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Der Mondstein



Zweite Periode:

Die Entdeckung der Wahrheit

in verschiedenen Erzählungen.
1848 - 1849

Erste Erzählung.

Von Miß Clack, Nichte des verstorbenen Sir John Verinder.

Erstes Capitel.

Ich bin meinen lieben Eltern, die beide jetzt im Himmel sind, Zu Dank dafür verpflichtet, daß sie mich schon in frühester Jugend an Ordnung und Pünktlichkeit gewöhnt haben.

In jenen vergangenen glücklichen Tagen wurde mir gelehrt, mein Haar bei Tag und Nacht in Ordnung zu halten und jedes Kleidungsstück sorgfältig zusammen immer auf dieselbe Weise, auf denselben Stuhl, an dieselbe Stelle am Fuße des Bettes zu legen, ehe ich schlafen ging. Dem Zusammenlegen ging ebenso regelmäßig das Eintragen der Tagesereignisse in mein kleines Tagebuch voran. Auf das Zusammenlegen folgte eben so unabänderlich das Abendgebet, sobald ich mich in’s Bett gelegt hatte.

In meinem spätern Leben folgten auf dieses Gebet, ach! oft trübe Gedanken und an die Stelle des süßen Schlafs trat der unterbrochene Schlummer, wie er das Sorgenkissen des Unglücklichen heimsucht. Aber die Gewohnheit, meine Kleider zusammenzulegen und mein Tagebuch zu führen, behielt ich bei. Die erstere Gewohnheit verknüpft mich noch mit meiner glücklichen Jugend, der Zeit vor dem Ruin meines Vaters. Die letztere Gewohnheit —— die mir hauptsächlich dazu behilflich gewesen, war, die sündige Natur, die wir Alle von Adam geerbt haben, im Zaume zu halten —— hat sich ganz unerwarteter Weise als in ganz anderer Art für meine bescheidenen Interessen wichtig erwiesen. Sie hat mein armes Ich in den Stand gesetzt, den Launen eines reichen Mitgliedes unserer Familie zu stöhnen. Ich bin so glücklich, mich Herrn Franklin Blake im irdischen Sinne des Worts nützlich machen zu können.

Seit längerer Zeit war ich ausser aller Verbindung mit dem von Glück begünstigten Zweig der Familie gewesen. Wenn wir allein in der Welt dastehen und arm sind, werden wir nicht selten vergessen. Ich lebe jetzt aus Gründen der Oekonomie in einer kleinen Stadt der Bretagne, die von einem ausgewählten Kreise ernster Freunde bewohnt wird und die Vortheile eines protestantischen Geistlichen und eines billigen Marktes bietet.

In dieser Zurückgezogenheit, einem Patmos inmitten des wüthenden Oceans der Papisterei, die uns umgiebt, ist endlich ein Brief aus England an mich gelangt. Herr Franklin Blake erinnert sich plötzlich meines unbedeutenden Daseins. Mein reicher Verwandter, —— könnte ich ihn doch auch meinen Verwandten in Christo nennen! —— schreibt mir, ohne es auch nur im Mindesten zu verbergen, daß er etwas von mir will. Er ist aus den Einfall gekommen, die traurige und scandalöse Mondsteingeschichte wieder aufzurühren und ich soll ihm dabei durch einen schriftlichen Bericht über Das behilflich sein, was ich selbst während meines Besuchs in Tante Verinders Haus in London erlebt habe. Mit dem den Reichen eigenen Mangel an Zartgefühl bietet er mir dafür Bezahlung an. Ich soll Wunden wieder aufreißen, die die Zeit kaum geheilt hat; ich soll die schmerzlichsten Erinnerungen wieder auffrischen. und soll mich dafür durch eine neue schmerzliche Berührung, in Gestalt von Herrn Blake’s Anweisung, belohnen lassen. Meine Natur ist schwach. Es kostete mich einen harten Kampf, bevor die christliche Demuth den sündigen Stolz überwand und bis mich Selbstverleugnung die Anweisung annehmen ließ.

Ich zweifle, ob ich ohne mein Tagebuch, —— um die Sache mit gütiger Erlaubniß des Lesers ohne Umschweife beim rechten Namen zu nennen, —— mein Geld hätte ehrlich verdienen können. Mit ihrem Tagebuch in der Hand ist aber die arme Arbeiterin, welche Herrn Blake sein kränkendes Benehmen verzeiht, ihres Lohnes werth. Nichts habe ich mir in jener Zeit, wo ich bei der lieben Tante zum Besuch war, entgehen lassen. Alles wurde, Dank meiner frühen Gewöhnung, Tag für Tag eingetragen, wie es sich zutrug und Alles bis auf die kleinste Einzelheit soll hier wieder erzählt werden. Meine heilige Achtung vor der Wahrheit steht mir, dem Herrn sei Dank dafür! viel höher als jede Rücksicht auf Menschen. Es wird Herrn Blake leicht sein, solche Stellen in den folgenden Blättern zu unterdrücken, welche für die Hauptperson in denselben etwa nicht schmeichelhaft genug erscheinen möchten. Er hat meine Zeit von mir gekauft, aber selbst mit seinem Reichthum kann er mir mein Gewissen nicht abkaufen.[Anmerkung von Franklin Blake. Miß Clack kann sich über diesen Punkt vollkommen beruhigen.In ihrem Manuscript so wenig wie in irgend einem andern Manuscripte, die in meine Hände gelangen, soll irgend etwas hinzugefügt, verändert oder entfernt werden. Gleichviel was für Ansichten der eine oder andere der Schreibenden aussprechen mag, was für Eigenthümlichkeiten der Behandlung des Stoffs die Erzählungen, welche ich jetzt sammle, charakterisiren und im literarischen Sinn vielleicht entstellen mögen, nirgends wird auch nur eine einzige Zeile verändert oder weggelassen werden. Als echte Documente gehen sie mir zu und als echte Documente werde ich sie, mit der Beglaubigung von Leuten versehen, welche die Wahrheit der Thatsachen bezeugen können, aufbewahren. Es bleibt mir nur noch hinzuzufügen, daß die »Hauptperson« in Miß Clack’s Erzählung im gegenwärtigen Augenblick so glücklich ist, nicht nur den beißendsten Ergüssen von Miß Clacks Feder Trotz bieten, sondern sogar den unbestreitbaren Werth dieser Ergüsse für die Erkenntniß von Miß Clacks Charakter anerkennen zu können.]

Mein Tagebuch belehrt mich, daß ich am Montag, den 3. Juli 1848, zufällig an Tante Verinder’s Haus in Montague-Square vorüberging.

Da ich die Laden offen und die Jalousien aufgezogen sah, hielt ich es für eine passende Höflichkeit, hineinzugehen und mich nach den Damen zu erkundigen. Die Person, welche mir die Thür öffnete, benachrichtigte mich, daß meine Tante und ihre Tochter —— ich kann sie wirklich nicht meine Cousine nennen —— vor einer Woche vom Lande hereingekommen seien und einige Zeit in London zu bleiben beabsichtigten. Ich schickte sofort hinaus und ließ sagen, ich wolle nicht stören und mich nur erkundigen, ob ich mich den Damen in irgend einer Weise nützlich machen könne. Die Person, welche mir die Thür geöffnet hatte, nahm meine Bestellung mit einem impertinenten Schweigen entgegen und ließ mich in der Halle stehen. Sie ist die Tochter eines alten Heiden, Namens Betteredge, der sehr lange —— zu lange —— in der Familie meiner Tante geduldet worden ist. Ich setzte mich in der Halle nieder, um die Antwort auf meine Bestellung zu erwarten, und da ich immer ein Paar Tractätchen in meiner Handtasche bei mir führe, so nahm ich eins heraus, das sich in einer ganz providentiellen Weise als auf die Person, welche mir die Thür geöffnet hatte, anwendbar erwies. Die Halle war schmutzig und der Stuhl hart; aber das beseligende Bewußtsein, Böses mit Gutem zu vergelten, erhob mich weit über alle geringfügigen Beobachtungen dieser Art. Das Tractätchen gehörte zu einer Serie, die sich auf die Sündhaftigkeit der Kleidung bei jungen Frauenzimmern bezog. Es war im Style frommer Vertraulichkeit geschrieben. Sein Titel war: »Ein Wort an Euch über Eure Mützenbänder.«

»Mylady läßt Ihnen bestens. danken und bittet Sie, sie morgen um 2 Uhr zum Frühstück zu besuchen.«

Ich nahm keine Notiz von der Art, wie sie ihre Bestellung ausrichtete, und von der schrecklichen Frechheit ihres Blickes. Ich dankte der verworfenen jungen Person und sagte zu ihr im Tone christlichen Antheils: »Wollen Sie mir die Freude machen, ein Tractätchen von mir anzunehmen?«

Sie warf einen Blick auf den Titel und fragte dann: »Hat es ein Mann oder eine Frau geschrieben? Wenn es von einer Frau geschrieben ist, so möchte ich es deshalb lieber nicht lesen. Wenn es aber von einem Mann geschrieben ist, so möchte ich Sie bitten, ihm zu sagen, daß er nichts davon versteht.« Sie gab mir das Tractätchen wieder und öffnete mir die Thür Wir müssen die gute Saat ausstreuen, wie wir können. Ich wartete, bis die Thür hinter mir geschlossen war und ließ dann das Tractätchen in den Briefkasten gleiten. Als ich dann ein zweites Tractätchen über das Kellergeländer geworfen hatte, fühlte ich mich von einer schweren Verantwortlichkeit gegen meine Mitmenschen in etwas erleichtert.

Wir hatten an jenem Abend eine Versammlung des Comittes der Gesellschaft der Mütter zur Umwandlung von Hosen.

Der Zweck dieses vortrefflichen mildthätigen Unternehmens ist, wie alle ernsten Menschenfreunde wissen, die unausgelösten Hosen von Vätern vom Pfandleiher wiederzuerlangen und ihre Wiederversetzung von Seiten des unverbesserlichen Vaters dadurch zu verhindern, daß man sie auf der Stelle zu Kleidungsstücken für das unschuldige Kind zerschneidet.

Ich war um jene Zeit Mitglied dieses Comités und ich thue der Gesellschaft hier Erwähnung, weil mein bewunderungswürdiger und vorzüglicher Freund, Herr Godfrey Ablewhite, sich bei diesem Unternehmen sittlicher und materieller Nützlichkeit betheiligt hat. Ich hatte gehofft, ihn an jenem Montag-Abend, von dem ich eben berichte, im Sitzungszimmer zu sehen und hatte mir vorgenommen, ihm, wenn ich ihn träfe, die Ankunft meiner lieben Tante Verinder in London zu berichten.

Zu meiner sehr unangenehmen Enttäuschung erschien er aber nicht, Als ich meiner Ueberraschung über seine Abwesenheit Ausdruck gab, blickten meine Schwestern im Comité alle zugleich von ihren Hosen auf, —— wir hatten an jenem Abend ungemein viel zu thun, —— und fragten höchst erstaunt, ob ich die große Neuigkeit noch nicht vernommen habe. Ich bekannte meine völlige Unwissenheit und erfuhr dann zum ersten Mal von einem Ereigniß, welches gewissermaßen den Ausgangspunkt dieser Erzählung bildet.

Am verwichenen Freitag waren zwei Herren, welche sehr verschiedene Stellungen in der Gesellschaft einnahmen, der Gegenstand einer Insulte geworden, welche ganz London in Aufregung versetzt hatte. Einer dieser Herren war Herr Septimus Luker von Lambeth, der andere war Herr Godfrey Ablewhite.

In meiner jetzigen Zurückgezogenheit ist es mir nicht möglich, mir den Zeitungsbericht über jene Insulte zu verschaffen und denselben in meine Erzählung aufzunehmen. Auch entging mir damals der unschätzbare Vortheil, die Ereignisse aus dem beredten Munde des Herrn Godfrey Ablewhite zu vernehmen. Alles, was ich daher thun kann, ist, die Ereignisse anzugeben, wie sie mir mitgetheilt wurden, indem ich dabei das Verfahren beobachten werde, an das ich beim Zusammenlegen meiner Kleider von Jugend aus gewöhnt worden bin. Jedes Ding soll klar und deutlich dargestellt und an die rechte Stelle gesetzt werden. Diese Zeilen werden von einem schwachen Weibe geschrieben. Wer wird so unbillig sein, von einem armen schwachen Weibe mehr zu verlangen?

Das Datum —— kein Wörterbuch der Welt kann, Dank sei eS meinen lieben Eltern genauer sein, als ich es in Betreff der Daten bin —— war Freitag den 30. Juni 1848.

Früh am Morgen jenes denkwürdigen Tages war unser reichbegabter Herr Godfrey damit beschäftigt, eine Anweisung bei einem Bankier in Lombardstreet einzukassiren. Der Name der Firma ist in meinem Tagebuch zufällig durch einen Tintenfleck unleserlich geworden und meine heilige Achtung vor der Wahrheit verbietet mir, in einer solchen Angelegenheit eine Vermuthung zu wagen. Glücklicherweise kommt es auf den Namen der Firma nicht an. Worauf es vielmehr ankommt, ist ein Umstand, der sich zutrug, als Herr Godfrey sein Geschäft besorgt hatte. An der Ausgangsthür traf er mit einem ihm vollkommen fremden Herrn zusammen, der zufälligerweise das Bureau genau in demselben Augenblicke, wie er, verließ, Zwischen den beiden Herren entspann sich ein augenblicklicher Höflichkeitsstreit über den Vortritt beim Ausgang aus der Bank. Der Fremde bestand darauf, daß er Godfrey vorangehe; Herr Godfrey sagte einige höfliche Worte; sie vereinigten sich gegen einander und trennten sich vor dem Hause.

Gedankenlose und oberflächliche Menschen werden vielleicht sagen: Da ist ein ganz lumpiger und kleiner Vorfall mit einer albernen Umständlichkeit erzählt! O, meine jungen Freunde und Mitsünder! Hütet der Anmaßung, Euch Eurer armseligen fleischlichen Vernunft zu bedienen. Befleißigt Euch der höchsten sittlichen Accuratesse! Laßt Euren Glauben sein wie Eure Strümpfe und Eure Strümpfe wie Euren Glauben! Beide immer fleckenlos, beide immer so bei der Hand, daß Ihr sie in jedem Augenblick anziehen könnt!

Ich bitte tausendmal um Verzeihung. Ich bin unmerklich in meinen Sonntagsschulen-Styl verfallen, der doch für einen Bericht wie dieser höchst unpassend ist. Ich will versuchen mich weltlich auszudrücken und sagen, daß in diesem wie in vielen anderen Fällen die geringfügigsten Kleinigkeiten die schrecklichsten Folgen nach sich ziehen können. Ich will nur noch bemerken, daß der höfliche Fremde Herr Luker von Lambeth war und dann mit dem Leser Herrn Godfrey nach seiner Wohnung in Kilburn begleiten.

Wir finden dort in der Halle einen ärmlich gekleideten, aber zart und interessant aussehenden kleinen Jungen auf ihn warten. Der Junge überreichte ihm einen Brief, und bemerkte dabei nur, daß ihm derselbe von einer alten Dame, die er nicht kenne und die ihm nicht ausgetragen habe, auf Antwort zu warten, zur Besorgung übergeben worden sei. Derartige Vorkommnisse wie diese waren nichts Ungewöhnliches in Herrn Godfrey’s Praxis als Beförderer öffentlicher Mildthätigkeits-Unternehmungen. Er hieß den Knaben gehen und öffnete den Brief. Die Handschrift war ihm völlig unbekannt. Er wurde darin ersucht, sich in seiner Stunde in einem Hause in Northumberlandstreet am Strand, das er nie zuvor betreten hatte, einzustellen. Der Zweck dieses Besuchs war, von dem würdigen Verwalter gewisse Details über die Gesellschaft für Mütter zur Umwandlung von Hosen zu erhalten, und diese Auskunft wurde von einer ältlichen Dame erbeten, welche sich zu einem bedeutenden Zuschuß zu den Mitteln der Gesellschaft bereit erklärte, falls sie auf ihre Fragen eine befriedigende Antwort erhalten werde. Sie nannte ihren Namen und fügte hinzu, daß die Kürze ihres Aufenthaltes in London sie verhindere, dem ausgezeichneten Philantropen, an den sie sich wende, mehr Zeit zu widmen.

Gewöhnliche Menschen würden vielleicht Anstand genommen haben, ihre eigenen Geschäfte aus Gefälligkeit für einen Fremden hintanzusetzen. Der wahre Christ aber denkt nie an seine eigenen Interessen, wo es gilt Gutes zu thun. Herr Godfrey ging auf der Stelle wieder fort und begab sich nach dem Hause in Northumberlandstreet. Ein höchst respectabel aussehenden etwas korpulenter Mann öffnete die Thür und führte Herrn Godfrey, sobald dieser seinen Namen genannt hatte, sofort in ein nach hinten gelegenes leeres Zimmer zu ebener Erde. Beim Eintritt in das Zimmer bemerkte er zwei ungewöhnliche Dinge. Das eine war ein schwacher Geruch von Moschus und Campher, das andere ein altes orientalisches, reich mit indischen Figuren und Emblemen verziertes Manuscript, welches auf einem Tische offen da lag.

Er betrachtete das Buch, dessen Lage ihn veranlaßte, den geschlossenen Flügelthüren, welche in das Vorderzimmer führten, den Rücken zu kehren, als er sich plötzlich, ohne daß ihn das leiseste Geräusch vorher hätte aufmerksam machen können, von hinten an der Gurgel gepackt fühlte. Er hatte noch eben Zeit zu bemerken, daß der Arm an seinem Hals nackt und von gelblich brauner Farbe sei, ehe ihm die Augen verbunden, der Mund geknebelt und er, wie ihm vorkam, von zwei widerstandslos auf den Boden geworfen wurde. Ein Dritter leerte seine Taschen, und durchsuchte ihn —— wenn ich mir als Dame diesen Ausdruck erlauben darf —— ohne Umstände durch und durch bis auf die Haut. Hier würde ich mit großem Vergnügen einige tröstende Worte über das fromme Gottvertrauen sagen, welches allein Herrn Godfrey in einer so schrecklichen Lage aufrecht erhalten konnte. Aber vielleicht überschreiten die Lage und das Aussehen meines bewundernswürdigen Freundes auf dem vorhin beschriebenen Gipfelpunkt der ihm angethanen Insulten die Grenzen der Besprechung durch eine weibliche Feder. Ich übergehe daher die nächsten Augenblicke und kehre zu Herrn Godfrey in dem Moment zurück, wo die abscheuliche Durchsuchung seiner Person beendigt war. Die schmachvolle Behandlung war von Anfang bis zu Ende im tiefsten Schweigen vor genommen worden. Als dieselbe vorüber war, wechselten die unsichtbaren Spitzbuben einige Worte mit einander, in einer Herrn Godfrey unverständlichen Sprache, aber in Tönen, welche für sein gebildetes Ohr Enttäuschung und Wuth deutlich genug erkennen ließen. Plötzlich wurde er vom Boden aufgehoben, auf einen Stuhl gesetzt und hier an Händen und Füßen gebunden. Im nächsten Moment fühlte er einen durch eine geöffnete Thür eindringenden Luftstrom, horchte auf und hielt sich fest überzeugt, daß er wieder allein im Zimmer sei.

Nach einer Pause vernahm er unter sich einen dem Rauschen eines Frauenkleides ähnlichen Ton. Der Ton näherte sich von der Treppe her und hielt an. Ein weiblicher Schrei durchdrang die verbrecherische Atmosphäre. Eine männliche Stimme rief von unten »Halloh!« Ein männlicher Fuß stieg die Treppe herauf. Herr Godfrey fühlte, daß christliche Hände ihm das Tuch von den Augen und den Knebel aus dem Munde nahmen. Er sah mit überraschtem Staunen zwei respectable Fremde vor sich und brachte mit schwacher Stimme die Worte heraus: »Was soll das heißen?« Die beiden respectablen Fremde, sahen ihn wieder an und sagten: »Genau dieselbe Frage waren wir im Begriff an Sie zu richten.«

Die unvermeidliche Erklärung folgte. Nein, ich will mit der scrupulösesten Genauigkeit zu Werke gehen. Flüchtiges Salz und Wasser folgten zunächst, um die Nerven des guten Herrn Godfrey zu beschwichtigen. Dann kam die Erklärung.

Es ergab sich aus der Mittheilung des Hauswirths und der Hauswirthin, welche beide in der Nachbarschaft eines sehr guten Rufs genossen, daß ihre erste und zweite Etage vor einigen Tagen von einem sehr respectabel aussehenden Herrn —— demselben, von welchem bereits erwähnt wurde, daß er Herrn Godfrey die Thür geöffnet habe —— für eine Woche fest gemiethet worden sei. Der Herr hatte die Wochenmiethe und alle Extras unter der Angabe im Voraus bezahlt, daß er die Zimmer für drei orientalische Edelleute, seine Freunde, welche England zum ersten Male besuchten, miethe. Früh am Morgen des Tages, von dem ich erzähle, hatten zwei der orientalischen Edelleute in Begleitung ihres respectabeln englischen Freundes von dem Logis Besitz genommen. Der Dritte werde ihnen, wie sie sagten, in Kurzem folgen, und das als sehr umfänglich geschilderte Gepäck werde, wie sie weiter berichteten, spät am Nachmittage, nachdem es das Zollhaus passirt habe, eintreffen. Nicht länger als zehn Minuten, bevor Herr Godfrey in’s Haus gekommen, war der dritte Fremde eingetroffen. Nichts Ungewöhnliches hatte sich, so weit es der Hauswirth und die Hauswirthin in ihrer im Keller befindlichen Wohnung wahrgenommen hatten, ereignet, bis sie vor etwa fünf Minuten die drei Fremden in Begleitung ihres respectabeln englischen Freundes allzusammen das Haus verlassen und ruhig in der Richtung des Strand weggehen gesehen hatten. Der Hauswirthin, die sich erinnerte, daß ein Herr zum Besuch gekommen sei, diesen Herrn aber nicht hatte fortgehen sehen, war es sonderbar vorgekommen, daß dieser Herr oben allein gelassen sei. Nach einer kurzen Ueberlegung mit ihrem Mann hatte sie es für räthlich gehalten, sich zu überzeugen, ob vielleicht etwas nicht in Ordnung sei. Das Ergebniß dieses Entschlusses war, wie ich bereits zu schildern versucht habe, und damit war die Erklärung des Hauswirths und der Hauswirthin zu Ende.

Demgemäß wurde eine Nachforschung im Zimmer angestellt. Die Sachen des guten Herrn Godfrey wurden nach allen Richtungen hin zerstreut gefunden. Als dieselben jedoch wieder aufgelesen waren, fand es sich, daß nichts fehlte. Seine Uhr, seine Kette, seine Börse, seine Schlüssel, sein Schnupftuch, sein Notizbuch und alle seine losen Zettel, alles war genau untersucht worden, dann aber unversehrt liegen gelassen, so daß der Eigenthümer es wieder zu sich nehmen konnte. Ebenso war auch nicht das kleinste den Hausbesitzern gehörende Stück aus dem Zimmer entfernt worden. Die orientalischen Edelleute hatten nur ihr eigenes buntgemaltes Manuscript mitgenommen; weiter nichts.

Was sollte das heißen? Indem ich die Sache von einem weltlichen Standpunkt aus betrachtete, schien es mir, daß Herr Godfrey das Opfer eines unbegreiflichen, von unbekannten Leuten begangenen Irrthums gewesen. Eine dunkle Verschwörung war in unserer Mitte angezettelt und unser theurer unschuldiger Freund war in die Netze derselben verstrickt worden. Wenn der christliche Held von Hundert mildthätiger Siege in eine ihm irrthümlich gestellte Falle geht, welche Warnung liegt für uns Uebrige darin, unaufhörlich auf unserer Hut zu sein! Wie leicht können sich unsere eigenen schlechten Leidenschaften als orientalische Edelleute erweisen, welche uns unversehens überfallen!

Ich könnte Bogen voll christlicher Warnungen über dieses eine Thema schreiben, aber ach! es ist mir ja leider nicht erlaubt, hier an der Besserung meiner Mitmenschen zu arbeiten; ich darf nur erzählen. Die Anweisung meines reichen Verwandten, welche jetzt wie ein Alp auf mir lastet, mahnt mich, daß ich mit meinem Bericht über jene Gewaltthätigkeit noch nicht zu Ende bin. Wir müssen Herrn Godfrey sich in Northumberland Street erholen lassen und müssen sehen, was Herr Luker zu einer späteren Tagesstunde vornahm.

Nachdem er die Bank verlassen, hatte Herr Luker verschiedene Londoner Quartiere in Geschäftsangelegenheiten aufgesucht. In seine Wohnung zurückgekehrt, fand er einen Brief vor, der, wie man ihm sagte, kurz vorher von einem Knaben überbracht worden war. Die Handschrift des Briefes war gerade wie die auf Herrn Godfrey’s Brief, sonderbar, aber der darin erwähnte Name war der eines von Herrn Luker’s Kunden. Der Schreiber meldete in der dritten Person, anscheinend einem andern dictirend, daß er unerwarteter Weise nach London beschieden worden sei. Er habe soeben in einem Logis in Alfred-Place, Tottenham Court-Road, Quartier genommen und wünsche Herrn Luker sofort in Betreff eines Kaufs zu sprechen, den er zu machen im Begriff stehe. Der Schreiber war ein enthusiastischer Sammler orientalischer Alterthümer und seit langen Jahren ein liberaler Beschützer der Handlung des Herrn Luker. O! wann werden wir uns von der Anbetung des Mammons entwöhnen! Herr Luker ließ sich einen Fiaker kommen und fuhr auf der Stelle zu seinem liberalen Beschützer.

Genau dasselbe, was Herrn Godfrey in Northumberland Street begegnet war, begegnete nun Herrn Luker in Alfred Place. Auch hier öffnete der respectable Mann die Hausthür und führte den Besucher in das nach hinten gelegene Wohnzimmer. Auch hier lag das buntgemalte Manuskript auf dem Tisch. Herrn Luker’s Aufmerksamkeit wurde wie Herrn Godfrey’s Aufmerksamkeit durch dieses schöne Werk indischer Kunst ganz absorbirt. Auch er wurde aus seiner Betrachtung, durch einen braunen nackten Arm, der ihn an der Kehle packte, durch eine Binde über seine Augen und durch einen Knebel in seinem Munde aufgeschreckt. Auch er wurde zu Boden geworfen und bis auf die Haut durchsucht. Hier war dann eine längere Pause als in Herrn Godfrey’s Fall eingetreten, aber sie hatte ebenso damit geendet, daß den Leuten im Hause etwas nicht in Ordnung zu sein schien und daß sie die Treppe hinaufkamen, um zu sehen, was vorgefallen sei. Genau dieselbe Erklärung, welche der Hauswirth in Northumberland Street Herrn Godfrey gegeben hatte, gab jetzt der Hauswirth in Alfred Place Herrn Luker. Beiden hatte die plausible Adresse und die wohlgefüllte Börse des respectabeln Fremden, der sich bei ihnen, als von seinen ausländischen Freunden beauftragt, eingeführt hatte, imponirt. Der einzige bemerkenswerthe Unterschied der beiden Fälle zeigte sich, als der verstreute Inhalt von Herrn Luker’s Taschen vom Boden aufgelesen war. Seine Uhr und seine Börse waren unversehrt, aber —— darin weniger glücklich als Herr Godfrey —— hatte man ihm eins der losen Notizblätter, die er bei sich trug, weggenommen. Das fragliche Papier war der Empfangschein über einen sehr kostbaren Gegenstand, welchen Herr Luker gerade an jenem Tage seinen Bankiers übergeben hatte. Dieses Document war zu betrügerischen Zwecken nicht verwendbar, insofern es ausdrücklich besagte, daß der kostbare Gegenstand nur auf persönliches Anhalten des Eigenthümers wieder ausgeliefert werden solle. Sobald Herr Luker sich erholt hatte, eilte er, in Voraussicht der Möglichkeit auf die Bank, daß die Diebe, welche ihn beraubt hatten, sich in dummer Weise mit dem Empfangschein bei der Bank melden möchten. In der Bank aber hatten sie sich, als Herr Luker dort eintraf, nicht blicken lassen und ließen sie sich auch später nicht blicken. Nach der Ansicht des Bankiers würde wohl ihr respectabler Freund, bevor sie davon Gebrauch zu machen versucht hatten, die Quittung genauer angesehen und sie noch zu rechter Zeit gewarnt haben. Von beiden Ueberfällen wurde die Polizei in Kenntniß gesetzt und die nöthigen Nachforschungen wurden, glaube ich, mit großer Energie ins Werk gesetzt. Die Behörden waren der Meinung, daß ein Raub auf ungenügende Kunde der Diebe hin beabsichtigt gewesen sei. Sie seien offenbar nicht sicher gewesen, ob Herr Luker die Uebergabe seines kostbaren Edelsteins einer andern Person anvertraut habe oder nicht, und der arme höfliche Herr Godfrey habe dafür büßen müssen, daß man ihn zufällig mit jenem sprechen gesehen habe. Dazu kam, daß Herrn Godfrey’s Abwesenheit von unserer Montag-Abend-Versammlung durch eine Berathung der Behörden veranlaßt war, der beizuwohnen man ihn ersucht hatte. Nachdem ich nun alle erforderlichen Erklärungen gegeben habe, darf ich wohl mit der einfachen Geschichte meiner eigenen Erlebnisse fortfahren.

Ich stellte mich am Dienstag pünktlich zur Frühstücksstunde bei Lady Verinder ein. Beim Nachschlagen in meinem Tagebuche finde ich, daß dies ein bewegter Tag war, der Vieles brachte, was zu frommem Bedauern, aber auch Vieles, was zu frommem Danke Veranlassung gab.

Tante Verinder empfing mich mit ihrer gewöhnlichen liebenswürdigen Freundlichkeit, aber sehr bald bemerkte ich, daß hier etwas nicht in Ordnung sei. Gewisse ängstliche Blicke entschlüpften meiner Tante, die alle auf ihre Tochter gerichtet waren. Ich selbst sehe Rachel niemals, ohne mich darüber zu wundern, wie es möglich ist, daß eine so unbedeutend aussehende Person das Kind so distinguirter Eltern wie Sir John und Lady Verinder ist.

Bei dieser Gelegenheit jedoch gab sie mir nicht nur zu dieser Verwunderung Anlaß, sondern choquirte mich geradezu. In ihrem ganzen Benehmen und ihrer Sprache machte sich ein höchst peinlicher Mangel an aller seinen Zurückhaltung bemerklich. Sie war von fieberhafter Aufregung, lachte unanständig laut und ging mit Speise und Trank beim Frühstück in einer sündhaft verschwenderischen und launenhaften Weise um. Ich empfand ein tiefes Mitleid mit ihrer armen Mutter, noch ehe mir die wahre Sachlage im Vertrauen mitgetheilt worden war.

Als das Frühstück vorüber war, sagte meine Tante: »Erinnere Dich, Rachel, was der Doctor Dir in Betreff der Zuträglichkeit von Lectüre zur Beruhigung nach den Mahlzeiten gesagt hat.«

»Ich will in die Bibliothek gehen, Mama,« antwortete sie, »aber wenn Godfrey uns besuchen sollte, laß es mich, bitte, wissen. Ich brenne vor Verlangen nach weiteren Nachrichten von ihm nach seinem Abenteuer in Northumberlandstreet.«

Sie küßte ihre Mutter auf die Stirn und warf mir einen flüchtigen Blick zu. »Adieu Clack!« sagte sie in nachlässigem Ton. Ihre Insolenz erweckte keine Empfindung des Zornes in mir. Ich machte mir nur innerlich eine Notiz für sie zu beten.

Als wir allein waren, erzählte mir meine Tante die ganze schreckliche Geschichte des indischen Diamanten, welche ich ja glücklicher Weise hier nicht zu wiederholen brauche. Sie verhehlte mir nicht, daß sie es vorgezogen haben würde Schweigen über die Geschichte zu beobachten. Da aber ihre sämmtlichen Dienstboten um den Verlust des Mondstein wüßten und da einige mit diesem Verlust zusammenhängende Umstände jetzt ihren Weg in die öffentlichen Blätter gefunden hätten; da Fremde sich da mit beschäftigten, einen Zusammenhang zwischen Dem was sich auf ihrem Landsitz, und Dem was sich in Northumberlandstreet und Alfredplace zugetragen habe, herauszufinden; so sei an Verheimlichung nicht länger zu denken und sei vollkommene Offenheit ebenso nothwendig wie lobenswerth.

Manche würden, wenn sie zum ersten Male gehört hätten, was ich jetzt erfuhr, wahrscheinlich von Erstaunen überwältigt worden sein. Was mich aber betrifft, so kannte ich Rachel’s für eine Wiedergeburt im Geiste von Jugend auf unempfänglichen Sinn so gut, daß nichts, was meine Tante mir in Betreff ihrer Tochter erzählt hätte, mich überrascht haben würde. Sie hätte mir das Schlimmste bis zu Mord und Todtschlag erzählen können und ich würde doch noch immer zu mir gesagt, haben: »die ganz natürliche Folge! O, mein Gott, die ganz natürliche Folge!« Das Einzige, was mich frappirte war das Verfahren, welches meine Tante unter den obwaltenden Umständen eingeschlagen hatte. Hier, wenn jemals, wäre es unzweifelhaft am Orte gewesen, einen Geistlichen herbeizuziehen Lady Verinder war anderer Ansicht gewesen, sie hatte einen Arzt zu Rathe gezogen. Meine arme Tante hatte ihr ganzes früheres Leben in dem gottlosen Hause ihres Vaters zugebracht. Also wieder die ganz natürliche Folge! O, mein Gott, mein Gott, wieder die ganz natürliche Folge!

»Die Doctoren,« sagte Lady Verinder, »empfehlen viel Bewegung und Zerstreuung für Rachel und rathen mir angelegentlichst, ihre Gedanken so viel wie möglich von der Vergangenheit abzulenken.«

»O, welch’ ein heidnischer Rath« dachte ich bei mir, »in diesem christlichen Lande, welch’ ein heidnischer Rath!«

Meine Tante fuhr fort: »Ich thue mein Bestes, die ärztlichen Vorschriften genau zu befolgen. Aber dieses sonderbare Abenteuer ist Godfrey in einem sehr unglücklichen Moment zugestoßen. Seit Rachel davon gehört hat, ist sie fortwährend ruhelos und aufgeregt. Sie hat nicht nachgelassen in mich zu dringen, bis ich meinem Neffen Ablewhite geschrieben und ihn gebeten habe, zu uns zu kommen. Sie interessirt sich sogar für den andern Mann, der ebenfalls mißhandelt worden ist —— einen Herrn Luker, oder wie er heißt —— obgleich derselbe ihr natürlich vollkommen fremd ist.«

»Du kennst die Welt besser als ich, liebe Tante,« schaltete ich mißtrauisch ein: »aber dieses ungewöhnliche Benehmen Rachel’s muß doch seine Gründe haben. Sie hält vor Dir und vor Jedermann ein sündiges Geheimniß verborgen. Sollten diese neuesten Ereignisse ihr Geheimniß nicht mit einer Entdeckung bedrohen?«

»Entdeckung?« wiederholte meine Tante »Was verstehst Du darunter? Eine Entdeckung durch Herrn Luker oder durch meinen Neffen?«

Kaum hatte sie diese Worte ausgesprochen, als das Walten der Vorsehung auf wunderbare Weise sichtbar wurde. Der Diener öffnete die Thür und meldete Herrn Godfrey Ablewhite.


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