Zwei Schicksalswege
Vierzehntes Kapitel
Frau van Brandt in ihrer Häuslichkeit
Als ich meine Hand nach der Hausklingel ausstreckte, wurde die Tür von innen geöffnet und niemand Geringeres, als Herr van Brandt selbst, stand vor mir! Er hatte den Hut auf dem Kopfe und war entschieden eben im Begriff auszugehen.
»Wie gütig von Ihnen, mein Herr, Sie beantworten meinen Brief auf die liebenswürdigste Weise, indem Sie selbst erscheinen. Sie finden Frau van Brandt zu Hause und sie wird außerordentlich erfreut sein. Bitte treten Sie näher!«
Er öffnete die Tür eines Zimmers im Erdgeschoss. Seine Höflichkeit war, wo möglich, noch beleidigender als seine Unverschämtheit.
»Bitte nehmen Sie Platz, Mr. Germaine!« Er ging und öffnete die Tür, aus der er mit lauter, sicherer Stimme die Treppe herauf rief:
»Mary komm sofort herunter!«
Also »Mary!« So musste ich durch Brandt endlich ihren Taufnamen erfahren. aber ich kann nicht beschreiben, wie er mir, von seinen Lippen gesprochen, die Ohren zerriss. Zum ersten Male seit langen Jahren kehrte meine Erinnerung zu Mary Dermody und der Grünwasserfläche zurück, Ich hörte aber schon Frau van Brandts Kleider auf der Treppe tauschen und bei diesem Tone waren die alten Zeiten und die alten Gestalten so gänzlich aus meinem Gedächtnis verschwunden, als hätten sie nie darin gelebt. Was hatte sie denn mit ihrer Namensschwester aus alten Zeiten, mit dem zarten, schüchternen, kleinen Mädchen gemein? Wie konnte das düstere Wohnhaus in London mich an des Vogtes blumenumduftetes Häuschen am Ufer des Sees erinnern?
Van Brandt nahm den Hut ab und verbeugte sich mit niedriger Unterwürfigkeit vor mir.
»Mich erwartet eine unaufschiebbare Geschäftsangelegenheit« sagte er, »bitte, entschuldigen Sie mich. Frau van Brandt wird Sie empfangen. Guten Morgen.«
Die Haustür wurde geöffnet und geschlossen, das Rauschen ihres Kleides kam immer näher, bis sie vor mir stand.
»Mr. Germaine!« rief sie aus und trat zurück, als ob sie schon bei meinem bloßen Anblick zurückgestoßen wurde. »Ist es ehrenwert, ist es Ihrer würdig, dass Sie mich verleiten lassen, Sie zu empfangen und Herrn van Brandt dabei zu ihrem Mitschuldigen machen? O, mein Herr, ich hatte mich daran gewöhnt zu Ihnen, als zu einem edlen Manne empor zu sehen und wie bitter haben Sie mich enttäuscht!«
Ich beachtete ihre Vorwürfe nicht, denn sie erhöhten nur ihre Farbe und steigerten dadurch das Entzücken sie anzuschauen.
»Wenn Sie mich so treu liebten, wie ich Sie liebe,« sagte ich, »so würden Sie begreifen, weshalb ich hier bin. Ich scheue kein Opfer um Sie nach zweijähriger Trennung endlich wiederzusehen.«
Sie neigte sich zu mir und richtete ihre Augen tief forschend auf mein Gesicht.
»Es muss hier ein Irrtum obwalten,« sagte sie, »Sie können meinen Brief unmöglich erhalten haben oder haben Sie ihn nicht gelesen?«
»Ich erhielt und las ihn.«
«Und van Brandts Brief auch, haben Sie den auch gelesen?«
»Ja.«
Sie setzte sich an den Tisch und ihre Arme darauf stützend, bedeckte sie ihr Gesicht mit den Händen. Es schien, als ob meine Antwort sie schmerzte und in Erstaunen versetzte. »Sind denn alle Männer gleich?« hörte ich sie sagen, »ich hoffte, dass er fühlen würde, was seine Pflicht gegen sich selbst war und was ihm das Mitleid für mich gebot.«
Ich schloss die Tür und setzte mich zu ihr. Als sie meine Nähe fühlte, nahm sie die Hände vom Gesicht und sah mich mit kaltem Erstaunen an.
»Was beabsichtigen Sie nun?« fragte sie.
»Ich werde versuchen mir Ihre Achtung wiederzugewinnen,« sagte ich. »Ich werde zuerst Ihr Mitleid für einen Mann anrufen, dessen ganzes Herz Ihnen gehört, dessen Leben in Ihnen aufgeht!«
Sie sprang auf und sah sich ungläubig an, als zweifle sie, ob sie meine letzten Worte richtig gehört und richtig verstanden habe. Ehe ich weiter sprechen konnte, trat sie vor mich hin und schlug mit ihrer geöffneten Hand mit einer so leidenschaftlichen Entschlossenheit auf den Tisch, wie ich sie nie zuvor von ihr gesehen hatte.
»Halten Sie ein!« rief sie. »Diese Sache muss und wird ein Ende nehmen. Wissen Sie denn, wer der Mann ist, der eben das Haus verlassen hat? Antworten Sie mir, Mr. Germaine. ich spreche im vollen Ernst.« Es blieb mir keine Wahl als zu antworten, denn sie sprach in der Tat im Ernst - im furchtbaren Ernst.
»Aus seinem Briefe ersehe ich,« sprach ich, »dass er Herr van Brandt ist.«
Sie setzte sich und wendete das Gesicht von mir ab.
»Wissen Sie warum er Ihnen schrieb?« fragte sie. »Warum er Sie hierher einlud?«
Ich gedachte des Argwohns, der mich beschlich, als ich van Brandts Brief las und schwieg.
»Sie zwingen mich, Ihnen die Wahrheit zu sagen,« fuhr sie fort. »Gestern Abend beim Nachhausegehn fragte er mich, was Sie wären. Da ich wusste, dass Sie ein reicher Mann sind und er Geld braucht, sagte ich ihm, dass ich gar nichts über Ihre Lebensverhältnisse wüsste, aber er ist zu schlau, um mir zu glauben und ging sofort in ein Restaurant, um in einem Adresskalender nachzusehn. Als er zurückkam, sagte er: »Mr. Germaine hat ein Haus in Berkeley Square und einen Landsitz in den Hochlanden. Ein armer Teufel wie ich darf solchen Mann nicht beleidigen, ich beabsichtige ihn mir zum Freunde zu machen und erwarte ein Gleiches von Dir.« Damit setzte er sich hin und schrieb Ihnen. Wissen Sie denn, Mr. Germaine, dass ich nur unter dem Schutze dieses Mannes lebe, seine Frau ist nicht tot, wie Sie wohl voraussehen mögen, sie lebt und ich weiß, dass sie lebt. Ich schrieb Ihnen, dass ich Ihrer Teilnahme nicht mehr wert wäre, nun zwingen Sie mich Ihnen zu sagen, warum. Bin ich nun vor Ihnen genugsam erniedrigt, um Sie wieder zur Besinnung zu bringen?«
Ich rückte näher zu ihr heran. Sie wollte aufstehen, um mich zu verlassen, aber da ich meine Macht über sie kannte, bediente ich mich ihrer ohne Bedenken, wie es wohl jeder an meiner Stelle getan hätte.
»Ich glaube nicht, dass Sie sich freiwillig erniedrigt haben,« sagte ich. »Sie sind zu Ihrer jetzigen Stellung gezwungen worden und verschweigen mir absichtlich die Entschuldigungsgründe. Dennoch werden Sie mich nie überzeugen, dass Sie eine Unwürdige sind! Glauben Sie, dass ich Sie lieben würde, wie ich Sie liebe, wenn Sie meiner wirklich unwert wären?«
Sie versuchte mir ihre Hand zu entziehen, aber ich hielt sie fest, so beschloss sie denn den Gegenstand des Gesprächs zu wechseln und sagte mit schwachem, erzwungenem Lächeln:
»Eines müssen Sie mir noch sagen, haben Sie meine Erscheinung je wiedergesehen, seit ich Sie verließ?«
»Nein. Haben Sie mich je wieder so gesehn, wie Sie mich im Gasthause in Edinburgh sahen?«
»Niemals. Unsere gegenseitigen Erscheinungen sind verschwunden, können Sie sich einen Grund dafür denken?«
Hätten wir diesen Gegenstand weiter verfolgt, so hätte er unbedingt zu unserer Erkennung führen müssen, aber wir ließen ihn fallen. Statt ihre Frage zu beantworten, zog ich sie näher an mich und kehrte zu dem verbotenen Thema von meiner Liebe zurück.
»Sehen Sie mich an,« bat ich, »und seien Sie aufrichtig. Können Sie mich sehn, mich hören und finden Sie in Ihrem Herzen keine sympathische Regung für mich? Bin ich Ihnen ganz gleichgültig und haben Sie, seit wir uns trennten, wirklich niemals meiner gedacht?«
Ich sprach, wie ich empfand, inbrünstig, leidenschaftlich. Sie machte einen letzten Versuch mich. von sich zu stoßen, während dessen sie aber schon selbst nachgab. Sie drückte meine Hand und ein leiser Seufzer entfloh ihren Lippen, als sie sich plötzlich von der Rückhaltung, die sie bis jetzt beobachtet hatte frei machte und mir mit voller Hingebung antwortete:
»Ich gedenke immer Ihrer, so auch gestern Abend in der Oper und mein Herz jauchzte auf, als ich Ihre Stimme auf der Straße vernahm.«
»So lieben Sie mich?« flüsterte ich.
»Ob ich Sie liebe?« wiederholte sie. »Gegen meinen eigenen Willen gehört Ihnen mein ganzes Herz. Ich liebe Sie, ob ich gleich erniedrigt und Ihrer unwert bin, ob ich gleich weiß, dass ich keinerlei Hoffnung habe, dennoch liebe ich Sie!«
Sie schlang ihre Arme um meinen Hals und zog mich mit aller Kraft an sich, dann sank sie auf ihre Knie.
»Ach, führen Sie mich nicht in Versuchung!« sprach sie. »Haben Sie Erbarmen mit mir!«
Ich war außer mir und sprach eben so rückhaltlos, wie sie zu mir gesprochen hatte.
»So beweisen Sie mir, dass Sie mich lieben,« sagte ich, »indem Sie mir gestatten Sie von dem erniedrigenden Leben mit diesem Manne zu erretten. Verlassen Sie ihn und folgen Sie mir, verlassen Sie ihn auf immer und suchen Sie an meiner Seite eine bessere Zukunft, die Ihrer würdig ist - die Zukunft, mein Weib zu sein.«
»Niemals!« sagte sie, sich zu meinen Füßen niederkauernd.
»Warum nicht? Was behindert Sie?«
»Das kann und darf ich Ihnen nicht sagen.«
»Wollen Sie es mir schreiben?«
»Nein, Ihnen kann ich es auch nicht schreiben. Gehen Sie, ich flehe Sie an, ehe van Brandt heimkehrt, gehen Sie, wenn Sie Liebe, wenn Sie Mitleid für mich fühlen.«
Sie hatte meine Eifersucht erregt und ich verweigerte Sie zu verlassen.
»Ich fordre von Ihnen zu wissen, was Sie an diesen Mann fesselt,« sagte ich. »Lassen Sie ihn kommen! Wenn Sie mir diese Frage nicht beantworten wollen, werde ich sie ihm vorlegen.«
Sie sah mich wild an und stieß einen Schrei des Entsetzens aus, als sie meinen unwandelbaren Entschluss auf meinem Gesichte las.
»So lassen Sie mich nachdenken,« sagte sie, »aber erschrecken Sie mich nicht!«
Als sie einen Augenblick nachgedacht, erhellten sich ihre Augen, als hätte sie einen neuen Ausweg aus diesen Verwickelungen gefunden.
»Lebt Ihre Mutter noch?« fragte sie.
»Ja.«
»Würde sie zu mir kommen?«
»Wenn ich sie darum bitte, gewiss.«
Sie überlegte wiederum und sagte dann nachdenklich: »dann will ich Ihrer Mutter das Hindernis nennen.«
»Wann?«
»Morgen um diese Zeit.«
Sie erhob sich von den Knien und Tränen standen in ihren Augen. Indem sie mich sanft an sich zog, flüsterte sie: »Küssen Sie mich, denn wir werden uns nie wiedersehn, küssen Sie mich zum letzten Male.«
Kaum hatten meine Lippen die ihren berührt, als sie aufsprang und meinen Hut von dem Stuhle nahm, auf den ich ihn gestellt hatte.
»Er kommt,« sagte sie, »nehmen Sie Ihren Hut.«
Mein schwächerer Gehöressinn hatte nichts wahrgenommen, aber um sie zu beruhigen, stand ich auf und nahm meinen Hut zur Hand. In demselben Augenblicke wurde die Tür schnell und leise geöffnet und Herr van Brandt trat ein. Die Enttäuschung in seinen Zügen sagte mir deutlich, dass er uns aus irgendeinem niedrigen Grunde zu überraschen hoffte und dass seine Absicht fehlgeschlagen war.
»Sie werden doch jetzt nicht aufbrechen?« sagte er und heftete seine Augen auf seine Frau, während er mit mir sprach. »Ich habe mein Geschäft möglichst beschleunigt, um Sie noch hier zu finden und zu bitten mit uns zu frühstücken. So legen Sie Ihren Hut doch ab, Mr. Germaine, und machen Sie keine Umstände.«
»Sie sind sehr gütig,« erwiderte ich, »aber ich muss Sie und Frau van Brandt bitten, mich für heute zu entschuldigen, meine Zeit ist grade sehr gemessen.«
Ich verabschiedete mich von ihr, während ich sprach, sie erblasste, als ich ihr die Hand gab. Hatte sie, wenn ich den Rücken kehrte, irgend eine Misshandlung von van Brandt zu fürchten? Der Gedanke machte mein Blut gerinnen, aber ich gedachte ihrer und sagte mir, dass es für sie das Weiseste und Sicherste war, wenn ich ihren Mann für mich gewann, ehe ich ging. Darum sagte ich, als wir zur Tür gingen: »Ich bedaure sehr Ihre Einladung nicht annehmen zu können, vielleicht gestatten Sie mir ein andres Mal Ihr Gast zu sein?«
Er blinzelte schlau mit den Augen und fragte: »Was meinen Sie zu einem kleinen, einfachen Mittagsmahl mit uns? Nichts als ein Stück Hammelbraten und eine Flasche guten Weines. Ich lade nur noch einen alten Freund dazu ein, damit wir unserer Vier sind, und am Abend einen Rubber Whist spielen können; Sie als Marys Partner - wie? Wann wollen Sie kommen, wollen wir gleich übermorgen bestimmen? Sie war mit bis an die Tür gekommen und stand hinter van Brandt. Als er des »alten Freundes« und des »Rubbers Whist« erwähnte, drückten ihre Züge Scham und Widerwillen aus. Erst als sie hörte, dass er den Tag der Gesellschaft als auf »übermorgen« festsetzte, wurden ihre Züge ruhiger, als wenn sie sich erheblich erleichtert fühlte. Was bedeutete das? »Auf morgen« hatte sie sich den Besuch meiner Mutter erbeten, glaubte sie wirklich, dass ich nie wieder ihr Haus betreten und jeden Versuch sie wiederzusehn aufgeben würde, wenn ich erfuhr, was sie meiner Mutter zu sagen hatte. Fühlte sie sich deshalb erleichtert, als sie hörte, dass die Mittagsgesellschaft erst am Tage darauf stattfinden sollte?
Ich nahm die Einladung an und verließ das Haus, indem ich diese Frage in mir bewegte. Ihr Abschiedskuss, die sichtliche Erleichterung, die sie empfand, als die Gesellschaft auf übermorgen festgesetzt war, das Alles bedrückte mich und ich hätte gern zwölf Jahre meines Lebens darum hin gegeben, hätte ich die nächsten zwölf Stunden damit auslösen können.
In diesem Gemütszustande langte ich zu Hause an und suchte meine Mutter in ihrem Wohnzimmer auf.
»Veranlasste Dich das schöne Wetter früher als gewöhnlich auszugehn, mein lieber Sohn?« sagte sie. Als sie mich aber nach einer Pause näher betrachtete, rief sie erschreckt aus: »George! Was ist Dir zugestoßen? Wo warst Du?«
Ich erzählte ihr Alles eben so aufrichtig, wie ich es hier getan habe.
Das Blut stieg ihr ins Gesicht und sie sprach mit einer Strenge zu mir, die ich gar nicht von ihr gewohnt war.
»Muss ich Dich zum ersten Male in Deinem Leben darauf aufmerksam machen, was Du Deiner Mutter schuldig bist?« fragte sie. »Kannst Du wirklich von mir verlangen, dass ich eine Frau besuche, die nach ihrem eigenen Geständnis -«
»Ich ersuche Dich eine Frau zu besuchen, die es nur ein Wort kostete um Deine Schwiegertochter zu werden,« unterbrach ich sie. »Sei überzeugt, dass ich nichts von Dir fordern würde, was unter Deiner Würde ist.«
Meine Mutter blickte erschrocken zu mir auf.
»Du willst doch damit nicht sagen, dass Du ihr einen Heiratsantrag gemacht hast, George?«
»Ja .«
»Und sie hat ihn abgelehnt?«
»Sie lehnt ihn ab, weil irgend ein Hindernis im Wege steht, das ich mich vergeblich von ihr zu erfahren bemühte. Dir nur will sie es anvertrauen.«
Der Ernst der Sachlage zwang meine Mutter nachzugeben. Indem sie mir das kleine Täfelchen von Elfenbein reichte, auf dem sie ihre geselligen Verpflichtungen zu notieren pflegte, sagte sie: »Schreibe den Namen und die Adresse hierauf.«
»Ich werde Dich begleiten,« antwortete ich, »und vor der Türe im Wagen warten, denn ich muss im Augenblick, wo Deine Zusammenkunft mit Frau van Brandt beendet ist, das Resultat hören.«
»Ist die Sache so ernst, George?«
»Ja, Mutter, sie ist sehr ernst.«
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