Armadale



Sechstes Kapitel.

Bestimmte Stunden für die verschiedenartigen häuslichen Vorkommnisse des Tages waren in Thorpe-Ambrose unbekannt. Unregelmäßig in allen seinen Gewohnheiten, band sich Allan mit Ausnahme des Diners weder tags noch nachts an eine feste Stunde. Er ging entweder früh oder spät zur Ruhe und stand früh auf oder spät, wie es ihm eben beliebte. Den Dienern war es verboten, ihn zu Wecken, und Mrs. Gripper war gewöhnt, das Frühstück von dem Augenblicke an, da das Küchenfeuer angezündet ward, bis zur Zeit, wo die Küchenuhr die Mittagsstunde verkündete, so gut sie konnte, zu improvisieren.

An dem Morgen nach seiner Rückkehr klopfte Midwinter gegen neun Uhr an Allan’s Thür und fand bei seinem Eintritt das Zimmer leer. Auf Erkundigung bei der Dienerschaft ergab sich, daß Allan ausgestanden war, ehe noch der Mann, der ihm gewöhnlich aufwartete, sein Lager verlassen, und daß eins der Stubenmädchen, das von Midwinter’s Heimkehr nichts wußte, ihm sein heißes Wasser an die Thür gebracht hatte. Zufällig hatte Niemand den Herrn gesehen, weder auf der Treppe noch im Hausflur, und auch Niemand ihn wie gewöhnlich nach Frühstück schellen hören. Kurz, Niemand wußte etwas von ihm, ausgenommen, was Allen klar war, daß er nicht im Hause sei.

Midwinter trat auf den großen Porticus hinaus. Oben aus den Stufen blieb er stehen und überlegte, in welcher Himmelsgegend er seinen Freund suchen solle. Allan’s unerwartete Abwesenheit trug noch zur Vergrößerung seiner Gemüthsunruhe bei. Er befand sich in einer Stimmung, in welcher uns Kleinigkeiten reizen und die Einbildung allmächtig ist, um uns glücklich oder traurig zu machen.

Der Himmel war bewölkt und der Wind kam in heftigen Stößen aus Süden; wetterkundige Augen sahen, daß Regen im Anzuge war. Während Midwinter noch immer in Ungewißheit dastand, kam einer der Reitknechte die Rampe herauf an ihm vorbei. Fragen thaten dar, daß dieser Mann besser über seinen Herrn unterrichtet war als die Hausbedienten. Vor mehr als einer Stunde hatte er Allan mit einem Blumenstrauße in der Hand hinter dem Parke an den Ställen vorbeikommen sehen.

Mit einem Blumenstrauße in der Hand? Der Blumenstrauß lag Midwinter unbegreiflich störend im Sinne, während er, in der Hoffnung, Allan zu treffen, nach der Hinterseite ging. »Was soll der Blumenstrauß bedeuten?« fragte er sich mit einem unerklärlichen Gefühle der Gereiztheit und ärgerlich einen ihm im Wege liegenden Stein fortstoßend.

Das Bouquet bedeutete, daß Allan wie immer seiner augenblicklichen Eingebung gefolgt war. Der einzige angenehme Eindruck, den seine Unterredung mit Pedgift ihm hinterlassen, war der Eindruck, welchen der Bericht des Advocaten über seine Unterhaltung im Park mit Miß Neelie auf ihn gemacht hatte. Die Besorgniß, welche die Majorstochter so ernstlich zu erkennen gegeben, von ihm falsch beurtheilt zu werden, hatte sie Allan’s Augen in einem unwiderstehlich anziehenden Lichte erscheinen lassen, in dem Lichte des einzigen Wesens unter all seinen Nachbarn, das noch einigen Werth auf seine gute Meinung legte. Seine gesellschaftliche Vereinsamung jetzt, da er in dem öden Hause selbst Midwinter’s Gesellschaft vermißte, tief empfindend, in seiner Verlassenheit nach einem gütigen Worte und freundlichen Blicke hungernd und dürstend, begann er immer reuiger und immer sehnsüchtiger an das hübsche junge Gesicht zu denken, das in die Erinnerung an seine ersten glücklichen Tage in Thorpe-Ambrose so angenehm verwoben war. Sich eines solchen Gefühls bewußt werden hieß bei einem Menschen von Allan’s Charakter kopfüber nach demselben handeln, wohin dies auch immer führen mochte. Mit einem Sühneopfer von Blumen war er gestern Morgen ausgegangen, ohne sich indeß eine klare Vorstellung von dem zu machen, was er zu ihr sagen solle, wenn er ihr begegnete, um Miß Neelie zu suchen, und da er sie auf ihrem gewohnten Spaziergange nicht gefunden, hatte er am nächsten Morgen, mit einem noch größeren Sühneopfer ausgerüstet, mit charakteristischer Beharrlichkeit einen abermaligen Versuch gemacht. Von der Rückkehr seines Freundes noch nichts wissend, befand er sich jetzt in einiger Entfernung vom Hause und durchstreifte den Park in einer Richtung, an die er bisher noch nicht gedacht hatte.

Nachdem er ein paar hundert Schritte über die Ställe hinausgegangen und keine Spur von Allan entdeckt hatte, kehrte Midwinter wieder um und wartete in dem kleinen Gartenflecke, an der Hinterseite des Hauses langsam auf und ab gehend, auf die Zurückkunft seines Freundes.

Im Vorübergehen sah er von Zeit zu Zeit zerstreut in das Gemach hinein, das einst Mrs. Armadale’s Zimmer gewesen und jetzt durch seine Vermittlung der gewöhnliche Aufenthalt ihres Sohnes war, das Zimmer mit der Statuette auf der Console und den in das Gärtchen führenden Fensterthüren, welches ihn einst an das zweite Gesicht seines Traums gemahnt hatte. Der Schatten des Mannes, dem Allan an dem langen Fenster gegenüberstand, die Aussicht auf Rasen und Blumengartem das Geräusch des Regens an den Fensterscheiben; der ausgestreckte Arm des Schattens und die fallende und in Scherben am Boden liegende Statuette, diese Gegenstände und Ereignisse des Traumgesichts, die seinem Gedächtnisse einst so lebhaft eingeprägt gewesen, waren jetzt durch spätere Erinnerungen samt und sonders verdrängt worden und verschwammen in dem nebligen Hintergrunde der Zeit. Allein und sorgenvoll, konnte er zu wiederholten Malen an dem Zimmer vorübergehen, ohne ein einziges Mal an das Boot zu denken, das im Mondscheine dahintrieb, oder an die nächtliche Gefangenschaft auf dem Wrack.

Gegen zehn Uhr ließ sich plötzlich Allan’s wohlbekannte Stimme von den Ställen her vernehmen. Im nächsten Augenblicke ward er Vom Garten aus sichtbar. Sein zweites Suchen nach Neelie war, allem Anscheine nach, jedenfalls gescheitert. Der Strauß war noch in seiner Hand und resigniert schenkte er ihn einem der Kinder seines Kutschers.

Midwinter that schnell einen Schritt ihm entgegen und blieb dann plötzlich wieder stehen. Das Bewußtsein, daß seine Stellung seinem Freunde gegenüber durch seine Beziehungen zu Miß Gwilt bereits eine andere sei, erfüllte ihn beim ersten Anblicke Allan’s mit einem plötzlichen Mißtrauen gegen den Einfluß, den die Gouvernante auf ihn gewonnen hatte, welches fast ein Mißtrauen gegen sich selbst war. Er wußte, daß er seine Heimreise aus den Mooren nach Thorpe-Ambrose mit dem Entschlusse angetreten hatte, die Leidenschaft, die sich seiner bemächtigt, zu bekennen und, wenn dies nothwendig, auf einer zweiten und längeren Abwesenheit im Interesse des Opfers zu bestehen, welches er dem Glücke seines Freundes zu bringen entschlossen war. Was war jetzt aus diesem Entschlusse geworden? Die Entdeckung von Miß Gwilt’s veränderter Lage und ihre freiwillige Erklärung der Gleichgültigkeit gegen Allan hatten jenen in alle Winde gestreut. Die ersten Worte, mit denen er seinem Freunde entgegengekommen sein würde, wäre ihm auf seinem Heimwege nichts begegnet, waren Worte, die er bereits gänzlich von seinen Lippen verbannt hatte. Er wich zurück, als er dies fühlte, und versuchte mit instinktmäßiger Treue gegen Allan sich noch im letzten Augenblicke von dem Einflusse Miß Gwilt’s zu befreien.

Nachdem er über seinen nutzlosen Strauß verfügt, schritt Allan dem Garten zu, und sowie er in demselben eintrat, erkannte er Midwinter mit einem lauten Schrei der Ueberraschung und der Freude.

»Wache ich oder träume ich?« rief er, in großer Aufregung beide Hände seines Freundes ergreifend. »Du lieber alter Midwinter, bist Du aus der Erde aufgetaucht oder aus den Wolken herabgefallen?«

Nicht eher, als bis Mitwinter in jeder Einzelheit das Räthsel seines unerwarteten Erscheinens erklärt hatte, ließ Allan sich bewegen, ein Wort von sich selbst zu sagen. Als er aber endlich sprach, schüttelte er kläglich den Kopf und mäßigte die laute Herzlichkeit seiner Stimme, nachdem er sich zuvor umgesehen hatte, ob die Diener sich innerhalb Hörweite befänden.

»Seit Du mich verließest, habe ich vorsichtig zu sein gelernt«, sagte Allan. »Mein lieber Junge, Du hast keine Ahnung, was für Dinge inzwischen hier geschehen sind und in welcher fürchterlichen Patsche ich mich in diesem Augenblicke befinde.«

»Du irrst Dich, Allan. Ich habe von dem, was sich zugetragen, mehr gehört, als Du denkst.«

»Wie! Von der schrecklichen Klemme, in die ich mit Miß Gwilt gerathen? Von dem verdammten Skandal in der Umgegend? Du meinst doch nicht ——«

»«Ja«, unterbrach ihn Midwinter, »ich habe von Allem gehört«

»Gerechter Himmel! Wie denn? Hast Du Dich auf Deinem Rückwege in Thorpe-Ambrose aufgehalten? Warst Du etwa im Gasthofe? Bist Du Pedgift begegnet? Bist Du ins Lesezimmer gerathen, hast kennen lernen, wie das Lokalblatt die Pressefreiheit versteht?«

Midwinter wartete etwas, ehe er antwortete, und sah zum Himmel auf. Die Wolken hatten sich von ihnen unbemerkt über ihren Häuptern zusammengezogen und eben fielen die ersten Regentropfen.

»Komm’ hier herein«, sagte Allan. »Wir wollen auf diesem Wege zum Frühstück gelangen.« Er führte Midwinter durch die offene Glasthür in sein Wohnzimmer. Der Wind, der von dieser Seite kam, trieb den Regen ihnen hinter nach ins Zimmer. Midwinter der zuletzt kam, wandte sich um und schloß die Fensterthür.

Allan war zu neugierig auf die Antwort, die das Wetter unterbrochen hatte, um zu warten, bis sie das Frühstückszimmer erreichten. Er blieb am Fenster stehen und fügte noch zwei Fragen zu den bereits gethanen hinzu.

»Wie kannst Du nur etwas über Miß Gwilt und mich gehört haben? Wer hat Dir’s erzählt?«

»Miß Gwilt selbst«, erwiderte Midwinter ernst.

Sowie der Name der Gouvernante seinem Freunde über die Lippen kam, veränderte sich Allan’s Wesen.

»Ich wollte, Du hättest meine Geschichte zuerst gehört«, sagte er. »Wo hast Du Miß Gwilt getroffen?«

Eine kurze Pause trat ein. In das Interesse des Augenblicks versunken, standen sie beide am Fenster. Beide vergaßen sie, daß sie vor dem Wetter ins Frühstückszimmer hatten flüchten wollen.

»Ehe ich Deine Frage beantworte«, sagte Midwinter ein wenig gezwungen, »möchte ich Dich meinerseits etwas fragen. Ist es wirklich wahr, daß Du irgendwie an Miß Gwilt’s Abgang aus ihrer Stelle bei Milroy mit schuld bist?«

Eine neue Pause folgte. Allan’s Verlegenheit stieg merklich.

»Das ist eine ziemlich lange Geschichte«, begann er. »Ich bin hintergangen worden, Midwinter. Ich bin von einer Person betrogen worden —— ich kann nicht umhin, dies zu sagen —— die mich zu einem Versprechen verleiten, das ich nicht hätte geben, und mich etwas thun ließ, das ich lieber nicht hätte thun sollen. Wenn ich es Dir erzähle, breche ich mein Wort nicht. Ich kann mich auf Deine Verschwiegenheit verlassen, nicht wahr? Du wirst nie ein Wort davon verrathen, wie?«

»Halt!« rief Midwinter. »Vertraue mir keine Geheimnisse an, die nicht Dein Eigenthum sind. Hast Du ein Versprechen gegeben, so spiele nicht damit, selbst nicht, wenn Du mit einem so vertrauten Freunde sprichst, wie ich bin.« Er legte sanft und liebevoll seine Hand auf Allan’s Schulter. »Ich sehe wohl, daß ich Dich ein wenig in Verlegenheit gesetzt habe«, fuhr er fort, »und daß meine Frage nicht so leicht zu beantworten ist, wie ich gehofft und erwartet hatte. Wollen wir vielleicht etwas warten? Wollen wir etwa zuvor hinaufgehen und frühstücken?«

Allan lag viel zu sehr daran, dem Freunde sein Benehmen im rechten Lichte darzustellen, als daß er dessen Vorschlag hätte berücksichtigen können. Ohne vom Fenster zurückzutreten, antwortete er hastig und voll Eifer:

»Mein lieber Junge, die Frage ist ganz leicht zu beantworten. Sie erfordert nur ——« Er stockte. »Sie erfordert nur etwas, wozu ich sehr wenig Talent habe —— eine Auseinandersetzung.«

»Willst Du damit sagen«, fragte Midwinter ernster, doch nicht minder sanft als zuvor, »daß Du Dich erst rechtfertigen mußt, ehe Du meine Frage beantwortest?«

»Ganz recht!« erwiderte Allan mit einer Miene der Erleichterung. »Du hast wie gewöhnlich den Nagel auf den Kopf getroffen.«

Midwinters Gesicht begann sich zu verfinsteren. »Es thut mir leid, das zu hören«, sagte er, indem seine Stimme leiser ward und seine Blicke den Boden suchten.

Der Regen wurde heftiger. Er zog über den Garten hin und schlug in schweren Tropfen gegen die Scheiben der geschlossenen Glasthür.

»Leid!« wiederholte Allan »Mein lieber Junge, Du kennst die Einzelheiten noch nicht. Watte, bis ich Dir die Sache erklärt habe.«

»Du bist ein schlechter Erklärer«, sagte Midwinter, Allan’s Ausdruck wiederholend. »Stelle Dich nicht in Nachtheil. Erkläre es nicht.«

Allan sah ihn mit stummer Ueberraschung und Verwunderung an.

»Du bist mein Freund, mein bester und theuerster Freund«, fuhr Midwinter fort. »Ich kann es nicht ertragen, daß Du Dich vor mir rechtfertigst, als ob ich Dein Richter wäre oder an Dir zweifelte.« Bei diesen Worten blickte er wieder offen und liebevoll zu Allan auf. »Und übrigens«, fuhr er fort, »glaube ich, wenn ich mein Gedächtniß zu Hilfe nehme, zu wissen, was Deine Erklärung ist. Ehe ich fortging, hatten wir eine kurze Unterredung über gewisse sehr delicate Fragen, die Du an Major Milroy richten wolltest. Ich erinnere mich, daß ich Dich warnte; ich erinnere mich auch, daß ich dabei meine Bedenken hatte. Hätte ich Recht, wenn ich riethe, daß jene Fragen Dich auf eine oder die andere Art in eine falsche Stellung gebracht haben? Wenn es wahr ist, daß Du damit zu thun gehabt hast, Miß Gwilt zu einem Aufgeben ihrer Stelle zu veranlassen, ist es nicht mehr als billig, anzunehmen, daß Du irgend welches Unheil, für das Du verantwortlich bist, unschuldig angerichtet hast?«

»Ja«, sagte Allan seinerseits zum ersten Male etwas gezwungen. »Es ist nicht mehr als billig, dies anzunehmen.« Er schwieg und begann mit dem Finger auf die angelaufene Fensterscheibe zu zeichnen. »Du bist nicht wie andere Leute, Midwinter«, sagte er plötzlich mit Anstrengung, »und ich wollte dennoch, daß Du Alles genau erfahren hättest.«

»Ich will es hören, wenn Du es wünschest«, erwiderte Midwinter. »Aber ohne ein weiteres Wort, davon bin ich überzeugt, daß Du nicht geflissentlich Ursache wurdest, Miß Gwilt um ihre Stelle zu bringen. Sobald dies zwischen uns beiden festgestellt ist, braucht nichts weiter gesagt zu werden, wie mir scheint. Ueberdies habe ich Dir noch eine weit wichtigere Frage vorzulegen, eine Frage, zu der ich durch etwas, das ich gestern Abend, mit eigenen Augen gesehen und eigenen Ohren gehört, gezwungen bin.«

Er schwieg, wider Willen vor der Frage zurückbebend. »Sollen wir erst hinaufgehen ?« fragte er, plötzlich der Thür zuschreitend um Zeit zu gewinnen.

Es half nichts. Noch einmal wurden sie in dem Zimmer, das beiden zu verlassen frei stand, dem Zimmer, das der eine von ihnen schon zweimal hatte verlassen wollen; festgehalten, als wären sie Gefangene gewesen.

Ohne zu antworten, ohne selbst, wie es schien, Midwinter’s Vorschlag gehört zu haben, folgte Allan ihm mechanisch an die Thür. Dort blieb er stehen. »Midwinter!« rief er von einem plötzlichen Erstaunen und Grausen ergriffen aus, »es kommt mir vor, als sei. etwas Fremdes zwischen uns getreten! Du bist nicht mehr der Alte. Was ist das?«

Midwinter, dessen Hand auf der Thürklinke ruhte, wandte sich um und sah ins Zimmer zurück. Der Augenblick war gekommen. Die ihn gespenstisch verfolgende Furcht, seinem Freunde Unrecht zu thun, hatte sich in einer Gezwungenheit der Sprache, der Mienen und des Benehmens zu erkennen gegeben, die deutlich genug waren, um selbst Allan aufzufallen. Das Einzige, was er im Interesse der Freundschaft, die sie vereinte, jetzt noch thun konnte und thun durfte, war, daß er unverzüglich und unverhohlen sprach.

»Etwas Fremdes ist zwischen uns getreten«, rief Allan nochmals aus. »Sage mir um Gottes Willen, was es ist?«

Midwinter ließ die Thürklinke los und ging wieder ans Fenster, Allan ihm nach. Nothwendigerweise stand der erstere jetzt da, wo noch eben Allan gestanden hatte, an der Seite des Fensters, wo sich die Statuette befand. Die kleine Figur stand auf der vorspringenden Console dicht hinter ihm zu seiner Rechten. An dem regnerischen Himmel zeigte sich noch keine Veränderung. Noch immer strich der Regen schräg über den Garten her und schlug in schweren Tropfen an das Fenster.

»Gib mir die Hand, Allan.«

Allan reichte sie ihm und Mtdwinter hielt sie fest.

»In der That«, sagte er, »ist etwas Fremdes zwischen uns getreten. Etwas, das Dich nahe betrifft, muß ins Klare kommen, und das ist noch nicht geschehen. Du hast mich soeben gefragt, wo ich Miß Gwilt getroffen habe. Ich begegnete ihr auf meinem Heimwege, auf der Landstraße jenseits der Stadt. Sie bat mich, sie gegen einen Mann zu schützen, der sie verfolgte und ängstigte. Ich habe den Schurken mit meinen eigenen Augen gesehen und würde Hand an ihn gelegt haben, hätte Miß Gwilt selbst mich nicht daran verhindert. Sie gab einen sehr seltsamen Grund für diese ihre Einmischung an. Sie sagte nämlich, ich wisse nicht, in wessen Auftrag er handle.«

Allan’s Gesicht überzog sich plötzlich mit einer tiefen Glut. Rasch sah er seitwärts durchs Fenster auf den herabströmenden Regen. In demselben Augenblicke lösten sich ihre Hände und beide schwiegen. Midwinter nahm zuerst wieder das Wort.

»Am späteren Abend«, fuhr er fort, »sprach sich Miß Gwilt deutlich aus. Zweierlei theilte sie mir mit. Sie erklärte, daß der Mann, welcher sie verfolgt, ein gedungener Spion sei. Ich war überrascht, aber ich konnte es nicht bestreiten. Dann sagte sie mir etwas, von dem ich aus tiefstem Herzen überzeugt bin, daß es eine Lüge ist, die man ihr als eine Wahrheit dargestellt hat; sie sagte mir, daß der Spion in Deinen Diensten stehe!«

Augenblicklich wandte sich Allan vom Fenster weg und sah Midwinter wieder gerade ins Gesicht. »Ich muß es jetzt erklären!« sagte er entschlossen. Auf Midwinters Wangen legte sich jene aschfarbene Blässe, die ihn in Fällen heftiger Gemüthsbewegung überkam.

»Noch mehr Erklärungen! sagte er und trat einen Schritt zurück, während seine Augen sich erschrocken und forschend auf Allans Gesicht hefteten.

»Du weißt nicht, was ich weiß, Midwinter. Du weißt nicht, daß das, was ich gethan habe, aus gutem Grunde gethan worden ist. Und mehr noch, ich habe mich nicht auf mich selbst verlassen —— ich bin gut berathen gewesen.«

»Hast Du gehört, was ich so eben sagte?« fragte Midwinter ungläubig; »Du kannst —— ach, unmöglich kannst Du mich verstanden haben !«

»Ich habe kein Wort davon verloren«, erwiderte Allan. »Ich sage Dir nochmals, Du weißt nichts von dem, was mir von Miß Gwilt bekannt ist. Sie hat Miß Milroy gedroht. Miß Milroy befindet sich in Gefahr, solange ihre Erzieherin hier in der Umgegend bleibt.«

Mit einer verachtungsvollen Handbewegung schloß Midwinter die Majorstochter aus ihrer Unterredung aus.

»Will nichts von Miß Milroy hören«, sagte er. »Bringe nicht Miß Milroy mit —— gerechter Gott, Allan, willst Du mir etwa zu verstehen geben, daß der Spion; der Miß Gwilt aufzulauern gedungen war, sein schändliches Werk mit Deiner Bewilligung that?«

»Ein- für allemal, mein lieber Junge, frage ich Dich, ob Du mich die Sache erklären lassen willst oder nicht?«

»Erklären!« rief Midwinter mit flammensprühenden Augen und einem Gesichte, in dem sein heißes Creolenblut glühte. »Die Mithilfe eines Spions erklären? Wie! Nachdem Du Miß Gwilt durch Deine Einmischung in ihre Privatangelegenheiten aus ihrer Stelle vertrieben, bedienst Du Dich des schändlichsten aller Mittel, bedienst Du Dich eines Spions, um Dich noch ferner in ihre Angelegenheiten zu mischen? Du läßt dem Weibe auflauern, von dem Du mir vor kaum vierzehn Tagen selbst sagtest, daß Du es liebtest, einem Weibe, das Du zu Deiner Gattin machen wolltest! Ich glaube es nicht! Ich wills nicht glauben! Läßt mein Verstand mich im Stich? Spreche ich mit Allan Armadale? Ist es Allan Armadale’s Gesicht, das mich anblickt? Halt! Du handelst aus falschen Scrupeln. Irgend ein gemeiner Geselle hat sich in Dein Vertrauen eingeschlichen und in Deinem Namen gehandelt, ohne Dir etwas davon zu sagen.

Mit bewunderungswürdiger Geduld und Nachsicht für die Heftigkeit seines Freundes beherrschte sich Allan.

»Wenn Du mich durchaus nicht anhören willst«, sagte er, »so muß ich eben warten, so gut ich kann, bis die Reihe an mich kommt.«

»Sage mir, daß Du mit der Beschäftigung jenes Mannes nichts zu schaffen hast, und dann will ich Dich gern anhören.«

»Gesetzt, es wäre eine Notwendigkeit, welche Du nicht kennst, vorhanden, daß ich mich seiner bediente?«

»Die feige Verfolgung eines hilflosen Weibes erkenne ich als keine Nothwendigkeit an.«

Eine wichtige, doch nur ganz flüchtige Zornesglut glitt über Allan’s Gesicht. »Wenn Du die Wahrheit wüßtest«, sagte et, »so dürftest Du sie nicht für so hilflos halten.«

»Bist Du der Mann, der mir die Wahrheit sagen kann?« entgegnete der Andere. »Du, der ihre Vertheidigung nicht hat anhören wollen, Du, der ihr die Thüren dieses Hauses hat verschließen lassen!«

Noch immer beherrschte sich Allan, aber sichtlich begann es ihm Mühe zu kosten.

»Ich weiß, daß Du ein hitziges Temperament hast«, sagte er; Dessen ungeachtet aber überrascht mich Deine Heftigkeit. Ich kann mir’s nicht erklären, außer ——« er stockte einen Augenblick und schloß den Satz dann mit seiner gewohnten geraden Offenheit: »außer Du wärest selbst in Miß Gwilt verliebt.«

Diese letzten Worte gossen Oel ins Feuer. Sie streiften der Wahrheit sofort alle Verstellung und Verkleidung ab und stellten sie nackt vor das Auge hin. Allan’s Instinkt hatte richtig gerathen und die Triebfeder von Midwinter’s Interesse für Miß Gwilt lag klar vor Augen.

»Welches Recht hast Du zu dieser Behauptung?« fragte er mit erhobener Stimme und drohenden Blicken.

»Ich habe es Dir gesagt«, entgegnete Allan einfach, »als ich selbst in sie verliebt zu sein glaubte. Geh, geh,es scheint mir etwas stark, daß Du, selbst wenn Du in sie verliebt bist, Alles glaubst, was sie Dir sagt, und mich kein Wort sagen lassen willst. Ist das die Art und Weise, wie Du zwischen uns richtest?«

»Ja!« rief Midwinter, wüthend über Allan’s wiederholte Erwähnung der Gouvernante. »Wenn ich aufgefordert werde, zwischen dem Manne, der sich eines Spions bedient, und dem Opfer eines Spions zu wählen, so trete ich. auf die Seite des Opfers!«

»Stelle mich nicht zu sehr auf die Probe, Midwinter, ich könnte ebenso wie Du die Geduld verlieren.«

Er schwieg, im Kampfe mit sich selbst. Die Marter der Leidenschaft in Midwinters Gesicht, vor der eine weniger einfache und weniger edle Natur mit Entsetzen zurückgeschaudert wäre, erfüllte Allan plötzlich mit ungeheuchelter Betrübniß, die in diesem Auge an das Göttliche grenzte. Mit feuchten Blicken und ausgestreckter Hand trat er einen Schritt näher. »Du hast mich soeben um meine Hand gebeten«, sagte er, »und ich habe sie Dir gegeben. Willst Du an alte Zeiten denken und mir die Deinige geben, ehe es zu spät ist?«

»Nein!« rief Midwinter wüthend. »Ich begegne Miß Gwilt vielleicht noch einmal und kann dann meine Hand brauchen, um Deinen Spion abzufertigen!«

Er war, als Allan ihm näher getreten, an die Wand zurückgewichen, bis die Console mit der Statuette sich, anstatt hinter ihm, vor ihm befand. seiner blinden Leidenschaft nichts sehend als Allan’s Gesicht, während er antwortete, und die rechte Hand drohend erhebend, schlug er an die vergessene Console und im nächsten Augenblicke lag die Statuette in Scherben am Boden.

Der Regen strich schräg über den Blumengarten und Rasen und schlug in schweren Tropfen an die Fensterscheiben, und die beiden Armadales standen am Fenster, wie die beiden Schatten in dem Traumgesichte dagestanden hatten, und zwischen ihnen lagen die Trümmer der kleinen Figur.

Allan bückte sich zu den Scherben derselben herab und sammelte sie einen nach dem andern vom Boden auf. »Verlaß mich«, sagte er, ohne aufzublicken, »oder wir werden es beide bereuen.« Zum zweiten Male stand Midwinter mit der Hand auf der Thürklinke da und warf zum letzten Male einen Blick ins Zimmer zurück. Das Grausen jener Nacht auf dem Wrack hatte ihn wieder gepackt und die Glut seiner Leidenschaft war augenblicklich erloschen.

»Der Traum!« flüsterte er mit verhaltenem Athem. »Wiederum der Traum!«

Von außen ward an die Thür gegriffen und ein Diener erschien mit einer trivialen Meldung hinsichtlich des Frühstücks.

Midwinter sah den Mann mit einem Blicke an, in welchem sich die vollkommenste Hilflosigkeit abspiegelte

»Führt mich hinaus«, sagte er. »Es ist finster, und das Zimmer dreht sich mit mir herum.«

Der Diener nahm seinen Arm und führte ihn schweigend hinaus.

Als die Thür sich hinter ihnen schloß, nahm Allan eben die letzten Scherben vom Boden auf. Er setzte sich allein an den Tisch und barg sein Gesicht in den Händen. Die Selbstbeherrschung, die er so wiederholt und so tapfer gegen die Aufreizung bewahrt hatte, verließ ihn endlich in der freundlosen Einsamkeit seines Zimmers, und in der ersten Bitterkeit des Gefühls, daß auch Midwinter sich gegen ihn gewendet habe, brach er in Thränen aus.

Minute auf Minute verrann und die Zeit verstrich langsam. Allmälig erschienen Anzeichen eines neuen Aufruhrs der Elemente. Der Schatten einer schnell zunehmenden Dunkelheit zog über den Himmel. Mit dem nachlassenden Winde nahm auch der Regen ab. Eine momentane Stille trat ein. Dann goß es plötzlich wieder in Strömen herab und die ersterbenden Lüfte trugen das dumpfe Rollen des Donners daher.


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