Namenlos
VII.
George Bartram an Miss Garth.
St. Crux,
den 15. Mai.
Liebe Miss Garth.
Ich muß Sie mit einem weiteren Briefe behelligen, einestheils, um Ihnen für den freundlichen Ausdruck Ihrer Theilnahme gegen mich bei dem Verluste, der mich betroffen hat, zu danken, anderntheils, um Sie von einem auffallenden Ersuchen, das an meines Oheims Testamentsvollstrecker gestellt wurde, in Kenntniß zu setzen, eines Ersuchens, welches Sie und Miss Vanstone vielleicht Beide gleichmäßig anziehen wird, da Mrs. Noël Vanstone damit in unmittelbarem Zusammenhange steht.
Da ich meine Unkenntniß in allen Rechtssachen nur zu wohl selber kenne, so lege ich eine Abschrift des Ersuchens bei, anstatt zu versuchen, dasselbe zu umschreiben. Sie werden es auffallend finden, daß über die Art und Weise, auf welche die beregte Entdeckung von einem der Geheimnisse meines Oheims, von Personen, die ihm ganz fern stehen, gemacht worden ist.
Als die Testamentsvollstrecker mit den Umständen bekannt gemacht wurden, wandten sie sich an mich. Ich konnte ihnen keine sichere Aufklärung geben, denn mein Oheim zog mich in Geschäftssachen nie zu Rathe. Allein ich hielt es für Ehrensache, ihnen zu sagen, daß der Admiral während der letzten sechs Monate seines Lebens gelegentlich Ausdrücke der Ungeduld in meinem Beisein habe fallen lassen, die mich zu der Annahme berechtigten, daß er durch eine geheime Sorge irgend einer Art gequält werde. Ich erwähnte auch, daß er mir eine sehr seltsame Bedingung auferlegt habe, eine Bedingung, welche trotz seiner Versicherungen des Gegentheils nach meiner Ueberzeugung nicht aus seinem Kopfe kam. Ich sollte nämlich in einer gegebenen Frist, die nunmehr abgelaufen ist, heirathen, wenn ich nicht einer gewissen Summe Geldes verlustig gehen wollte, welche, wie ich glaube, dem Betrage nach der ihm in meines Cousins Testament vermachten Summe gleich ist. Die Testamentsvollstrecker waren mit mir eins darüber, daß diese Umstände einer sonst unglaublichen Geschichte einige Wahrscheinlichkeit verliehen, und entschieden sich, daß eine Nachsuchung nach dem Geheimartikel angestellt werden sollte, da bis dahin Nichts, was einem solchen Artikel ähnlich sähe, unter den Papieren meines Oheims aufgefunden worden wäre.
Die Nachforschung, keine Kleinigkeit in einem Hause wie dieses, ist jetzt bereits seit einer Woche im vollsten Gange. Sie wird von beiden Testamentsvollstreckern und dem Sachwalter meines Oheims geleitet, welcher Letztere ebenso persönlich als seinem Berufe nach mit Mr. Loscombe bekannt ist (Mrs. Noël Vanstone’s Advocat), und welcher auf ausdrückliches Ersuchen von Mr. Loscombe selbst zu diesem Geschäft zugezogen worden ist. Bis zu dieser Stunde ist gar noch Nichts aufgefunden worden. Tausende und aber Tausende von Briefen sind durchgesehen worden, und keiner derselben hat die entfernteste Aehnlichkeit mit einem solchen Briefe, wie wir ihn suchen.
Eine Woche noch, dann werden wir mit dem Suchen zu Ende sein. Nur auf mein ausdrückliches Begehren wird überhaupt die Untersuchung so weit ausgedehnt. Allein da die Großmuth des Admirals mich zum alleinigen Erben von seiner ganzen Verlassenschaft gemacht hat, so sehe ich es als meine Schuldigkeit an, den Interessen Anderer, so feindlich sie auch meinen eigenen Interessen sein mögen, vollkommen gerecht zu werden.
Von dieser Ansicht geleitet, habe ich auch nicht gezögert, dem Advocaten eine angeborene Eigenthümlichkeit meines armen Oheims zu offenbaren, welche wir auf sein ausdrückliches Ersuchen allezeit geheim gehalten haben, ich meine seine Anlage zum Nachtwandeln. Ich theilte mit, daß er ungefähr die Woche vor seinem Tode von der Haushälterin und seinem alten Diener nachtwandelnd betroffen worden sei und daß der Theil des Hauses, in dem er gesehen wurde, und der Schlüsselbund, den er in Händen trug, auf die Vermuthung geführt habe, da er damals von einem der Zimmer im östlichen Flügel kam und daß er vielleicht einige Möbel in einem derselben aufgeschlossen habe. Ich überraschte den Advocatem welcher mit den außerordentlichen von Nachtwandlern ausgeführten Handlungen gänzlich unbekannt zu sein schien, durch die Mittheilung, daß mein Oheim sich im Hause zurecht finden konnte, Thüren auf- und zuschloß, Gegenstände aller Art von einem Platze an einen andern legte, ganz ebenso gut im Schlafe, wie im wachenden Zustande. Und ich erklärte, daß, so lange ich bei mir den leisesten Zweifel hegte, ob er in der fraglichen Nacht nicht von dem Geheimartikel geträumt und seinen Traum ausgeführt habe, ich nicht eher ruhen werde, bis die Zimmer im östlichen Flügel wieder durchsucht wären.
Von Rechtswegen muß ich freilich hinzusehen, daß mein Gedanke sich auch nicht auf die kleinste thatsächliche Grundlage stützen kann. Während der letzten Zeit seiner gefährlichen Krankheit war mein armer Oheim gänzlich unfähig, von irgend Etwas zu reden. Von der Zeit meiner Ankunft auf St. Crux in der Mitte des vorigen Monats bis zur Zeit seines Todes kam nicht ein einziges Wort über seine Lippen, das sich in der entferntesten Art und Weise aus den Geheimartikel bezogen hätte.
Hier also steht die Sache im Augenblicke still. Wenn Sie es für gerechtfertigt halten, den Inhalt dieses Briefes Miss Vanstone mitzutheilen, so bitte ich, ihr zu sagen, daß es meine Schuld nicht sein werde, wenn ihrer Schwester Behauptung, so, gewagt dieselbe auch den Testamentsvollstreckern meines Oheims erscheinen möge, nicht in bester Form geprüft worden.
Genehmigen Sie, verehrte Miss Garth, .die Versicherung meiner unwandelbaren Ergebenheit als
Ihr gehorsamer .
George Bartram.
NS. Sobald alle Geschäftsangelegenheiten aufs Reine gebracht sein werden, gehe ich auf einige Monate außer Landes, um den Trost einer Ortsveränderung zu versuchen. Das Haus wird zugeschlossen und der Sorge von Mrs. Drake anvertraut werden. Ich habe nicht vergessen, daß Sie mir früher sagten, daß Sie gern einmal St. Crux sehen möchten, wenn Sie Sich in der Nähe davon befanden. Wenn Sie einmal in Essex sind in der Zeit, wo ich in der Ferne bin, so habe ich Anstalten getroffen, daß Sie gute Aufnahme finden sollen, indem ich Mrs. Drake angewiesen habe, Ihnen und Ihren Freunden mein Haus und meinen Hof ganz und gar zu Ihrer Verfügung zu stellen.
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