Namenlos
Elftes Capitel.
Das Postzeichen und die Handschrift auf der Adresse, die vortrefflich nach der Vorlage der Urschrift nachgemacht war, setzten Mrs. Lecount noch bevor sie den Brief öffnete, von dem Inhalte desselben in Kenntniß.
Nachdem sie einen Augenblick gewartet, um sich zu fassen, las sie die Mittheilung von ihres Bruders Rückfall.
Es war Nichts in der Handschrift, kein Ausdruck in irgend einem Theile des Briefes, der in ihrem Geiste den leisesten Verdacht einer Täuschung aufkommen ließ. Nicht der Schatten eines Zweifels kam ihr in den Sinn, daß die Ladung an das Sterbebett ihres Bruders nicht echt sei. Die Hand, welche den Brief hielt, sank schwer auf ihren Schooß, sie wurde bleich und alt und häßlich in einem Augenblicke! Gedanken, weit entfernt von ihren gegenwärtigen Zwecken und Zielen, Erinnerungen, welche sie in andere Länder als England, in andere Zeiten als ihre Dienstzeit zurückversetzten, waren von innen heraus ihre Schatten um sie und ließen die Spuren ihres geheimnißvollen Weges dunkel und düster auf ihrem Gesichte erkennen. Minuten auf Minuten verrannen, und noch immer harrte das Dienstmädchen unten vergeblich auf die Klingel aus dem Wohnzimmer. Minuten auf Minuten vergingen, und noch immer saß sie thränenlos und still da, abgestorben für die Außenwelt, Gegenwart und Zukunft; nur in der Vergangenheit lebend.——
Der unberufene Eintritt des Mädchens weckte sie auf. Mit einem schweren Seufzer brach das kalte verschlossene Weib den Brief wieder zusammen und wandte sich den Anforderungen und Angelegenheiten der rasch enteilenden Gegenwart zu.
Sie entschied bei sich die Frage, ob, sie nach Zürich gehen sollte oder nicht, nach einer sehr kurzen Erwägung derselben. Ehe sie ihren Stuhl an die Frühstückstafel gezogen hatte, war sie entschlossen zu gehen.
So vortrefflich auch Hauptmann Wragges List angeschlagen war, so würde sie doch, wäre nicht der Vorfall von diesem Morgen zur Unterstützung hinzugekommen, mißlungen sein. Dasselbe Ereigniß, gegen welches sich zu wahren des Hauptmanns erstes Bemühen gewesen war, das Ereigniß, welches jetzt ihm zum Trotz nun dennoch stattgefunden hatte, war unter allen, welche überhaupt vorkommen konnten, das einzige, welches alle früheren Berechnung zu Nichte machte, indem es das Hauptziel der Verschwörung rückhaltlos bloßlegte! Hätte Mrs. Lecount nicht die Kunde erlangt, nach der sie strebte, bevor sie den Brief aus Zürich erhielt, so würde der Brief vergebens an sie gerichtet worden sein. Sie würde gezögert haben, bevor sie sich entschlossen hätte, England zu verlassen, und diese Zögerung würde sich für den Plan des Hauptmanns unheilvoll erwiesen haben.
Wie die Sachen aber jetzt standen mit den deutlichen Beweisen in ihren Händen, mit dem in Magdalenens Kleiderschrank entdeckten Kleide, mit dem aus demselben geschnittenen Stückchen in ihrem Taschenbuche und mit der von Mrs. Wragge erhaltenen Kenntniß sogar des Hauses, in welchem der Betrug angesponnen war, hatte nunmehr Mrs. Lecount die Mittel in der Hand, Mr. Noël Vanstone eine so nachdrückliche Warnung ertheilen zu können, wie sie es nie vermocht hatte, oder mit anderen Worten die Mittel, jegliche gefährliche Neigung nach Versöhnung mit den Bygraves, welche ihm sonst während ihrer Abwesenheit in Zürich vielleicht in den Sinn gekommen wäre, zu verhüten. Die einzige Schwierigkeit, welche sie noch in Verlegenheit setzte, war die, daß sie sich entschließen mußte, ob sie persönlich oder schriftlich von ihrer Abreise aus England ihren Herrn von Allem in Kenntniß setzen sollte.
Sie sah wieder aus den Brief des Doktors. Das Wort »augenblicklich« in dem Satze, welcher sie zu ihrem sterbenden Bruder rief, war zwei Mal unterstrichen. Admiral Bartrams Haus war in einiger Entfernung von der Eisenbahn, die Zeit, welche sie zu einer Fahrt nach St. Crux und wieder zurück brauchte, war vielleicht für die Reise nach Zürich unersetzbar.... Obgleich sie daher unbedingt eine persönliche Zusammenkunft mit Mr. Noël Vanstone vorgezogen haben würde, so blieb doch keine Wahl, wo es sich um Leben und Tod handelte, als die kostbaren Stunden zu sparen, indem sie nur an ihn schrieb.
Nachdem sie weggeschickt hatte, um sich sofort einen Platz in der Morgenpost bestellen zu lassen, setzte sie sich nieder, um an ihren Herrn zu schreiben.
Ihr erster Gedanke war, ihm Alles zu sagen, was auf Nordsteinvilla heute Morgen vorgefallen war. Bei reiflicherem Nachdenken verwarf sie jedoch diesen Gedanken. Schon einmal, als sie die Personalbeschreibung aus Miss Garths Briefe abgeschrieben hatte, hatte sie ihre Waffen in die Hände ihres Herrn gelegt, und Mr. Bygrave hatte es anzudrehen gewußt, daß sie sich schließlich gegen sie selbst kehrten. Sie beschloß diesmal dieselben schlechterdings selber in der Hand zu behalten. Das Geheimniß von dem fehlenden Stücke aus dem Alpacakleide war keinem lebenden Wesen außer ihr selbst bekannt, und sie beschloß, dasselbe bis zu ihrer Rückkehr nach England für sich zu behalten. Der nothwendige Eindruck auf Mr. Noël Vanstones Gemüth konnte füglich auch ohne Eingehen auf Einzelheiten erreicht werden; Sie wußte aus Erfahrung, in welcher Form ein Brief gewißlich einen Eindruck auf ihn hervorbringen würde, und sie schrieb ihn nun in folgenden Worten:
Lieber Mr. Noël!
Traurige Nachrichten kamen aus der Schweiz für mich an. Mein geliebter Bruder liegt im Sterben, und sein ärztlicher Beistand ruft mich augenblicklich nach Zürich. Die unausweichliche Notwendigkeit, mich so rasch als möglich nach dem Festlande zu begeben, läßt mir keine Wahl. Ich muß von der Erlaubniß, welche Sie so freundlich waren mir gleich zu Anfang der Krankheit meines Bruders zu gewähren, Gebrauch machen und muß jede Zögerung vermeiden, indem ich unmittelbar nach London gehe, anstatt einen Abstecher zu machen, um Sie, wie ich es so gern gethan hätte, erst in St. Crux zu besuchen.
So schmerzlich ich durch das mich heimsuchende Familienleid berührt bin, kann ich doch diese Gelegenheit nicht unbenützt lassen, um einen andern Gegenstand zu erwähnen der Ihr Wohl und Wehe ernstlich angeht und an welchem in diesem Betracht Ihre alte Haushälterin den innigsten Theil nimmt.
Ich werde Sie überraschen und erschrecken, Mr. Noël. Ich bitte Sie, regen Sie sich nicht auf, ich bitte Sie, fassen Sie sich!
Der unverschämte Versuch, Sie zu betrügen, welcher zum Glück Ihnen die Augen geöffnet hat über den wahren Charakter Ihrer Nachbarn auf Nordsteinvilla, war nicht der einzige Zweck, welchen Mr. Bygrave hatte, Ihnen seine Gesellschaft aufzudrängen. Die elende Verschwörung, durch die Sie in London bedroht wurden, ist unter Mr. Bygraves Leitung zu Aldborough noch in voller Thätigkeit gegen Sie. Der Zufall, —— ich will Ihnen sagen, was für ein Zufall, sobald wir mit einander zusammenkommen —— hat mich in den Besitz von Nachrichten gesetzt, die für Ihre künftige Sicherheit von Wichtigkeit sind. Ich habe bis zur vollendetsten Gewißheit entdeckt, daß die Person, welche sich Miss Bygrave nennt, keine andere ist, als —— das Frauenzimmer, das uns verkleidet auf der Vauxhallpromenade besuchte.
Ich argwöhnte Dies von Anfang an, aber ich hatte keinen Beweis, um meinen Verdacht zu unterstützen, ich hatte keine Mittel, um den falschen Eindruck, den man auf Sie gemach hatte, zu bekämpfen. Meine Hände sind nun, Gott sei Dank! nicht mehr gebunden. Ich besitze unwidersprechliche Beweise der Behauptung, welche ich soeben gethan habe, Beweise, welche Ihre eigenen Augen sehen können, Beweise, welche Ihnen genügen würden, und wären Sie selbst Beisitzer in einem Gerichtshofe.
Vielleicht werden Sie, Mr. Noël, sogar jetzt noch abgeneigt sein, mir Glauben zu schenken? Mag es so sein. Glauben Sie mir oder glauben Sie mir nicht, ich habe Sie nur um eine letzte Gunst zu bitten, welche Ihr echt englisches Gefühl für ehrliches Spiel mir hoffentlich nicht verweigern wird.
Diese meine traurige Reise wird mich wohl auf vierzehn Tage oder höchstens drei Wochen von England fern halten. Sie werden mich verpflichten —— und Sie werden gewiß nicht Ihre eigene Wohlfahrt und Ihr eigenes Vergnügen opfern wollen —— wenn Sie diese Zwischenzeit hindurch bei Ihren Freunden zu St. Crux verbringen. Wenn irgendwelche unverhoffte Umstände Sie vor meiner Rückkehr noch einmal in die Gesellschaft der Bygraves bringen sollten, und wenn Ihre natürliche Herzensgüte Sie geneigt macht, die Entschuldigungen anzunehmen, welche dieselben in diesem Falle gewiß an Sie richten werden, so halten Sie sich ein wenig zurück, um Ihretwillen, wenn nicht um meinetwillen. unterbrechen Sie Ihre Liebelei mit der jungen Dame —— ich bitte alle anderen jungen Damen um Verzeihung, daß ich sie so nenne —— bis zu meiner Rückkehr.
Wenn ich nach meiner Zurückkunft nicht im Stande bin, Ihnen zu beweisen, daß Miss Bygrave das Weib ist, welche jene Verkleidung trug und jene Drohworte auf Vauxhallpromenade sprach, so mache ich mich anheischig, nach eintägiger Kündigung Ihren Dienst zu verlassen, und will büßen für die Sünde, falsch Zeugniß wider meinen Nächsten geredet zu haben, durch Entsagung auf jeglichen Anspruch, den ich auf Ihre Dankbarkeit habe, sowohl was Ihren seligen Vater, als auch was Sie selber betrifft!
Ich mache dies Erbieten ohne Hinten und Vorbehalt irgendwelcher Art und verspreche dabei zu verharren, wenn mein Beweis mißlingt, so wahr ich eine gute Katholikin bin, und auf das Ehrenwort einer rechtschaffenen Frau.
Ihre
treue Dienerin,
Virginie Lecount.
Der Schlußsatz enthielt, wie die Haushälterin gar wohl wußte, als sie ihn niederschrieb, die einzige Handhabe, durch welche sie einen tiefen und dauernden Eindruck auf ihn hervorzubringen gewißlich hoffen konnte. Sie hätte ihren Eidschwur, ihr Leben, ihren Ruf zum Pfande der Wahrheit der Behauptung geben können, welche sie eben gethan hatte, und hätte dennoch einen haftenden Eindruck auf seinen Geist zu machen verfehlt. Allein wenn sie nicht allein ihre Stellung in seinem Dienste, sondern auch ihre Geldansprüche an ihn ebenso aufs Spiel setzte, so nahm sie die sein ganzes Leben beherrschende Leidenschaft ausschließlich in Anspruch. Es war kein Zweifel —— in dem stärksten aller seiner Interessen, in dem Interesse, sein Geld zu sparen, mußte er warten.
—— Schach matt für Mr. Bygrave! dachte Mrs. Lecount, als sie den Brief siegelte und die Aufschrift machte. Die Schlacht ist aus, das Spiel vorbei.
Während Mrs. Lecount auf Amsee für ihres Herrn künftige Sicherheit sorgte, schritten die Ereignisse auf Nordsteinvilla ebenfalls vorwärts.
Sobald Hauptmann Wragge sich von seinem Erstaunen über das Erblicken der Haushälterin auf seinem Grund und Boden erholt hatte, stürmte er ins Haus und begab sich, geleitet von seinen eigenen Ahnungen des Mißgeschickes, das sich ereignet, geradewegs in das Zimmer seiner Frau.
Niemals in ihrer ganzen Erinnerung hatte die arme Mrs. Wragge das volle Gewicht des Zornes ihres Hauptmanns so gefühlt als jetzt. Die wenige Kundschaft, welche sie natürlich besaß, verschwand sofort in dem Wirbelwind der Wuth ihres Mannes. Die einzigen deutlichen Thatsachen, welche er aus ihr herausbringen konnte, waren zwei an der Zahl. In erster Linie erwies sich Magdalenens jähes Verlassen ihres Postens als ein ebenso triftiger Grund der Entschuldigung als Magdalenens unverbesserliche Ungeduld: sie war fieberhaft und elend aufgestanden und war unbekümmert um alle Folgen ausgegangen, um ihren heißen Kopf in der frischen Morgenluft zu kühlen. In zweiter Linie hatte Mrs. Wragge nach ihrem eignen Geständniß Mrs. Lecount gesehen, hatte mit Mrs. Lecount gesprochen und hatte schließlich Mrs. Lecount die Geistergeschichte erzählt.
Als Hauptmann Wragge diese Entdeckung gemacht hatte, verlor er keine Zeit damit, seines Weibes Schrecken und Verwirrung zu bekämpfen. Er entfernte sich sogleich an ein Fenster, welches eine freie Aussicht auf Mr. Noël Vanstones Haus gewährte, und dort setzte er sich nieder, um alle Vorfälle auf Amsee zu beobachten, gerade so wie Mrs. Lecount sich früher niedergesetzt hatte, um alle Vorfälle auf Nordsteinvilla zu beobachten.
Nicht ein Wort der Erklärung des Unsterns von heute morgen entschlüpfte ihm, als Magdalene zurückkehrte und ihn auf seinem Posten fand. Seine Sprachseligkeit schien endlich ihre Ebbe erreicht zu haben.
—— Ich sagte Ihnen, was Mrs. Wragge thun würde, sagte er, und Mrs Wragge hat es gethan.
Er saß, ohne zu weichen und zu wanken am Fenster mit einer Ausdauer, in welcher ihn Mrs. Lecount selber nicht hätte übertreffen können. Die einzige thätige Maßregel, welche er zu treffen für gut fand, wurde durch eine dritte Person vollbracht. Er schickte das Dienstmädchen nach dem Gasthofe, um einen Wagen und ein schnelles Pferd zu bestellen und zu hinterlassen, er selber würde noch Vormittags hinkommen und dem Fuhrmann sagen, wann der Wagen gebraucht würde. Nicht ein Zeichen der Ungeduld gab er von sich, bis die Zeit herankam, wo die Frühpost abzufahren pflegte. Dann begannen die gekräuselten Lippen des Hauptmanns ängstlich zu zittern, und seine Finger trommelten in Einem fort unruhig den Teufelszapfenstreich auf der Fensterscheibe.
Die rasselnden Räder ließen sich endlich hören, die Kutsche fuhr bei Villa Amsee vor, und Hauptmann Wragge konnte sich durch den Augenschein überzeugen, daß eine von den Personen, welche diesen Morgen vou Aldborough abreisten, —— Mrs. Lecount war.
Da die Hauptungewißheit erledigt war, blieb noch eine ernste Frage, welche durch die Ereignisse des Morgens nahe gelegt wurde, zu lösen übrig. Welches war das Reiseziel von Mrs. Lecounts Wegfahrt, Zürich oder St. Crux? Daß sie ihren Herrn gewiß von Mrs. Wragges Geistergeschichte unterrichten werde und von jeder andern Enthüllung bezüglich der Namen und Orte, welche vielleicht Mrs. Wragge entschlüpft waren, war außer allem Zweifel. Aber welchen von den beiden ihr offen stehenden Wegen, um das Unglück anzurichten, nämlich entweder den mündlichen oder den schriftlichen, sie eingeschlagen habe, das zu wissen war dem Hauptmann von der äußersten Wichtigkeit. Wenn sie zum Admiral gegangen war, so blieb ihm keine Wahl, als der Kutsche zu folgen, den Zug, mit dem sie reiste, zu erreichen und nachmals ihr aus der Fahrt von dem Haltepunkt in Essex bis nach St. Crux vorauszueilen Wenn sie dagegen sich begnügt hatte, ihrem Herrn bloß zu schreiben, so würde es nur nothwendig sein, Maßregeln zu ersinnen, um den Brief aufzufangen. Der Hauptmann entschloß sich zuvörderst nach der Post zu gehen. Indem er annahm, daß die Haushälterin geschrieben hatte, so hatte sie wohl den Brief nicht dem Dienstmädchen anvertraut, sie hatte ihn gewiß selbst sicher in den Briefkasten gesteckt, ehe sie Aldborough verließ.
—— Guten Morgen, sagte der Hauptmann, indem er freundlich den Postmeister ansprach. Ich bin Mr. Bygrave von Nordsteinvilla. Ich denke, Sie haben einen Brief im Kasten, adressirt an Mr. ——?
Der Postmeister war ein kurz angebundener Mann und folglich ein Mann mit einem eigenthümlichen Bewußtsein seiner Wichtigkeit. Er unterbrach mit feierlicher Miene Hauptmann Wragge mitten in seinem Flusse:
—— Wenn ein Brief einmal zur Post gegeben ist, Sir, sagte er, so hat Niemand außer den Beamten Etwas damit zu schaffen, bis er seine Adresse erreicht.
Der Hauptmann war nicht der Mann, welcher sogar durch einen Postmeister außer Fassung gebracht werden konnte. Ein heller Gedanke durchzuckte ihn. Er nahm sein Taschenbuch heraus, in welchem Admiral Bartrams Adresse aufgeschrieben war und erneuerte seinen Angriff:
—— Wenn nun aber ein Brief irrthümlicherweise falsch aufgegeben worden ist? begann er. Und wenn nun der Schreiber den Irrthum verbessern will, nachdem der Brief bereits in den Kasten gelegt worden?
—— Wenn der Brief einmal aufgegeben ist, Sir, wiederholte der unerschütterliche Ortsbeamte, so bekommt ihn Niemand außer den Beamten unter keinerlei Vorwand in die Hände.
—— Recht gern zugegeben, fuhr der Hauptmann beharrlich fort. Ich will ihn gar nicht in die Hände haben, ich will mich nur erklären. Eine Dame hat einen Brief hier aufgegeben, gerichtet an:
NOËL VANSTONE, Esqre
abzugeben bei
ADMIRAL
BARTRAM
ST. CRUX
in dar Marsch
ESSEX.
—— Sie schrieb in großer Eile und ist nicht ganz ihrer Sache gewiß, ob sie auch darauf den Namen »OSSORY« geschrieben hat. Es ist von der größten Wichtigkeit, daß der Brief unverzüglich bestellt werde. Was kann Sie hindern, dem Postamte die Arbeit zu erleichtern und eine Dame zum Danke zu verpflichten, indem Sie den Namen der Poststation mit Ihrer Hand hinzuzufügen, —— wenn er ausgelassen ist? Ich frage Sie als einen diensteifrigen Beamten, welchen möglichen Einwand können Sie gegen mein Ersuchen vorbringen?
Der Postmeister war genöthigt anzuerkennen, daß sich dagegen Nichts einwenden ließe, vorausgesetzt, daß nur eine nothwendige Zeile zur Adresse hinzugefügt würde, vorausgesetzt ferner, daß Niemand außer ihm selbst den Brief in die Hand bekam, und vorausgesetzt schließlich, daß die kostbare Zeit des Postamts dabei nicht zu sehr in Anspruch genommen würde. Da in diesem Augenblicke gerade nichts Nöthiges zu thun vorläge, so wolle er gern der Dame gefällig sein, wie Mr. Bygrave ihn bäte.
Hauptmann Wragge beobachtete die Hände des Postmeisters, als er die Briefe aus dem Kasten sortierte, mit athemloser Spannung. War der Brief darunter? Würden die Hände des eifrigen öffentlichen Beamten plötzlich stille halten? —— Ja! sie hielten stille und nahmen einen Brief aus den übrigen heraus.
—— NOËL VANSTONE, Esqre sagten Sie? frug der Postmeister und hielt den Brief in der Hand.
—— NOËL VANSTONE, Esqre, antwortete der Hauptmann, abzugeben bei ADMIRAL BARTRAM ST. CRUX in dar Marsch.
—— OSSORY ESSEX, fiel der Postmeister ein, indem er den Brief wieder in den Kasten warf. Die Dame hat keinen Fehler gemacht. Die Adresse ist ganz vollständig.
Nur die von der Zeit gebotene Rücksicht auf den um jeden Preis zu wahrenden Schein der Wohlanständigkeit hinderte Hauptmann Wragge, als er sich wieder auf der Straße befand, in der Freude seines Herzens seinen hohen weißen Hut in die Luft zu werfen. Jeder weitere Zweifel war nun beseitigt. Mrs. Lecount hatte ihrem Herrn geschrieben, folglich war Mrs. Lecount unterwegs nach Zürich!
Das Haupt höher aufgerichtet denn je, die Flügel seines hochanständigen Frackes hinter ihm im Winde flatternd, auf der Stirn seine angeborene Unverschämtheit kecklich zur Schau tragend, stolzierte der Hauptmann nach dem Gasthofe und forderte den Eisenbahnfahrplan. Nachdem er einige Zahlen —— schwarz auf weiß natürlich —— für sich ausgerechnet, befahl er dem Eigenthümer, die Kutsche in einer Stunde bereitzuhalten, dergestalt, daß er damit noch rechtzeitig die Eisenbahn zu dem zweiten nach London abgelassenen Tageszuge erreichte, mit welchem keine Postverbindung von Aldborough aus unterhalten wurde.
Seine nächste Verrichtung war von weit ernsterer Art, sie setzte eine schreckliche Gewißheit des Erfolges voraus. Der Wochentag war gerade Donnerstag. Von dem Gasthofe ging er nach der Kirche, sprach den Küster und machte bei demselben die nöthige Anzeige wegen einer nächsten Montag stattfindenden Trauung mit Dispens. [marriage by licence, Trauung in summarischer, abgekürzter Form, zu welcher es einer besonderen, oberbehördlichen Erlaubniß bedarf. w.]
So kühn er sonst war, so wurden doch seine Nerven bei dieser letzten Handlung ein wenig erschüttert: seine Hand zitterte, als einen Riegel des Gartenthors aufschob. Er kam seinen Nerven mit Brandy und Wasser zu Hilfe, ehe er Magdalene rufen ließ, um sie von den Vornahmen dieses Morgens in Kenntniß zu setzen. Wahrscheinlich war ihrerseits wieder ein Ausbruch zu gewärtigen, sobald sie hörte, daß der letzte unwiderrufliche Schritt geschehen und jene Anzeige wegen des Hochzeitstages gemacht worden war.
Die Uhr mahnte den Hauptmann, keine Zeit zu verlieren beim Leeren seines Glases. In wenigen Minuten schickte er daher die nothwendige Botschaft nach oben. Während er Magdalenens Eintritt erwartete, versah er sich mit einigen Unterlagen, welche jetzt nöthig wurden, der Verschwörung die Krone aufzusetzen. Zuerst schrieb er —— jedoch durchaus nicht in einer so schönen Handschrift als gewöhnlich —— seinen Namen auf eine weiße Visitenkarte und fügte dann folgende Worte darunter hinzu:
Es ist kein Augenblick zu verlieren. Ich warte Ihrer an der Thür, kommen Sie sofort zu mir herunter.
Sein nächstes Beginnen war, ein halbes Dutzend Briefumschläge aus —— einem Kästchen zu nehmen und sie alle an dieselbe Adresse zu richten:
THOMAS BYGRAVE, Esqre
Musard's
Hotel,
SALISBURY-STREET,
Strand,
LONDON
Nachdem er die Umschläge und die Karte sorgfältig in seine Brusttasche gesteckt, schloß er das Pult zu. Als er sich von dem Schreibtische erhob, trat Magdalene ins Zimmer.
Der Hauptmann überlegte einen Augenblick, wie er am Besten die Unterredung beginnen solle, und beschloß dann, dieselbe frischweg, wie er es nannte, zu eröffnen. In wenig Worten erzählte er Magdalenen, was vorgefallen war, und theilte ihr mit, daß Montag ihr Hochzeitstag sein solle.
Er hatte sich darauf vorbereitet, sie zur Ruhe zu sprechen, wenn sie in einen neuen leidenschaftlichen Ausbruch verfiele, ihr abzureden, wenn sie um Aufschub bitten sollte, sie zu bemitleiden, wenn sie in Thränen ausbrach. Zu seinem unaussprechlichen Erstaunen strafte der Erfolg seine Berechnungen Lügen. Sie hörte ihn an, ohne ein Wort zu sagen, ohne eine Thräne zu vergießen. Als er fertig war, sank sie in einen Stuhl. Ihre großen grauen Augen sahen ihn leer an. In einem einzigen geheimnißvollen Augenblicke wich alle ihre Schönheit von ihr: ihr Antlitz wurde schrecklich hart, wie das einer Verstorbenen. Zum ersten Male, so lange Hauptmann Wragge sie kannte, hatte Furcht, allgewaltige Furcht sich ihrer bemächtigt und hielt Leib und Seele gefangen.
—— Sie sind doch nicht wankend geworden? sagte er, indem er versuchte sie wieder aufzurichten. Nicht wahr, Sie sind doch nicht im letzten Augenblicke noch wankend geworden?
Kein Zeichen des Verständnisses ließ sich in ihren Augen lesen, ihr Gesicht blieb Zug für Zug starr dasselbe. Und doch hatte sie ihn gehört; denn sie bewegte sich ein wenig auf dem Stuhle und schüttelte leise das Haupt.
—— Sie nahmen sich diese Heirath aus freiem Willen vor, fuhr der Hauptmann fort mit dem verstohlenen Blick und der unsicheren Stimme eines Mannes, der plötzlich keinen Boden mehr unter den Füßen fühlt. Es war Ihr eigener Gedanke, nicht meiner. Ich möchte die Verantwortung nicht auf meinen Achseln haben, nein! nicht für zweimal zweihundert Pfund. Wenn Ihr Entschluß wankend wird, wenn Sie es für gerathener halten ....
Er hielt inne. Ihr Gesicht wechselte die Farbe, ihre Lippen bewegten sich endlich. Sie erhob langsam ihre linke Hand, die Finger ausgebreitet, sie sah darauf, als ob sie ihr fremd wären, sie zählte daran die Tage ab, die Tage bis zur Hochzeit ....
—— Freitag —— eins, flüsterte sie vor sich hin; Sonnabend —— zwei, Sonntag —— drei, Montag....
Die Hände sanken ihr in den Schooß, ihr Gesicht wurde wieder hart und starr. Noch einmal faßte gräßliche Furcht sie lähmend. an, und die nächsten Worte erstarben ihr im Munde.
Hauptmann Wragge nahm sein Taschentuch heraus und wischte sich die Stirn ab.
—— Der Teufel mag die zweihundert Pfund holen! sagte er für sich. Zweihundert Pfund werden mir nicht diese Qual bezahlen!
Er ging wieder an den Schreibtisch, nahm die Umschläge, welche er an sich selbst überschrieben hatte, aus der Tasche und kehrte an den Stuhl zurück, auf welchem sie saß, diese Umschläge in der Hand.
—— Ermannen Sie sich, sagte er. Ich habe Ihnen ein letztes Wort zu sagen. Können Sie es hören?
Sie kämpfte mit sich und ermannte sich, ein schwacher Anflug von Röthe stieg in ihren Wangen aus, sie nickte mit dem Kopfe.
—— Sehen Sie diese an, fuhr Hauptmann Wragge fort, indem er die Umschläge in die Höhe hielt. Wenn ich diese zu dem Gebrauche anwende, zu dem ich sie beschrieben habe, so wird Mrs. Lecounts Herr den Brief von Mrs. Lecount nimmermehr empfangen. Wenn ich sie zerreiße, so wird er mit der morgenden Post wissen, daß Sie das Weib sind, welches ihn auf der Vauxhallpromenade besucht hat. Sprechen Sie das Wort aus! Soll ich die Umschläge zerreißen, oder soll ich sie wieder in meine Tasche stecken?
Es folgte ein. Pause tiefsten Schweigens. Das Murmeln der Sommerfluth auf den Gesteinen des Ufers, und die Stimmen der Sommergäste auf der Promenade drangen durch das offene Fenster herein und erfüllten die leere Stille des Zimmers.
Sie richtete das Haupt empor, erhob die Hand und zeigte steif und starr nach den Umschlägen hin.
—— Stecken Sie sie ein, sprach sie.
—— Ist das Ihr Ernst? frug er.
—— Mein vollkommener Ernst.
Als sie diese Antwort gab, ließ sich das Geräusch heranrollender Räder auf der Straße draußen vernehmen.
—— Hören Sie diese Räder? sprach Hauptmann Wragge.
—— Ich höre sie.
—— Sehen Sie die Kutsche? sagte der Hauptmann und zeigte durchs Fenster, als die Kutsche, die er vom Gastwirth bestellt hatte, vor dem Gartenthor Vorfuhr.
—— Ich sehe sie.
—— Und aus freiem, eignen Willen sagen Sie mir, ich solle gehen?
—— Ja. Gehen Sie!
Ohne ein Wort weiter verließ er sie. Das Dienstmädchen wartete an der Thür mit seiner Reisetasche.
—— Miss Bygrave ist nicht wohl, sagte er. Sage Deiner Herrin, daß sie zu ihr ins Wohnzimmer gehe.
Er ging und setzte sich in den Gig und fuhr nach der ersten Station der Reise nach St. Crux. ——
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