie verwundert an.

„Ja. Halten Sie mich nicht für hochmütig; nur für eitel. Ich kann Sie nicht oft genug sagen hören, dass Sie mich liebgewonnen haben. Ist es Ihnen auch wirklich angenehm, mich im Hause zu haben? Habe ich mich, seitdem ich bei Ihnen bin, immer gut benommen?”

Die einzige Entschuldigung für ihre Namensfälschung - wenn es dafür überhaupt eine Entschuldigung gab - lag in der bejahenden Antwort dieser Fragen. Es war gewiss viel, dass man von der falschen Grace sagen konnte, sie sei ihrer Stelle so würdig, dass es die wahre Grace nicht mehr sein könnte!

Lady Janet war über den ungewöhnlichen Ernst, mit welchem diese Bitte an sie gerichtet wurde, halb gerührt, halb belustigt.

„Ob Sie sich gut benommen haben?” wiederholte sie. „Liebes Herz, Sie reden ja wie ein Kind!” Sie legte ihre Hand zärtlich auf Mercys Arm und fuhr in ernsterem Tone fort: „Es ist wohl nicht zu viel gesagt, dass ich den Tag segne, an welchem Sie zu mir gekommen sind. Ich glaube, ich könnte Sie kaum mehr lieben, wenn Sie meine eigene Tochter wären.”

Mercy wandte ihren Kopf plötzlich zur Seite, um ihr Gesicht zu verbergen. Lady Janet hielt noch ihren Arm und fühlte ihn jetzt zittern. „Was ist Ihnen?” fragte sie in ihrer raschen, geraden Weise.

„Ich bin Ihnen nur sehr dankbar, Lady Janet - weiter nichts.”

Sie sprach diese Worte mit matter, gebrochener Stimme. Ihr Gesicht war noch abgewandt, so dass Lady Janet es nicht sehen konnte. „Was habe ich denn gesagt, um diesen Ausbruch hervorzurufen?” dachte die alte Dame verwundert. „Ist sie heute weich gestimmt? Dann ist jetzt der Zeitpunkt, um für Horace ein Wort zu sprechen.” Diesen günstigen Umstand im Augen, näherte sie sich dem heiklen Thema mit der Vorsicht, welche namentlich für den ersten Schritt dringend geboten war.

„Wir haben uns so gut zusammen vertragen”, begann sie wieder, „dass es für keine von uns leicht sein wird, in unserem Leben eine Veränderung eintreten zu lassen. Bei meinem Alter werde ich dies jedenfalls noch schwerer empfinden. Was werde ich dann tun, Grace, wenn der Tag kommt, an dem ich mich von meiner angenommenen Tochter trennen soll?”

Mercy fuhr auf und zeigte nun ihr Gesicht wieder. In ihren Augen waren Spuren von Tränen. „Warum sollte ich Sie verlassen?” fragte sie erschreckt.

„Das werden Sie wohl selbst wissen!” rief Lady Janet aus.

„Nein, ich weiß es nicht. Sagen Sie mir, warum.”

„Horace wird es Ihnen sagen.”

Diese letzte Andeutung war denn doch zu deutlich, um missverstanden zu werden. Mercy ließ den Kopf sinken. Sie begann wieder zu zittern. Lady Janet blickte sie in maßlosem Erstaunen an.

„Ist zwischen Horace und Ihnen etwas vorgefallen?” fragte sie.

„Nein.”

„Sie kennen doch Ihr Herz, liebes Kind? Sie haben doch sicherlich Horace nicht ermutigt, ohne ihn zu lieben?”

„O nein!”

„Und doch -”

Zum erstenmale, seit sie sich kannten, wagte Mercy, ihre Wohltäterin zu unterbrechen. „Teure Lady Janet”, schalt sie sanft ein, „mich drängt es gar nicht, bald zu heiraten. Wir werden in der Zukunft noch viel Gelegenheit haben, davon zu reden. Sie sollten mir aber ja etwas sagen. Was ist das - ich bitte?”

Es war keine leichte Sache, Lady Janet Roy aus der Fassung zu bringen. Diese letzte Frage jedoch raubte ihr die Sprache. Nach allem, was eben vorgefallen war, hatte ihre junge Freundin, da neben ihr, doch nicht die leiseste Ahnung, welcher Gegenstand zwischen ihnen jetzt verhandelt werden sollte. „Sonderbar, wie die jungen Mädchen heutzutage sind”, dachte die alte Dame, in großer Verlegenheit, was sie eigentlich sagen sollte. Mercy harrte mit unerschöpflicher Geduld, dass Lady Janet das Gespräch wieder aufnehmen sollte. Die schwierige Lage wurde dadurch noch peinlicher, und die Stille drohte bedenklich das Ende der Unterredung plötzlich und vor der Zeit herbeizuführen, als sich die Tür des Bibliothekszimmers öffnete, und ein Bedienter, mit einem silbernen Präsentierteller in der Hand, in das Zimmer trat.

Lady Janets wachsender Verdruss entlud sich sogleich über dem schuldlosen Haupt des Dieners. „Was wollen Sie?” fragte sie scharf. „Ich habe nicht geklingelt.”

„Ein Brief, gnädige Frau. Der Bote wartet auf Antwort.”

Der Bediente hielt den Präsentierteller mit dem Brief darauf hin und zog sich zurück.

Lady Janet erkannte, höchlichst überrascht, die Schrift auf der Adresse. „Entschuldigen Sie, liebe Grace”, sagte sie und hielt mit altmodischer Höflichkeit inne, bevor sie das Couvert öffnete. Mercy machte das übliche Zeichen der Zustimmung und schritt an das andere Ende des Zimmers; sie dachte wohl nicht, dass mit der Ankunft dieses Briefes ihr Leben eine neue Wendung erhalten sollte. Lady Janet setzte ihre Brille auf. „Sonderbar, dass er schon wieder zurück sein soll!” sagte sie zu sich selbst und warf dabei das leere Couvert auf den Tisch.

Der Brief, dessen Schreiber niemand anderer war als der Prediger in der Kapelle des Besserungshauses, enthielt folgende Zeilen:

„Liebe Tante!

Ich bin wieder zurück in London, früher als ich gedacht. Mein Freund, der Pfarrer, hat seine Ferien abgekürzt und seine Verpflichtungen auf dem Lande wieder selbst übernommen. Ich fürchte, Sie werden mich tadeln, wenn Sie die Gründe hören, welche ihn bewogen haben, seine Rückkehr zu beschleunigen. Je früher ich Ihnen meine Schuld bekennen darf, desto lieber wird es mir sein. Überdies habe ich noch ein besonderes Motiv, um Sie sobald als möglich zu sehen. Darf ich meinem Brief nach Mablethorpe-House persönlich folgen? Und darf ich Ihnen eine Dame - sie ist hier ganz fremd - vorstellen, für die ich mich interessiere? Bitte, senden Sie mir durch den Überbringer die bejahende Antwort und verpflichten Sie dadurch

Ihren aufrichtig ergebenen Neffen

Julian Gray.”

Lady Janet überlas argwöhnisch noch einmal den Satz, welcher sich auf die „Dame” bezog.

Julian Gray war ihr einziger, überlebender Neffe, der Sohn ihrer Lieblingsschwester, die sie durch den Tod verloren hatte. Er hätte in der Achtung seiner Tante wahrscheinlich nicht besonders hoch gestanden - denn seine politischen und religiösen Ansichten waren ihr verhasst - allein seine auffallende Ähnlichkeit mit seiner Mutter sprach bei der alten Dame zu seinen Gunsten; und noch mehr tat dies ihr eigener, geheimer Stolz auf die frühe Berühmtheit, welche der junge Geistliche als Schriftsteller und Prediger erlangt hatte. Dank dieser mildernden Umstände und Julians unverwüstlich guter Laune verkehrten Tante und Neffe meist auf ganz freundschaftlichem Fuß miteinander. Abgesehen von seinen, wie sie sagte, „verabscheuungswürdigen Ansichten” nahm Lady Janet hinreichenden Anteil an Julian, um in Betreff der geheimnisvollen „Dame”, welche in dem Brief erwähnt wurde, einige Neugierde zu empfinden. Hatte er beschlossen, sich einen eigenen Herd zu gründen? Hatte er schon eine Wahl getroffen? Und wenn, würde es eine Wahl sein, welche die Familie gutheißen könnte? In Lady Janets offenem Gesicht drückte sich ziemlich deutlicher Zweifel aus, als sie sich diese letzte Frage vorlegte.

Julians liberale Anschauungen waren ganz dazu geeignet, ihn auf einen gefährlichen Weg zu bringen. Seine Tante schüttelte bedenklich den Kopf, als sie vom Sofa aufstand und gegen die Tür des Bibliothekszimmers schritt.

„Grace”, sagte sie stehenbleibend und nach ihr umgewandt, „ich schreibe nur einige Zeilen an meinen Neffen. Ich bin gleich wieder hier.”

Mercy näherte sich ihr vom entgegengesetzten Ende des Zimmers mit einem Ausruf der Überraschung.

„Ihr Neffe?” wiederholte sie. „Lady Janet sagten mir noch nie, dass Sie einen Neffen haben.”

Lady Janet lachte. „Ich muss es trotzdem schon vielemale auf den Lippen gehabt haben”, sagte sie. „Aber wir hatten stets so viel anderes zu besprechen, und - um die Wahrheit zu sagen - mein Neffe ist gerade nicht mein Lieblingsthema für ein Gespräch. Ich will damit nicht sagen, dass er mir unangenehm ist; aber ich hasse seine Grundsätze und das ist es. Sie sollen sich jedoch Ihre eigene Meinung über ihn bilden; er wird mich noch heute besuchen. Warten Sie hier, bis ich zurückkomme; ich habe in Betreff Horacens noch mehr zu sagen.”

Mercy öffnete ihr die Tür des Bibliothekszimmers, schloss sie wieder und schritt dann langsam, in ihre Gedanken vertieft, im Zimmer auf und ab.

Beschäftigte sich ihr Geist mit dem Neffen Lady Janets? Nein! Lady Janet hatte von ihrem Verwandten gesprochen, jedoch ohne seinen Namen zu nennen. Mercy hatte nach wie vor keine Ahnung davon, dass der Prediger im Besserungshause und der Neffe ihrer Wohltäterin eine und dieselbe Person seien. Ihr Gedächtnis war jetzt mit dem Tribut beschäftigt, welchen ihr Lady Janet beim Beginn ihrer Unterredung gezollt hatte: „Es ist wohl nicht zu viel gesagt, Grace, dass ich den Tag segne, an welchem Sie zu mir gekommen sind.” Für den Augenblick war die Erinnerung an diese Worte Balsam für ihre kranke Seele. Grace Roseberry selbst hätte sicher kein süßeres Lob ernten können als dieses. Im nächsten Augenblicke erfasste sie ein wirkliches Entsetzen vor dem Erfolge ihres eigenen Betruges. Nie hatte sie ihre Erniedrigung so schwer und bitter empfunden wie in diesem Augenblicke. Könnte sie nur die Wahrheit bekennen - könnte sie nur frei von Schuld ihr harmloses Leben in Mablethorpe-House genießen - wie dankbar, wie glücklich könnte sie sein! War es möglich, wenn sie alles gestand, dass sie durch ihre bisherige Pflichttreue und Ergebenheit ihr Vergehen sühnte? Nein! Ihr ruhigeres Urteil sagte ihr, es sei hoffnungslos. Der Platz, den sie sich in Lady Janets Achtung verdient - ehrlich verdient hatte - sie hatte ihn durch einen Betrug erlangt. Nichts konnte dies ändern, nichts konnte es entschuldigen. Sie zog ihr Taschentuch heraus, wischte damit die nutzlosen Tränen weg, die ihr in die Augen getreten waren, und versuchte, ihren Gedanken eine andere Richtung zu geben. Was hatte nur Lady Janet vorhin gesagt, als sie in das Bibliothekszimmer ging? Sie sagte, sie wollte bei ihrem Zurückkommen von Horace sprechen. Mercy erriet, was der Gegenstand sein mochte; wusste sie ja doch nur zu gut, was Horace von ihr haben wollte. Wie sollte sie nur diesem Drängen begegnen? Was um des Himmelswillen sollte sie tun? Konnte sie es zulassen, dass der Mann, der sie liebte - den sie wieder liebte - ahnungslos sich mit einer Verlorenen, wie sie es gewesen, auf das ganze Leben verbinde? Nein! Es war ihre Pflicht, ihn zu warnen. Aber wie? Konnte sie ihm das Herz brechen, sein Leben für immer veröden, indem sie die grausamen Worte aussprach, welche sie für immer und ewig trennen mussten? „Ich kann es ihm nicht sagen! Ich will es ihm nicht sagen!” brach sie leidenschaftlich aus. „Die Schande würde mich töten!” Ihre stets wechselnde Stimmung veränderte sich, als ihr die Worte entschlüpft waren. Ein harter Trotz gegen ihr eigenes, besseres Selbst - jene traurigste aller Formen, in welcher sich der Jammer eines Weibes kundgibt - erfüllte ihr Herz mit seiner vergiftenden Bitterkeit. Sie setzte sich wieder auf das Sofa nieder; ihre Augen glänzten und ihre Wangen glühten vor Zorn. „Ich bin nicht schlechter als andere Frauen”, dachte sie. „Eine andere hätte ihn um seines Geldes willen geheiratet.” Im nächsten Augenblick zeigte sich ihr die Hohlheit und Unzulänglichkeit dieser Gründe, mit welchen sie den vorgehabten Betrug gegen ihn vor sich selbst zu entschuldigen gesucht hatte. Sie bedeckte ihr Gesicht mit beiden Händen und fand Zuflucht - wo sie sie schon früher oft gefunden hatte - in der hoffnungslosen Entsagung der Verzweiflung. „O, wäre ich gestorben, ehe ich dies Haus betrat! O, könnte ich nur in diesem Augenblicke sterben, dass es mit mir aus wäre!” Damit hatte der Kampf bereits hundertmal geendet; damit endete er auch jetzt.

Die Tür, welche in das Billardzimmer führte, öffnete sich leise. Horace Holmcroft hatte gewartet, um das Resultat von Lady Janets Fürsprache zu erfahren, bis er es nicht länger aushielt.

Er tat einen vorsichtigen Blick in das Zimmer, bereit, sich unbemerkt wieder zurückzuziehen, wenn die beiden noch miteinander sprechen sollten. Die Abwesenheit Lady Janets ließ annehmen, dass die Unterredung beendet war. Wartete seine Braut allein auf ihn, um, wenn er in das Zimmer zurückkehrte, mit ihm zu sprechen? Er ging ein paar Schritte vor. Sie rührte sich nicht - sie saß da, ohne auf irgendetwas zu achten, nur in ihre Gedanken vertieft. Galten diese wohl ihm? Er schritt noch etwas näher und rief sie an:

„Grace!”

Sie sprang mit einem schwachen Schrei auf. „Es wäre mir lieber, Sie würden mich nicht so erschrecken”, sagte sie gereizt und sank auf das Sofa zurück. „Jeder plötzliche Lärm macht mein Herz so heftig klopfen, dass ich zu ersticken glaube.”

Horace flehte mit der Demut eines Liebhabers um Verzeihung. In dem gegenwärtigen Zustand nervöser Reizbarkeit wurde sie dadurch nicht besänftigt. Sie wendete ihren Blick schweigend von ihm ab. Nicht ahnend, dass sie eben einen Anfall schwerer Seelenleiden durchgemacht hatte, setzte er sich neben sie und fragte sie sanft, ob sie Lady Janet nicht gesehen hatte. Sie gab eine bejahende Antwort, aber mit so ungerechtfertigter Ungeduld in Ton und Wesen, dass ein älterer und erfahrener Mann darin die Warnung gelesen hätte, ihr erst etwas Zeit zu lasse, bevor er wieder sprach. Horace war jung und des langen Harrens müde. Er drängte sie unklugerweise mit einer weiteren Frage.

„Hat Ihnen Lady Janet etwas gesagt?”

Sie drehte sich ärgerlich nach ihm um, ehe er noch den Satz vollenden konnte. „Sie haben versucht, mich durch ihre Vermittlung zu der Beschleunigung unserer Heirat zu bewegen”, fuhr sie auf. „Ich sehe es an Ihrem Gesicht!” So deutlich jetzt auch die Warnung sprach, Horace verstand sie nicht. „Seien Sie nicht böse”, sagte er gutmütig. „Ist es denn gar so unverzeihlich, dass ich Lady Janet gebeten habe, meine Fürsprecherin zu sein? Ich habe umsonst Sie zu bewegen versucht. Meine Mutter und Schwestern haben sich meiner angenommen, und Sie verschließen Ihr Herz gegen alles -”

Sie konnte es nicht mehr länger ertragen. In krampfhafter Heftigkeit stampfte sie mit dem Fuß auf den Boden. „Ich will nichts mehr von Ihrer Mutter und Ihren Schwestern hören”, brach sie ungestüm aus. „Sie sprechen ja von gar nichts anderem.”

Es war gerade möglich, noch einen weiteren Fehler in ihrer Behandlung zu begehen - und Horace beging ihn. Er war seinerseits verletzt und stand vom Sofa auf. Seine Mutter und Schwestern waren für ihn große Autoritäten und standen hoch in seiner Achtung; sie waren für ihn Ideale weiblicher Vollkommenheit. Er zog sich an das andere Ende des Zimmers zurück und machte ihr den schwersten Vorwurf, zu dem ihn der Augenblick hinriss.

„Ich wollte, Sie folgten dem Beispiel meiner Mutter und Schwestern, Grace”, sagte er. „Sie lohnen demjenigen, welcher sie liebt, nicht mit grausamen Worten, wie Sie es tun.”

Allem Anscheine nach machte jedoch dieser Verweis auf sie nicht den geringsten Eindruck. Sie verhielt sich demselben gegenüber so gleichgültig, als hätte sie ihn gar nicht gehört. Es regte sich in ihr ein Gefühl - ein bitteres Gefühl, das sich gegen Horaces Verherrlichung seiner Angehörigen empörte. „Es macht mich ordentlich krank”, dachte sie bei sich, „von der Tugend solcher Frauen zu hören, an welche die Versuchung niemals herangetreten ist. Wo ist da das Verdienst, anständig zu leben, wenn das ganze Leben nur Freude und Wohlstand ist? Weiß seine Mutter, was es heißt, zu hungern? Sind seine Schwestern verlassen in den Straßen umher geirrt?” Es machte ihr Herz gefühllos - sie empfand beinahe Lust, ihn zu betrügen - wenn er ihr so seine Verwandten als Muster hinstellte. Würde er denn nie das Verständnis dafür bekommen, dass Frauen es verabscheuen, wenn ihnen Ihresgleichen als Vorbilder angepriesen werden? Sie sah nach ihm hin mit dem Gefühle ungeduldiger Verwunderung. Er saß am Frühstückstisch, ihr den Rücken zugekehrt und den Kopf auf seine Hand gestützt. Hätte er versucht, sich ihr wieder zu nähern, sie hätte ihn zurückgewiesen; hätte er sie angeredet, sie wäre ihm mit einer scharfen Erwiderung entgegengetreten. So saß er abseits von ihr und sprach kein Wort. Das Schweigen eines Mannes ist für die Frau, die ihn liebt, der stärkste Widerstand. Heftigkeit kann sie ertragen; Worten ist sie jederzeit bereit, auch ihrerseits mit Worten zu begegnen; das Schweigen besiegt sie. Mercy zögerte einen Augenblick, dann stand sie auf und näherte sich demütig dem Tische. Sie hatte ihn verletzt - und sie allein hatte gefehlt. Wie konnte er es wissen, der Arme, dass er sie gekränkt hatte? Schritt um Schritt kam sie näher und näher. Er sah sich nicht um; er regte sich nicht. Sie legte ihre Hand schüchtern auf seine Schulter. „Vergeben Sie mir, Horace”, lispelte sie. „Ich bin heute sehr leidend; ich bin nicht ich selbst. Was ich sagte, war nicht böse gemeint. Bitte, verzeihen Sie mir.” Die einschmeichelnde Zärtlichkeit ihrer Stimme und ihres Wesens, als sie diese Worte sprach, bezwang jeden Widerstand. Er sah auf und fasste ihre Hand. Sie neigte sich über ihn und drückte einen Kuss auf seine Stirne. „Ist mir vergeben?” fragte sie.

„O, mein Liebling”, sagte er, „wüsstest du nur, wie ich dich liebe!”

„Ich weiß es”, antwortete sie sanft und strich ihm dabei das verwirrte Haar auf der Stirne glatt.

So standen sie ganz ineinander versunken, sonst hätten sie in diesem Augenblick hören müssen, wie sich am anderen Ende des Zimmers die Tür des Bibliothekszimmers öffnete.

Lady Janet hatte an ihren Neffen die erbetene Antwort geschrieben und war, ihrem Versprechen getreu, zurückgekehrt, um Horaces Sache zu führen. Das erste, was sie nun erblickte, war ihr Klient, wie er mit sichtbarem Erfolge seine Angelegenheit selbst vertrat! „Da bin ich offenbar überflüssig”, dachte die alte Dame. Sie schloss geräuschlos wieder die Tür und überließ die beiden Liebenden sich selbst.

Horace kam mit unkluger Beharrlichkeit auf das frühere Gesprächsthema, die hinausgeschobene Hochzeit, zurück. Bei den ersten Worten, die er sprach, zog sich Grace rasch zurück, diesmal jedoch betrübt, nicht ärgerlich.

„Drängen Sie mich nur heute nicht”, sagte sie; „ich bin heute nicht wohl.”

Er stand auf und sah sie besorgt an. „Darf ich morgen davon reden?”

„Ja, morgen.” Sie kehrte zu dem Sofa zurück und begann ein anderes Gespräch. „Wie lange Lady Janet ausbleibt”, sagte sie. „Was sie nur so lange aufhalten mag?”

Horace bemühte sich, so auszusehen, als interessierte auch ihn Lady Janets Abwesenheit. „Weshalb hat sie Sie verlassen?” fragte er hinter dem Sofa stehend und auf sie herabgeneigt.

„Sie ging in das Bibliothekszimmer, um ein Billet an ihren Neffen zu schreiben. Unter anderem, wer ist denn ihr Neffe?”

„Ist es möglich, dass Sie das nicht wissen?”

„Nein, ich weiß es nicht!”

„Sie haben gewiss schon von ihm gehört”, sagte Horace. „Er ist ja ein berühmter Mann.” Er hielt inne, und sich tiefer auf Grace herabbeugend, hob er eine Locke von ihrer Schulter empor und drückte sie an seine Lippen. „Der Neffe Lady Janets”, begann er wieder, „ist Julian Gray!”

Bei diesem Namen fuhr Grace von ihrem Sitz empor und blickte Horace entsetzt und verwirrt an, als traute sie ihren Ohren nicht.

Dieser stand völlig überrascht. „Liebe Grace!” rief er aus; „weshalb erschrecken Sie denn so plötzlich?”

Sie erhob abwehrend ihre Hand. „Der Neffe Lady Janets ist Julian Gray”, wiederholte sie; „und ich höre dies erst jetzt!”

Horace war immer mehr betroffen.

„Liebes Herz, was ist denn daran Merkwürdiges?” fragte er.

Doch in ihrer Lage und bei ihrer Gemütsart war wohl Grund vorhanden, um durch diese Entdeckung selbst das mutigste Wesen in Schrecken zu versetzen. In ihrer Seele nahm die Fälschung Grace Roseberrys plötzlich eine neue Form an: die Form des Verhängnisses. Es hatte sie blindlings in das Haus geführt, in welchem sie und der Prediger aus dem Besserungshause sich nun begegnen sollten. Er kam, der Mann, der ihr Inneres so mächtig bewegt, ihr ganzes Leben beeinflusst hatte. Kam nun mit ihm auch der Tag des Gerichtes?

„Achten Sie nicht auf mich”, sagte sie leise. „Ich bin den ganzen Morgen krank gewesen. Sie haben es ja selbst gesehen, als Sie hier hereinkamen; der bloße Klang Ihrer Stimme hat mich in Aufregung versetzt. Es wird vorüber gehen. Nur fürchte ich, Sie erschreckt zu haben.”

„Liebste Grace, es sah ja fast aus, als hätten Sie sich über Julians Namen entsetzt! Er ist eine Berühmtheit im Publikum, so viel weiß ich; auch dass Damen sich lebhaft erhoben und ihn anstaunten, wenn er irgendwo erschien, habe ich schon gesehen; aber Sie sehen ja wie vom Blitz getroffen aus.”

Sie raffte mit verzweifelter Anstrengung ihren ganzen Mut zusammen und lachte - aber es klang hart und unheimlich. Sie legte ihm ihre Hand auf den Mund und zwang ihn so, zu schweigen. „Unsinn!” rief sie leichthin aus. „Was soll Mister Julian Gray mit meinem Aussehen zu tun haben? Mir ist schon besser. Sehen Sie nur selbst!” Dabei sah sie ihn mit erzwungener Lustigkeit an und kehrte mit erkünstelter, verzweifelter Gleichgültigkeit zu dem Gespräch über den Neffen Lady Janets zurück. „Natürlich habe ich von ihm gehört”, sagte sie. „Wissen Sie, dass er heute hier erwartet wird? Warum stehen Sie da hinter mir - ich kann so nicht gut mit Ihnen sprechen. Setzen Sie sich hierher.”

Er gehorchte - aber innerlich war er mit ihrem Benehmen nicht zufrieden. Auf seinem Gesichte lag noch der Ausdruck von Besorgnis und Überraschung. Sie spielte ihre Rolle fort, mit dem festen Entschluss, jeden möglichen Verdacht in Betreff ihrer Furcht vor Julian Gray in Horace zu ersticken. „Erzählen Sie mir von diesem berühmten Manne”, sagte sie und schob ihren Arm vertraulich in den seinen. „Wie sieht er aus?”

Die schmeichelnde Gebärde, und der leichte Ton ihrer Worte verfehlten nicht ihre Wirkung auf Horace. Sein Gesicht wurde heiterer; er antwortete ihr in gleicher Weise.

„Bereiten Sie sich vor, den ungeistlichsten aller Geistlichen zu sehen”, sagte er. „Julian ist ein räudiges Schaf unter den Pfarrern und seinem Bischof ein Dorn im Auge. Er predigt, wenn man es verlangt, in der Kapelle der Dissenter; lehnt jeden Anspruch auf priesterliches Ansehen und priesterliche Gewalt entschieden ab und tut nur nach seinem eigenen Plan, aber viel Gutes. In seinem Beruf ist er ganz gefasst, niemals zu hohen Würden emporzusteigen; aber das kümmert ihn nicht; er sagt, ihm genügt es, der Archidiakonus der Betrübten, der Diakonus der Hungrigen und der Bischof der Armen zu sein. Bei aller Wunderlichkeit ist er ein so herzensguter Mensch als nur irgendeiner. Ungemein beliebt bei Frauen. Sie alle erholen sich Rats bei ihm. Ich wollte, Sie gingen auch zu ihm.”

Mercy wechselte die Farbe. „Wie meinen Sie das?” fragte sie scharf.

„Julian ist berühmt wegen seiner Überredungsgabe”, sagte Horace lächelnd. „Wenn er mit Ihnen spräche, er würde vielleicht vermögen, den Weg zu bestimmen. Soll ich Julian bitten, mein Fürsprecher zu sein?”

Er machte den Vorschlag im Scherze. Mercys ruheloser Geist nahm ihn für Ernst. „Er wird es tun”, dachte sie mit einem Gefühle unbeschreiblichen Entsetzens, „wenn ich ihn nicht daran hindere!” Es blieb ihr keine Wahl übrig. Der einzige, sichere Weg, Horace davon abzuhalten, dass er sich an seinen Freund wandte, war, ihm seinen Wunsch zu gewähren. Sie legte die Hand auf seine Schulter und suchte die furchtbare Angst, die sie verzehrte, unter der Maske der Koketterie zu verbergen, die gleich peinlich und erbarmungswürdig anzusehen war.

„Reden Sie keinen Unsinn”, sagte sie lustig. „Wovon sprachen wir nur, bevor Mister Julian Gray das Thema wurde?”

„Wir wunderten uns über Lady Janets langes Ausbleiben”, versetzte Horace.

Sie klopfte ihm ungeduldig auf die Schulter. „Nein! Nein! Vorher sagten Sie noch etwas anderes!”

Ihre Augen vollendeten, was ihr Mund nicht ausgesprochen hatte. Horace schlang seinen Arm leise um ihre Taille.

„Ich sagte, dass ich Sie liebe”, antwortete er flüsternd.

„Sonst nichts?”

„Hören Sie das nicht mehr gerne?”

Sie lächelte bezaubernd. „Ist es Ihnen denn auch gar so ernst wegen - wegen -” sie stockte und sah von ihm weg.”

„Wegen unserer Hochzeit?”

„Ja!”

„Es ist mein innigster Wunsch.”

„Wirklich?”

„Wirklich.”

Es entstand eine Pause. Mercys Finger spielten nervös mit den Breloquen an ihrer Uhrkette. „Welcher Tag wäre Ihnen denn recht?” sagte sie sanft, aber ohne ihre Aufmerksamkeit von der Uhrkette abzuwenden.

Noch nie hatte sie so gesprochen, noch nie so ausgesehen wie eben jetzt. Horace fürchtete sich beinahe, an sein Glück zu glauben. „O Grace!” rief er aus, „treiben Sie keinen Scherz mit mir!”

„Was veranlasst Sie, dies zu glauben?”

Horace war arglos genug, ihr darauf im Ernste zu antworten: „Eben noch wollten Sie von unserer Hochzeit gar nichts wissen”, sagte er.

„Das ist einerlei, was früher war”, versetzte sie mutwillig. „Man sagt, die Frauen seien wetterwendisch; es ist einer von den Mängeln unseres Geschlechtes.”

„Gott sei gelobt für solche Mängel!” rief Horace offen aus. „Wollen Sie die Entscheidung wirklich mir überlassen?”

„Wenn Sie darauf bestehen.”

Horace überlegte einen Augenblick - in Betreff des Heiratsgesetzes. „Die Bewilligung zur Trauung können wir in vierzehn Tagen haben”, sagte er. „Ich bestimme also den Tag heute über vierzehn Tage.”

Sie erhob ihre Hände widerstrebend.

„Warum nicht? Mein Advokat ist bereit. Vorbereitungen sind keine zu machen. Sie sagten ja selbst bei unserer Verlobung: es sollte eine stille Hochzeit sein.”

Mercy musste dies zugeben.

„Wir könnten auf der Stelle getraut werden, wenn das Gesetz es gestattete. Heute über vierzehn Tage also! Sagen Sie - ja!”

Er zog sie näher an sich. Es entstand eine Stille. Die Maske der Koketterie - welche sie von Anbeginn nur schlecht vorgehalten hatte - fiel ihr von ihrem Gesicht. Ihre traurigen grauen Augen ruhten mitleidsvoll auf seinen lebhaft angeregten Zügen.

„Schauen Sie nicht so ernst drein!” sagte er. „Nur ein kleines Wort, Grace! Nur ja!”

Sie seufzte und sprach es aus. Er küsste sie leidenschaftlich. Nur mit einer heftigen Gebärde gelang es ihr, sich von ihm loszumachen. „Verlassen Sie mich!” sagte sie leise. „Ich bitte Sie, lassen Sie mich allein!”

Es war ihr voller Ernst - sonderbar. Sie zitterte am ganzen Körper. Horace stand auf, um ihren Wunsch zu erfüllen. „Ich werde Lady Janet aufsuchen”, sagte er; „es drängt mich, ihr zu zeigen, dass ich wieder heiter bin und auch zu sagen weshalb.” Er wendete sich der Tür des Bibliothekszimmers zu. „Sie bleiben doch hier? Darf ich wiederkommen, wenn Sie gefasster sind?”

„Ich will hier warten”, sagte Mercy.

Mit dieser Antwort zufrieden, verließ er das Zimmer.

Sie ließ die Hände in den Schoß fallen; ihr Kopf sank müde auf die Kissen des Sofas zurück. Sie war wie geblendet, ihr Geist war völlig betäubt. Sie wusste nicht, wachte oder träumte sie. Hatte sie denn wirklich jenes Wort gesprochen, das sie zwang, Horace Holmcroft in vierzehn Tagen zu heiraten? Vierzehn Tage. Es konnte wohl in dieser Zeit irgendein Hindernis eintreten; vielleicht fand sie inzwischen einen Ausweg aus der furchtbaren Lage, in der sie sich befand. Auf jeden Fall, mochte daraus entstehen, was wollte, hatte sie gut daran getan, dieses Mittel statt einer Unterredung mit Julian Gray zu wählen. Sie fuhr mit einem Ruck aus ihrer liegenden Stellung empor, als der Gedanke an eine solche Unterredung - während der letzten Minuten unterdrückt - sich ihr wieder aufdrängte. Ihre aufgeregte Phantasie sah in diesem Augenblick schon Julian Gray im Zimmer vor ihr stehen und mit ihr sprechen wie Horace es vorgeschlagen hatte. Sie sah ihn dicht an ihrer Seite sitzen - denselben Mann, der von der Kanzel herab ihre innerste Seele erschüttert hatte, als sie, ungesehen am anderen Ende der Kapelle seinen Worten lauschte - sie sah ihn vor sich, wie er ihr forschend in das Gesicht blickte; wie er das beschämende Geheimnis in ihren Augen las, in ihrer Stimme hörte, an ihren zitternden Händen fühlte; wie er es ihr Wort für Wort herauspresste, bis sie vernichtet ihm zu Füßen lag und den Betrug gestand. Ihr Kopf fiel auf die Kissen zurück; sie verbarg ihr Gesicht entsetzt über den Auftritt, welchen ihre überreizte Einbildungskraft heraufbeschworen hatte. Selbst jetzt, wo diese gefürchtete Unterredung überflüssig geworden, konnte sie sicher sein, wenn sie ihm auch nur als eine Fremde gegenüber stand, sich nicht zu verraten? Sie konnte es nicht. Es war etwas, was sie bei dem bloßen Gedanken, mit ihm in demselben Zimmer zu sein, schaudern und zurückbeben machte. Sie fühlte es, sie wusste es; ihr schuldbeladenes Gewissen erkannte und fürchtete seinen Meister in Julian Gray! - Die Zeit verrann. Ihre heftige Aufregung begann sich physisch an dem schwachen Körper zu äußern.

Sie musste leise weinen, ohne selbst zu wissen, warum. Wie eine Last lag es auf ihr, die Ermattung lähmte ihr jedes Glied. Sie sank tiefer in die Kissen - sie schloss die Augen - das eintönige Ticken der Uhr auf dem Kaminsims drang einschläfernd immer schwächer und schwächer in ihr Ohr. Sie verfiel allmählich in Schlummer; jedoch in so leisen Schlummer, dass sie auffuhr, wenn ein Stückchen Kohle auf den Rost fiel, oder wenn die Vögel in ihrem Bauer im Wintergarten zirpten und zwitscherten.

Lady Janet und Horace traten ein. Sie hatte kaum ein Bewusstsein davon, dass jemand im Zimmer war. Nach einem kurzen Zwischenraum öffnete sie die Augen und richtete sich halb auf, um zu sprechen. Das Zimmer war wieder leer. Sie hatten sich leise hinausgeschlichen, um die Schläferin nicht zu stören. Sie schloss die Augen wieder und verfiel abermals in Schlummer; die günstige Wärme und Ruhe des Bettes verwandelte bald den Schlummer in einen tiefen, traumlosen Schlaf.


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