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Zwei Schicksalswege

Fünfundzwanzigstes Kapitel

Ich folge meiner Berufung

Die meisten Menschen in meiner Lage würden durch das ärmliche Aussehen der Straße, in die wir einbogen sowohl, als durch den unsauberen, verfallenen Zustand des Hauses vor dem wir anhielten, darauf vorbereitet worden sein, dass ihrer, wenn sie die Wohnung darin betreten, eine furchtbare Entdeckung harren musste. Mir hingegen drängte sich beim ersten Anblick dieses Ortes die Befürchtung auf, dass die Antworten des Knaben mich irre geleitet hatten denn es war mir geradezu unmöglich Frau van Brandt, wie sie mir vorschwebte, mit dem Schmutze und der Armut in Verbindung zu bringen, die ich vor mir sah. Ich klingelte mit der festen Überzeugung, dass meine Fragen zu keinem befriedigenden Resultate führen könnten.

Meines kleinen Begleiters Furcht vor Strafe kehrte in aller Kraft zurück, als ich die Hand an die Klingel legte. Er verbarg sich hinter mir und als ich ihn fragte, was er beginne, antwortete er vertrauensvoll: »Bitte, lieber Herr, bleiben Sie zwischen uns stehen, wenn die Mutter die Tür öffnet.«

Eine große, furchtbar aussehende Frau, öffnete uns. Es bedurfte keiner Vorstellung, da sie einen Rohrstock in der Hand hielt, erkannte ich sie sofort als die Mutter meines kleinen Freundes.

»Ich glaubte es sei mein Junge, dieser Vagabunde,« erklärte sie, wohl um die Begrüßung mit dem Rohrstock zu entschuldigen »der seit zwei Stunden fort ist, um etwas einzuholen. Was ist Ihnen gefällig, mein Herr?«

Ehe ich über meine eigene Angelegenheit sprach, bat ich für den unglücklichen Knaben.

»Dieses Mal bitte ich für Ihren Sohn um Verzeihung,« sagte ich, »ich fand ihn verirrt auf der Straße und bringe ihn nun nach Hause.«

Die Frau wurde buchstäblich stumm vor Erstaunen, als sie hörte, was ich getan hatte und ihren Sohn hinter mir entdeckte. Der Ausdruck ihrer Augen, die bei dieser Gelegenheit beredter waren, als ihre Zunge, enthüllte mir vollständig den Eindruck, den ich auf sie gemacht hatte. - »Sie bringen meinen verirrten Jungen in einer Droschke nach Hause? Mein Herr Unbekannter Sie sind toll.«

»Ich höre, dass eine Dame namens Brandt in Ihrem Hause wohnt,« fuhr ich fort. »Ich setze wohl irrtümlicherweise voraus, dass sie eine Dame aus meiner Bekanntschaft ist, die denselben Namen trägt, aber ich würde mich doch gerne versichern, ob ich mich täusche oder nicht. Ist es zu spät um Ihre Mieterin noch heute Abend zu stören?«

Die Frau erlangte die Sprache wieder.

»Meine Mieterin ist noch auf, um den kleinen Narren hier, der sich noch nicht einmal in London zurechtfinden kann, zu erwarten.« Sie gab ihren Worten Nachdruck indem sie ihre braune Faust gegen ihren Sohn erhob, der sofort in sein Versteck hinter meinen Rockschößen zurückkehrte. »Hast Du das Geld bekommen?« fragte das entsetzliche Weib, indem sie ihren verborgenen Sprössling, über meine Schulter weg, anschrie, »oder hast Du das auch, wie Dich selbst verloren, dummer Junge?«

Der Knabe kam wieder zum Vorschein und legte das Geld in die schwielige Hand seiner Mutter. Sie zählte es, während ihre Augen gierig forschten, ob auch jede Münze von gutem, echten Silber war - dann wurde sie ruhiger. »Geh hinauf!« brummte sie zu ihrem Sohne gewendet, und lass die Dame nicht länger warten.« Dann setzte sie, indem sie sich nach mir umwendete hinzu: »Sie und ihr Kind sind halb verhungert. Die Esswaren, die mein Sohn im Korbe für sie geholt hat, sind das Erste, was die Mutter heute genießen wird. Sie hat jetzt Alles versetzt und ich weiß nicht, was sie anfangen wird, wenn Sie ihr nicht helfen. Der Arzt tut was er kann, aber er sagte mir heute, dass seine Besuche unnütz wären, wenn sie nicht besser genährt werden könnte. Folgen Sie dem Knaben und sehen Sie selbst, ob sie die Dame ist, die Sie kennen.

Ich hörte der Frau noch immer in der Überzeugung zu, dass mich nur eine Täuschung in dieses Haus geführt hatte. Wie war es möglich, dass mein Herz den reizenden Gegenstand seiner Verehrung mit der Schilderung von Elend und Verfall in Verbindung bringen konnte, die ich soeben vernahm. Ich hielt den Knaben auf dem ersten Treppenabsatz an und sagte ihm, dass er mich einfach als einen Arzt anmelden möchte, der von Mrs. Brandts Krankheit gehört habe und sie besuchen wolle.

Wir stiegen eine zweite und dritte Treppe hinauf. Im obersten Stockwerk des Hauses angelangt, klopfte der Knabe an die auf dem Flur zunächst belegene Tür. Wir hörten keine Erwiderung. Er öffnete ohne Umstände die Tür und trat ein, während ich von draußen belauschte, was gesprochen wurde. Die Tür blieb offen. Ich beschloss in rücksichtsvollster Weise meine Hilfe anzubieten, wenn die Stimme der Mrs. Brandt mir, wie ich mit Sicherheit voraussetzte, fremd sein sollte und dann schleunig aus meinen Posten »im Schatten von St. Paul« zurückzukehren.

Zuerst sprach eine Kinderstimme zu dem Knaben.

»Jemmy, ich bin so hungrig, so sehr hungrig!«

»Schon gut, Fräuleinchen, ich bringe Ihnen etwas zu essen.«

»Schnell, schnell, Jemmy!«

Es entstand eine kleine Pause und dann hörte ich die Stimme des Knaben wieder.

»Da ist ein Stückchen Butterbrot, Fräuleinchen, auf das Ei müssen Sie warten bis ich es gekocht habe. Essen Sie nicht zu schnell, sonst müssen Sie ja ersticken. Was fehlt Ihrer Mama? Schlafen Sie Madame?« Ich konnte kaum die Antwort vernehmen, so schwach war die Stimme und sie sagte auch nur das eine Wort »Nein!«

Der Knabe sprach wieder:

»Freuen Sie sich Mrs. draußen wartet ein Arzt, der Sie besuchen will.«

Ich konnte dieses Mal keine Antwort vernehmen. Der Knabe erschien in der Tür. »Bitte treten Sie näher, lieber Herr, ich weiß nicht, was ich aus ihr machen soll.«

Da es eine sehr falsche Rücksicht gewesen wäre, wenn ich mich geweigert hätte in das Zimmer zu kommen, trat ich ein.

Am entgegengesetzten Ende des erbärmlich ausgestatteten Schlafzimmers, in einen zerlumpten Armstuhl gelehnt, erblickte ich eines von den Tausend verlassenen Geschöpfen, die in der großen Stadt diese Nacht elend dem Hungertode entgegen gingen. Ein weißes Taschentuch war über ihr Gesicht gedeckt, wohl um es vor der hellen Flamme des nahen Feuers zu schützen. Als ich das Zimmer betrat und sie meine Schritte vernahm, lüftete sie das Tuch. Ich sah sie an und erkannte in dem farblosen, verfallenen, todesbleichen Gesicht - das Antlitz der Frau, die ich liebte!

Für einen Augenblick machte der Schreck über diese Entdeckung mich ganz ohnmächtig und schwindlig, im nächsten Augenblick kniete ich an ihrem Stuhl. Mein Arm hielt sie umschlungen - ihr Kopf ruhte an meiner Schulter. Sie vermochte nicht mehr zu sprechen, nicht aufzuschreien, sie erbebte leise, das war Alles. Ich schwieg. Kein Wort kam über meine Lippen, keine Träne linderte meine Qualen. Ich drückte sie an mich und - sie ließ es geschehen. Das Kind, das sein Butterbrot an einem kleinen, runden Tischchen verzehrte, sah uns erstaunt an. Träge schlichen die Minuten vorüber, während das Summen einer Fliege das einzige Geräusch im Zimmer war.

Es war weniger das volle Bewusstsein der entsetzlichen Lage in der ich mich befand, als das Pflichtgefühl des Berufes, in dem ich erzogen war, das mich endlich aufschreckte. Sie war dem Hungertode nahe, das sah ich an der todesbleichen Farbe ihrer Haut, das fühlte ich an den matten, unruhigen Schlägen ihres Pulses. Ich rief den Knaben herbei und schickte ihn nach dem nächsten Laden nach Wein und Biskuit. »Hole es so schnell als möglich,« sagte ich, »und ich will Dir mehr Geld dafür geben, als Du in Deinem ganzen Leben besessen hast!« Der Knabe sah mich an - blinzelte nach dem Gelde, das er in der Hand hielt und lief so schnell, wie je ein Knabe gelaufen ist davon, indem er ausrief: »Welch ein Glück!«

Als ich mich eben umwendete um der Mutter die ersten Trostesworte zu sagen, hielt der Schrei des Kindes: »Ich bin so hungrig, ich bin so hungrig,« mich davon zurück.

Ich reichte ihr noch mehr zu essen und küsste sie, worauf sie mich verwundert anblickte.

»Bist Du ein neuer Papa?« fragte das kleine Geschöpf. »Mein anderer Papa küsst mich nie.«

Ich sah die Mutter an. Sie hatte die Augen geschlossen und leise rollten die Tränen über ihre bleichen, hageren Wangen. Ich erfasste ihre abgezehrte Hand, indem ich sagte: »Es werden bessere Tage kommen, jetzt sorge ich für Sie.« Sie antwortete nicht. Sie zitterte leise - das war Alles.

Nach kaum fünf Minuten kehrte der Knabe zurück und hatte den versprochenen Lohn verdient. Als einziges, glückliches Wesen in diesem Zimmer saß er an der Erde beim Feuer und zählte seine Schätze. Ich tauchte einige Biskuitbrocken in den Wein und belebte allmählich ihre sinkende Kraft, indem ich ihr in dieser vorsichtigen Weise Nahrung zuführte. Nach einer Weile erhob sie den Kopf und sah mich mit erstaunten Augen an, die rührende Ähnlichkeit mit den Augen ihres Kindes hatten. Ein schwaches, zartes Rot überflog ihr Gesicht. In flüsternden Tönen, die ich nur vernehmen konnte, weil ich dicht neben ihr saß, sprach sie die ersten Worte zu mir:

»Wie fanden Sie mich auf? Wer zeigte Ihnen den Weg hierher?«

Sie schwieg, indem sie mühsam eine Erinnerung zurückzurufen schien. Ihre Farbe stieg, endlich fand sie die verlorene Erinnerung wieder und blickte mich mit schüchterner Neugierde an. »Wie kommen Sie hierher? Führt Sie ein Traum zu mir?«

»Warten Sie bis Sie kräftiger sind, Teuerste, dann will ich Ihnen Alles sagen.«

Ich hob sie leise auf und trug sie auf ihr elendes Lager. Das Kind folgte uns und kletterte mit meiner Hilfe auf das Bettstell, um sich dicht an die Mutter zu schmiegen. Ich schickte den Knaben hinaus und ließ der Hauswirtin sagen, dass ich die Nacht bei der Kranken bleiben würde, um ihre Fortschritte in der Genesung zu beobachten. Er ging, fröhlich mit seinem Geld in der Tasche klappernd, um seinen Auftrag auszuführen. So waren wir drei denn allein.

Von Zeit zu Zeit fiel sie in einen unruhigen Schlaf, während die Stunden langsam dahin schlichen, dann erwachte sie wieder mit einem Schreck und starrte mich wild an, als ob ich ein Fremder sei, der an ihrem Bette säße. Gegen Morgen tat die Nahrung, die ich ihr immer sorgfältig beigebracht hatte, ihre Wirkung, indem der Puls sich besserte und sie ruhiger zu schlafen begann. Als die Sonne aufging schlief sie so friedlich, wie das Kind an ihrer Seite. Ich konnte es wagen sie in der Obhut ihrer Wirtin zu lassen bis ich im Laufe des Tages zurückkehrte. Der Zauber des Geldes verwandelte diese lärmende, entsetzliche Person in eine sanfte, aufmerksame Krankenwärterin, die so bestrebt war alle meine Anforderungen pünktlich zu befolgen, dass sie mich bat, sie, ehe ich ging, niederzuschreiben. Einen Augenblick lang weilte ich noch allein am Bette der schlafenden Frau und vergewisserte mich selbst zum hundertsten Male ehe ich sie verließ, dass ihr Leben außer Gefahr sei. Sie dem Leben erhalten zu wissen, leise ihre kalte Stirn mit meinen Lippen berühren zu dürfen, wieder und immer wieder in das elende, bleiche Antlitz blicken zu können, das trotz aller Wechsel meinen Augen immer schön erschien, das war mir der süßeste Lohn. Leise schloss ich die Tür und schritt, nun wieder ein glücklicher Mensch, in den hellen Morgen hinaus. So nah bei einander liegen die Quellen des Glückes und des Unglückes im menschlichen Leben! So nah ist der hellste Sonnenschein den schwärzesten Wolken, in unserem Herzen, wie an unserem Himmel.


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