Namenlos
Drittes Capitel.
Magdalenes erster Blick im leeren Zimmer zeigte ihr den Brief auf dem Tische. Die Aufschrift machte ihr, wie der Arzt es ausgesagt, im demselben Augenblicke, wo sie den Brief sah, Alles kund.
Nicht ein Wort entschlüpfte ihr. Sie saß am Tische, bleich und still mit dem Briefe auf dem Schoße. Zwei Mal versuchte sie ihn zu öffnen, und zwei Mal legte sie ihn wieder weg. Die Vergangenheit kam ihr nicht allein in den Sinn, als sie die Schrift ihrer Schwester sah, die Furcht vor Kirke kam zugleich mit ihr.
—— Mein vergangenes Leben! dachte sie. Was wird er von mir denken, erführe er mein vergangenes Leben?...
Sie machte einen neuen Versuch und erbrach den Brief. Ein anderer Brief fiel ihr aus dem Umschlage entgegen, der auch an sie gerichtet, aber von einer ihr nicht bekannten Handschrift war. Sie legte den zweiten Brief bei Seite und las die Zeilen, welche Nora geschrieben hatte.
Ventor
auf der Insel Wright,
den 24.Aug.
Theuerste Magdalene!
Wenn Du diesen Brief liest, so denke, wir seien nur seit gestern getrennt gewesen, und banne aus Deiner Seele, wie ich es mit der meinigen gemacht habe, die Vergangenheit und , was dazu gehört, hinweg.
Man hat mir auf das Bestimmteste verboten, Dich aufzuregen oder Dich durch einen langen Brief zu ermüden. Habe ich Unrecht, wenn ich Dir sage, daß ich das glücklichste Wesen unter der Sonne bin? Ich hoffe doch nicht; denn ich kann das Geheimnis nicht für mich behalten.
Meine Geliebte, bereite Dich auf die größte Ueberraschung vor, die ich Dir je bereitet habe. Ich bin verheirathet. —— Heute ist es erst eine Woche, seitdem ich meinen alten Namen abgelegt habe, eine Woche, seit ich die glückliche Gattin von Georg Bartram auf St. Crux bin.
es stand anfangs unserer Verheirathung Hindernisse entgegen; einige davon waren meine eigene Schuld. Zum Glück wußte mein Gatte von Anfang, daß ich ihn doch liebte; er gab mir zum zweiten Male Gelegenheit, ihm das zu sagen, nachdem ich schon die erste verloren hatte, und wie Du siehst, war ich das Mal so gescheit, mir sie zu Nutze zu machen. Du solltest eigentlich ganz genau in diese meine Verheirathung eingeweiht werden, denn Du bist die Ursache derselben. Wenn ich nicht nach Aldborough gegangen wäre, um die letzte Spur von Dir zu verfolgen, wenn George nicht zur selben Zeit durch Umstände, die Dich mit betreffen, dorthin geführt worden wäre: so hätten wir, mein Gatte und ich, uns nie begegnet. Wenn wir auf unsere ersten Eindrücke von einander zurückblicken, sehen wir auf Dich zurück.
Ich muß mein Versprechen halten, Dich nicht zu ermüden, ich muß —— recht traurig und gegen meinen Willen —— zum Abschluß eilen. Geduld! —— Geduld! —— Bald werde ich Dich sehen. George und ich kommen nach London, um Dich nach Ventor mit uns heim zu nehmen. Dies ist meines Gatten Einladung sowie die meinige. Glaube ja nicht, Magdalene, daß ich ihn eher zum Manne nahm, als bis ich ihn gelehrt hatte, so von Dir zu denken, wie ich selbst, meine Wünsche, meine Hoffnungen zu theilen. Ich könnte, ach, noch so viel mehr über George sagen, wenn ich meine Gedanken und meiner Feder freien Lauf lassen dürfte. Aber ich muß Miss Garth auf ihren besonderen Wunsch einen offenen Raum lassen, um die letzte Seite dieses Briefes auszufüllen, und ich darf nur ein einziges Wort, Dich zu benachrichtigen, daß ich noch eine Ueberraschung für Dich in Bereitschaft habe, die ich mir Vorbehalte, bis wir persönlich zusammenkommen. Versuche nicht, zu errathen, was es ist.Du könntest ein Menschenalter hindurch rathen und nicht näher kommen, als Du jetzt der Entdeckung der Warheit bist.
Deine
Dich liebende Schwester,
Nora Bartram.
Zusatz von Miss Garth.
Theures Kind!
Wenn ich jemals meine alte zärtliche Erinnerung an Dich verloren hätte, so würde ich dieselbe jetzt wieder in mir fühlen, jetzt, wo ich weiß, daß es Gott gefallen hat, Dich uns in seiner Gnade wieder zu schenken vom Rande des Grabes weg! Ich füge diese Zeilen dem Briefe Deiner Schwester hinzu, weil ich nicht gewiß weiß, ob Du ganz so im Stande bist, wie ich denke, ihren Vorschlag anzunehmen. Sie hat kein Wort über ihren Gatten gesagt, das nicht vollkommen wahr ist. Allein Mr. Bartram ist Dir fremd, und wenn Du glaubst, daß Du leichter und angenehmer unter den Flügeln Deiner alten Lehrerin und Erzieherin Dich erholen kannst, als unter dem Schutze Deines neuen Schwagers, so komm erst zu mir und sei versichert, daß ich Nora schon wegen der Aenderung in ihrem Plane zur Ruhe sprechen werde. Ich habe mir den Verkauf eines kleinen Landsitzes zu Shanklin gesichert, der nahe genug bei Deiner Schwester ist, daß Du dieselbe sehen kannst, so oft Du willst, und weit genug entfernt, wenn Du allein zu sein wünschest. Schicke mir eine einzige Zeile, ehe wir uns treffen, und sage Ja oder Nein, ich schreibe dann sofort nach Shanklin mit der nächsten Post.
Immerdar
Deine herzlich getreue
Harriet Garth.
Der Brief fiel Magdalenen aus der Hand. Gedanken, welche ihr nie in den Sinn gekommen waren, keimten jetzt darinnen auf.
Nora, deren Muth unter unverdienter Trübsal nur von dem Entschlusse der Entsagung eingegeben war, Nora die ruhig ihr hartes Loos hingenommen hatte, die von Anfang bis zuletzt an keine Rache gedacht und sich zu keiner Täuschung herabgelassen hatte: Nora hatte das Ziel erreicht, das alle Schlauheit, alle Entschlossenheit und alle Tollkühnheit ihrer Schwester nicht zu erreichen im Stande gewesen waren. Offen und ehrlich mit Liebe auf der einen und Liebe aus der andern Seite hatte Nora den Mann geheirathet, der das Combe-Raven-Vermögen besaß, und Magdalenens eigener Anschlag, dasselbe wieder zu erlangen, hatte den Weg gebahnt zu dem Ereignisse, das die beiden jetzigen Eheleute zusammen geführt hatte.
Als das Licht der überwältigenden Entdeckung in ihrem Geiste aufging, wurde der alte Kampf erneuert, und das Gute und Böse stritten noch ein Mal in ihr um den Besitz ihrer Seele; aber dies Mal mit verstärkter Macht, mit dem neuen Geiste, der in ihr neues Leben gekommen, mit dem edlern Gefühl, das mit dem Wachsen ihrer Dankbarkeit gegen den Mann gewachsen war, der sie gerettet hatte, auf Seiten ihres guten Engels. Alle höheren Triebe ihrer Natur, die von Anfang bis zuletzt sie nie ungestraft hatten Fehler begehen lassen, welche sie vor und nach ihrer Verheirathung mit Gewissensbissen heimgesucht hatten, wie sie kein ursprünglich herzloses und ursprünglich verderbtes Weib fühlen kann, alle edleren Elemente ihres Charakters gewannen ihre Macht über sie wieder in dem entbrennenden Kampfe und gaben ihr Kraft, ohne Zucken und Murren der Enthüllung, die sich vor ihren Blicken aufthat, ins Auge zu sehen.
Allmählich fiel es ihr im Lichte ihres unsterblichen Lebens wie Schuppen von den Augen, die Wahrheit erhob sich aus der Asche erstorbener Leidenschaften, aus der Gruft begrabener Hoffnungen. Als sie wieder auf den Brief sah, als sie die Worte noch einmal las, welche ihr sagten, daß die Wiedererlangung des verlorenen Vermögens das Werk ihrer Schwester sei, nicht das ihrige, —— hatte sie alle kleinen Bitterkeiten und alle gemeinen Regungen niedergekämpft, konnte sie in ihres geheimsten Herzensgrunde nur sich sagen:
—— Nora hat es verdient!
Der Tag rückte vor. Sie saß in ihre Gedanken versunken und achtete nicht des zweiten Briefes, den sie noch nicht geöffnet hatte, bis Kirke zurück kam.
Er blieb auf dem Treppenvorsprung draußen stehen und frug, indem er die Thür nur ein wenig öffnete, ohne ins Zimmer zu treten, ob sie Etwas brauche, das er ihr senden könne. Sie bat ihn, näher zu treten. Sein Gesicht sprach Müdigkeit und Verstimmung aus, er sah älter denn je aus.
—— Haben Sie den Brief für mich auf den Tisch hergelegt? frug sie.
—— Ja. Ich legte ihn auf des Arztes Geheiß dahin.
—— Der Arzt sagte Ihnen wohl, daß er von meiner Schwester wäre? —— Sie kommt, mich zu besuchen und auch Miss Garth kommt, mich zu besuchen. Sie werden Ihnen besser, als ich es vermag, für alle Ihre Güte gegen mich danken.
—— Ich habe kein Recht auf ihren Dank, anwortete er herb. Was ich gethan habe, that ich für Sie, nicht um ihretwillen.
Er wartete ein wenig und sah sie an. Sein Gesicht würde ihn in diesem Blicke verrathen haben, seine Stimme hätte ihn in den nächsten Worten, die er sprach, verrathen, wenn —— sie nicht schon die Wahrheit errathen gehabt hätte.
—— Wenn Ihre Verwandten und Freunde hierher kommen, fuhr er fort, werden sie Sie wohl mit fortführen an einen bessern Ort, als dieser ist?
—— Sie können mich an keinen Ort mit fortnehmen, sagte sie sanft, von dem ich so denken werde, wie von dem, wo Sie mich fanden. Sie können mich zu keinem theureren Freunde führen, als zu dem, der mir das Leben gerettet hat.
Es trat ein augenblickliches Stillschweigen ein.
—— Wir sind hier sehr froh gewesen. fuhr er fort in leiseren und immer leiseren Tönen. Sie werden mich nicht vergessen, wenn ich Ihnen Lebewohl gesagt habe?
Sie erbleichte, als diese Worte über seine Lippen kamen, verließ plötzlich ihren Stuhl und kniete an dem Tische nieder, daß sie zu ihm hinauf ins Gesicht sehen und ihn nöthigen konnte, in das ihrige zu schauen.
—— Warum reden Sie davon? frug sie. Wir nehmen doch noch nicht Abschied von einander, wenigstens jetzt nicht.
—— Ich dachte . . . . begann er.
—— Nun?
—— Ich dachte, Ihre Verwandten kämen hierher...
Sie unterbrach ihn eifrig.
—— Denken Sie, ich würde mit Jemand fortgehen, sagte sie, sogar mit der liebsten Verwandten auf Erden, die ich habe, und Sie hier lassen, ohne zu wissen und mich darum zu bekümmern, ob ich Sie jemals wieder sähe?
—— Ach, Das können Sie doch nicht von mir denken! rief sie aus, indem ihr heiße Thränen in die Augen traten. Sie denken doch Das gewiß nicht von mir!
—— Nein, sagte er, ich habe nimmer ungerecht oder unwürdig von Ihnen gedacht, kann nimmer so denken.
Ehe er ein Wort hinzusehen konnte, verließ sie den Tisch so plötzlich, wie sie sich demselben genähert hatte, und kehrte zu ihrem Stuhle zurück. Er hatte unbewußterweise in Ausdrücken geantwortet, welche sie an die bittere Nothwendigkeit gemahnten, die noch zu erfüllen war, die Notwendigkeit, ihm die Geschichte ihrer Vergangenheit zu erzählen. Nicht ein Gedanke, ihm diese Geschichte vorzuenthalten, kam ihr in den Sinn.
—— Wird er mich noch lieben, wenn er die Wahrheit weiß, wie er mich jetzt liebt?...
Dies war ihr einziger Gedanke, als sie jetzt unmittelbar und ohne Zagen auf den Gegenstand einzugehen versuchte.
—— Wir wollen meine eigenen Empfindungen ganz bei Seite lassen, sprach sie. Es giebt einen Grund, daß ich nicht von hier fortgehe, bis ich erst die Gewißheit habe, Sie wieder zu sehen. Sie haben einen Anrecht, das stärkste Anrecht —— zu wissen, wie ich hierher kam, was meine Freunde noch nicht wissen, und wie es kam, daß Sie mich so weit herabgesunken fanden.
—— Ich mache kein Anrecht geltend, sagte er hastig. Ich wünsche Nichts zu erfahren, dessen Erzählung Ihnen das Herz schwer macht.
—— Sie haben immer Ihre Pflicht gethan, antwortete sie mit einem matten Lächeln. Lassen Sie mich Sie zum Muster nehmen, wenn ich kann, und sehen, ob ich die meinige erfüllen kann.
—— Ich bin alt genug, um Ihr Vater sein zu können, sagte er mit Bitterkeit. Eine Pflicht ist leichter in meinem, denn in Ihrem Alter gethan.
Er hatte immer sein Alter im Sinne, so daß er glaubte, auch sie dächte stets daran. Sie hatte nie mit einem Gedanken daran gedacht. Die Anspielung, die er aber darauf machte, brachte sie keinen Augenblick von dem Gegenstande ab, von dem sie mit ihm sprach.
—— Sie wissen nicht, wie sehr ich Ihre gute Meinung von mir hoch halte, sprach sie und rang innerlich mit Entschlossenheit, um ihren sinkenden Muth aufrecht zu erhalten. Wie kann ich Ihre Güte verdienen, wie kann ich fühlen, daß ich Ihrer Achtung werth bin, bevor ich Ihnen nicht mein Inneres eröffnet habe? Ach, machen Sie mich nicht noch muthloser in meiner elenden Schwäche! Helfen Sie mir, daß ich Ihnen die Wahrheit sage, zwingen Sie mich, sie zu sagen, um meinetwillen, wenn nicht um Ihretwillen.
Er wurde tief gerührt durch die innige Aufrichtigkeit dieser Bitte.
—— Gut, Sie sollen es erzählen, sprach er; Sie haben Recht, ich Unrecht.
Er wartete ein wenig und dachte nach.
—— Würde es Ihnen leichter fallen, frug er mit einer zarten Schonung für sie, es lieber schriftlich zu thun, als mündlich?
Sie faßte den Vorschlag begierig auf.
—— Weit leichter, erwiderte sie. Ich kann meiner gewiß sein, kann sicher sein, Ihnen Nichts zu verbergen, wenn ich es schreibe.
—— Schreiben Sie mir aber Ihrerseits nicht! fügte sie plötzlich hinzu.
Sie sah mit dem angeborenen weiblichen Scharfblick sofort die Gefahr und das Mißliche vor Augen, das daraus entstehen konnte, wenn sie ganz ihren Einfluß als Weib aus den Händen gab.
—— Warten Sie, bis wir wieder beisammen sind, und sagen Sie mir mündlich, was Sie davon denken.
—— Und wo soll ich es Ihnen sagen?
—— Hier, sagte sie eifrig. Hier, wo Sie mich hilflos fanden, hier, wo Sie mich ins Leben zurück gerufen, hier, wo ich Sie zuerst kennen gelernt habe. Ich kann die härtesten Worte, die Sie mir sagen, ertragen, wenn Sie mir nur dieselben auf dieser Stube sagen. Es ist unmöglich, daß ich länger als einen Monat wegbleiben kann, ein Monat wird hinreichen und mehr als Das. Wenn ich zurückkomme...
Sie hielt verlegen inne.
—— Ich denke an mich selbst, sprach sie, wo ich nur an Sie denken sollte. Sie haben selbst Ihre Beschäftigungen und selber Freunde. Werden Sie sich für uns entscheiden? Werden Sie sagen, wie es werden soll?
—— Es soll so werden, wie Sie es wünschen. Wenn Sie in vier Wochen zurückkommen, werden Sie mich hier finden.
—— Wird es Ihnen kein Opfer in Ihrer Bequemlichkeit und Ihren Plänen kosten?
—— Es wird mir Nichts kosten, als eine Reise zurück in die Hauptstadt, versetzte er.
Er stand auf und nahm seinen Hut.
—— Ich muß jetzt gleich fort; setzte er hinzu sonst komme ich nicht mehr zur rechten Zeit.
—— Haben Sie sich wohin verabredet? sagte sie und hielt ihm ihre Hand entgegen.
Ja, antwortete er ein wenig trübe. Es ist eine Verabredung.
So leise dieser Schatten von Traurigkeit in seiner Art und Weise angedeutet war, so machte ihr Dies doch schon Kummer. Indem sie alle anderen Sorgen über die eine, ihn zu erheitern, vergaß, faßte sie sanft die Hand, welche er ihr gab.
—— Wenn Das ihm die Wahrheit nicht sagen wird, dachte sie, so thut es Nichts.
Es sagte ihm allerdings die Wahrheit nicht; aber es nöthigte ihm eine Frage auf, die er sich vordem noch nicht vorzulegen gewagt hatte.
—— Ist es Dankbarkeit oder Liebe, die so zu mir spricht? frug er sich... Wenn ich nur ein jüngerer Mann wäre, so könnte ich beinahe hoffen, daß es Liebe ist....
Jene furchtbare Abzugssumme, welche ihm zuerst an dem Tage, wo sie ihm ihr Alter sagte, vor die Seele getreten war, fing an ihn aufs Neue zu beunruhigen, als er das Haus verließ. Er zog auf seinem ganzen Wege nach dem Comptoir der Reeder in Cornhill alle Augenblicke bei sich die Zwanzig von der bösen Einundvierzig ab.
Als Magdalene sich wieder allein sah, trat sie an den Tisch, um die Zeile Antwort zu schreiben, um welche Miss Garth sie ersuchte, und dankbar das ihr von dieser Seite gemachte Erbieten anzunehmen.
Der zweite Brief, welchen sie bei Seite gelegt und außer Acht gelassen hatte, war das Erste, was ihr, als sie ihren Platz verließ, in die Augen fiel. Sie erbrach ihn sofort und sah, da sie die Hand nicht kannte, nach der Unterschrift. Zu ihrem unendlichen Erstaunen erwies sich der Brief als von niemand Anderes kommend, denn —— vom alten Mr. Clare!
Der Brief des Philosophen ließ alle gewöhnlichen Formen der Ueberschrift weg und ging ohne Einleitung irgend welcher Art sofort in folgenden unzweideutigen Worten auf die Sache selbst ein.
Ich habe neue Nachrichten für Dich von dem verachtungswürdigen Schurken, meinem Sohn; Hier folgen dieselben in den kürzest möglichsten Worten.
Ich habe Dir immer gesagt, wenn Du Dich erinnern kannst; Frank ein erbärmlicher Kriecher sei. Die allererste Spur, die nach seinem Entweichen aus dem Hause seiner Prinzipale in China wieder von ihm aufgefunden wurde, stellt ihn in diesem Charakter dar. Wohin denkst Du, daß er sich zunächst wandte? Er schleicht sich verborgen hinter ein Paar Mehlfässer aus ein von Hong-Kong nach London heimfahrendes englisches Kauffahrteischiff ein.
Der Name des Schiffes war: »DELIVERANCE«, und der Commandant desselben war ein Capitain Kirke. Anstatt wie ein Mann von Tact zu handeln und Frank über Bord zu werfen, war Capitain Kirke thöricht genug, auf dessen Geschichte zu hören. Der machte alles Mögliche aus seinen Mißgeschicken, Das kannst Du Dir denken. Er sei halb verhungert, er sei ein in einem fremden Lande verlorener Engländer seine einzige Aussicht nach Hause zu kommen, sei gewesen, in den Schutz eines englischen Schiffes zu kriechen, und Das habe er denn auch vor zwei Tagen in Hong-Kong gethan. Das war seine Geschichte. Jeder andere Schlingel an Franks Stelle würde von einem andern Capitain die neunschwänzige Katze bekommen haben. Er, der von Niemand bemitleidet zu werden verdiente, Frank wurde, wie sich bei diesem Burschen von selbst versteht, sogleich gehätschelt und bedauert. Der Capitain faßte ihn bei der Hand, die Mannschaft bemitleidete ihn, und die Reisenden schlugen ihn zusprechend auf die Schulter. Er wurde beköstigt, herausstaffirt und mit dem Reisegeld nach Hause beschenkt. Das ist soweit Glück genug, wirst Du sagen. Nichts der Art, noch nicht Glück genug für meinen erbärmlichen Sohn.
Das Schiff legte am Cap der guten Hoffnung an. Unter den anderen thörichten Handlungen des Capitain Kirke, war auch noch die, daß er dort eine weibliche Reisende an Bord nahm, nicht etwa eine junge Frau, nein, die ältliche Witwe eines reichen Colonisten. Ist es erst nöthig zu sagen, daß dieselbe sofort das innigste Interesse an Frank und seinen Mißgeschicken nahm? Brauche ich Dir erst zu erzählen, was folgte? Schau zurück auf die Laufbahn meines sauberen Sohnes, und Du wirst bemerken, daß allemal Das, was folgte, mit dem vorhergehenden übereinstimmte. Er verdiente nicht die Theilnahme Deines armen Vaters; aber wohl besaß er dieselbe. Er verdiente Deine Neigung nicht; aber er besaß sie doch. Er verdiente nicht die beste Stelle in einem der ersten Comptoirs Londons, er verdiente nicht eine ebenfalls vortreffliche Aussicht in einem der besten Handelshäuser in China, er verdiente nicht Beköstigung, Ausstaffirung und freie Heimfahrt, und er bekam doch Alles. Endlich noch das Beste; er verdiente sogar nicht eine Frau zubekommen, die alt genug war, seine Großmutter zu sein, und doch hat ers auch dazu gebracht! Vor noch nicht fünf Minuten warf ich seine Hochzeitskarten ins Kamin und warf den Brief, der mit ihnen kam, ins Feuer. Die letzte Mittheilung welche dieser Brief enthielt, ist, daß er und seine Frau sich nach einem Hause und einem Gut umsehen, um dasselbe zu pachten. Denk an meine Worte! Frank wird eines der schönsten Güter in England haben, einen Sitz, im Hause der Gemeinen wird als selbstverständlich folgen, und einer von den Gesetzgebern dieses eselgerittenen Landes wird sein —— mein Schlingel.
Wenn Du das tactvolle Mädchen bist, für das ich Dich allerzeit gehalten habe, so hast Du schon längst gelernt, Frank nach seinem wahren Werthe zu schätzen, und die Nachricht, die ich Dir schicke, wird Dich nur noch in Deiner Verachtung für ihn bestärken; Ich wünschte nur, Dein seliger Vater hätte diesen. Tag erlebt! So oft ich auch meinen alten Kameraden vermißt habe, so bitter habe ich seinen Verlust noch nie empfunden, als da wo Franks Hochzeitskarten und Brief in mein Haus kamen. Immerdar Dein Freund, wenn Du einen brauchst.
Francis Clare.
Eine augenblickliche Störung ihrer Ruhe ausgenommen, welche durch das Vorkommen von Kirke’s Namen in Mr. Clare’s sonderbarer Geschichte erfolgte, las Magdalene den Brief ohne Unterbrechung von Anfang bis zu Ende durch. Die Zeit, wo er sie hätte aufregen können, war vorüber, die Schuppen waren ihr längst von den Augen gefallen. Mr. Clare selber würde sich nur gefreut haben, wenn er die ruhige Verachtung auf ihrem Gesichte hätte beobachten können, als sie seinen Brief weglegte. Der einzige ernste Gedanke, den er ihr kostete, betraf Kirke. Die oberflächliche und geringschätzige Art, in welcher er ihr von den Reisenden an Bord seines Schiffes Erwähnung gethan hatte, ohne einen von denselben auch nur mit Namen zu nennen, zeigte ihr, daß Frank Stillschweigen bewahrt haben mußte über das einst zwischen ihnen bestandene Verlöbniß. Das Geständnis dieser entschwundenen Täuschung war also ihr überlassen vor ihm abzulegen in der Geschichte ihrer Vergangenheit, welche sie, wie sie sich gelobt hatte, ohne Rückhalt darlegen wollte.
Sie schrieb an Miss Garth und schickte den Brief sofort zur Post.
Der nächste Morgen brachte eine Zeile zur Antwort. Miss Garth hatte geschrieben, um sich den Landsitz zu Shanklin zu sichern, und Mr. Merrick hatte eingewilligt, daß Magdalene dahin abginge. Nora sollte die Erste sein, die in dem Hause ankäme, und Miss Garth sollte folgen mit einem bequemen Wagen, um die Genesende zur Eisenbahn zu fahren. Jede nöthige Anordnung sei für sie getroffen worden, die Anstrengung der Reise sei die einzige, die sie selber zu machen haben werde.
Magdalene las den Brief mit dankerfülltem Herzen; aber ihre Gedanken schweiften hinweg davon und folgten Kirke auf seiner Rückkehr nach der Hauptstadt. Was war das für ein Geschäft, das ihn am Morgen dorthin geführt hatte? Und warum hatte die zwischen ihnen stattgefundene Verabredung ihn genöthigt, wieder nach der Stadt zu gehen —— zum zweiten Male an einem und demselben Tage?
War es vielleicht ein Geschäft, das sich auf die Schifffahrt bezog? Setzten ihm seine Principale zu, wieder zu Schiffe zu gehen.
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